Archiv für September, 2012

Öko-Test, Pronomen, Hexenjagden

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Endlich macht das mal einer'”
(taz.de, R. Lorenzen und M. Ferraz)
Seit zwei Jahren verkaufen ein Bäcker und ein Kioskbesitzer in Hamburg keine “Bild” mehr. Die “taz” interviewt die beiden: “Für manche ist es anscheinend nicht zu fassen, diese Zeitung irgendwo einfach mal nicht zu bekommen. Meistens fragen aber nur noch Auswärtige oder Bauarbeiter auf Montage – hier im Viertel wissen alle Bescheid.”

2. “Seid umschlungen Millionen”
(ad-sinistram.blogspot.de, Roberto J. De Lapuente)
Auch in öffentlich-rechtlichen Sendern würden Personen vermehrt mit “fraternisierenden Pronomen” vereinnahmt, schreibt Roberto J. De Lapuente. “Die distanzlose Ver-Wir-ung und Ver-Uns-ung ist weder seriös noch realitätsnah, denn sie suggeriert, es gäbe eine nicht näher definierte Schicksalsgemeinschaft.”

3. “Journalismus wird immer mehr zu Scripted Reality”
(newsroom.de)
Oberstaatsanwältin Ina Holznagel kritisiert die Arbeitsweise einiger Journalisten: “In den letzten Jahren habe ich den Eindruck bekommen, dass manche Medienvertreter nicht anrufen, um zu erfahren, was eigentlich los ist. Die haben dann eine Geschichte und suchen dafür Bausteine. Man wird angerufen, um eine bestimmte Rolle zu spielen, oder man darf nicht mitspielen. Das ist teilweise wie ‘Scripted Reality’. Und das geht mir wirklich auf den Wecker.”

4. “Öko-Test macht sich die Skandale selbst”
(iva.de, 1. September)
Der Industrieverband Agrar kritisiert das Verbrauchermagazin “Öko-Test”: “Öko-Test ist Wiederholungstäter, wenn es darum geht, mit der Angst der Verbraucher die Auflage zu steigern. Schon die Mai-Ausgabe der Zeitschrift (‘Unser täglich Gift’, 05/2012) sollte dem Käufer suggerieren, seine Lebensmittel wären nicht sicher.”

5. “Schleichender Verlust der Glaubwürdigkeit”
(sonntagonline.ch, Hanspeter Bürgin)
Ein Kommentar zu den 500 Franken, die Schweizer Journalisten von einem PR-Veranstalter in einem Couvert überreicht erhielten. Es sei längst bittere Realität, schreibt Hanspeter Bürgin: “Ohne das Zusammenspiel mit den Kunden hätten Tages- und Wochenzeitungen ihre Lifestyle-Beilagen, Reise- und Autoseiten, Technik- und Computerseiten längst aufgeben müssen. Frauenzeitschriften gäbe es schon lange nicht mehr.” Siehe dazu auch “Journalisten im Sonderangebot” (suedostschweiz.ch, David Sieber).

6. “Endlich reden wir mal über Sex: fickt euch!”
(pantelouris.de)
Michalis Pantelouris kommentiert Vorwürfe gegen Bettina Wulff: “Leben wir wirklich immer noch in Zeiten, in denen wir Hexenjagden veranstalten auf Frauen, weil sie (in diesem Fall: angeblich) einmal Prostituierte waren? Verstehe ich das richtig, dass ein deutscher Ministerpräsident sich nicht in eine/n Prostituierte/n verlieben und sie/ihn heiraten darf?”

Eisen und Blech

Im August wurde bekannt, dass Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer plant, den Kommunen freie Hand bei der Wahl ihrer Autokennzeichen zu lassen. Durch Gebietsreformen ausrangierte Ortskürzel sollen wieder vergeben werden können, völlig neue Kennzeichen sollen möglich werden.

Ein willkommener Anlass für “Welt Online”, heute eine zehnteilige Bildergalerie mit den “seltensten Städtekürzeln” zu veröffentlichen.

Gut, grafisch ist das ein bisschen mau:

Aber es gibt ja auch noch einen Begleittext, in dem unter anderem das hier steht:

In mehreren Bun­des­län­dern wünschen sich Kommunen, alte Kenn­zei­chen wieder ausgeben zu können – etwa “PL” für das säch­si­sche Plauen statt “V” für Vogtland. Die Fe­rien­in­sel Usedom möchte ihren Bürgern “USE” anbieten. In Bran­den­burg macht sich Ei­sen­hüt­ten­stadt für die Wie­der­ein­füh­rung des Kfz-Kenn­zei­chen EA stark.

Wenn Eisenhüttenstadt wirklich das Kennzeichen “EA” bekäme, wären wohl die Bewohner zweier Städte sauer: Zum einen die Menschen aus Eisenhüttenstadt, die gerne ihr altes “EH” wiederhätten, zum anderen die Menschen aus Eisenach, die im Moment noch “EA” haben.

Nachzulesen unter anderem in der Bildergalerie von “Welt Online”:

Mit Dank an Markus E.

Nachtrag, 9. September: “Welt Online” hat den “EA”/”EH”-Fehler bereits gestern transparent korrigiert.

Allerdings haben uns mehrere Leser auf verschiedene Ungereimtheiten der Top 10 hingewiesen: So wird “PS” (“Welt Online” schreibt “Platz 7”, gemeint ist aber: Platz 6) nicht nur an die Einwohner der Stadt Pirmasens (25.422 Zulassungen) vergeben, sondern auch für den Landkreis Südwestpfalz verwendet, wo es laut Kraftfahrtbundesamt (PDF) weitere 76.134 Zulassungen gibt. Selbiges gilt für “AN” (Platz 7, Stadt Ansbach: 26.592, Landkreis Ansbach: 149.845 Zulassungen) und “CO” (Platz 8, Stadt Coburg: 26.669, Landkreis Coburg: 66.369).

Dafür fehlen in der Liste St. Ingbert, das – obwohl zum Saarpfalz-Kreis (“HOM”) gehörig – ein eigenes Nummernschild (“IGB”) hat und mit 26.380 Zulassungen eigentlich auf Platz 4 liegen müsste, und Büsingen am Hochrhein, eine deutsche Exklave inmitten von Schweizer Territorium, wo es nur etwa 700 Mal das eigene Nummernschild “BÜS” gibt, obwohl die Stadt zum Landkreis Konstanz (“KN”) gehört.

Mit Dank an David W., Thomas W. und Klaus W.

Marc Pitzke, Zootiere, Kulturpessimismus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Propaganda-Party'”
(fape-blog.de, Andreas Cirikovic)
Wie US-Korrespondent Marc Pitzke für “Spiegel Online” über die Parteitage der Demokraten und der Republikaner schreibt: “Marc Pitzke schreibt, wie ein 16jähriger über die Erlebnisse auf seinem ersten Rockkonzert spricht. Voller Enthusiasmus. Voller Emotionen. Die eine Band mag er. Die andere mag er anscheinend nicht.”

2. “Wächter und Hetzer”
(faz.net, Ursula Scheer)
Ursula Scheer hat sich die “katholischen” Websites kath.net, kreuz.net und gloria.tv genauer angesehen: “Für den anonymen Blog kreuz.net, der 2004 online ging und vermeintlich ‘katholische Nachrichten’ liefern will, ist die Diffamierung Programm: Hetze gegen Juden, Muslime, Homosexuelle und alles, was als ‘liberal’ gebrandmarkt wird. Die Autoren hofieren die Piusbrüder, publizieren Denunziationen und stellen Personen an den digitalen Pranger. Längst haben sich die Bischofskonferenzen in Deutschland, Österreich und der Schweiz von kreuz.net distanziert. Das Portal sei menschenverachtend und missbrauche den Begriff ‘katholisch’.”

3. “Das Leitlinien-Chaos bei Politically Incorrect”
(hogymag.wordpress.com, almasala)
Eine Überprüfung der Leitlinien des Blogs “Politically Incorrect”.

4. “Die Gewissensfrage”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Rainer Erlinger)
Anna Z. fragt: “Ist es in Ordnung, im Fernsehen Doku-Soaps anzusehen, in denen andere Menschen vorgeführt werden? Oder erheben wir uns so über die Protagonisten dieser Sendungen?” Dr. Dr. Rainer Erlinger antwortet: “Darin, Menschen wie Zootiere zu bestaunen, um sich darüber zu erheben, liegt eine Entwürdigung nicht nur der physischen Person, die sich am Bildschirm eine Blöße gibt, sondern, weil es ein Mensch ist, der da vorgeführt wird, eben auch des sittlichen Menschen allgemein, der Idee der Menschheit.”

5. “Sie sind mutig! Wollen Sie für uns arbeiten?”
(spiegel.de, Jan Söfjer)
Maximiliane Rüggeberg bekommt nach einem Blogbeitrag über die “Ausbeutungsmaschine Journalismus” eine nach Tarif bezahlte Volontärsstelle angeboten.

6. “Eine kleine Geschichte des Kulturpessimismus”
(br.de, Christian Schiffer)
Vorgänger von Manfred Spitzer, zum Beispiel Platon: “Wer die Schrift gelernt haben wird, in dessen Seele wird zugleich mit ihr viel Vergesslichkeit kommen, denn er wird das Gedächtnis vernachlässigen. Die Menschen werden jetzt viel zu wissen meinen, während sie nichts wissen.”

dapd  

Ein X für ein Y vorgemacht

Es gibt eine neue Sensationsmeldung aus dem Bereich der Wissenschaft: Schwerelosigkeit und Weltraumstrahlung lassen offenbar aus Männern Frauen werden.

Wir verdanken diese Erkenntnis der Nachrichtenagentur dapd:

So schön kann Arbeit sein: Ein kaputtes Gerät reparieren und nebenbei ein bisschen im Weltraum herumfliegen. Das konnten zumindest diese beiden Astronautinnen der Internationalen Raumstation ISS. Schwebend installierten sie eine neue Stromverteilerbox. Die Reparatur war zuvor gescheitert. Nach einer Woche auf Sparflamme ist die Stromversorgung der ISS nun wieder zu einhundert Prozent gesichert. Der Weltraumausflug der zwei Frauen dauerte mehr als sechs Stunden.

Die “beiden Astronautinnen” oder “zwei Frauen”, die da “ein bisschen im Weltraum herumfliegen”, sind nämlich nach übereinstimmenden Medienberichten Sunita Williams und Akihiko Hoshide.

Sunita Williams ist in der Tat eine Frau, Akihiko Hoshide hingegen ein Mann.

Mit Dank an den Hinweisgeber (oder die Hinweisgeberin).

Meinungsvielfalt, Illustrationen, Hannover 96

6 vor 9

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1. “Beim Leistungsschutzrecht hört die Meinungsvielfalt auf”
(stefan-niggemeier.de)
Die “Wetterauer Zeitung” erklärt einem Leser, warum sie seinen Leserbrief zum Thema Leistungsschutzrecht nicht veröffentlicht.

2. “Augen zu und durch!”
(danielgrosse.com)
Die “Leipziger Volkszeitung” illustriert einen Bericht über den neuen VW Golf VII mit einem Foto des VW Golf VI: “Wer auch immer die Bildunterschrift ‘Rauschende Weltpremiere: Der neue VW Golf 7. Foto: AFP’ eingefügt hat, er muss blind gewesen sein. Steht doch quasi direkt über der Autorenkennung im Nummernschild des gezeigten Golfs zu lesen: ‘Golf VI 2008-2012’.”

3. “Absurde Fotos zur Euro-Krise”
(spiegel.de, Friederike Ott)
Die Mühe von Fotografen, immer neue Symbolbilder für die Eurokrise zu finden: “Fotografen nennen diese Bilder Illustrationen. Sie sollen abstrakte Vorgänge visualisieren. Die meisten Krisen verschwinden nach einigen Wochen oder Monaten aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Bei der Euro-Krise ist das anders.”

4. “Presserat prüft Verkauf von Kandidatenporträts in Lokalzeitung”
(aargauerzeitung.ch, Fabian Muster)
Kandidierende für das Aargauer Kantonsparlament können bei Lokalzeitungen des Verlags Effingerhof AG ein Porträt über sich kaufen: “Entweder schalten sie Inserate in der Höhe von 550 Franken [rund 455 Euro] oder bezahlen diesen Betrag direkt für einen Artikel über sich selbst.”

5. “Schwierige Dreharbeiten – Sanitäter behindern Kameramann”
(ndr.de, Video, 5:14 Minuten)
Ein Kameramann, der in und um Rostock Unfälle und Katastrophen filmt, kommt immer wieder in Konflikt mit Sanitätern und Polizisten.

6. “Zeuge Hannovas: Serienmörder, Hurensöhne und Arschlöcher”
(reesessportkultur.de, Klaas Reese)
Fans des Fußballvereins Hannover 96, Präsident Martin Kind, Serienmörder Fritz Haarmann und “Bild”.

Mit Hehlerei kennt Ralph Grosse-Bley sich aus

Heute auf Facebook: Ralph Grosse-Bley, Chefredakteur der Schweizer Boulevardzeitung “Blick”, ist stolz:

Raufende Chinesen, die den Kapitän von Flug LX 196 Zürich–Peking zur Umkehr zwingen: Das BLICK-Exklusiv-Video, das den älteren der beiden Chinesen leicht verletzt und schwer betrunken an Bord des Airbus A340 zeigt, war gestern der absolute Renner auf Blick.ch (siehe hier: http://bit.ly/TeVxG9)

Die Mini-DV-Kassette mit den Filmaufnahmen hatten BLICK-Reporter im Rahmen unfangreicher Recherchen am Montag von einem Schweizer erhalten, der mit an Bord war.

Gut, “der absolute Renner” dürfte das Video gewesen sein, weil die Leser unter der Überschrift “Schlägerei im Swiss-Airbus: Was wirklich geschah — Passagier filmte Chinesen, Augenzeugin spricht” vermutlich ein Video von einer ordentlichen Schlägerei erwartet hatten und nicht eines von Menschen, die nach einer Schlägerei (oder wonach auch immer, das geht aus dem Video nicht hervor) irgendwo rumstehen.

Aber darum soll es hier nicht gehen.

Ralph Grosse-Bley ist nämlich auch empört:

Im Lauf des Dienstags tauchte das Video dann auch auf der Website von 20 Minuten auf – mit einem Quellenhinweis auf eine zweifelhafte britische Website.

Wie geht das? Diese Website funktioniert ähnlich wie Youtube: Jeder kann aufschalten, was er will, zum Beispiel auch, was er gerade irgendwo im Internet geklaut hat. Etwa das exklusive BLICK-Video aus dem Swiss-Airbus.

Die Macher von “20 minuten.ch” finden das geklaute Video rein zufällig auf der britischen Website – und schon ist es bei ihnen online, mit Hinweis auf die zweifelhafte Website. Natürlich wissen sie, woher das Video in Wahrheit stammt, aber das spielt keine Rolle in der Online-ist-allesgratis-Philosophie.

Es sind Hehler, keine Journalisten. Hehler machen Geschäfte mit geklauter Ware. Journalisten recherchieren selbst.

Ja, diese verdammte Online-ist-allesgratis-Philosophie. Da kann Ralph Grosse-Bley sicherlich so einiges drüber berichten.

Zum Beispiel die Geschichte von Charley, dem Küken:

Youtube-Hit: Küken Charley geht mit seinem Besitzer joggen. Das Enten-Küken Charley begleitet seinen Besitzer auf Schritt und Tritt. Sogar beim Joggen ist es dabei. Das Video ist vom April 2010, wurde aber erst jetzt zum Youtube-Hit.

Das Video wurde zum YouTube-Hit und die Journalisten von blick.ch haben es offensichtlich bei YouTube heruntergeladen, mit ihrem Logo versehen und auf dem eigenen Server hochgeladen.

Oder dieses Video von einem Torwart-Tor aus der 2. Schweizer Liga:

Sonntagsschuss in der 2. Liga: Das Goalie-Goal des Jahres kommt aus der Schweiz. Gelegentlich lohnt es sich, auch einen Sonntagsausflug in die unteren Fussball-Ligen der Schweiz zu machen.

Das ist ist “ein Hit” auf YouTube, “hat schon über 140’000 Klicks eingeheimst” — und läuft jetzt mit der Originalmusik und dem Logo von footmag.ch, nur ergänzt um das Logo von blick.ch auf blick.ch.

Oder der betrunkene russische Baggerfahrer:

Russland: Betrunkener Baggerfahrer rammt 7 Autos. Etwas zu tief ins Glas geschaut hat dieser Baggerfahrer in Russland. Und das wird ihn wohl teuer zu stehen kommen.

Montag auf YouTube, heute bei blick.ch.

Oder dieser Beinahe-Unfall, bei dem offenbar sogar egal ist, wo er stattfand:

Brilliantes Ausweichmanöver: Lastwagen verhindert Horror-Crash

Vorher schon im Internet zu sehen gewesen.

Oder, ganz aktuell, die Schülerin, die ihren Lehrer tritt:

Volltreffer: Schülerin wehrt sich gegen aggressiven Lehrer. Eine Schülerin wird vor versammelter Klasse von ihrem Lehrer beschimpft und beleidigt. Als er sie auch noch mit dem Finger stupst reicht es ihr. Sie tritt entschlossen zu - und trifft!

Das Video macht seit gestern auf LiveLeak und YouTube die Runde und ist heute schon bei blick.ch zu sehen.

Ja, dieses Internet. Jeder kann “aufschalten”, was er will, zum Beispiel auch, was er gerade irgendwo im Internet geklaut hat.

Mit Dank an André H.

Neue Presse, Talkshows, iPhones

6 vor 9

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1. “Zu viel Boulevard?”
(journalist.de, Jan Söfjer)
“Mit anspruchsvollem Boulevard” will die “Neue Presse” in Hannover “Bild” Marktanteile abluchsen. “Die Neue Presse wurde grundlegend verändert: große Schlagzeilen, größere Bilder, eine zweite Seite mit Meinung und Analyse statt Auslandsnachrichten.”

2. “Drama, Scherben, Wunderheilung – Klischees der Behinderung in Film und Fernsehen”
(leidmedien.de, Laura Gehlhaar)
“In der bekanntesten Seifenoper Deutschlands Gute Zeiten, schlechte Zeiten ‘landet’ im Durchschnitt alle vier Jahre ein männlicher Schauspieler durch irgendwelche Unfälle im Rollstuhl. Blass geschminkt und mit hängender Visage wird dann der große Frust gespielt. Nach absehbarer Zeit erfolgt dann endlich die Wunderheilung. Der Leihrollstuhl kann zurückgegeben werden. Der Serienalltag kann weitergehen.”

3. “The Good, the Bad and the Ugly”
(blog.persoenlich.com, Roger Schawinski)
Roger Schawinski sieht in den meisten Talkshows heute “bloss eine weitere Form von Reality-Fernsehen, bei der inhaltlich massiv eingegriffen wird”. “Da komponieren grosse Redaktionen Sendungsabläufe, die scheinbar spontan entstehen. Zwar werden damit verblüffende Diskurse oder Abläufe verhindert. Aber das nimmt man locker in Kauf. Wichtiger ist, dass der Moderator alles im Griff hat und das Erkenntnis- und Klamaukniveau mithilfe der zusätzlichen Redaktionsstimme im Ohr subtil steuern kann.”

4. “Sex mit der Chefetage: Wie man professionell Artikel verkauft”
(blog.tagesanzeiger.ch/deadline, Constantin Seibt)
Constantin Seibt gibt Tipps, wie man als freier Journalist Artikel an Redaktionen verkauft. “So etwa herrscht in Wochenzeitungen gern am Montag Verzweiflung. Die Diensthabenden haben die Wochenendleere im Kopf und die halbleere Zeitung vor Augen. In Tageszeitungen sind der Freitag und der Montag die grossen Kaufrauschtage: Freitags müssen gleich zwei Nummern geplant werden, Samstag und Montag. Und am Montag herrscht dann Sorge und Ebbe.”

5. “WDR-Magazin Markt und @-yet GmbH stellen iPhone-Sicherheit in Frage”
(macnotes.de, Alexander Trust)
Alexander Trust zweifelt, dass neue iPhones so manipuliert werden können, wie das in einem Beitrag der WDR-Sendung “Markt” gezeigt wird. “Die Frage bleibt, ob der Journalist Reifferscheid und der WDR hier auf die ‘Plausibilitäts-Keule’ von @-yet hereingefallen sind, die ihnen auf Kosten der GEZ-Gebührenzahler – ich bin einer -, ein X für ein U vorgemacht haben.”

6. “Dear Websites”
(makeuseof.com, englisch)

Bild.de sucht sich einen Golf

Heute Abend präsentiert Volkswagen in Berlin erstmals seinen neuen Golf. Ein Glück! Zumindest für denjenigen aus der Bild.de-Redaktion, der die Aufgabe hatte, die heutige “10 um 10”-Klickstrecke zu füllen.

Wo sich die Mitarbeiter nämlich sonst regelmäßig irgendwelche bizarren Fakten zu irgendwelchen bizarren Themen aus den Fingern saugen müssen (wie etwa in den letzten Tagen “Die zehn wichtigsten Sadomaso-Begriffe”, “10 Exoten unter den Verkehrszeichen”  oder “10 Tiere, die wahre Sexmonster sind”), war das Thema heute also vergleichsweise harmlos:

Die 10 Golf-Fakten zum Staunen
Vielleicht ein wenig zu harmlos für den verantwortlichen Bild.de-Mitarbeiter, denn offenbar hat er sich bei der Zusammenstellung der Fakten nicht allzu große Mühe gegeben.

Bild.de bewirbt die Klickstrecke im Teaser jedenfalls so:

Zehn originelle Fakten, Tipps oder Ideen rund um ein Thema – lassen Sie sich jeden Morgen zehnfach überraschen.

HEUTE: Unbekannte Fakten zum VW Golf

Am heutigen Abend enthüllt VW in Berlin die siebte Generation des VW Golf. Das Kompaktmodell ist das mit Abstand wichtigste (und meistverkaufte) Auto der Wolfsburger.

BILD.de hat zehn unbekannte Fakten zum Golf zusammengetragen: oben in der Galerie!

So weiß Bild.de etwa, dass bis heute “weltweit rund 29 Millionen Fahrzeuge dieser Baureihe verkauft” wurden, dass der Golf I die “mit Abstand meistverkaufte Generation ist”, dass die Cabrioversion des Golf I als “Erdbeerkörbchen” verspottet wurde, dass der Golf “den Käfer als meistgebautes VW-Modell” ablöste, dass das Modell ursprünglich “Blizzard” heißen sollte, dann aber doch nach dem Golfstrom benannt wurde, und so weiter.

Oder anders gesagt: Die “originellen” und “unbekannten” Fakten sind weder originell noch unbekannt, sondern alles Dinge, die man genauso gut in der Wikipedia nachlesen kann.

Mit Dank an Johannes K.

Wo ein Willis ist, ist auch eine Story

Wer sich im Internet irgendwo anmeldet, bekommt häufig einen Text vorgelegt, der ausgedruckt in etwa die Ausmaße des Telefonbuchs von Chicago aufweisen würde. Solche Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind in der Regel so lang und sprachlich so ermüdend, dass es gut sein kann, dass man einem Anbieter sein Erstgeborenes abtritt oder der Zerstörung des Planeten Merkur zustimmt, wenn man blindlings einfach auf “OK” klickt.

Der Schauspieler Bruce Willis hat aber, wenn man Medienberichten trauen darf, offenbar irgendwie die Geschäftsbedingungen des iTunes Store, dem Musikportal des Unterhaltungsgeräteherstellers Apple, durchgearbeitet und dabei festgestellt, dass er seinen Töchtern im Falle seines Ablebens gar nicht seine digitale Musiksammlung vererben könnte. Seitdem ist er auf einer Mission, um für die Freiheit der iTunes-Nutzer und gegen Apple zu kämpfen.

Man darf diesen Medienberichten natürlich nicht trauen, auch wenn stern.de ein bisschen naiv referiert:

Das berichten übereinstimmend die britischen Boulevardzeitungen “The Sun” und “Daily Mail”.

Die “Sun” und die “Daily Mail” sind als Quellen ungefähr so seriös wie der Freund des Schwagers einer Arbeitskollegin oder das nordkoreanische Staatsfernsehen.

Die “Daily Mail” schrieb zum Beispiel am Sonntag:

Bruce Willis sieht man eigentlich eher, wenn er Explosionen entkommt und Terroristen bekämpft, um die Welt zu retten.

Sein letzte Kampf allerdings führt ihn in die deutlich leisere Welt des Gerichtssaals — obwohl er sich immer noch einem beeindruckenden Gegner stellt.

Es heißt, der Hollywood-Actionheld überlege, juristisch gegen den Technologiegiganten Apple vorzugehen, weil er seinen Töchtern seine digitale Musiksammlung hinterlassen möchte.

(Übersetzung von uns.)

Das klingt so vage, dass die “Daily Mail” das Gleiche vermutlich über jede andere Person hätte schreiben können, ohne dass sie dabei unkonkreter hätte werden müssen.

Die “Daily Mail” schreibt von verschiedenen Plänen, mit denen Willis “angeblich” sein Vorhaben umsetzen will. Aber woher sie ihre angeblichen Informationen hat, das schreibt sie nicht.

Das einzige wörtliche Zitat im Artikel stammt dann auch gar nicht von Bruce Willis:

Anwalt Chris Walton sagte: “Viele Leute werden überrascht sein, wenn sie erfahren dass all die Lieder und Bücher, die sie über die Jahre gekauft haben, ihnen tatsächlich gar nicht gehören. Es ist ganz natürlich, dass man sie an eine nahestehende Person weitergeben will.”

(Übersetzung von uns.)

Diesen Chris Walton zitiert auch die “Sun”. Außerdem hat sie herausgefunden, dass Willis’ Downloads “Berichten zufolge Klassiker von den Beatles bis zu Led Zeppelin enthalten”.

An dieser Stelle hätte man stutzig werden und sich fragen können, warum die Musiksammlung eines 57-Jährigen eigentlich so viele Downloads mit der Musik seiner Jugend enthalten soll — das dürfte Willis doch noch alles auf Vinyl oder CD haben.

Aber warum nachdenken, wenn “Sun” und “Daily Mail” übereinstimmend über den Fall schreiben?

Bild.de:
WEIL ER SEINE MUSIKSAMMLUNG VERERBEN MÖCHTE: Bruce Willis legt sich mit Apple an

krone.at:
Bruce Willis fordert mehr Rechte an Musiksammlung

oe24.at:
Bruce Willis will iTunes von Apple verklagen

kurier.at:
Bruce Willis will Apple wegen iTunes klagen

heute.at:
Wegen iTunes: Bruce Willis will Apple verklagen

20min.ch:
Verklagt Bruce Willis Apple — wegen iTunes?

“Focus Online”:
Rechtsstreit um iTunes-Musiksammlung: Bruce Willis will Apple verklagen

“Focus Online” hatte es sogar geschafft, sich nicht auf “Sun” und/oder “Daily Mail” zu berufen, sondern auf das Trashmeldungaufbereitungsportal pressetext.com, wo sie den britischen Anwalt, den die “Daily Mail” (etwas undeutlich) als Experten befragt hatte, gleich zu “Willis’ Rechtsanwalt” gemacht hatten.

Dann passierte gestern etwas Unvorhergesehenes: Ein Twitter-User gab Bruce Willis’ Ehefrau Emma einen Rat, wie er seinen Töchtern ganz leicht den Zugang zu den iTunes-Songs sichern konnte — und Emma antwortete schlicht, die ganze Geschichte sei gar nicht wahr:

Einige Medien wie stern.de, 20min.ch und zdnet.de aktualisierten daraufhin ihre Artikel, andere wie “Focus Online” veröffentlichten einfach einen weiteren Artikel zur Frage, was eigentlich nach dem Tod mit der iTunes-Bibliothek passiert.

Wiederum andere Medien wie “Welt Online” veröffentlichten nach dem Dementi heute einfach irgendwelche feuilletonistischen Aufsätze, als sei nichts geschehen:

Warum Bruce Willis Apple verklagen will: Der Actionstar will seine Musiksammlung einmal vererben. Doch nach seinem Tode gehören die Dateien wieder Apple. Nun erwägt Bruce Willis eine Klage. Sein Tun ist von erhabener Sinnlosigkeit.

Am Nachmittag brachte “Welt Online” dann dieses “Update”:

Update: Inzwischen hat sich die Ehefrau von Bruce Willis, Emma Heming-Willis, bei Twitter zu Wort gemeldet und die Meldung, Bruce Willis würde Apple verklagen wollen, wörtlich als “nicht wahre Geschichte” bezeichnet.

“Inzwischen” im Sinne von “gestern”.

Charles Arthur hat die Geschichte der offensichtlichen Falschmeldung für das Technikblog des “Guardian” aufgeschrieben und hat eine gleichermaßen alberne wie plausible Erklärung:

Lasset also die Suche für den Ursprung dieser Geschichte beginnen. Es gibt einen Artikel vom 23. August auf Marketwatch, der eine seltsame Ähnlichkeit aufweist — aber es gibt dort keine Erwähnung einer Anfechtungsklage. Es geht nur um Nachlässe und Testamente (“Estates and Wills”).

Was uns zum erschaudernden Innehalten bringt: könnte es sein, dass jemand die Erwähnung von “Estates and Wills” sah und dachte, es seien “estates and Willis”?

(Übersetzung von uns.)

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 18.10 Uhr: Am späten Nachmittag, als die Geschichte so richtig schön “durch” war, legte die “Financial Times Deutschland” in ihrem Internetauftritt nach:

iTunes-Musiksammlung: Bruce Willis trickst Apple aus

Der Text erzählt die bekannte Mär, nach der Bruce Willis Apple verklagen wolle, und endet mit diesem bemerkenswerten Absatz:

Seine Ehefrau Emma Heming ließ auf Twitter zwar dementieren, Willis selbst wolle Apple verklagen. Ein User schlug ihr daraufhin eine denkbar simple Lösung vor: “Sag Bruce doch einfach”, schreibt RichieD, “er soll seinen Töchter seine iTunes Passwörter geben. Dann wird er ewig leben.”

Ein “doch” folgt auf das “zwar” nicht mehr.

Mit Dank an Stefan G.

Talkshows, Unique Content, Drogen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das Versagen der großen Schule”
(faz-community.faz.net, Marina Weisband)
Marina Weisband appelliert an die Journalisten: “Traut uns mehr zu. Hört nicht immer nur auf unsere Erwartungen. Vergesst nicht, dass wir letztlich das erwarten, was ihr uns vorsetzt. Was wir gewöhnt sind. Ihr könnt die Welt wirklich verbessern.”

2. “Gespräch statt Talkshow”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Rupert Neudeck)
Rupert Neudeck macht sicht Gedanken über die vielen Talkshows im deutschen Fernsehen: “Maischberger und Reinhold Beckmann bilden insofern eine große Ausnahme unter den Moderatoren, als sie zum Nutzen ihrer Sendungen kein Publikum im Studio sitzen haben. Das allein macht diese beiden Talkshows schon zu einer Besonderheit. Denn es ist sehr erholsam, dass hier eben nicht ein Publikum durch ständiges und immer gleichstarkes Klatschen jedem Gesprächsteilnehmer signalisiert, ‘jeder hat ja so recht’, wie Tucholsky sagte.”

3. “‘Wer Google austrickst, lädiert unseren Ruf'”
(meedia.de, Alexander Becker)
Stefan Plöchinger, Chefredakteur von Sueddeutsche.de, im Interview zu den Klickzahlen deutscher Zeitungsportale: “All das, was man Unique Content nennt, ist zentral für lang- statt kurzfristigen Erfolg. Das ist es, was ich mit publizistischer Idee meine. Wer sie hat und verfolgt, baut seine Marke im digitalen Raum dauerhaft auf.”

4. “Lost in Translation auf Farsi”
(ftd.de, Silke Mertins)
Eine Rede von Mohammed Mursi wird in iranischen Medien falsch übersetzt: “Der Dolmetscher des staatlichen Fernsehens und Radios tauschte in der simultan auf Farsi übersetzten Rede ‘Syrien’ kurzerhand durch ‘Bahrain’ aus – schon passte es wunderbar. Auch an anderer Stelle wurde die Ansprache des Ägypters ideologisch verbessert.”

5. “Were the fake football agent’s transfer rumours any more flaky than the usual ones?”
(newstatesman.com, Steven Baxter, englisch)
Steven Baxter macht sich Gedanken über den Text von @FootballAgent49: “When you think about it, why would a football agent bother to tweet his secret deals to Twitter when it could jeopardise his earnings?”

6. “Die neuen Drogenerfahrungen sind da!”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.ch, Thomas)

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