Archiv für September 14th, 2012

Wahrheit oder Pflicht?

Unsere Gesellschaft wäre ohne Sex nicht denkbar. Damit meinen wir gar nicht, dass die Menschheit ausstürbe, wenn sie sich nicht fortpflanzte, sondern: Artikelserien über “Nippelblitzer”, Klickstrecken mit Playmates und versehentlich an die Öffentlichkeit geratene Privatfotos irgendwelcher Prominenter. Der Online-Journalismus wäre arm dran ohne diese Themen, die die schlichtesten Triebe ihrer Leser (-innen ja wohl eher weniger) ansprechen sollen.

Und doch gibt es Menschen, denen alles Sexuelle fremd ist. Die kein Bedürfnis haben, sich unscharfe Fotos von halbnackten Promibrüsten anzusehen, oder selbst sexuell aktiv zu werden. Diesem Thema Asexualität hat “Spiegel Online” heute einen Artikel gewidmet.

Darin diese Passage:

Auch in Deutschland war das bis zur Scheidungsreform 1977 möglich: Die “Verweigerung des ehelichen Verkehrs” war ein Scheidungsgrund, bei dem der enthaltsame Ehepartner die Schuld zu tragen hatte – etwa durch Zahlung von Unterhalt oder Verlust von Ansprüchen. Die Vorstellungen von Sexualität in der Ehe mögen sich gewandelt haben, doch noch heute beschreibt ein Gesetz den Beischlaf als eheliche Pflicht. “Die Eheschließung als in aller Regel Ausdruck der tiefen Zuneigung und Sympathie, die die Eheleute füreinander empfinden, schließt die ‘Verpflichtung’ der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft (…) ein”, heißt in Paragraph 1353 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. “Eine Leugnung dieser Rechtspflicht ist nicht gerechtfertigt.”

Kleines Problem: Die zitierte Formulierung “Die Eheschließung als in aller Regel Ausdruck der tiefen Zuneigung und Sympathie, die die Eheleute füreinander empfinden, schließt die ‘Verpflichtung’ der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft (…) ein” steht nicht in § 1353 des BGB, auch nicht in früheren Versionen des Gesetzes.

Und der einzige Treffer bei Google ist der “Spiegel Online”-Artikel:

Wir haben bei der Autorin nachgefragt, wo sie auf diese Formulierung gestoßen ist.

Eine Antwort haben wir bisher nicht erhalten, aber “Spiegel Online” hat die Passage entfernt und den Artikel mit einem Hinweis versehen:

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, in Paragraf 1353 des Bürgerlichen Gesetzbuchs stehe, die Eheschließung “schließt die Verpflichtung der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft (…) ein”. Dies ist nicht der Fall. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Wir wüssten allerdings immer noch gern, wo diese Passage herkam.

Mit Dank an Dennis.

Nachtrag, 20.35 Uhr: “Spiegel Online” hat die Anmerkung um eine Quellenangabe ergänzt:

Die Passage stammt aus dem Erman-Kommentar zum BGB (2008).

Thank you for traveling with Louis Vuitton

Heute haben wir mal ein kleines Rätsel für Sie. Also, aufgepasst: Wovon handelt dieser Artikel? Erschienen ist er vor zwei Wochen im “Zeit Magazin”:

Zug in die Zukunft

Schon eine Idee? Nein? Okay, dann helfen wir ein bisschen.

Das Foto stammt von dem international erfolgreichen Blogger und Fotografen Todd Selby, der es während der Fahrt durch die Wüste Gobi geschossen hat. Der Teaser, links oben im Bild, lautet folgendermaßen:

Der Blogger Todd Selby reiste mit der Bahn von der ältesten Luxusmetropole zur neuesten: Von Paris nach Shanghai

Jetzt denken Sie bestimmt, es geht um den “Blogger Todd Selby”. Oder um dessen Reise “von Paris nach Shanghai”.

Aber nein, der Artikel handelt von: Louis Vuitton.

Anders als der Teaser, die Titelzeile und die optische Aufmachung des Artikels vermuten lassen, handelt der Text keineswegs von Selbys Reise. Die wird nämlich lediglich im zweiten Absatz des Textes beschrieben — genauer gesagt in nur drei Sätzen.

Im restlichen Artikel geht es weder um den Blogger noch um die Zugfahrt, sondern im Grunde nur um drei Dinge: die “Megamarke” Louis Vuitton, deren neue Herbstkollektion und um China als Wachstumsmarkt für Luxusgüter. Luxusgüter wie die von Louis Vuitton.

Es ist übrigens nicht so, dass Todd Selby die Reise von sich aus in Angriff genommen hätte, er tat es im Auftrag des Mode-Unternehmens, wie auch der Einstieg in den Artikel verrät:

Das verträumte Bahnfahren ist das modische Thema der Herbstkollektion von Louis Vuitton, dem Modehaus, das einst den Koffer erfand, wie wir ihn heute kennen. Deshalb schickte die Marke den Fotografen Todd Selby auf die Reise von Paris nach Shanghai, wo das Unternehmen gerade seinen bislang größten Shop in China eröffnete.

Über die Fahrt über die Kontinente erfährt der Leser dann aber – abgesehen von der Information, dass Selby die Reise “sehr romantisch” fand – nichts mehr.

Stattdessen weiß das “Zeit Magazin” zum Beispiel solche Dinge zu berichten:

1992 eröffnete Louis Vuitton in Peking den ersten Laden. Da dachte man hier noch, China sei ein Land, in dem man gebratene Hunde isst. […] Heute gibt es in China 44 Louis-Vuitton-Läden. Bevor der Bewohner eines beschaulichen Industriestaates wie Deutschland die Namen der chinesischen Riesenstädte zum ersten Mal hört, hat Louis Vuitton dort schon einen Laden eröffnet […].

Oder solche:

Denn die chinesischen Kundinnen sind innerhalb weniger Jahre von Bling-Bling-Frauen zu Modekennerinnen geworden. Sie wissen genau, was Luxus ist, zum Beispiel ein eigens angefertigtes Köfferchen fürs Teeservice.

Oder solche:

Für die Präsentation seiner Herbstkollektion besann sich Marc Jacobs, der Kreativdirektor des Hauses, auf die Anfänge der Traditionsmarke und stellte das Thema des Reisens in den Mittelpunkt der Inszenierung. Er ließ den lebensgroßen Nachbau einer Dampflok über den Laufsteg fahren. […] Es war eine Kollektion, wie nur Marc Jacobs sie hinbekommt, denn niemand ringt dem Luxus so viel modische Relevanz ab wie er.

Wenn das “Zeit Magazin” also über Louis Vuitton und die neue Herbstkollektion berichten will – warum nimmt es dann diesen Umweg und suggeriert, der Artikel handele von der Reise des Bloggers? (Die Dachzeile der Online-Version des Artikel lautet übrigens: “Bahnreise”.)

Wir haben beim “Zeit Magazin” nachgefragt, warum nicht schon im Inhaltsverzeichnis oder im Teaser auf den tatsächlichen Inhalt des Textes hingewiesen wurde. Silvie Rundel, Sprecherin der “Zeit”, antwortete uns:

Das hätte man ohne weiteres tun können. Die Kollegen beim ZEITmagazin haben stattdessen die spektakulären Bilder des Bloggers Todd Selby in den Vordergrund gestellt.

Das wäre natürlich auch ein netter Ausgleich dafür, dass Selbys Reise im Artikel selbst dann doch eher in den Hintergrund gerät.

Weiter schrieb sie:

In dem Beitrag beschäftigt sich das ZEITmagazin mit der Herbstkollektion des Designers Marc Jacobs für das Modehaus Louis Vuitton, die in Shanghai gezeigt wurde und die das Reisen in den Mittelpunkt stellt. Teil dieser Inszenierung ist neben der Kollektion der Nachbau einer alten Dampflok und eine Fotodokumentation von Todd Selby. Von all dem erzählt das ZEITmagazin in seiner Geschichte, in Bild und Text.

… womit es sich selbst zu einem Teil dieser Inszenierung gemacht hat, denn so landete Louis Vuitton dank der Todd-Selby-Aktion großflächig im redaktionellen Teil des “Zeit Magazins”.

Allerding spielt der Konzern nicht nur im redaktionellen Teil eine Rolle: Auf der Rückseite des “Zeit Magazins” findet sich nämlich eine ganzseitige Anzeige des Parfüms “Miss Dior”, das zur Parfümsparte des Hauses “Christian Dior” gehört. Die wiederum ist eine hundertprozentige Tochter der Aktiengesellschaft LVMH. Und LVMH ist die Abkürzung für: Moët Hennessy – Louis Vuitton.

Die Sprecherin der “Zeit” erklärte uns gegenüber, zwischen dem Artikel und der Anzeige gebe es “nicht den geringsten” Zusammenhang.

Mit Dank auch an Fritz und Moritz T.

Asylbewerber, DSDS, Richard David Precht

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “DSDS: Pensionist klagt RTL nach Verspottung”
(kurier.at, Ricardo Peyerl)
Ein österreichischer Rentner klagt erfolgreich gegen die RTL-Sendung “Deutschland sucht den Superstar”, in der er als “Monster” dargestellt wurde: “RTL zahlte freiwillig 9000 Euro Entschädigung und fand das ‘äußerst großzügig bemessen’. Mithilfe seines Anwalts Josef Wegrostek klagt Herbert P. im Landesgericht Korneuburg nun weitere 21.000 Euro Schmerzensgeld ein.”

2. “taz-Korrektor: ‘Ein durch und durch niederschmetternder Job'”
(blogs.taz.de/hausblog, Friederike Gräff)
Robert Matthies berichtet von seiner Arbeit als Korrektor bei der “taz”: “Ich habe zwei Wochen lang die Fehler gezählt, die ich herausgenommen habe. Im Durchschnitt waren es bis zu 100 pro Ausgabe, also 25 Fehler pro Seite. Es ist eine unsichtbare, aber wesentliche Arbeit, die das Korrektorat da macht, gemeinsam mit den Chefs vom Dienst.”

3. “Ausführlich: #azonline mag #Wikipedia! #stich #duden”
(twitlonger.com, NewsMän)
Eine Analyse eines Artikels zum Tod des Politikers Otto Stich: “Eigentlich wollte ich nur über die vielen Tippfehler und die inhaltlichen Fehler schreiben. Dabei fiel mir aber auf, dass ein nicht kleiner Teil des Artikels von Wikipedia übernommen wurde.”

4. “Liebe Verleger, fallt mir nicht auf Philosoph Precht herein”
(ralfschwartz.typepad.com)
Ralf Schwarz beschäftigt sich mit Aussagen von Richard David Precht, der “mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Printmedien” die Grossotagung in Baden-Baden “gerockt” habe, wie auf wuv.de zu lesen ist.

5. “Rederepublik Deutschland: Sind die Online-Medien schuld?”
(security-informatics.de)
Eine Auswertung von Sprachhandlungs- und Kommunikationsverben in einem Vergleich der Printarchive von “Zeit” und “Spiegel” sowie dem Archiv von “Spiegel Online”: “In allen Gazetten schreiben Journalistinnen und Journalisten darüber, was Menschen darüber sagen, was andere, mutmaßlich noch wichtigere, Menschen geäußert haben. War das schon immer so? Oder ist das eine Folge des Online-Journalismus mit seiner auf Aktualität getrimmten Kultur, in der jede Äußerung schon eine Meldung wert ist, ohne in größere Nachrichtenzusammenhänge eingebettet zu werden?”

6. “Vier Wochen Asyl – Ein Selbstversuch mit Rückkehrrecht”
(ardmediathek.de, Video, 29:03 Minuten)
Journalisten des RBB leben während vier Wochen in einem Asylbewerberheim, unter den gleichen Bedingungen wie die Asylbewerber. “Es kommt uns vor, als wären es Monate gewesen. Das Erlebte geht nah.”