Archiv für September 4th, 2012

Bild.de sucht sich einen Golf

Heute Abend präsentiert Volkswagen in Berlin erstmals seinen neuen Golf. Ein Glück! Zumindest für denjenigen aus der Bild.de-Redaktion, der die Aufgabe hatte, die heutige “10 um 10”-Klickstrecke zu füllen.

Wo sich die Mitarbeiter nämlich sonst regelmäßig irgendwelche bizarren Fakten zu irgendwelchen bizarren Themen aus den Fingern saugen müssen (wie etwa in den letzten Tagen “Die zehn wichtigsten Sadomaso-Begriffe”, “10 Exoten unter den Verkehrszeichen”  oder “10 Tiere, die wahre Sexmonster sind”), war das Thema heute also vergleichsweise harmlos:

Die 10 Golf-Fakten zum Staunen
Vielleicht ein wenig zu harmlos für den verantwortlichen Bild.de-Mitarbeiter, denn offenbar hat er sich bei der Zusammenstellung der Fakten nicht allzu große Mühe gegeben.

Bild.de bewirbt die Klickstrecke im Teaser jedenfalls so:

Zehn originelle Fakten, Tipps oder Ideen rund um ein Thema – lassen Sie sich jeden Morgen zehnfach überraschen.

HEUTE: Unbekannte Fakten zum VW Golf

Am heutigen Abend enthüllt VW in Berlin die siebte Generation des VW Golf. Das Kompaktmodell ist das mit Abstand wichtigste (und meistverkaufte) Auto der Wolfsburger.

BILD.de hat zehn unbekannte Fakten zum Golf zusammengetragen: oben in der Galerie!

So weiß Bild.de etwa, dass bis heute “weltweit rund 29 Millionen Fahrzeuge dieser Baureihe verkauft” wurden, dass der Golf I die “mit Abstand meistverkaufte Generation ist”, dass die Cabrioversion des Golf I als “Erdbeerkörbchen” verspottet wurde, dass der Golf “den Käfer als meistgebautes VW-Modell” ablöste, dass das Modell ursprünglich “Blizzard” heißen sollte, dann aber doch nach dem Golfstrom benannt wurde, und so weiter.

Oder anders gesagt: Die “originellen” und “unbekannten” Fakten sind weder originell noch unbekannt, sondern alles Dinge, die man genauso gut in der Wikipedia nachlesen kann.

Mit Dank an Johannes K.

Wo ein Willis ist, ist auch eine Story

Wer sich im Internet irgendwo anmeldet, bekommt häufig einen Text vorgelegt, der ausgedruckt in etwa die Ausmaße des Telefonbuchs von Chicago aufweisen würde. Solche Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind in der Regel so lang und sprachlich so ermüdend, dass es gut sein kann, dass man einem Anbieter sein Erstgeborenes abtritt oder der Zerstörung des Planeten Merkur zustimmt, wenn man blindlings einfach auf “OK” klickt.

Der Schauspieler Bruce Willis hat aber, wenn man Medienberichten trauen darf, offenbar irgendwie die Geschäftsbedingungen des iTunes Store, dem Musikportal des Unterhaltungsgeräteherstellers Apple, durchgearbeitet und dabei festgestellt, dass er seinen Töchtern im Falle seines Ablebens gar nicht seine digitale Musiksammlung vererben könnte. Seitdem ist er auf einer Mission, um für die Freiheit der iTunes-Nutzer und gegen Apple zu kämpfen.

Man darf diesen Medienberichten natürlich nicht trauen, auch wenn stern.de ein bisschen naiv referiert:

Das berichten übereinstimmend die britischen Boulevardzeitungen “The Sun” und “Daily Mail”.

Die “Sun” und die “Daily Mail” sind als Quellen ungefähr so seriös wie der Freund des Schwagers einer Arbeitskollegin oder das nordkoreanische Staatsfernsehen.

Die “Daily Mail” schrieb zum Beispiel am Sonntag:

Bruce Willis sieht man eigentlich eher, wenn er Explosionen entkommt und Terroristen bekämpft, um die Welt zu retten.

Sein letzte Kampf allerdings führt ihn in die deutlich leisere Welt des Gerichtssaals — obwohl er sich immer noch einem beeindruckenden Gegner stellt.

Es heißt, der Hollywood-Actionheld überlege, juristisch gegen den Technologiegiganten Apple vorzugehen, weil er seinen Töchtern seine digitale Musiksammlung hinterlassen möchte.

(Übersetzung von uns.)

Das klingt so vage, dass die “Daily Mail” das Gleiche vermutlich über jede andere Person hätte schreiben können, ohne dass sie dabei unkonkreter hätte werden müssen.

Die “Daily Mail” schreibt von verschiedenen Plänen, mit denen Willis “angeblich” sein Vorhaben umsetzen will. Aber woher sie ihre angeblichen Informationen hat, das schreibt sie nicht.

Das einzige wörtliche Zitat im Artikel stammt dann auch gar nicht von Bruce Willis:

Anwalt Chris Walton sagte: “Viele Leute werden überrascht sein, wenn sie erfahren dass all die Lieder und Bücher, die sie über die Jahre gekauft haben, ihnen tatsächlich gar nicht gehören. Es ist ganz natürlich, dass man sie an eine nahestehende Person weitergeben will.”

(Übersetzung von uns.)

Diesen Chris Walton zitiert auch die “Sun”. Außerdem hat sie herausgefunden, dass Willis’ Downloads “Berichten zufolge Klassiker von den Beatles bis zu Led Zeppelin enthalten”.

An dieser Stelle hätte man stutzig werden und sich fragen können, warum die Musiksammlung eines 57-Jährigen eigentlich so viele Downloads mit der Musik seiner Jugend enthalten soll — das dürfte Willis doch noch alles auf Vinyl oder CD haben.

Aber warum nachdenken, wenn “Sun” und “Daily Mail” übereinstimmend über den Fall schreiben?

Bild.de:
WEIL ER SEINE MUSIKSAMMLUNG VERERBEN MÖCHTE: Bruce Willis legt sich mit Apple an

krone.at:
Bruce Willis fordert mehr Rechte an Musiksammlung

oe24.at:
Bruce Willis will iTunes von Apple verklagen

kurier.at:
Bruce Willis will Apple wegen iTunes klagen

heute.at:
Wegen iTunes: Bruce Willis will Apple verklagen

20min.ch:
Verklagt Bruce Willis Apple — wegen iTunes?

“Focus Online”:
Rechtsstreit um iTunes-Musiksammlung: Bruce Willis will Apple verklagen

“Focus Online” hatte es sogar geschafft, sich nicht auf “Sun” und/oder “Daily Mail” zu berufen, sondern auf das Trashmeldungaufbereitungsportal pressetext.com, wo sie den britischen Anwalt, den die “Daily Mail” (etwas undeutlich) als Experten befragt hatte, gleich zu “Willis’ Rechtsanwalt” gemacht hatten.

Dann passierte gestern etwas Unvorhergesehenes: Ein Twitter-User gab Bruce Willis’ Ehefrau Emma einen Rat, wie er seinen Töchtern ganz leicht den Zugang zu den iTunes-Songs sichern konnte — und Emma antwortete schlicht, die ganze Geschichte sei gar nicht wahr:

Einige Medien wie stern.de, 20min.ch und zdnet.de aktualisierten daraufhin ihre Artikel, andere wie “Focus Online” veröffentlichten einfach einen weiteren Artikel zur Frage, was eigentlich nach dem Tod mit der iTunes-Bibliothek passiert.

Wiederum andere Medien wie “Welt Online” veröffentlichten nach dem Dementi heute einfach irgendwelche feuilletonistischen Aufsätze, als sei nichts geschehen:

Warum Bruce Willis Apple verklagen will: Der Actionstar will seine Musiksammlung einmal vererben. Doch nach seinem Tode gehören die Dateien wieder Apple. Nun erwägt Bruce Willis eine Klage. Sein Tun ist von erhabener Sinnlosigkeit.

Am Nachmittag brachte “Welt Online” dann dieses “Update”:

Update: Inzwischen hat sich die Ehefrau von Bruce Willis, Emma Heming-Willis, bei Twitter zu Wort gemeldet und die Meldung, Bruce Willis würde Apple verklagen wollen, wörtlich als “nicht wahre Geschichte” bezeichnet.

“Inzwischen” im Sinne von “gestern”.

Charles Arthur hat die Geschichte der offensichtlichen Falschmeldung für das Technikblog des “Guardian” aufgeschrieben und hat eine gleichermaßen alberne wie plausible Erklärung:

Lasset also die Suche für den Ursprung dieser Geschichte beginnen. Es gibt einen Artikel vom 23. August auf Marketwatch, der eine seltsame Ähnlichkeit aufweist — aber es gibt dort keine Erwähnung einer Anfechtungsklage. Es geht nur um Nachlässe und Testamente (“Estates and Wills”).

Was uns zum erschaudernden Innehalten bringt: könnte es sein, dass jemand die Erwähnung von “Estates and Wills” sah und dachte, es seien “estates and Willis”?

(Übersetzung von uns.)

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 18.10 Uhr: Am späten Nachmittag, als die Geschichte so richtig schön “durch” war, legte die “Financial Times Deutschland” in ihrem Internetauftritt nach:

iTunes-Musiksammlung: Bruce Willis trickst Apple aus

Der Text erzählt die bekannte Mär, nach der Bruce Willis Apple verklagen wolle, und endet mit diesem bemerkenswerten Absatz:

Seine Ehefrau Emma Heming ließ auf Twitter zwar dementieren, Willis selbst wolle Apple verklagen. Ein User schlug ihr daraufhin eine denkbar simple Lösung vor: “Sag Bruce doch einfach”, schreibt RichieD, “er soll seinen Töchter seine iTunes Passwörter geben. Dann wird er ewig leben.”

Ein “doch” folgt auf das “zwar” nicht mehr.

Mit Dank an Stefan G.

Talkshows, Unique Content, Drogen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das Versagen der großen Schule”
(faz-community.faz.net, Marina Weisband)
Marina Weisband appelliert an die Journalisten: “Traut uns mehr zu. Hört nicht immer nur auf unsere Erwartungen. Vergesst nicht, dass wir letztlich das erwarten, was ihr uns vorsetzt. Was wir gewöhnt sind. Ihr könnt die Welt wirklich verbessern.”

2. “Gespräch statt Talkshow”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Rupert Neudeck)
Rupert Neudeck macht sicht Gedanken über die vielen Talkshows im deutschen Fernsehen: “Maischberger und Reinhold Beckmann bilden insofern eine große Ausnahme unter den Moderatoren, als sie zum Nutzen ihrer Sendungen kein Publikum im Studio sitzen haben. Das allein macht diese beiden Talkshows schon zu einer Besonderheit. Denn es ist sehr erholsam, dass hier eben nicht ein Publikum durch ständiges und immer gleichstarkes Klatschen jedem Gesprächsteilnehmer signalisiert, ‘jeder hat ja so recht’, wie Tucholsky sagte.”

3. “‘Wer Google austrickst, lädiert unseren Ruf'”
(meedia.de, Alexander Becker)
Stefan Plöchinger, Chefredakteur von Sueddeutsche.de, im Interview zu den Klickzahlen deutscher Zeitungsportale: “All das, was man Unique Content nennt, ist zentral für lang- statt kurzfristigen Erfolg. Das ist es, was ich mit publizistischer Idee meine. Wer sie hat und verfolgt, baut seine Marke im digitalen Raum dauerhaft auf.”

4. “Lost in Translation auf Farsi”
(ftd.de, Silke Mertins)
Eine Rede von Mohammed Mursi wird in iranischen Medien falsch übersetzt: “Der Dolmetscher des staatlichen Fernsehens und Radios tauschte in der simultan auf Farsi übersetzten Rede ‘Syrien’ kurzerhand durch ‘Bahrain’ aus – schon passte es wunderbar. Auch an anderer Stelle wurde die Ansprache des Ägypters ideologisch verbessert.”

5. “Were the fake football agent’s transfer rumours any more flaky than the usual ones?”
(newstatesman.com, Steven Baxter, englisch)
Steven Baxter macht sich Gedanken über den Text von @FootballAgent49: “When you think about it, why would a football agent bother to tweet his secret deals to Twitter when it could jeopardise his earnings?”

6. “Die neuen Drogenerfahrungen sind da!”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.ch, Thomas)