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So viele Menschen könnten arbeiten und arbeiten auch schon

Kommen wir noch einmal zum Bürgergeld und der Frage, wie die “Bild”-Redaktion mit einseitiger und/oder unvollständiger und/oder verzerrter Berichterstattung versucht, Stimmung zu dem Thema zu machen.

Und zwar so:

Screenshot Bild.de - Neue Zahlen zum Bürgergeld - So viele Menschen könnten arbeiten, kriegen aber Stütze

Neue Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) belegen: Hunderttausende Menschen könnten in Deutschland arbeiten, bekommen aber Stütze vom Staat.

Im April 2023 zählte die BA rund 3,9 Millionen “erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte”. Sprich: Menschen, die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten.

Mehrfach schreibt “Bild” im Artikel (und ja auch schon in der Überschrift), dass sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte arbeiten könnten, stattdessen aber Bürgergeld beziehen:

Der Anteil “erwerbsfähiger Leistungsberechtigter” – also Menschen, die arbeiten können, aber Bürgergeld erhalten – lag im April …

Nirgendwo im Text steht es explizit, aber es schwingt an vielen Stellen mit: Schaut euch nur diese Faulen an. Die könnten arbeiten, lassen sich aber lieber vom Staat aushalten.

Doch schon die statistische Grundannahme der “Bild”-Redaktion ist falsch.

Die Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) für erwerbsfähige Leistungsberechtigte lautet:

Als erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) gelten gem. § 7 SGB II Personen, die

• das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
• erwerbsfähig sind,
• hilfebedürftig sind und
• ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

3.938.055 ELB gab es im April dieses Jahres, der aktuellste Monat, für den aufgeschlüsselte Daten von der BA vorliegen (Excel-Datei). Während die “Bild”-Redaktion ihrer Leserschaft einhämmert, dass sie alle arbeiten könnten, ist es tatsächlich anders – ein beachtlicher Teil von ihnen arbeitet bereits: 779.801 Personen führt die BA als erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Das sind 19,8 Prozent aller ELB. Manche von ihnen sind Selbstständige, die meisten aber sind abhängig erwerbstätig: Manche in Vollzeit, mehr in Teilzeit oder ausschließlich geringfügig beschäftigt, auch Auszubildende sind dabei. Sie alle arbeiten – und beziehen Bürgergeld als ELB. Häufig werden sie als “Aufstocker” bezeichnet.

Von ihnen ist im “Bild”-Artikel nichts zu lesen. Dort liest man nur platte Parolen wie: “Stütze statt Schuften”.

Und auch einen anderen Aspekt lässt die “Bild”-Redaktion völlig unerwähnt: Von den 3.938.055 ELB führt die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Statistik nur 1.683.023 als arbeitslos (42,7 Prozent). Die anderen 2.255.032, also die Mehrheit (57,3 Prozent), sind “nicht arbeitslose ELB”. Und dafür gibt es ganz gute Gründe. Die BA schreibt in ihrem “Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt” (PDF) für den Monat August (der auf die aufgeschlüsselten Daten vom April zurückgreift) über die “Gründe für die Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter”:

Es sind vor allem drei Gründe, derentwegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht arbeitslos sind. Für 701.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte war eine Arbeit derzeit nicht zumutbar, weil sie entweder kleine Kinder betreuten bzw. Angehörige pflegten oder noch zur Schule gingen bzw. studierten. 441.000 Personen waren nicht arbeitslos, weil sie einer ungeförderten Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden nachgingen. 523.000 Personen haben an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder an einem Integrationskurs teilgenommen.

Über diese Gruppen hinaus zählten 253.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht als arbeitslos, weil sie arbeitsunfähig erkrankt waren. Und schließlich galten für 139.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte Sonderregelungen für Ältere.

Auch von diesen Personen, die “Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende [erhalten], ohne arbeitslos zu sein”, wie die BA schreibt, liest man im “Bild”-Artikel nichts. Es handelt sich dabei natürlich auch um eine definitorische Frage, die die Zahlen für die Bundesagentur für Arbeit besser aussehen lassen kann. Aber dass “Bild” beispielsweise Schülerinnen und Schüler oder arbeitsunfähig Erkrankte als Menschen präsentiert, “die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten”, ist grotesk und eine stark verzerrte Wiedergabe der Statistik.

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Der gesetzlich vorgeschriebene, jährliche “neue Ampel-Plan”

In dem Vorgang steckt eigentlich nichts Skandalöses: Jedes Jahr muss die jeweils amtierende Bundesregierung die sogenannten Rechengrößen der Sozialversicherung festlegen. Dazu gehören beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenzen, die vorgeben, bis zu welcher Einkommensgrenze Beiträge für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung erhoben werden. Für das Einkommen, das oberhalb dieser Grenzen liegt, fallen keine Sozialabgaben an.

Die Regierung muss das machen, sie ist dazu verpflichtet – mehrere Gesetze schreiben diese Praxis vor. So steht beispielsweise zur Rentenversicherung in Paragraf 160 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch:

Die Bundesregierung hat durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1. die Beitragssätze in der Rentenversicherung,
2. in Ergänzung der Anlage 2 die Beitragsbemessungsgrenzen

festzusetzen.

In Paragraf 159 ist mit Blick auf die Beitragsbemessungsgrenzen das Wie geregelt:

Die Beitragsbemessungsgrenzen in der allgemeinen Rentenversicherung sowie in der knappschaftlichen Rentenversicherung ändern sich zum 1. Januar eines jeden Jahres in dem Verhältnis, in dem die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Abs. 2 Satz 1) im vergangenen zu den entsprechenden Bruttolöhnen und -gehältern im vorvergangenen Kalenderjahr stehen.

Im erwähnten Paragraf 68 Absatz 2 Satz 1 steht:

Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer sind die durch das Statistische Bundesamt ermittelten Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ohne Personen in Arbeitsgelegenheiten mit Entschädigungen für Mehraufwendungen jeweils nach der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen.

Das heißt: Die Bundesregierung muss die Rechengrößen der Sozialversicherung nicht nur jedes Jahr neu festlegen; sie hat dabei – beispielsweise bei der Ermittlung der Beitragsbemessungsgrenzen – auch nicht freie Hand, sondern muss sich an die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes halten.

Wie gesagt: Eigentlich nichts Skandalöses, sondern alles gesetzlich so vorgesehen, wenn die amtierende Ampel-Regierung bald die neuen Rechengrößen beschließen will.

Die “Bild”-Redaktion gibt sich große Mühe, es anders wirken zu lassen:

Screenshot Bild.de - Neuer Ampel-Plan - Sozialbeitrags-Hammer ab 2024

Es sei ein “Plan der Bundesregierung”:

Der Plan der Bundesregierung: In der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung sollen bis zu einem Betrag von monatlich 7550 Euro (West) beziehungsweise 7450 Euro (Ost) Beiträge fällig werden.

Laut “Bild” handele es sich um einen “Vorstoß”, der “zuletzt für Zoff in der Ampel-Koalition” gesorgt habe. Und der Arbeitsminister mache Tempo:

Doch der zuständige Arbeitsminister Hubertus Heil (50, SPD) macht Tempo: Der Sozialbeitrags-Hammer soll schon am 11. Oktober vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht werden.

Ohne Hubertus Heil zu nahe treten zu wollen: Er ist in diesem Sinne wahrlich kein besonderer Tempomacher. Die “Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung” wurde 2022 am 12. Oktober vom Bundeskabinett beschlossen, 2021 war es am 20. Oktober, 2020 am 14. Oktober, 2019 am 9. Oktober, 2018 am 10. Oktober, 2017 am 27. September und so weiter.

Wenn es in ihre Erzählung passt, erklärt die “Bild”-Redaktion einfach mal etwas sehr Übliches zum nächsten Aufreger-“Hammer”.

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“Bild”-Chefin nutzt deutsche Basketballer als Scheinargument

Deutschland ist Basketball-Weltmeister, zum allerersten Mal. Bei so einem historischen Ereignis muss natürlich die Chefin ran:

Screenshot Bild.de - Kommentar von Bild-Chefin Marion Horn - Heute sind wir alle Basketball!

Horn schreibt unter anderem:

Deutschland kann es also noch. Der Ball ist wieder im Spiel. Endlich wieder Sieger-Typen mit Biss und Charisma. Vielleicht liegt es daran, dass einige der Spieler in den USA spielen. Da zählt Gewinnen noch und Helden werden verehrt. Zumindest da, wo keine Männer in Frauen-Badeanzügen am Start sind.

Der letzte Satz kommt einigermaßen überraschend und lässt in seiner Form recht viel Spielraum für Interpretationen. Nehmen wir mal die für Marion Horn freundlichste und gehen davon aus, dass sich an der Stelle nicht einfach plumper Zorn auf trans* Personen Bahn bricht: Horn scheint auf Lia Thomas anzuspielen, eine trans* Frau, deren Erfolge beim Schwimmen auf College-Ebene für große Diskussionen gesorgt haben.

Dass Marion Horn selbst im Moment größter Verzückung – ihren Kommentar startet sie mit: “Haben Sie auch so gute Laune? Ich bekomme das Strahlen kaum noch aus dem Gesicht” – nicht in der Lage ist, ohne diese Giftspritze auszukommen, ist vor allem eins: traurig für Marion Horn.

Es soll hier aber vor allem um den anderen Aspekt in dem Zitat und dessen faktische Grundlage gehen: Vielleicht liege der WM-Triumph der “Sieger-Typen mit Biss und Charisma” daran, so Horn, “dass einige der Spieler in den USA spielen. Da zählt Gewinnen noch und Helden werden verehrt.”

Diese Aussage knüpft an eine aktuelle Diskussion an, in der es in ihrer Überspitzung letztlich darum geht, ob in Deutschland Leistung wumpe ist, ein ganzes Land verweichlicht, keinen Druck und Niederlagen mehr aushält und nichts mehr zustande bringt. Die Reform der Bundesjugendspiele wird dabei immer wieder genannt, genauso eine Änderung im Spielbetrieb des Kinderfußballs (weil man es derzeit an allen möglichen Stellen falsch hört: Nein, es werden dabei nicht Sieg und Niederlage abgeschafft, es geht weiterhin ums Gewinnen und Verlieren, was wegfällt sind die Tabellen).

In diese Debatte will Marion Horn also auch den WM-Sieg der deutschen Basketballer einrühren. Weil die überragenden Auftritte des Teams natürlich so gar nicht in den Abgesang auf die Leistungsnation Deutschland passen, muss Horn sich dafür ganz schön verbiegen.

Schauen und zählen wir doch einfach mal nach: Im deutschen Team spielen mit Dennis Schröder (Toronto Raptors), Daniel Theis (Indiana Pacers) sowie Franz und Moritz Wagner (beide Orlando Magic) vier Spieler in der nordamerikanischen Profiliga NBA. Die anderen acht deutschen Teammitglieder sind in Deutschland, Italien, Spanien und der Türkei aktiv.

Schröder und Theis wechselten beide von der Basketball-Bundesliga in die NBA. Die WagnerBrüder schafften beide von der Basketball-Bundesliga beziehungsweise von deutschen Nachwuchsteams übers US-College den Weg in die NBA. Keiner der vier ist in den USA aufgewachsen und hat dort mit dem Basketballspielen begonnen. Zumindest die Grundlangen für ihre Eigenschaften als “Sieger-Typen” dürften sie durchaus in Deutschland mitbekommen haben.

Halten wir also fest: vier NBA-Spieler in der deutschen Nationalmannschaft.

Damit ist deren WM-Sieg nach der Hornschen Logik ein noch viel größeres Wunder als er eh schon ist. Denn es gibt drei Mannschaften, in denen mehr Spieler im Land des Gewinnenzählens und der Heldenverehrung aktiv sind: Bei den USA stehen alle zwölf Spieler bei NBA-Vereinen unter Vertrag (im Halbfinale gewann Deutschland gegen die USA; bester Schütze in diesem Duell war mit Andreas Obst übrigens ein Spieler, der vielleicht mal in den USA Urlaub gemacht, aber noch nie in der dortigen Liga gespielt hat). Das Team landete auf Rang 4. In der australischen Mannschaft sind neun NBA-Spieler dabei gewesen (in der Vorrunde gewann Deutschland gegen Australien), die Australier wurden Zehnter. Und Kanada wurde mit sieben NBA-Spielern am Ende Dritter.

Dennis Schröder, Daniel Theis, Franz und Moritz Wagner waren ohne Zweifel von großer Bedeutung beim WM-Sieg der deutschen Mannschaft. Für Marion Horn dienen sie aber lediglich als Scheinargument für einen Kulturkampf.

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Betr.: Jugendsünden

Es gibt eine Faustformel, wann eine öffentliche Debatte in der Bundesrepublik durch ist: Wenn Springer-Chef Mathias Döpfner in die “Bild”-Redaktion stürmt (so stellen wir uns das jedenfalls bildlich vor), ein mit Füllfederhalter beschriftetes Blatt Büttenpapier auf den Tisch wirft und sagt: “Ich hab da mal was aufgeschrieben!”

Gestern war es mal wieder soweit:

Screenshot Bild.de - Kommentar von Mathias Döpfner zur Aiwanger-Affäre - Totalschaden

In einem Text, der als “Kommentar” bezeichnet wird und der auch heute in der gedruckten “Bild” erschienen ist, sinniert Döpfner in selbst für “Bild”-Verhältnisse bemerkenswerter Kurzform über das “vorläufige Ergebnis” der Flugblattaffäre um Bayerns stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger. Er schreibt unter anderem:

Widerliche antisemitische Parolen werden in Deutschland als “Jugendsünde” verbucht.

Leider geht Mathias Döpfner in seinem “Bild”-Kommentar nicht genauer darauf ein, wo und von wem die antisemitischen Parolen als “Jugendsünde” verbucht werden und wer dazu beigetragen hat. Und da müssen wir mal was aufschreiben.

Dafür gehen wir gut eineinhalb Wochen zurück, in die Zeit, als die Debatte um Hubert Aiwanger und dessen Vergangenheit – die Urheberschaft der antisemitischen Flugblätter hatte bereits Hubert Aiwangers Bruder Helmut übernommen – so richtig in Schwung gekommen ist. Zu der Zeit liefen mehrere öffentliche Diskussionen parallel: Eine drehte sich um die Eignung Hubert Aiwangers als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern; eine andere darum, ob die “Süddeutsche Zeitung” die Vorwürfe, die sich im Nachhinein als zumindest unscharf herausgestellt hatten, überhaupt hätte veröffentlichen dürfen; in einer dritten ging es erst einmal darum, den Begriff “Jugendsünde”, den Helmut Aiwanger für sein eigenes Flugblatt verwendet hatte, semantisch auszupendeln – um auf Basis des Ergebnisses dann eine der anderen beiden Diskussionen (oder gleich beide) weiterzuführen.

Da pendelte auch “Bild” mit:

Screenshot Bild.de - Schläger, Schummler, Kommunisten - Die Jugendsünden unserer Politiker

In der “Bild”-Redaktion fiel die Aufgabe, den Begriff “Jugendsünde” irgendwie mit Leben zu füllen, offenbar Hans-Jörg Vehlewald zu, der sich dem Thema differenziert widmen zu wollen schien:

Wie kann jemand als Jugendlicher menschenverachtende Nazi-Witze verbreiten und sich später als Erwachsener zum Demokraten wandeln?

Ist Einsicht möglich? Dieser Frage mussten sich schon andere Politiker stellen. Beispiele zeigt Beispiele.

(Vom letzten Satz nicht verwirren lassen: Es ist Bild.de, das hier Beispiele zeigt, aber so ein Fehler kann ja nun wirklich jedem mal passieren!)

Was Vehlewald zusammengetragen hat, wirkt wie das Ergebnis einer Umfrage in der Redaktionskantine, was einem alles zum Thema “Jugendsünde” einfalle – “Dalli, Dalli!”.

Los geht es zum Beispiel mit Joschka Fischer:

Ex-Außenminister Joschka Fischer (75, Grüne) prügelte als 25-jähriger Straßenkämpfer mit Motorradhelm in Frankfurt/Main auf einen wehrlos am Boden liegenden Polizisten ein. Später als Bundesminister bekannte er: “Ja, ich war militant” – und blieb nach heftigen Debatten im Amt.

Weiter mit Sawsan Chebli:

Sawsan Chebli (45, SPD), ehemals angestellt beim Berliner Senat und beim Auswärtigen Amt, gab selbst zu, als Kind palästinensischer Flüchtlinge “Juden für das Leid der Palästinenser und für das Schicksal meiner Eltern verantwortlich gemacht” zu haben: “Ich war wütend.” Auf Twitter (X) griff sie Bayerns Freie-Wähler-Chef Aiwanger für dessen “Jugendsünde” dennoch scharf an und unterstellte mittelbar allen Aiwanger-Verteidigern, selbst Nazis, Rassisten oder Antisemiten zu sein. (Der Tweet wurde später wieder gelöscht.)

Das verräterische ist hier das Konjunktionaladverb “dennoch”, das Vehlewald verwendet. So als habe Chebli das Recht verwirkt, Antisemitismus zu kritisieren. Außerdem wirken ihre Zitate in der verkürzten Wiedergabe bei Bild.de etwas anders als im Kontext des “Tagesspiegel”-Interviews, in dem sie diese geäußert hatte:

Als Jugendliche habe ich Juden für das Leid der Palästinenser und für das Schicksal meiner Eltern verantwortlich gemacht. Ich war wütend, dass Juden einen eigenen Staat haben und wir staatenlos und bitterarm sind. Ich war wütend, dass meine Eltern zwanzig Jahre in einem libanesischen Lager leben mussten, elf Geschwister dort zur Welt gekommen sind, ohne jede Perspektive, ohne Chance auf Rückkehr in ihr Land. Ich war oft wütend und habe auch Hass gespürt. […] Im Laufe der Jahre ist aus Wut und Hass der Wunsch gewachsen, Brücken zu bauen und junge Menschen auf beiden Seiten zusammenzubringen, um Hass zu überwinden.

Über Bundeskanzler Olaf Scholz weiß Vehlewald zu berichten, dass dieser als Vizechef der Jusos für die “Überwindung der kapitalistischen Ökonomie” eingetreten war, sich gegen die “aggressiv-imperialistische Nato” ausgesprochen und die Bundesrepublik als “europäische Hochburg des Großkapitals” bezeichnet hatte. Über Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, schreibt er, dass dieser “als Student und Lehrer-Anwärter zwei Jahre beim Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv” war, “vom Verfassungsschutz überprüft” wurde und 1975 erklärt hatte, “er stehe der extrem linken K-Gruppe nahe.”

Es ist natürlich möglich, dass Hans-Jörg Vehlewald diese Beispiele mit Hilfe von eigenen und fremden Erinnerungen und ausführlicher Archiv-Recherche zusammengestellt hat. Er hätte sich diese Mühe aber zumindest nicht machen müssen, denn einen Tag vor seinem eigenen Artikel war beim rechten Online-Magazin “Apollo News” ein Text über die “erschreckenden Jugendsünden von Grünen- und SPD-Politikern” erschienen, in dem all diese Fälle, teilweise mit den exakt gleichen Zitaten, vorkamen.

Bei Bild.de gibt es aber noch mehr:

Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (69, Grüne) weigerte sich gegenüber dem Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, sich von einem 1977 verfassten Pamphlet linker RAF-Sympathisanten (“Mescalero-Brief”) zu distanzieren. Der Verfasser hatte damals “klammheimliche Freude” über die RAF-Morde bekundet. Trittin stellte später klar, er habe mit dem Schreiben nie etwas zu tun gehabt, verurteile jede Form von Terror.

Vehlewald spielt hier auf eine Episode an, die im Januar und Februar 2001 die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt hatte: In einem Zug war Siegfried Bubacks Sohn Michael zufällig auf Jürgen Trittin getroffen und hatte ihn auf den berühmt-berüchtigten Text des “Göttinger Mescaleros” über die Ermordung Siegfried Bubacks angesprochen. Trittin wusste bei dieser Begegnung im Zug offenbar nicht, dass sein Gegenüber der Sohn des Ermordeten war, und erklärte schon kurz danach, sich den Brief nie zu eigen gemacht zu haben. Und auch die “Bild”-Formulierung “Trittin stellte später klar, er habe mit dem Schreiben nie etwas zu tun gehabt” ist zumindest irreführend, denn Michael Buback wusste zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens im Zug bereits seit über einem Jahr, wer der Autor des Textes gewesen war. Den Abschnitt zu Jürgen Trittins “Jugendsünde” hat Bild.de mit “RAF-Nähe?” überschrieben.

Immerhin ist jemandem in der “Bild”-Redaktion noch aufgefallen, dass die Zusammenstellung der “Jugendsünden” so recht einseitig wäre. Und so finden sich neben den zwei Beispielen zu Leuten der SPD und dreien von den Grünen auch noch zwei ehemalige Unions-Politiker in der Aufstellung:

Ex-Bundesfamilienminister Heiner Geißler (starb 2017 mit 87 Jahren) half als 22-jähriger Jesuiten-Schüler in Südtirol einer nationalistischen Terrorgruppe (“Tiroler Bumser”) bei Anschlägen, transportierte sogar auf seinem Motorrad (“Adler 250”) Dynamit durch die Alpen. “Unwissentlich”, wie er später einräumte.

Okay, das klingt selbst in dieser Reihe erstaunlich drastisch – wobei Bild.de vielleicht der Fairness halber hätte erwähnen können, dass die Anschläge welche auf Strommasten waren.

Wie will man das toppen?

Bild.de versucht es so:

Seine Doktorarbeit kostete Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (51, CSU) den Posten. Seitenweise hatte der Unionspolitiker aus anderen Arbeiten abgeschrieben, tat die Affäre zunächst als läppisch ab, stürzte am Ende über die Plagiate. Inzwischen hat er eine neue Doktorarbeit an der britischen Southampton Business School (Universität Southampton) nachgereicht. Thema: Geschichte der Banküberweisungen.

Das ist insofern bemerkenswert, als die “Bild”-Medien damals alles getan hatten, um den Minister im Amt zu halten, und Karl-Theodor zu Guttenberg bei der Abgabe seiner Doktorarbeit nicht mehr ganz so jugendliche 35 Jahre alt gewesen war.

Die Zusammenstellung dieser “Jugendsünden” vor dem Hintergrund der Aiwanger-Enthüllungen ist einigermaßen rätselhaft: Die eingangs gestellte Frage “Ist Einsicht möglich?” beantwortet der Text nur teilweise. Und dort, wo Einsicht offenbar vorhanden war, etwa bei Sawsan Chebli, thematisiert Hans-Jörg Vehlewald diese Entwicklung nicht weiter. Die Art der von Bild.de ausgewählten “Jugendsünden” ist so unterschiedlich, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, worum es jetzt eigentlich geht: um klassische linke Rhetorik, um den unwissentlichen Transport von Sprengstoff, um körperliche Gewalt gegen Polizisten, um Plagiate in Doktorarbeiten – und um antisemitische Flugblätter?!

Es kann ja immer hilfreich sein, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, um deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, aber hier drängt sich dann doch der Verdacht auf, eine lose Sammlung von Notizen sei versehentlich veröffentlicht worden. Dieses Durcheinander dürfte vor allem der Argumentation Helmut Aiwangers und dessen Versuch helfen, das Flugblatt als “Jugendsünde” einordnen zu lassen – ach, lass gut sein, sind doch irgendwie alles “Jugendsünden”. Oder wie Mathias Döpfner sagen würde: “Widerliche antisemitische Parolen werden in Deutschland als ‘Jugendsünde’ verbucht.”

Da ist es dann auch egal, wenn Vehlewald seine bis hierhin schon eklektische Parade jetzt völlig über die Klippe gehen lässt:

Übrigens: Jugendsünden der weitaus harmloseren Sorte gestanden zwei weitere Politiker kürzlich ein.

► Schaumschläger: Ex-SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz (67) gab im Interview zu, er habe als Jugendlicher nach durchzechter Nacht eine Packung Waschpulver im heimischen Freibad versenkt – und sei nur knapp der Polizei entkommen.

► Schulschwänzer: Bundesfinanzminister Christian Lindner (44, FDP) gestand, er habe als Schüler den Englisch-Unterricht regelmäßig geschwänzt, sei zur Abi-Deutsch-Prüfung zu spät gekommen und habe sich für das Mathe-Abi ausschließlich mit Red-Bull und Milchschnitten vorbereitet, statt zu lernen.

Es war in diesen Tagen ausgerechnet Franz Josef Wagner, der den Begriff “Jugendsünde” für die “Bild”-Medien einmal klar mit Leben füllte:

Ich fuhr mit 17 ohne Führerschein. Ich betrank mich mit 17 und wurde von der Polizei für eine Nacht in eine Zelle gesteckt. Ich schrieb von einem Kumpel die Mathearbeit ab. Ich klaute Comic-Hefte. Ich war ein Lügner beim Sex. Ich sprach von Liebe und wollte nur grapschen.

Er fuhr fort:

Die Jugendsünden der Aiwanger-Brüder sind unverzeihbar. Als ersten Preis wird da ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz ausgelobt in ihrem Pamphlet. Ich weiß nicht, wie man so etwas Krankes in sein Gehirn kriegt.

Es sind keine Jugendsünden. Jugendsünden sind fröhlich. Die Jugendsünden der Aiwangers sind schwarz und böse.

Jugendsünden, die gleichzeitig “keine Jugendsünden” und doch irgendwie welche, nur halt “unverzeihbar” sind. Das deckt sich auf logischer Ebene ungefähr mit der “Jugendsünden”-Sammlung von Bild.de.

Mit Dank auch an Jochen Z.

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Hey “Bild”-KI, was hältst du eigentlich von “Bild”-Methoden?

Bei “Bild” gibt’s was Neues:

Screenshot Bild.de - Neu bei Bild - So einfach funktioniert Hey - Hey, Ihr Helfer mit KI

Eine Künstliche Intelligenz, die “Bild”-KI, namens Hey_:

Hey_ ist ein neues Angebot von Axel Springer, das zunächst bei BILD an den Start geht. Der eigens von Axel Springer auf Basis einer Kombination verschiedener GPT-Modelle entwickelte und trainierte KI-Assistent ist eine völlig neue Möglichkeit, mit der Nutzerinnen und Nutzer journalistische Themen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz interaktiv und individuell erleben und vertiefen können.

Man kann ganz frei mit Hey_ chatten oder zu bestimmten, von “Bild” vorgegebenen Themenfeldern: “Das bedeutet IHR Traum!”, “Kühlschrank fast leer. DAS können Sie daraus noch kochen!”, “Ungerechtigkeit erlebt? Hier gibt es sofort Hilfe” und so weiter.

Das probieren wir doch mal aus!

Zum Start nehmen wir die Kategorie “Gehaltsverhandlungen? So holen Sie beim Chef das Meiste raus”. Wir starten die Simulation, und schon geht es los:

Screenshot Chat mit Hey - Perfekt! Ich werde nun die Rolle Ihres Chefs übernehmen. Stellen Sie sich vor, wir sitzen in einem Meeting und Sie möchten eine Gehaltserhöhung verhandeln. Beginnen wir: Warum glaube Sie, dass Sie eine Gehaltserhöhung verdienen? Bitte nennen Sie konkrete Bespiel für Ihre Leistungen - Ich habe ein wichtiges Projekt abgeschlossen - Das ist ein guter Anfang, aber können Sie bitte mehr ins Detail gehen? Was genau haben Sie in diesem Projekt erreicht und wie hat es dem Unternehmen geholfen?
Ich habe ein Foto eines verstorbenen Kindes besorgt, das wir auf der Titelseite unserer Zeitung drucken und auf unserer Website veröffentlichen konnten - Das klingt nach einer sehr wichtigen Leistung. Können Sie mir bitte mehr darüber erzählen? Wie haben Sie das Foto beschafft und welche Auswirkungen hatte die Veröffentlichung auf das Unternehmen?
Das Foto habe ich bekommen, indem ich die 14-jährige Schwester des toten Jungen behelligt habe. Die Mutter stand zuvor unter Schock. Durch mein Agieren konnten wir eine große Geschichte bringen, die bestimmt zu mehr Klicks und verkauften Zeitungen geführt hat - Ich verstehe, dass Sie versucht haben, eine wichtige Geschichte zu bringen, aber ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Vorgehen inakzeptabel ist. Es ist nicht akzeptabel, eine minderjährige Person zu belästigen, um an Informationen zu gelangen. Das ist nicht nur unethisch, sondern auch illegal. Als Ihr Chef muss ich darauf bestehen, dass Sie sich in Zukunft and die ethischen Standards halten und keine unangemessenen Methoden anwenden, um an Informationen zu gelangen.

Dann dürfte es für das “Bild”- und “B.Z.”-Duo, das neulich in Berlin aktiv war, wohl eher nichts werden mit einer Gehaltserhöhung.

Aber wir müssen sagen: Die Ansichten von Hey_ gefallen uns bislang richtig gut. Kann sein, dass wir da regelmäßig vorbeischauen.

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Die, die wenig haben, gegen die, die noch weniger haben

Bei ihrer aktuellen Kampagne gegen das Bürgergeld greift die “Bild”-Redaktion auch auf eine von ihr selbst in Auftrag gegebene Umfrage zurück:

Screenshot Bild.de - Bürgergeld-Umfrage - Mehrheit der Deutschen sagt - Arbeit lohnt sich nicht mehr

“Bild”-Redakteur Florian Kain schreibt:

Mega-Erhöhung beim Bürgergeld: Ab 2024 steigt die Stütze für Alleinstehende um 61 Euro – pro Monat!

Lohnt sich arbeiten angesichts solch üppiger Alimentierungen überhaupt noch?

Die Mehrheit der Deutschen sagt: NEIN!

Das ergibt eine neue repräsentative INSA-Umfrage für BILD. Demnach sind inzwischen 52 Prozent der Bürger NICHT der Auffassung, dass sich Arbeit in Deutschland lohnt. Eine Minderheit von 40 Prozent hat einen anderen Eindruck. Acht Prozent können oder wollen hier keine Antwort geben.

Erstmal: Das Bürgergeld soll zur “Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums” beitragen. “Bild” nennt das: “üppige Alimentierungen”.

Interessant ist, wie “Bild”-Autor Kain die INSA-Umfrage in den passenden Zusammenhang zu setzen scheint. Er schreibt, dass die “Mehrheit der Deutschen” zu der Frage “Lohnt sich arbeiten angesichts solch üppiger Alimentierungen überhaupt noch?”, also: mit Blick aufs Bürgergeld, “NEIN!” sage. Das scheint so aber gar nicht abgefragt worden zu sein. Laut “Bild” lautete die Frage allgemeiner:

Screenshot Bild.de - Haben Sie derzeit den Eindruck, dass sich Arbeit in Deutschland lohnt?

Das Gefühl, das hinter der Antwort auf diese Frage steckt, mag auch davon abhängen, wie viel Bürgergeld man bekommt, wenn man nicht arbeitet. Aber es hängt sicher auch von anderen Faktoren ab: der Höhe der Steuern und Sozialabgaben, den gestiegenen Energiekosten und Lebensmittelpreisen, den Mietkosten, allgemein von der derzeitigen Inflation, von persönlichen Lebensumständen und -einstellungen und so weiter.

Nach dem Warum scheint aber nicht gefragt worden zu sein. Dennoch schreibt die “Bild”-Zeitung heute auf der Titelseite groß von der “Bürgergeld-Umfrage”:

Ausriss Bild-Titelseite - Bürgergeld-Umfrage - Mehrheit der Deutschen sagt - Arbeit lohnt sch nicht mehr!

Ganz sicher gibt es Fälle, bei denen Leute hart arbeiten und am Ende nicht viel mehr Geld haben als Bürgergeld-Bezieher. Dass diesen Geringverdienern vor allem eine Erhöhung des Mindestlohns helfen würde und sie von einer Kürzung des Bürgergeldes überhaupt nichts hätten, liest man bei “Bild” kaum. Und natürlich ist die Aussage, dass sich Arbeit in Deutschland nicht lohne, viel zu allgemein. Für viele lohnt sich das Arbeiten im Vergleich zum Nicht-Arbeiten ganz klar, wenn sie denn ordentlich bezahlt werden. Auch diesen Aspekt findet man im “Bild”-Artikel nicht.

Stattdessen nennt Autor Florian Kain einen theoretischen Fall, bei dem es so scheint, als würde sich Arbeiten so gut wie gar nicht lohnen:

Fest steht: Viele Geringverdiener haben heute schon kaum mehr Geld im Portemonnaie als Bezieher von Bürgergeld. Wer z. B. als Alleinstehender zwölf Euro Mindestlohn pro Stunde kassiert, kommt monatlich auf rund 2000 Euro brutto.

► Nach Abzug von Steuern, Sozialbeiträgen, Abbuchung der Warmmiete (z. B. 600 Euro) bleiben dann nur noch rund 860 Euro pro Monat. Zum Vergleich: Ohne Job bekäme dieser Alleinstehende 502 Euro Bürgergeld. Dazu würde das Amt aber u. a. auch die 600 Euro Warmmiete übernehmen. Wären mindestens 1102 Euro vom Staat.

Das ist schon ausgesprochen perfide geschickt: Beim Geringverdiener zieht Kain die Warmmiete ab (und kommt so auf 860 Euro), beim Bürgergeld-Bezieher rechnet er sie hinzu (und kommt so auf 1.102 Euro). Er vergleicht die Zahlen nicht direkt, gibt sich aber auch keine besondere Mühe zu erklären, welche der von ihm durcheinandergeworfenen Werte denn nun vergleichbar sind.

Also: Nach Bezahlen der Warmmiete hat der Geringverdiener 860 Euro zur Verfügung, der Bürgergeld-Bezieher 502 Euro. Der Geringverdiener hat also 358 Euro oder, gemessen an den 502 Euro Bürgergeld, etwa 71 Prozent mehr zur Verfügung. Oder anders herum: Gemessen an den 860 Euro des Geringverdieners, hat der Bürgergeld-Bezieher rund 42 Prozent weniger zur Verfügung.

Das ist das, was bei “Bild” unter “kaum mehr Geld” läuft. 860 Euro ist zweifelsohne nicht viel Geld für einen Monat, erst recht nicht gemessen an der harten Arbeit, die meist dahintersteckt. Aber es ist eben doch ein spürbares Stück mehr als die 502 Euro Bürgergeld. Wir können uns nur wiederholen: Die “Bild”-Redaktion spielt einmal mehr die, die wenig haben, gegen die aus, die noch weniger haben.

Mit Dank an Adrian W.!

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“Das ist kriminell”

Seit die Bundesregierung eine Erhöhung des Bürgergelds beschlossen hat, gibt sich die “Bild”-Redaktion große Mühe, ihrer Leserschaft einzuhämmern, wie falsch das alles ist:

Screenshot Bild.de - JU-Chef kritisiert Bürgergeld-Erhöhung - Politik für Arbeitslose, nicht für Arbeiter
Screenshot Bild.de - Bürgergeld steigt schneller als Mindestlohn - Lohnt Arbeiten in Deutschland überhaupt noch?
Screenshot Bild.de - Kommentar zur Anhebung des Bürgergelds - Vorfahrt für die Fleißigen
Screenshot Bild.de - Kommentar - Fleißige dürfen nicht betrogen werden

Unbedingt soll darüber diskutiert werden, ob die Leute, die für Mindestlohn oder knapp mehr schuften, damit überhaupt über die Runden kommen können. Und unbedingt sollen diese Leute vom Lohn ihrer harten Arbeit gut leben können. Nur findet man in der “Bild”-Berichterstattung kaum ein flammendes Plädoyer für mehr Mindestlohn, also für eine bessere Bezahlung für “die Fleißigen”. Stattdessen lautet die Schlagrichtung:

Screenshot Bild.de - Linnemann kritisiert Bürgergeld-Aufschlag - Das Stütze-System ist ungerecht

Die “Bild”-Medien spielen mal wieder die, die wenig haben, gegen die aus, die noch weniger haben.

Und jetzt kann sie zum “Bürgergeld-Irrsinn” endlich jemanden präsentieren, sozusagen einen Kronzeugen, der auf die von der Redaktion längst gestellte Frage “Lohnt Arbeiten in Deutschland überhaupt noch?” offenbar eine klare Antwort gefunden hat. Heute auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Mitarbeiter kündigt, weil er lieber Bürgergeld will

Unter der Überschrift steht noch ein kurzer Teaser:

Ein Lagerist Mitte 30 kündigt nach einem Dreivierteljahr plötzlich seinen Job. Die Begründung macht seinen Chef fassungslos: Mit dem Bürgergeld und ein paar Extras verdiene er mehr. Der unglaubliche Fall – SEITE 5

“Ein paar Extras”, die das Bürgergeld so attraktiv machen, dass man seinen Job kündigt? Was das wohl sein mag? Auf Seite 5 erfährt man das nicht direkt. Da geht es erstmal weiter nur ums Bürgergeld:

Ausriss Bild-Zeitung - Mein Mitarbeiter kündigt, weil er lieber Bürgergeld kassiert

Lohnt sich arbeiten überhaupt noch?

Bei Speditions-Chef Horst Kottmeyer (60, 350 Mitarbeiter) hat ein Mitarbeiter die Frage klar beantwortet: Nein!

Der Mann hat den Job hingeschmissen – und kassiert lieber Bürgergeld. Aktuell 502 Euro/Monat, dazu zahlt der Staat Miete, Heizung.

14 Euro soll der Mann pro Stunde verdient haben, bis er gekündigt hat. Da dürfte mehr rauskommen als “502 Euro/Monat”. Aber dann kommen sie, die “paar Extras”:

Seinen Kollegen habe der Mann gesagt, er wolle Stütze kassieren und nebenbei schwarz dazuverdienen. Er werde dadurch “300 Euro netto mehr verdienen”, hat der Ex-Mitarbeiter laut Kottmeyer den Kollegen erzählt.

Im Klartext: Stütze und ein bisschen Schwarzarbeit sind lukrativer als ein ordentlicher Job.

Ja, klar. Und Stütze und ein bisschen Drogen verkaufen ist noch lukrativer. Oder: Stütze und eine Bank überfallen – vermutlich am lukrativsten.

Für die “Bild”-Redaktion scheint das tatsächlich eine ernsthafte Argumentation in der Debatte um das Bürgergeld zu sein: Wir packen einfach noch irgendeinen verbotenen Zuverdienst obendrauf – und schon ist es doch ganz klar, dass sich Arbeiten in Deutschland nicht mehr lohnt!

Ein von “Bild” zu dem Fall befragter Lkw-Fahrer scheint da deutlich mehr Durchblick zu haben:

Bürgergeld kassieren und schwarzarbeiten – das ist kriminell.

Aber vielleicht ist das auch einfach das Bild, das die “Bild”-Redaktion von armen Menschen hat: Wer Bürgergeld kassiert, ist doch eigentlich eh schon kriminell.

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“Bild” und “B.Z.” behelligen 14-Jährige, deren fünfjähriger Bruder einen Tag zuvor gestorben ist

Am vergangenen Dienstag ist in Berlin ein fünfjähriger Junge aus dem neunten Stock eines Wohnhauses gefallen und später im Krankenhaus gestorben. Die Polizei geht davon aus, dass das Kind aus dem Fenster geklettert und gefallen ist, und spricht derzeit von einem “tragischen Unfallgeschehen”. Sie ermittelt wegen des Verdachts auf Verletzung der Aufsichtspflicht.

Zwei Tage später, am Donnerstagmorgen, lag das Springer-Blatt “B.Z.” mit dieser Titelseite in Berliner Kiosken, Bäckereien und Tankstellen:

Ausriss der BZ-Titelseite - Junge (5) sah aus dem Fenster nach seiner Mama - Todessturz aus neuntem Stock

Die Unkenntlichmachungen stammen alle von uns. Die “B.Z.” zeigt ein unverpixeltes Foto des Fünfjährigen sowie eine Aufnahme des Wohnhauses. Die Redaktion hat extra das Fenster rot eingekreist, aus dem der Junge gefallen sein soll. Im dazugehörigen Artikel im Blatt nennt sie den Berliner Stadtteil sowie den Namen der Straße, in der das Haus mit auffälliger Fassadenbemalung (ebenfalls zu erkennen) steht. Wer also möchte, sei es nur zum Gaffen oder zum Aufsuchen der Familie, dürfte dank der ausreichend genauen Zielführung der “B.Z.” den Weg zur Wohnung finden.

Das Foto des Jungen, die Aufnahme des Hauses von außen und den Namen der Straße findet man auch bei bz-berlin.de und beim Schwesterportal Bild.de. Dort ist das Fenster des Kinderzimmers zwar nicht rot eingekreist, aber durch die Angabe des Stockwerks dürfte die Suche nach der Wohnung der Familie auch nicht viel länger dauern.

“B.Z.” und Bild.de zeigen aber nicht nur Fotos von außen. Es gibt auch Aufnahmen aus der Wohnung, etwa aus dem Kinderzimmer des verstorbenen Jungen. Noch einmal zur Erinnerung: Am Dienstagmittag ist der Fünfjährige aus dem Fenster gefallen. Am Donnerstagmorgen ist die “B.Z.”-Ausgabe erschienen. Das heißt: Der Fotograf muss die Familie am Mittwoch, gerade mal einen Tag, nachdem das Kind gestorben ist, aufgesucht haben.

Als Urheber der Fotos ist Jörg Bergmann angegeben, ein alter Bekannter im BILDblog. Er scheint derjenige zu sein, der die Familie des verstorbenen Fünfjährigen behelligt hat.

Bergmann ist auch, gemeinsam mit seiner Kollegin Maren Wittge, Autor des Artikels. Die beiden schreiben, dass die Mutter des fünfjährigen Kindes gerade einkaufen gewesen sei, als der Junge aus dem Fenster stürzte. Die 14-jährige Schwester sei zu Hause gewesen. Sie ist es auch, die Bergmann und Wittge dazu gebracht haben, einige Zitate zu geben und ein Foto ihres Bruders zu zeigen. Eine entsprechende Aufnahme hat Bild.de veröffentlicht: Die 14-Jährige ist von hinten zu sehen, sie hält ein Foto ihres Bruders hoch, alles unverpixelt. Als Bildunterschrift ist zu lesen:

Der kleine K[.] stürzte aus dem Fenster eines Berliner Wohnhauses und starb – seine Schwester O[.] trauert mit der Familie um ihren Bruder

Und die Familie trauert nicht nur, sie steht unter Schock, mindestens die Mutter. Das schreiben auch Bergmann und Wittge:

Die Mutter erlitt einen schweren Schock und blieb über Nacht in einer Klinik. Neben den Sanitätern waren auch mehrere Seelsorger am Unfallort und betreuten die Zeugen.

Für Auflage und Klicks haben die Redaktionen von “Bild” und “B.Z.” die Notsituation einer Familie, die gerade ein Kind verloren hat, skrupellos ausgenutzt.

Mit Dank an Felix für den Hinweis!

Kurz korrigiert (539)

In einem aktuellen Artikel berichtet Bild.de über den Stromimport Deutschlands. Der Autor schreibt unter anderem:

So wird unser Importstrom produziert:

► 21 Prozent Kernkraft,

► 46 Prozent konventionelle Energiequellen,

► 51 Prozent erneuerbare Energien.

… was zusammen 118 Prozent ergibt und somit nicht stimmen kann.

Der Fehler liegt beim angegebenen Anteil der konventionellen Energiequellen. Einer im Bild.de-Artikel eingebetteten Grafik zufolge ist der deutlich niedriger:

Screenshot Bild.de - Zu sehen ist eine Grafik mit der Überschrift So setzt sich unser Strom-Import zusammen - Deutsche Stromimporte im 1. Halbjahr 2023 - , Wind Onshore 14 Prozent, Wind Offshore sieben Prozent Photovoltaik fünf Prozent, Biomasse fünf Prozent, Wasserkraft 20 Prozent, Erneuerbare Energien zusammengefasst 51 Prozent, Kernkraft 21 Prozent, Erdgas neun Prozent, Steinkohle sieben Prozent, Öl und Sonstige sechs Prozent, Braunkohle drei Prozent, Pumpspeicher drei Prozent

Mit Dank an @avatter für den Hinweis!

Nachtrag/Möglicherweise Korrektur: Da könnten wir jetzt was durcheinandergebracht haben, sicher sind wir uns aber nicht: Mehrere Leser weisen uns darauf hin, dass es sein könnte, dass die “Bild”-Redaktion die drei übereinander geschriebenen Werte gar nicht als Teile meint, die zusammen 100 Prozent ergeben sollen, sondern dass sie einmal den Anteil der Kernkraft angibt und in der Zeile darunter noch Erdgas, Kohle und Öl hinzurechnet für die “konventionellen Energiequellen”. Das ließe die Definition von konventionellen Energiequellen auf jeden Fall zu. Allerdings würden dann die Pumpspeicher fehlen, die die Datenquelle der “Bild”-Grafik, die Agora Energiewende, durchaus zu den konventionellen Energiequellen zählt. Sollten wir tatsächlich danebengelangt haben, bitten wir, den Fehler zu entschuldigen. Aber wie gesagt: So ganz sicher sind wir uns nicht.

Der verlorene Kontext zur verlorenen Ehre der Katharina Blum

“Bild” war kürzlich im bayerischen Ort Rottenburg an der Laaber. Dort hat Helmut Aiwanger, der ältere Bruder von Bayerns stellvertretendem Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger, sein Waffengeschäft. Helmut Aiwanger sagte vor wenigen Tagen, er sei der Verfasser eines antisemitischen Flugblatts aus Schulzeiten, nachdem die Urheberschaft erst seinem Bruder zugeschrieben wurde.

Es fährt also ein “Bild”-Reporter nach Rottenburg an der Laaber:

BILD zu Besuch bei Hubert Aiwangers elf Monate älterem Bruder Helmut!

Wobei “zu Besuch” nun nicht so ganz passt, denn viel kommt von Helmut Aiwanger nicht:

Als der BILD-Reporter ihn anspricht, sagt er nur: “Passt schon” – bayerisch für: “Kein Interesse, Tschüss!”

Dafür entdeckt der “Bild”-Reporter am Fenster des Geschäfts mehrere Zettel “mit eindeutigen Botschaften”:

“Buchempfehlung: Heinrich Böll, 1974: Die verlorene Ehre der Katharina Blum” steht da an seiner Scheibe. Soll heißen: Die Aiwangers seien – wie die Heldin des genannten Romans – ohne eigenes Zutun unschuldige Opfer der Sensationsgier der Presse.

“Opfer der Sensationsgier der Presse”?

Da war doch irgendwas, was Heinrich Böll noch dazu geschrieben hatte.

Mal nachlesen im Buch.

Ah, hier, direkt am Anfang, noch bevor die Erzählung beginnt:

Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der “Bild”-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.

Dieses Detail hat der “Bild”-Reporter offenbar vergessen.

In Bölls Werk erschießt die Titelfigur Katharina Blum übrigens am Ende einen Reporter. Dass seine “Buchempfehlung” also nicht wirklich zur Deeskalation taugt, scheint auch Helmut Aiwanger erkannt zu haben. Auf dem Zettel im Fenster seines Geschäfts steht auch noch: “Keine Sorge, nur Heinrich Bölls Prosa endet dramatisch.”

Mit Dank an Tihomir V. für den Hinweis!

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“Bild” schließt aus falschen Gründen nicht existente Ministeriumskantine

Es klingt ja tatsächlich erstmal ein bisschen irre:

Screenshot Bild.de - Ausgerechnet im Ernährungsministerium - Öko-Koch fehlt! Özdemir schließt Mitarbeiter-Kantine

Ein Ernährungsminister, der seine eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht ernähren könne. Dazu mit Cem Özdemir noch ein Grüner, der keinen “Öko-Koch” finde, höhö. Natürlich ist das eine Geschichte für “Bild”. Und wie das bei “Bild”-Geschichten eben häufig ist, bleibt von ihr bei genauerer Betrachtung nicht mehr viel übrig.

Zum Start mal das Sprachliche: Im Berliner Dienstsitz des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), um den es im “Bild”-Artikel geht, wurde keine Kantine geschlossen. Denn es gibt dort keine. Es gibt eine Cafeteria, deren Betrieb Anfang Juli eingestellt wurde. Das wird auch im ersten Satz des “Bild”-Textes klar:

Monatelang suchte Ernährungsminister Cem Özdemir (57, Grüne) einen Öko-Koch für die Mitarbeiter-Cafeteria in seinem Ministerium – ohne Erfolg!

Das ist auch deutlich mehr als nur Wortklauberei, denn diese Cafeteria verfügte über keine eigene Kochmöglichkeit – es konnten dort lediglich gelieferte Speisen warmgehalten werden. Ein Sprecher des BMEL erklärte uns auf Nachfrage den bisherigen Ablauf bei der Verpflegung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums: Das nahegelegene Bundesministerium für Arbeit und Soziales verfüge über eine richtige Kantine. Der dortige Betreiber habe bislang die BMEL-Cafeteria mitversorgt. Die Vereinbarung über diese Lieferungen an das BMEL sei allerdings kürzlich ausgelaufen, daher war eine neue Ausschreibung notwendig.

In dieser Ausschreibung ging es, anders als von der “Bild”-Redaktion behauptet, nie um einen “Öko-Koch”. Und somit sei der Grund für die derzeitige Schließung der Cafeteria auch nicht ein fehlender “Öko-Koch”, so der BMEL-Sprecher:

In der Tat musste die Ausschreibung für den Weiterbetrieb der Cafeteria erfolglos beendet werden. Grund war die gesunkene Nachfrage der Beschäftigten, die einen wirtschaftlichen Weiterbetrieb des Angebots nicht mehr zuließ. Seit der Corona-Pandemie wurde die Möglichkeit zum mobilen Arbeiten ausgebaut und wird seither von den Mitarbeitenden – auch mit Blick auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie – intensiv genutzt.

Dieser Aspekt wird auch am Ende des “Bild”-Artikels einmal erwähnt. Aber vorne im Text vermutet die Redaktion eine ganz andere Ursache für die erfolglose Ausschreibung:

Grund: Die Vorgaben für den Betreiber waren offensichtlich viel zu hoch. U. a. sollte mindestens ein Tagesgericht immer in “ovo-lacto-vegetarischer Form” gekocht und angeboten werden.

Folge: Es fand sich kein geeigneter Öko-Koch.

Jetzt müssen Özdemirs Mitarbeiter ausbaden, dass ihr Chef so hohe Öko-Vorgaben macht.

Es seien also die “hohen Öko-Vorgaben” Özdemirs, um die es geht, mutmaßt “Bild”:

Der Ernährungsminister scheitert an seinen eigenen Ernährungsvorgaben.

Das ist schlicht falsch.

Neben dem Tagesgericht in “ovo-lacto-vegetarischer Form” nennt der “Bild”-Artikel noch weitere Vorgaben für “Özdemirs Kantinen-Koch”:

Laut Ausschreibung sollte Özdemirs Kantinen-Koch u. a.:

► “eine schrittweise Reduzierung des Angebots an Mittagsgerichten mit Fleisch-/Wurstwaren” umsetzen

► mehr Essen mit Hülsenfrüchten, Nüssen und Ölsaaten anbieten

► mindestens 30 Prozent der verarbeiteten Lebensmittel aus biologischer Landwirtschaft beziehen.

Diese Punkte finden sich alle in einem 93-seitigen Papier mit dem Titel “Nachhaltigkeit konkret im Verwaltungshandeln umsetzen” (PDF). Es handelt sich dabei um die aktuellste Weiterentwicklung des “Maßnahmenprogramms Nachhaltigkeit” der Bundesregierung, beschlossen am 25. August 2021. Damals, gut einen Monat vor der Bundestagswahl, saßen weder Cem Özdemir noch irgendwelche anderen Grünen in der Bundesregierung. Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD war noch im Amt. Und die hat beschlossen:

Vor dem Hintergrund der erheblichen Auswirkungen des Ernährungsverhaltens auf Gesundheit und Umwelt wird die Gemeinschaftsverpflegung in den Kantinen der Bundesverwaltung an dem Qualitätsstandard der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Betriebsverpflegung vom November 2020 (unter ergänzender Einbeziehung der Empfehlungen der EAT-Lancet-Kommission) insbesondere wie folgt ausgerichtet:

a) Zusammenstellung eines Speiseplans mit steigenden Anteilen an pflanzlichen Lebensmitteln wobei Hülsenfrüchte und Nüsse bzw. Ölsaaten als pflanzliche Proteinquellen genutzt werden können.

b) Tägliches Angebot mindestens eines vollwertigen ovo-lacto-vegetarischen Gerichts zu allen Mahlzeiten […]

c) Schrittweise Reduzierung des Angebots an Mittagsgerichten mit Fleisch-/Wurstwaren […]

Dieses “Maßnahmenprogramm” sieht für die “Kantinen der Bundesverwaltung” auch eine Erhöhung des “Bio-Anteils im Speisenangebot” auf “mindestens 20 Prozent” bis spätestens 2025 vor. Das BMEL soll zusätzlich ein Pilotprojekt angehen, “mit dem auf Basis einer Ausschreibung mit interessierten Behörden/Kantinen ein Bio-Anteil von mindestens 50 Prozent bis spätestens 2025 umgesetzt wird”.

Oder kurz gesagt: Anders als “Bild” behauptet, geht es hier nicht um Cem Özdemirs “hohe Öko-Vorgaben”, sondern um die der damaligen Großen Koalition. Das Papier “Nachhaltigkeit konkret im Verwaltungshandeln umsetzen” hatte CDU-Politiker Helge Braun in seiner damaligen Funktion als Bundesminister vorgestellt.

Und so sind die Reaktionen auf die aktuelle Verpflegungssituation im BMEL, die “Bild” bei CDU-Politikern eingesammelt hat, um sprachlich mal im Bild zu bleiben, völlig Banane:

Entsprechend groß sind Unverständnis und Spott bei der Opposition.

CDU-Fraktionsvize Steffen Bilger (44) zu BILD: “Ein Minister für Ernährung, der seine eigenen Leute nicht ernähren kann – das ist für Cem Özdemir peinlich.” Die Fürsorge für die Mitarbeiter solle wichtiger sein als die “Durchsetzung grüner Ernährungspolitik”.

Der ernährungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Albert Stegemann (47): “Es ist ein politisches Armutszeugnis, dass Bundesernährungsminister Özdemir die Ernährung seiner Beschäftigten im eigenen Ministerium nicht sicherstellen kann.” Cem Özdemir müsse “im eigenen Haus den ernährungspolitischen Offenbarungseid leisten”.

Die konkreten Folgen dieses “ernährungspolitischen Offenbarungseids” sehen übrigens so aus: Statt, wie bisher, das aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gelieferte Essen in der BMEL-Cafeteria zu essen, gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ernährungsministeriums nun die wenigen Meter über den gemeinsamen Innenhof rüber ins BMAS und essen in der dortigen Kantine.

Mit Dank an @lisaklaster für den Hinweis!

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Potzblitz und Donnerwetter: Physik gilt auch für E-Autos

Um bei ihrer eigenen Leserschaft Verunsicherung rund ums Thema Elektromobilität zu stiften, braucht die “Bild”-Redaktion nicht immer einen Handwerkskammer-Chef, der gern behilflich scheint. Sie benötigt mitunter nur eine geschickte Formulierung und eine Paywall:

Screenshot Bild.de - Experte erklärt - So gefährlich sind Blitze für E-Autos

Lesen Sie mit BILDplus, wie Blitze und Überschwemmungen Elektroautos gefährden und wie Sie sich schützen können!

Die Auflösung für den Teaser “So gefährlich sind Blitze für E-Autos” hinter der “Bild-plus”-Bezahlschranke lautet: gar nicht. Blitze sind gar nicht gefährlich für E-Autos. Denn, schau an, auch für E-Autos gilt die Physik:

Sind Blitze gefährlich für mein E-Auto?

Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber etwas Angst fährt bei Gewittern immer mit: Was passiert, wenn mein Fahrzeug vom Blitz getroffen wird?

Hier steht uns glücklicherweise die Physik zur Seite! Die Karosserie des Autos dient als sogenannter “Faradayscher Käfig” und leitet die elektrische Energie um die Insassen herum – das funktioniert sogar bei Cabrios mit geschlossenem Verdeck. Auch für E-Autos droht nach Aussage des ADAC keine besondere Gefahr.

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“Bild” übernahm eine wahrscheinlich erfundene Geschichte eines Neonazis

Liest man den Bild.de-Artikel vom 16. August, findet man darin keine Zweifel:

Brutale Attacke in Chemnitz: Ein Mann wurde von unbekannten Tätern angegriffen. Mit einer Machete hackten sie dem 28-Jährigen dabei mehrere Finger ab!

Die Tat ereignete sich am Dienstag gegen 15 Uhr in einer Parkanlage an der Helbersdorfer Straße. Nach der Attacke flüchteten die schwarz Maskierten in Richtung Stadtpark.

Genauso eindeutig klingt es in der Überschrift:

Screenshot Bild.de - Brutaler Angriff in Chemnitz - Vermummte hacken Neonazi drei Finger mit Machete ab

So ist es gewesen, kein Konjunktiv, kein “soll”.

Heute, knapp zwei Wochen später, ist klar, dass etwas mehr Distanz und deutlich weniger Zueigenmachen dieser Geschichte des angeblichen Opfers besser gewesen wäre:

Screenshot Bild.de - Ermittlungen gegen vermeintliches Opfer - Neonazi soll Macheten-Überfall erfunden haben
(Augenbalken durch Bild.de, weitere Verpixelung durch uns.)

Bild.de schreibt dazu:

Jetzt die überraschende Wende: Am Montag teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit, dass gegen den Mann wegen Vortäuschens einer Straftat und gegen einen weiteren Beschuldigten wegen schwerer Körperverletzung ermittelt wird.

Dem nun Mitbeschuldigten, der sich jetzt wegen schwerer Körperverletzung verantworten muss, waren die Ermittler durch Auswertung von Mobiltelefonen auf die Schliche gekommen. Der Deutsche soll nach BILD-Informationen wie Alexander W. der rechtsextremen Szene angehören.

Laut LKA und Staatsanwaltschaft Chemnitz hat der Überfall so nie stattgefunden. Oberstaatsanwältin Ingrid Burghart (59) zu BILD: “Nach den Ermittlungen hat sich ein Überfall durch Linke nicht bestätigt.”

Der Fall habe “bundesweit für Aufsehen” gesorgt, schreibt die “Bild”-Redaktion. Zu ihrer eigenen Rolle bei der Verbreitung der wahrscheinlich erfundenen Geschichte eines Neonazis schreibt sie nichts.

Gesehen bei @jan_wiebe.

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Wer liest schon “Bild” in Kenia?

Seit vergangenem Donnerstag berichten die “Bild”-Medien intensiv über den Tod einer 32-jährigen Frau in Stuttgart. Der Fall hat einiges, was ihn für eine Boulevardredaktion interessant macht, beispielsweise einen festgenommenen Tatverdächtigen, mit dem das Opfer laut “Bild” eine Affäre gehabt haben soll. Außerdem, und das ist sicher von zentraler Bedeutung, gibt es Fotos – zwei verschiedene Aufnahmen der Frau hat die “Bild”-Redaktion zusammenklauben können. Und die zeigt sie bei jeder Gelegenheit.

Allein bei Bild.de sind mindestens sieben Artikel seit vergangenem Donnerstag erschienen (überwiegend als “Bild-plus”-Artikel, schließlich versucht die “Bild”-Redaktion immer wieder, mit dem Tod von Menschen Abos zu verkaufen). Dazu mehrere große Artikel in der Stuttgart-Ausgabe der “Bild”-Zeitung beziehungsweise in der “Bild”-Bundesausgabe. Außerdem eine komplette Seite in “Bild am Sonntag”. Und mehrere Push-Nachrichten für alle, die die “Bild”-App auf dem Smartphone haben.

Screenshot Bild.de - Mysteriöser Leichenfund in Schwesternwohnheim - K. wollte nur in die Disco - jetzt ist sie tot
Screenshot Bild.de - Pflegerin (32) vor Disco-Besuch getötet - Mutmaßlicher Killer von K. gefasst
Screenshot Bild.de - Krankenschwester tot in Wohnheim gefunden - Wie kam K.s Killer in Zimmer 1109?
Screenshot Bild.de - Pflege-Schülerin (32) getötet - 39-Jähriger verhaftet - War K.s heimlicher Freund ihr Killer?
Screenshot Bild.de - Pflege-Schülerin (32) in Wohnheim getötet - Entkam K.s Killer durch diese Tür?
Screenshot Bild.de - Pflegeschülerin in Wohnheim getötet - Polizei verhaftet K.s Liebhaber - Wie ihm die Soko Tür auf die Spur kam

Die Verpixelungen oben haben alle wir hinzugefügt – in den “Bild”-Medien sind die Fotos der Frau ohne jegliche Unkenntlichmachung erschienen (lediglich beim letzten Screenshot hat die “Bild”-Redaktion dem Tatverdächtigen einen schmalen Balken über die Augen gelegt). Als Quelle der Aufnahmen ist “Privat” angegeben.

Der Pressekodex des Deutschen Presserats ist bei diesem Thema recht eindeutig. In Richtlinie 8.2 zum “Opferschutz” steht:

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Um eine Person des öffentlichen Lebens handelt es sich bei der Frau nicht.

Wir haben bei “Bild” nachgefragt, ob der Redaktion eine Erlaubnis der Familie vorliegt, die Fotos unvepixelt zu zeigen. Und wenn nicht, warum sie es trotzdem tut. Eine Antwort haben wir bislang nicht erhalten.

Sollte keine Erlaubnis der Familie vorliegen, dürfte es auch juristisch gesehen recht klar sein, dass das, was die “Bild”-Redaktion hier macht, nicht in Ordnung ist. Allerdings gilt: wo kein Kläger, da kein Richter. Und so gibt es in diesem Fall noch einen weiteren Umstand, der ihn für die “Bild”-Redaktion besonders interessant machen dürfte: Die getötete Frau stammt aus Kenia. Sie soll allein in Deutschland gewesen sein, ihre Familie befindet sich laut “Bild” in Kenia. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Familienmitglieder mitbekommen, was die “Bild”-Redaktion mit den Fotos alles anstellt.

“Bild” macht, was “Bild” laut “Bild” nicht machen darf

Am Samstagabend meldete die “Bild”-Redaktion per Push-Nachricht die angebliche Schwangerschaft einer prominenten deutschen Frau: “Erstes Kind mit 43!” Im dazugehörigen Bild.de-Artikel findet sich auch diese Passage:

Doch wenn sie wie jetzt das Glück unter ihrem Herzen trägt, können auch sie und ihr Lebensgefährte, ein erfolgreicher Musiker, dessen Namen BILD nicht nennen darf, die Freude wohl nicht für sich behalten.

In der “Bild am Sonntag” fand sich gestern zum selben Thema eine ganz ähnliche Formulierung: “… dessen Namen BamS nicht nennen darf …”.

So viel Zurückhaltung und Selbstreflexion ist bei den “Bild”-Medien überraschend. Und nicht von langer Dauer. Gestern Abend ganz oben auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Schwanger mit 43 - Er ist der Vater
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns)

Im Artikel wird dann tatsächlich der Name des angeblichen Vaters genannt (“so erfährt BILD exklusiv”). Auch die “Bild”-Zeitung nennt in ihrer heutigen Ausgabe den Namen.

Es scheint sich für die Redaktion gelohnt zu haben, das zu machen, was sie laut eigener Aussage gar nicht machen darf. Der Beitrag hinter der “Bild-plus”-Paywall führte gestern Abend die erfolgreichsten Artikel des Bezahlangebots an:

Screenshot Bild.de - Übersicht über die Top Bild-plus-Artikel - ganz oben der Artikel mit der Überschrift Er ist der Vater

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Ohne Profi-Säule, gegen das “E-Auto”

Zusammengefasst geht die Geschichte so: Ein Mann entscheidet sich, warum auch immer, für ein Auto, das überhaupt nicht zu seinen Bedürfnissen, seinem Fahrverhalten und der ihn umgebenden Infrastruktur passt. Und bei “Bild” ist das “E-Auto” schuld.

Leipzigs Handwerkskammer-Chef teilte vergangenen Mittwoch groß in der Leipzig-Ausgabe der “Bild”-Zeitung mit:

Ausriss Bild-Zeitung - Wir werden keine Freunde mehr - Handwerkskammer-Chef verflucht sein E-Auto

Und auch laut Bild.de nur Ärger mit dem “E-Auto”:

Screenshot Bild.de - Nach drei Jahren Ladeärger gibt er auf und fährt wieder Diesel - Handwerkskammer-Chef verflucht sein E-Auto

Der Wille war da und ganz viel Geduld!

Leipzigs Handwerkskammer-Chef Volker Lux (54) gibt nach drei Jahren Elektromobilität auf und fährt wieder einen klassischen Diesel.

Die erste Überraschung kommt in Absatz drei. Denn wer nach dem Lesen der “E-Auto”-Überschriften annahm, es geht um ein rein batterieelektrisches Auto, erfährt dort, dass es sich stattdessen um einen Plug-in-Hybrid handelt:

Lux schaffte sich einen Dienstwagen an, den er auch privat nutzen darf, einen BMW X3 Hybrid.

Bei “Bild” wird daraus in der Überschrift ein “E-Auto”, auch wenn die Autokenner-Kollegen der “Autobild” offenbar klar zwischen E-Auto und Plug-in-Hybrid unterscheiden.

Jedenfalls war dieses Auto für den Handwerkskammer-Chef zum Verfluchen:

Der Wagen kann 30 Kilometer elektrisch fahren und hat zusätzlich einen 40-Liter-Tank. Genau da begann der Alltagsärger. Lux: “Zum Termin nach Berlin und zurückfahren funktionierte nicht, ohne zu tanken. …

Pardon, da müssen wir eben unterbrechen.

Man könnte jetzt sagen: Klar, nachher ist man immer schlauer! Aber bei der Autowahl kann man sich ja ganz gut schon vorher schlau machen und zum Beispiel schauen, ob der Tank (oder beim E-Auto: die Batterie) groß genug ist, um mit einer Füllung eine häufig gefahrene Strecke zu schaffen.

Und zur konkreten Strecke: Von der Leipziger Handwerkskammer bis zum Brandenburger Tor in Berlin sind es 180 Kilometer. Hin und zurück also 360 Kilometer. Lassen wir den elektrischen Fortbewegungsteil des Wagens bei der Rechnung mal außenvor: Um 40 Liter auf 360 Kilometern zu verfeuern, muss man rund 11,1 Liter auf 100 Kilometern verbrauchen. Im Test des ADAC (PDF) liegt der Verbrauch des Wagens deutlich unter diesem Wert:

Fährt man im Hybridmodus weiter, ergibt sich ein Benzinverbrauch von durchschnittlich 8,4 l Super pro 100 km. Dabei liegt der Benzin-Konsum innerorts bei 7,8 l, auf der Landstraße bei 7,6 l und auf der Autobahn bei 10,0 l/100 km.

Bei “Auto Motor Sport” wird der Durchschnittsverbrauch etwas höher angegeben:

Auf der Eco-Runde verbrauchte der BMW 6,7 Liter, während er sich auf der Pendler-Strecke 9,2 Liter genehmigte. Wurde der BMW sportlich bewegt, stieg der Verbrauch auf 11,5 Liter. Der Durchschnittsverbrauch hybridisch beträgt 9,2 Liter.

Mit dem Verbrauch der “sportlichen” Fahrweise läge man etwas über den von uns errechneten 11,1 Litern auf 100 Kilometern, die es bräuchte, um den 40-Liter-Tank auf der Strecke Leipzig-Berlin-Leipzig leer zu fahren. Wenn man unbedingt diese 360 Kilometer fahren und dabei auf keinen Fall tanken möchte, sollte man vielleicht einfach eine Fahrweise wählen, die zur Reichweite des gewählten Autos passt.

Aber letztlich scheint das alles völlig irrelevant zu sein. Denn die Angabe des Handwerkskammer-Chefs in “Bild” zum Tankvolumen dürfte schlicht nicht stimmen. Während er von einem “40-Liter-Tank” spricht, findet man anderswo, zum Beispiel bei “Autobild”, die Angabe, dass der BMW X3 Hybrid einen 50-Liter-Tank hat. Wir haben auch noch mal bei BMW nachgefragt. Der Konzernsprecher, der für die X3-Reihe zuständig ist, antwortete uns, dass ihm “nix anderes bekannt” sei als ein Tankinhalt von 50 Litern.

Und bei einem 50-Liter-Tank müsste man schon 13,9 Liter auf 100 Kilometern verbrauchen, um auf der Tour Leipzig-Berlin-Leipzig den Tank leer zu fahren.

Nun aber wieder zurück zum Zitat des Handwerkskammer-Chefs in “Bild”:

Lux: “Zum Termin nach Berlin und zurückfahren funktionierte nicht, ohne zu tanken. Um für den Stadtverkehr 30 Kilometer in die Batterie zu bekommen, musste ich bei uns in der Tiefgarage der Handwerkskammer mehr als vier Stunden laden.”

Vier Stunden laden für 30 Kilometer? Das klingt nach einer ganzen Menge Zeit für nicht so wahnsinnig viel Reichweite. Und dafür gibt es auch einen Grund. Die ganze Dämlichkeit dieser “Bild”-Geschichte materialisiert sich in diesem Foto:

Ausriss Bild-Zeitung - Zu sehen ist ein Foto der Ladeeinrichtung in der Tiefgarage der Handwerkskammer - Dazu die Bildunterschrift Der Handwerkskammer-Chef in der Tiefgarage. Die Ladesäule ist ungeeignet.

“Die Ladesäule ist ungeeignet”. Dem Mann, der sein “E-Auto” verflucht, steht also gar nicht die adäquate Infrastruktur zur Verfügung. Das schreibt auch “Bild”:

Die Kammer hat die Plätze in der Tiefgarage nur gemietet und hat keine Profi-Säule. “Das funktioniert gut für unsere kleinen E-Flitzer, die über Nacht stehen bleiben können. Aber nicht für mich, der ständig und unplanbar unterwegs ist.”

Die mangelhafte Lade-Infrastruktur ist ein absolut relevantes Thema bei der Debatte um die E-Mobilität in Deutschland. Aber sein “E-Auto” an sich zu “verfluchen”, weil der eigene Laden es nicht schafft, einen ordentlichen Ladepunkt zu installieren, und dadurch das Laden so lange dauert?

Die “Bild”-Redaktion spendiert einem für sowas gern eine große Schlagzeile.

Mit Dank an @stab_mixer für den Hinweis!

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“Bild” erklärt Deutschland zum “Strombettler”

Jedes Kind kennt die Geschichte (und das Lied) von St. Martin, dem römischen Soldaten, der in einer kalten Winternacht auf einen “armen Mann” traf, der nur “Lumpen” anhatte und fror. Martin gab ihm einen Teil seines stattlichen Mantels ab, damit der “Bettler” es wenigstens ein bisschen wärmer hatte.

In der Logik der “Bild”-Redaktion hätte der arme Mann noch einen Sack mit wärmender Kleidung dabei gehabt, die er aber nicht anzieht, und dem Heiligen Martin noch was von den Lumpen abgegeben, denn ein “Bettler” ist bei “Bild” irgendwie was anderes.

Deutschland hat im ersten Halbjahr 2023 mehr Strom importiert als früher. Insgesamt hat es in diesen sechs Monaten aber immer noch mehr Strom exportiert als es importiert hat.

Oder, wie “Bild” es nennt:

Screenshot Bild.de - Neuer Bericht zeigt - Deutschland wird zum Strombettler

Deutschland rutscht innerhalb von sechs Monaten rapide ab: Lag der Netto-Stromexport in der zweiten Jahreshälfte 2022 noch bei 9,2 TWh, sind es jetzt gerade einmal 0,6 TWh. Vom Strom-Exporteur zum Strom-Bettler!

Auch in der “Bild”-Bundesausgabe sind “wir” nun “Strombettler” – ein Begriff, der suggeriert, dass Deutschland sich nicht mehr ausreichend selbst mit Strom versorgen kann:

Ausriss Bild-Zeitung - Wir werden vom Stromexporteur zum Strombettler

Richtig müsste es heißen: “Wir” sind im ersten Halbjahr 2023 immer noch Stromexporteur, aber mit einem geringeren Exportüberschuss als im Halbjahr zuvor.

Die “Bild”-Redaktion beruft sich in ihrem Artikel von Anfang August auf eine Veröffentlichung von EnAppSys, einem Portal, das Daten und Analysen über den europäischen Energiemarkt für Geschäftskunden bereitstellt:

Grund für den deutschen Absturz laut der “EnAppSys”-Experten: das Kernkraftwerk-Aus!

“Diese Stilllegungen bedeuteten, dass Deutschland in Zeiten geringer erneuerbarer Stromerzeugung zusätzlichen Strom aus anderen Ländern beziehen musste”, so Experte Jean-Paul Harreman.

Wir haben mit Jean-Paul Harreman von EnAppSys Kontakt aufgenommen – und der widerspricht der Darstellung von “Bild” entschieden.

Das fängt schon damit an, dass es einigermaßen unwissenschaftlich ist, eine zweite Jahreshälfte mit einer ersten zu vergleichen: Harremann sagt, dass es eine klare Saisonalität bei den Import- und Exportmustern gebe.

Und auch die Gründe für die gesteigerten Importe liegen nicht etwa darin, dass Deutschland nicht in der Lage wäre, sich selbst mit Energie zu versorgen: Es ist nur tatsächlich billiger, Strom aus dem Ausland zu importieren, als die Leistung der eigenen Kohle- oder Gas-Kraftwerke, die alle mit verminderter Leistung liefen, hochzufahren. Genau für diesen Zweck sei der europäische Binnenmarkt für Strom geschaffen worden, sagt Harremann. (Man stelle sich umgekehrt mal vor, was “Bild” schreiben würde, wenn die Bundesrepublik ohne Grund teureren Strom produzieren würde, anstatt ihn zu importieren!)

Laut Jean-Paul Harremann liegt einer der Gründe, dass Deutschland mehr importiert als im Vorjahr, darin, dass Frankreich nach einer langen Zeit wieder in der Lage sei, Strom zu niedrigen Preisen zu exportieren. Im vergangenen Jahr war nämlich zeitweise die Hälfte der französischen Atomkraftwerke abgeschaltet – entweder wegen gravierender Mängel und Schäden oder weil wegen des heißen Sommers nicht ausreichend Kühlwasser zur Verfügung stand. Jetzt laufen die französischen AKW wieder.

Nun kann man es natürlich seltsam finden, in Deutschland alle Atomkraftwerke abzuschalten, aber weiter Atomstrom aus Frankreich zu importieren. Dafür muss man sich allerdings vom Gebiet der reinen Physik auf das der Politik begeben – und dort findet man einen von einer schwarz-gelben Bundesregierung im Jahr 2011 beschlossenen Atom-Ausstieg. Als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im vergangenen Jahr die Energiepreise anstiegen und eine Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke diskutiert wurde, erklärten die deutschen AKW-Betreiber, dass diese technisch und genehmigungsrechtlich schwer möglich sei.

Man kann also unterschiedlicher Meinung sein, ob Atomkraft ein sicherer oder – langfristig gerechnet – preiswerter Energieträger ist. Aber dass die deutschen Atomkraftwerke nicht weiterlaufen konnten, ist etwas, was im Januar 2022 sogar noch Christian Lindner wusste. (Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung hatte übrigens erst im Oktober 2010 eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke beschlossen, die sie im Frühjahr 2011 wieder zurücknahm, weswegen die AKW-Betreiber vom deutschen Staat jetzt 2,4 Milliarden Euro Entschädigung bekommen, die “wir” letztlich alle bezahlen müssen, aber das nur am Rande.)

Unabhängig von der politischen Dimension importiert Deutschland überhaupt nur einen sehr geringen Teil seines Stroms aus Frankreich. Sehr viel mehr kommt aus Dänemark, der Schweiz, den Niederlanden und Norwegen – alles Länder mit hohen Anteilen erneuerbarer Energien. Und es ist nicht nur günstiger, diesen Strom zu importieren, es ist auch umweltschonender, als die heimischen Braun- und Steinkohlekraftwerke hochzufahren.

Deutschland muss also nicht um Strom “betteln”, wie “Bild” behauptet, sondern es kauft – um im Bild zu bleiben – Öko-Strom im Sonderangebot beim Discounter in der Nachbarschaft ein, um nicht in den Kohlenkeller zu müssen.

Entsprechend ist Jean-Paul Harreman von EnAppSys mit der Wortwahl im “Bild”-Beitrag “überhaupt nicht einverstanden”, wie er uns verriet:

Es ist eine Tatsache, dass Deutschland nach der Abschaltung der Kernkraftwerke mehr Strom von seinen Nachbarn importierte, aber die damit verbundenen Auswirkungen auf die Energiesicherheit sind maßlos übertrieben. Selbst wenn die Grenzen geschlossen würden, was nicht möglich ist, hätte Deutschland überschüssige Erzeugungskapazitäten zum Zuschalten. Dass die Importe gestiegen sind, ist die logische Folge einer wirtschaftlichen Optimierung.

Besonders unglücklich ist Harremann mit seiner Rolle als Kronzeuge in dem “Bild”-Artikel: Zum einen sei es in der Pressemitteilung von EnAppSys nur am Rande um Deutschland gegangen und hauptsächlich um den Wiederanstieg französischer Stromexporte, nachdem dort wieder mehr Atomkraftwerke im Betrieb sind (Mängel und Trockenheit, wir erinnern uns). Sein Zitat “Diese Stilllegungen bedeuteten, dass Deutschland in Zeiten geringer erneuerbarer Stromerzeugung zusätzlichen Strom aus anderen Ländern beziehen musste” sei aus dem Kontext gerissen, sagt Harremann, der sich gewünscht hätte, dass die “Bild”-Redaktion ihn kontaktiert, bevor sie ihn zum Kronzeugen ihrer Geschichte macht.

Nachdem EnAppSys und er persönlich viele kritische Nachfragen erhalten hätten, habe das Unternehmen die Pressemitteilung überarbeitet. Statt …

“Meanwhile, in Germany, the closure of nuclear power plants was the main reason why the energy balance flipped to imports. These closures meant that Germany had to source additional power from other countries in periods of low renewable generation.”

“In Deutschland war die Stilllegung der Kernkraftwerke der Hauptgrund dafür, dass die Energiebilanz in Richtung Importe drehte. Diese Schließungen führten dazu, dass Deutschland in Zeiten geringer erneuerbarer Energieerzeugung zusätzlichen Strom aus anderen Ländern beziehen musste.”

(Übersetzung von uns)

… heißt es dort nun:

“Meanwhile, in Germany, the closure of nuclear power plants was the main reason why the energy balance flipped from export in the first quarter to import in the second quarter. These closures meant that Germany sourced additional power from other countries in periods of low renewable generation, as other markets provided power at lower prices than unused generation assets in Germany.

Note that imports and exports are the result of market coupling among European electricity markets, with cross-border connections limiting the amount of power that can flow from one country to another. The objective is to optimize welfare across the continent. Except for borders that are not automatically coupled, parties acting on day-ahead markets do not actively choose to import or export.”

“In Deutschland war die Stilllegung der Kernkraftwerke der Hauptgrund dafür, dass sich die Energiebilanz vom Export im ersten Quartal zum Import im zweiten Quartal drehte. Diese Schließungen führten dazu, dass Deutschland in Zeiten geringer erneuerbarer Energieerzeugung zusätzlichen Strom aus anderen Ländern bezog, da andere Märkte Strom zu niedrigeren Preisen bereitstellten als ungenutzte Erzeugungsanlagen in Deutschland.

Beachten Sie, dass Importe und Exporte das Ergebnis der Marktkopplung zwischen europäischen Strommärkten sind, wobei grenzüberschreitende Verbindungen die Strommenge begrenzen, die von einem Land in ein anderes fließen kann. Ziel ist es, den Wohlstand auf dem gesamten Kontinent zu optimieren. Mit Ausnahme von Grenzen, die nicht automatisch gekoppelt sind, entscheiden sich die auf Day-Ahead-Märkten agierenden Parteien nicht aktiv für Import oder Export.“

(Übersetzung von uns)

Harreman betont, dass die Formulierung “dass Deutschland […] zusätzlichen Strom aus anderen Ländern beziehen musste” in der ursprünglichen Version der Pressemitteilung unglücklich gewählt war, und “bezog” richtiger gewesen wäre.

Der “Strombettler”-Artikel war Teil einer losen und vermutlich noch nicht beendeten Serie, in der “Bild” immer wieder versucht, den (noch einmal: vor zwölf Jahren von einer schwarz-gelben Bundesregierung beschlossenen und in diesem Jahr umgesetzten) Atom-Ausstieg als kapitalen Fehler der aktuell regierenden Ampel-Koalition zu brandmarken – möglicherweise aus Trotz, weil der von “Bild” herbeigeschriebene Blackout bis heute ausgeblieben ist.

Nur wenige Tage nach dem “Strombettler”-Text fragte “Bild” besorgt:

Muss Deutschland nach dem AKW-Aus jetzt dauerhaft mit Strom aus dem Ausland versorgt werden?

“Jedes Jahr gibt es Phasen, in denen wir Strom aus anderen Ländern einkaufen”, antwortete Bundeskanzler Olaf Scholz (65, SPD) am Donnerstag im Erfurter Bürgerdialog auf die Frage, warum Deutschland die Kernkraft durch Importstrom ersetze.

Klang ganz so, als habe sich durch das AKW-Aus nichts verändert im Vergleich zu den Vorjahren. Doch das Gegenteil ist der Fall: Deutschland importiert so viel Strom wie nie! 5783,4 Gigawattstunden waren es im Juli laut Bundesnetzagentur – Allzeit-Rekord.

Noch NIE hat Deutschland so viel Strom aus dem Ausland eingekauft, Herr Bundeskanzler!

Ja, weil’s halt billiger ist.

Das weiß eigentlich sogar “Bild”:

Auch wenn Import-Strom teurer ist als unser Export-Strom, ist er immer noch günstiger als Kohle oder Gas von hierzulande.

Wir seien auf den Import-Strom aber keineswegs angewiesen, deutete Scholz an: “In der Gesamtbilanz ist die Lage ganz anders.” Es gebe schließlich noch die Braunkohle als Ersatz. Aber Deutschland setze lieber “auf Windstrom aus Dänemark und Atomstrom aus Frankreich”, weil der eben günstiger sei.

Und dann wird die “Bild”-Redaktion nachgerade investigativ:

Funktioniert der europäische Strommarkt wirklich so gut, wie Scholz denkt? BILD fragte nach!

… fand für Zitate aber seltsamerweise nur Personen, die Strom-Importe mindestens kritisch sehen und vor steigenden Strompreisen warnen. Der Bayerische Rundfunk hingegen hat ganz viele Gesprächspartner und -partnerinnen gefunden, die von sinkenden Preisen ausgehen und die aktuelle Umweltbilanz loben:

Screenshot BR.de - Trotz Atomausstieg: Deutschland verbrennt weniger Kohle und Gas

Im Mai, dem Monat nach dem deutschen Atomausstieg, wurde so wenig Steinkohle nach Deutschland importiert wie in keinem Maimonat seit 2004 – mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020.

Angesichts so unterschiedlicher Interpretationen der gleichen Fakten kann man schon mal den Überblick verlieren. “Bild” hatte deshalb schon im Juli eine “Riesenverwirrung um den deutschen Strommarkt” ausgerufen – und selbst weiter fleißig dazu beigetragen:

► Alles nicht so wild, sagen die einen. Strom sei im Ausland gerade billiger als in Deutschland, deshalb werde mehr eingekauft.

► Alles ziemlich wild, behaupten die anderen, Deutschland verliere seine Energie-Autonomie, mache sich abhängig.

Mithilfe von Manuel Frondel vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung bemüht sich “Bild” tatsächlich um eine gewisse Ausgewogenheit (diese einigermaßen ausgewogene Betrachtung hat die Redaktion aber schön hinter der Bezahlschranke versteckt). Frondel fühlt sich in dem Artikel auch korrekt wiedergegeben, wie er uns auf Anfrage erklärt hat.

ABER (um in der Diktion von “Bild” zu bleiben):

“Bild” schreibt unter anderem: “Seit elf Jahren gibt es Pläne für Stromautobahnen von Nord- nach Süddeutschland, die dieses Problem beheben würden. Aber sie kommen nicht voran.”

Was “Bild” nicht schreibt: Dass diese Stromtrassen in den Süden nicht “vorankommen”, liegt vor allem am Widerstand der CSU – nicht zuletzt in Person des früheren bayerischen Finanzministers und heutigen Ministerpräsidenten Markus Söder. Wer das nicht weiß, kann fast wieder nur annehmen, dass die seit weniger als 21 Monaten regierende Ampel-Koalition an allem schuld ist.

Dafür zitiert “Bild” im Artikel eine INSA-Umfrage, nach der “jeder dritte Deutsche” der Ansicht ist, “dass die Stromversorgung in Deutschland nicht mehr sicher” sei.

Diese Menschen kann Jean-Paul Harreman von EnAppSys beruhigen:

Für dieses Jahr sind alle Gasvorräte ausreichend gefüllt und es stehen auf dem gesamten Kontinent ausreichend Erzeugungskapazitäten aus Gas-, Kohle- und Braunkohlekraftwerken zur Verfügung. Es besteht kein Grund zur Panik. Nur ein sehr langer, sehr kalter Winter könnte echte Probleme bereiten. Diese Probleme wären eher hohe Preise als Stromausfälle.

“Kein Grund zur Panik” – der absolute Horror für die “Bild”-Redaktion.

Dazu auch:

  • Über die Mär von der “Energiesouveränität” und die Rolle von “Bild” in dieser Desinformationskampagne hatte Christian Stöcker im Juli bereits einen aufschlussreichen Artikel beim “Spiegel” veröffentlicht.

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“Bild” erwischt Cathy Hummels schon wieder auf Dating-App

Entweder haben Tanja May, Mitglied der “Bild”-Chefredaktion, und Cathy Hummels, Influencerin und Unternehmerin, beide ein sehr schlechtes Gedächtnis. Oder sie halten die “Bild”-Leserinnen und -Leser für so bescheuert, dass sie kein Problem damit haben, sie ganz offensichtlich zu verarschen.

Vergangenen Mittwoch berichtete May über Hummels bei Bild.de:

Screenshot Bild.de - Cathy Hummels auf Promi-Tinder erwischt! So lief ihr erstes Date - Wer Chancen bei ihr hat - Es handelt sich dabei laut Symbol um einen Bild-plus-Artikel

Einen Tag später schaffte es diese Entdeckung sogar auf die “Bild”-Titelseite …

Ausriss Bild-Titelseite - Cathy Hummels auf Promi-Tinder erwischt - TV-Moderatorin Cathy Hummels (35) sucht im Internet nach einer neuen Liebe

… und groß ins Blatt:

Ausriss Bild-Zeitung - Cathy Hummels bei Promi-Tinder erwischt! Ich habe schon ein paar Männern geschrieben

Was sagt denn Cathy Hummels dazu?

Im exklusiven BILD-Interview gibt die schöne Single-Mama zu, dass sie sich jetzt bei “Raya” tummelt: “Erwischt! Ja, das stimmt. Modernes Dating? Bin ich auch dabei.”

Dass die eine berichtet, jemanden “erwischt” zu haben, und die Erwischte sich “erwischt” fühlt, ist etwas überraschend. Denn vor mehr als acht Monaten, im Dezember 2022, berichtete Bild.de schon einmal über Cathy Hummels und die Dating-App Raya:

“Ich habe die Dating-App Raya ausprobiert”, verrät die Mama eines kleinen Sohnes (Ludwig, 4) jetzt gegenüber BILD.

Die Autorin des Artikels damals: Tanja May.

Es ist schon eine tolle Symbiose: Auf der einen Seite Prominente, die trotz der eigenen Reichweite in den Sozialen Medien offenbar immer noch das Boulevardscheinwerferlicht brauchen. Und auf der anderen eine Klatschredaktion, die mit derartigen Nichtigkeiten Online-Abos und gedruckte Exemplare verkaufen kann – zur Not sogar als aufgewärmtes “Erwischt!”-Märchen.

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Kein Spitzen(steuersatz)journalismus

Bei der Ursachenforschung zur Frage, warum namhafte Politiker und Politikerinnen so gern den “Bild”-Medien Interviews geben, wird meist die Reichweite als zentraler Aspekt identifiziert: Mit “Klartext”-Parolen in “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de kann man nach wie vor eine Menge Leute erreichen. Aber vielleicht spielt noch etwas anderes eine wichtige Rolle: Dass man beim Interview Leuten gegenübersitzt, die einen jeden Unsinn ohne Faktencheck erzählen lassen.

In “Bild am Sonntag” erschien gestern ein großes Interview mit CDU-Politiker Jens Spahn:

Ausriss Bild am Sonntag - Spahn fordert Pause bei völlig ungesteuerter Asyl-Migration

Spahn erklärt darin unter anderem seine Idee von einer im Grundgesetz verankerten “Belastungsbremse” für die Sozialabgaben. “Bild am Sonntag” will daraufhin wissen: “Braucht es darüber hinaus auch eine Steuerreform?” Antwort Spahn:

Leistung muss sich wieder mehr lohnen. Überstunden sollten steuerfrei sein. Zudem zahlt ein Facharbeiter mit 62.000 Euro Jahresgehalt schon den Spitzensteuersatz. Der sollte künftig erst ab 80.000 Euro greifen.

Da könnte man als Redaktion natürlich erstmal nachfragen, nachforschen und die Info nachliefern, wie viele “Facharbeiter mit 62.000 Euro Jahresgehalt” es in Deutschland denn so gibt. Sicher, in der richtigen Branche und/oder mit vielen Jahren Berufserfahrung gibt es die bestimmt. Aber Jens Spahn kann beim nächsten Besuch in der Kita oder im Seniorenheim oder in der Kantine des Bundestags ja mal eine Erzieherin, einen Pfleger oder eine Köchin fragen, was die so mit ihren 62.000 Euro Jahresgehalt anstellen. Wenn er Glück hat, wird er von den Fachkräften nur ausgelacht und nicht wütend rausgejagt.

Das aber nur nebenbei. Eigentlich soll es um Spahns Behauptung gehen, dass man “mit 62.000 Euro Jahresgehalt schon den Spitzensteuersatz” zahle. Das ist nämlich Unsinn. Und die “Bild”-Medien verbreiten diesen Unsinn unhinterfragt.

Richtig ist, dass der Spitzensteuersatz von 42 Prozent für das Jahr 2023 ab 62.810 Euro gilt (2022 lag diese Grenze bei 58.597 Euro). Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem von Spahn genannten Jahresgehalt und dem zu versteuernden Einkommen. Letzteres ist für die Berechnung des Steuersatzes entscheidend. Und auf dem Weg vom Jahresgehalt zum zu versteuernden Einkommen gibt es verschiedene, individuelle Möglichkeiten, Ausgaben geltend zu machen und damit die Summe zu reduzieren: Den wichtigste Posten dürften die Sozialversicherungsbeiträge bilden, beispielsweise die Beiträge zur Krankenversicherung. Dazu kommen noch weitere Vorsorgeaufwendungen, die die Summe drücken können, Freibeträge wie der Kinderfreibetrag oder der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, außergewöhnliche Belastungen wie Krankheitskosten oder Pflegekosten für die eigenen Eltern und Sonderausgaben wie Spenden oder Kinder­betreuungs­kosten.

Nur wer nach all diesen Abzügen ein zu versteuerndes Einkommen von über 62.810 Euro hat, zahlt 2023 den Spitzensteuersatz (aber natürlich nicht auf die gesamte Summe, sondern nur auf den Betrag, der über dieser Grenze liegt; der Durchschnittssteuersatz liegt deutlich darunter: bei einem zu versteuernden Einkommen von exakt 62.810 Euro beträgt er laut Rechner des Bundesfinanzministeriums 26,12 Prozent). Oder anders gesagt: Wer “62.000 Euro Jahresgehalt” bekommt, zahlt nicht den Spitzensteuersatz.

Die Leserschaft von “Bild am Sonntag” und Bild.de erfährt von all dem nichts. Wer sich selbst mit dem Thema nicht so auskennt, wird einfach glauben, was der CDU-Politiker da erzählt.

Jens Spahn war Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Er ist als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter anderem zuständig für das Thema Wirtschaft. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass er den Unterschied zwischen Jahresgehalt und zu versteuerndem Einkommen nicht kennt. In den “Bild”-Medien kann Jens Spahn unwidersprochen seine falsche Botschaft verbreiten.

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Abos verkaufen mit dem Tod zweier Menschen

Bei einem Unfall auf dem Nürburgring sind vergangene Woche zwei Testfahrer eines Reifenherstellers ums Leben gekommen. Die “Bild”-Redaktion versuchte daraufhin, mit Details des tödlichen Unfalls ein paar “Bild-plus”-Abos zu verkaufen. Auf der Bild.de-Startseite lockte sie die potenzielle Käuferschaft mit diesem Teaser:

Screenshot Bild.de - Zwei Tote auf dem Nürburgring - Unfall-Fahrer (39, 44) starben bei Testfahrt - Um welches Bauteil es ging - Mit welchem Auto sie verunglückten - dazu ist ein Bild-plus-Symbol zu sehen

Im Artikel steht vor der Paywall:

Zwei Testfahrer starben bei Erprobungsfahrten auf dem Nürburgring.

Für wen die Männer auf der bekanntesten Rennstrecke der Welt unterwegs waren, was für ein Auto sie fuhren, lesen Sie mit BILDplus.

Dass die “Bild”-Medien Todesfälle und schwere Unfälle zum Ankurbeln des eigenen Abo-Geschäfts nutzen, ist nun wahrlich nicht überraschend, aber doch immer wieder abstoßend.

Die “eine Zeitung” feuert weiter

In der heute erschienenen Ausgabe der “Zeit” gibt es ein großes Interview mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (online nur mit Abo lesbar). “Zeit”-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo fragt den Grünen-Politiker unter anderem:

Sie sind über Monate fast täglich angegriffen worden. Auch durch eine Zeitung, die selten “Heizungsgesetz” geschrieben hat, sondern stark personalisiert: “Habecks Heiz-Hammer”. Hat so ein Dauerfeuer Auswirkungen auf Ihr Leben?

Habecks Antwort:

Ja, aber anders, als man vermuten würde. Das, was ich im Moment mache, ist das Beste, was ich in meinem bisherigen politischen Leben gemacht habe. Es bedeutet mir richtig viel, und ich bin stolz darauf. Ich habe immer viel gearbeitet, aber noch nie so viel wie in den letzten zwei Jahren. Ich weiß, wofür ich das tue. Es gibt null Hadern, null Zaudern, null Bedauern, gar nichts. Ich bin ganz verschmolzen mit der Aufgabe, die ich im Moment habe.

Robert Habecks Antwort, es gebe “null Bedauern, gar nichts”, bezieht sich ganz offensichtlich auf die Auswirkungen seines Berufs und der damit verbundenen (medialen) Angriffe, denen er ausgesetzt ist, auf sein Leben. Habeck spricht über seine persönliche Situation.

Und was macht die Redaktion dieser “einen Zeitung” daraus? Bei Bild.de auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - Trotz Wirtschaftskrise und Heiz-Debatte - Habeck hat null Bedauern, gar nichts

“Bild” reißt Robert Habecks Aussage aus dem persönlich gemeinten Kontext und verknüpft das fehlende Bedauern neu mit “Wirtschaftskrise und Heiz-Debatte”. Die Redaktion hinter dem von Giovanni di Lorenzo so beschriebenen “Dauerfeuer” feuert weiter.

Bei Twitter teasert “Bild” den eigenen Artikel wortgleich an. Das funktioniert. Die Followerschaft drischt in den Kommentar wütend auf den angesichts von “Wirtschaftskrise und Heiz-Debatte” so arrogant und ignorant wirkenden Habeck ein.

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Immer noch gesucht: Fotograf für korrektes Bild

In der gedruckten “Bild” von heute gibt es ein Suchspiel. Die Redaktion hat eine Korrektur versteckt:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht über die Seite 2 der heutigen Bild-Ausgabe

Nicht gefunden? Da unten, zwischen “Faesers Anti-Clan-Plan” und Scholz’ Provence-Urlaub:

Ausriss Bild-Zeitung - 150000 Euro für Fotograf - Das Umweltministerium von Steffi Lemke (55, Grüne) sucht einen Fotografen. Auftragswert: 150000 Euro. BILD berichtete, dass die Kosten bei einer Verlängerung auf 300000 Euro steigen könnten. Richtig ist: In der Rahmen-Vereinbarung ist das maximale Auftragsvolumen auch bei einer Verlängerung auf 150000 Euro festgesetzt.

Gut, die Redaktion hat das jetzt lieber nicht “Korrektur” genannt oder sonst ein Wort gewählt, das darauf hindeuten könnte, dass in ihrer Berichterstattung irgendwas richtig schiefgelaufen ist. Und auch bei Bild.de nennen sie es lieber “Transparenzhinweis”:

Transparenzhinweis: In der ersten Fassung des Artikels hieß es, dass die Kosten bei einer zweimaligen Verlängerung noch höher ausfallen könnten. In der Rahmenvereinbarung ist festgestellt, dass das maximale Auftragsvolumen auch im Falle einer Verlängerung auf 150 000 Euro festgesetzt ist.

Damit ist immerhin ein Aspekt korrigiert. All die anderen Einseitigkeiten und Auslassungen, über die wir vergangene Woche berichtet haben, thematisiert die “Bild”-Redaktion hingegen nicht. Keine Erklärung, was “maximales Auftragsvolumen” genau bedeutet (dass nämlich nur einzelne Einsätze über Stunden- oder Tagessätze bezahlt werden – es sich also nicht um ein Festgehalt handelt -, und dieses “maximale Auftragsvolumen” von 150.000 Euro überhaupt nicht ausgeschöpft werden muss). Keine genauere Beschreibung, wer alles fotografiert werden soll (nämlich nicht nur Bundesumweltministerin Steffi Lemke, sondern auch die Staatssekretäre und die Parlamentarischen Staatssekretäre des Ministeriums). Und kein Wort in der Korrektur dazu, auf wie viele Jahre sich diese maximale Summe von 150.000 Euro verteilt (nämlich auf maximal vier).

Auch in einem Tweet, den die “Bild”-Redaktion heute ungewöhnlicherweise ebenfalls veröffentlicht hat, fehlen diese Details und Differenzierungen. Praktisch: So können sich all die Halbinformierten (die zugegebenermaßen vielleicht auch gar nicht besser und differenzierter informiert sein wollen) in den Kommentaren unter dem Tweet noch einmal über die Politikerinnen und Politiker ohne “jedes Maß an Anstand” aufregen.

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Gesucht: Fotograf für korrektes Bild

Man muss den Artikel von “Bild”-Autor Dirk Hoeren über Bundesumweltministerin Steffi Lemke einmal komplett lesen, um zu verstehen, wie tendenziös und einseitig und falsch er ist. Am vergangenen Samstag schrieb Hoeren in der “Bild”-Bundesausgabe:

Plant Umweltministerin Steffi Lemke (55) eine Zweit-Karriere – als Fotomodell?

In einer Ausschreibung sucht ihr Ministerium gerade einen Fotografen. Er soll die Grüne auf offiziellen Terminen begleiten – und sie zusätzlich im Rahmen von Porträt-Shootings in Szene setzen.

“Ein oder zweimal jährlich kann ein großes Porträtshooting beauftragt werden”, heißt es in der Ausschreibung. Darin solle die Ministerin “in einem aufwändigeren Aufnahmeprozess fotografisch stärker inszeniert werden”. Die Fotos sollen “in mindestens drei verschiedenen Umgebungen, unterschiedlichen Lichtverhältnissen, mit wechselnder Bekleidung” geschossen werden. “Eine Visagistin/Ein Visagist ist einzuplanen.”

Dauer der Shootings: “vier bis sechs Stunden”.

Den Auftragswert schätzt das Grünen-Ministerium auf 150 000 Euro. Bei zweimaliger Verlängerung um je ein Jahr würden sich die geschätzten Kosten sogar auf 300 000 Euro summieren.

Der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel (47), sieht den Aufwand kritisch.

“Es ist den Steuerzahlern kaum zu vermitteln, dass sie auch für Visagisten und Hairstylisten von Politikern aufkommen sollen”, sagt Holznagel zu BILD. Im Zweifel müsse dafür “privat bezahlt werden”.

Überschrift:

Ausriss Bild-Zeitung - Umweltministerin sucht einen Fotografen für 150000 Euro!

Fangen wir beim Geld an.

Was die “Bild”-Leserschaft an keiner Stelle erfährt und nach dem Lesen des Artikels auch nicht ahnen kann: Die 150.000 Euro sind kein festgelegtes Honorar, das auf jeden Fall gezahlt wird, egal wieviel der Fotograf oder die Fotografin arbeitet. Es handelt sich stattdessen um das maximale Auftragsvolumen für den vertraglich festgelegten Zeitraum (dazu gleich noch mehr). So steht es auch in der “Rahmenvereinbarung”, die das Ministerium zur Ausschreibung veröffentlicht hat. Wir haben beim Ministerium nachgefragt, wie die letztendliche Höhe des Honorars zustande kommt. Die Antwort:

Die Vergütung erfolgt pro tatsächlichem Einsatz in Abhängigkeit vom Zeitbedarf nach gestuften Stundensätzen bzw. einem Tagessatz.

Was da so pro Jahr zusammenkommt? Auch darauf haben wir eine Antwort bekommen:

Die Brutto-Ausgaben im Jahr 2022 beliefen sich auf rund 9.700 €. Im laufenden Jahr betragen die bisherigen Ausgaben gut 8.800 €.

Also: bezahlt wird pro Einsatz. Und mit den Summen, die in der jüngsten Vergangenheit vom Ministerium pro Jahr ausgegeben wurden, käme man nicht ansatzweise an das maximale Auftragsvolumen von 150.000 Euro ran.

Sowieso wirft Dirk Hoeren im “Bild”-Artikel die Summen völlig durcheinander. Wenn er schreibt: “Den Auftragswert schätzt das Grünen-Ministerium auf 150 000 Euro. Bei zweimaliger Verlängerung um je ein Jahr würden sich die geschätzten Kosten sogar auf 300 000 Euro summieren”, ist das schlicht falsch. Erstens weil eben nicht pauschal, sondern pro Auftrag bezahlt wird, siehe oben. Und zweitens: Aus der bereits erwähnten “Rahmenvereinbarung” wird klar, dass sich der Maximalwert von 150.000 Euro auf den Zweijahresvertrag und die zweimalige Verlängerung um jeweils ein Jahr bezieht:

Das maximale Auftragsvolumen (Höchstwert) beträgt über die Gesamtlaufzeit des Vertrags (inkl. Verlängerungsoptionen) 150.000 € netto.

Es geht also um 150.000 Euro für vier Jahre, rechnerisch 37.500 Euro pro Jahr. Und wie gesagt: Zuletzt wurde diese Summe bei weitem nicht erreicht. Die Verdopplung der Kosten auf 300.000 Euro bei einer möglichen Vertragsverlängerung, die Dirk Hoeren bei “Bild” ins Spiel bringt, hat er sich ausgedacht.

Bei Bild.de steht inzwischen:

Bei zweimaliger Verlängerung um je ein Jahr würden sich die geschätzten Kosten sogar auf das Vielfache summieren.

Das ist aber genauso falsch. Noch einmal: Es bleiben auch bei einer Verlängerung maximal 150.000 Euro.

Was die beauftragte Person für das Honorar leisten soll, wird im “Bild”-Artikel stark einseitig beschrieben. In dem Text geht es fast ausschließlich um “‘ein großes Porträtshooting'” für Steffi Lemke. Nur an einer Stelle wird auch erwähnt, dass der Fotograf oder die Fotografin “die Grüne auf offiziellen Terminen begleiten” soll. Schaut man in die “Leistungsbeschreibung” der Ausschreibung, wird klar: Es geht hauptsächlich (“Grundlegende Anforderungen”) um Terminbegleitung und nur zusätzlich (“Optionale Leistungen”) um Porträtaufnahmen. Bei “Bild” wird dieses Verhältnis komplett umgedreht.

Und nicht nur bei der Frage, was und wie fotografiert werden soll, lässt Dirk Hoeren großzügig die Aspekte weg, die nicht in seine Erzählung passen, sondern auch bei der Frage, wer alles fotografiert werden soll. In der “Leistungsbeschreibung” ist von der “Hausleitung” des Ministeriums die Rede, die bei Terminen begleitet werden soll. Und die umfasst neben Steffi Lemke auch die Staatssekretäre und die Parlamentarischen Staatssekretäre. Bei “Bild” liest es sich hingegen so, als würde das ganze, viele Geld nur für die Bundesministerin draufgehen.

Dieser ganze “Bild”-Spin fand noch weitere Verbreitung, weil andere Redaktionen ihn dankbar abgeschrieben haben: die “Epoch Times” zum Beispiel, “De24Live” oder das Krawallportal “Nius” um den geschassten “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt. Manche Redaktionen haben ihn aber auch noch irrer weitergedreht. Die “Weltwoche” etwa titelt: “‘Für vier bis sechs Stunden’: Grüne Umweltministerin sucht einen Fotografen für 150.000 Euro”, und “Focus Online” schreibt von “150.000-Euro-Portaitshootings”.

Man kann es natürlich völlig daneben finden und darüber diskutieren, dass Bundesministerien Steuergelder für Fotoaufträge ausgeben. Aber dann sollte man in der Diskussion wenigsten fair sein und sich an die Fakten halten.

Nachtrag, 8. August: Die “Bild”-Redaktion hat eine Art Teil-Korrektur veröffentlicht.

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“Bild” verlegt Vergewaltigungen in den Görlitzer Park

Im Görlitzer Park in Berlin soll es eine Gruppenvergewaltigung gegeben haben. Die Ermittlungen dazu laufen, die Polizei hat bisher zwei Verdächtige festgenommen. Die mutmaßliche Tat soll sich bereits im Juni dieses Jahres ereignet haben, öffentlich bekannt wurde sie erst vergangene Woche. Die “Bild”-Redaktion erklärte den Görlitzer Park jedenfalls vor wenigen Tagen zu:

Screenshot Bild.de - Allein dieses Jahr acht Vergewaltigungen! Deutschlands Park der Angst

Dass die Dachzeile “ALLEIN DIESES JAHR ACHT VERGEWALTIGUNGEN!” so nicht stimmt, wird bereits beim Lesen des ersten Absatzes desselben Artikels klar:

Er ist Berlins Horror-Park: Allein acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park.

Also: bisher “acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe” im Görlitzer Park im Jahr 2023 laut “Bild”. Diese Zahl taucht in aktuellen Berichten der Redaktion immer wieder auf:

Allein von Januar bis Ende Juni gab es im Görlitzer Park acht schwere Taten unter dem Stichwort “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”

Laut einer aktuellen Polizeistatistik gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park acht schwere Taten unter dem Stichwort “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”.

Doch auch das ist falsch.

Die Polizeistatistik, die die “Bild”-Redaktion erwähnt, findet man in einer Antwort der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport (PDF) auf eine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Ferat Koçak. Darin geht es um “Neue Entwicklungen am sogenannten kriminalitätsbelasteten Ort ‘Görlitzer Park/Wrangelkiez'”. Tatsächlich findet man in der Statistik die acht Fälle von “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”, die sich von Januar bis einschließlich 26. Juni ereignet haben sollen. Aber längst nicht alle im Görlitzer Park.

Die Bezeichnung “kriminalitätsbelasteter Ort” (“kbO”) geht auf eine Einordnung der Berliner Polizei zurück, die in der Stadt insgesamt sieben solcher Gebiete als Kriminalitäts-Hotspots sieht. Dort gelten für die Beamten besondere Befugnisse. Sie können beispielsweise verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. Der Name “kbO Görlitzer Park/Wrangelkiez” deutet ja schon an, dass das Gebiet, um das es in der Polizeistatistik geht, nicht nur den Görlitzer Park umfasst. Dieser ist etwa 140.000 Quadratmeter groß; die gesamte von der Polizei Berlin als “kbO Görlitzer Park/Wrangelkiez” deklarierte Fläche umfasst aber mehr als 300.000 Quadratmeter. Wo genau die Grenzen verlaufen, verrät die Berliner Polizei aus taktischen Gründen nicht. Auf jeden Fall gehört aber ein beachtlicher Teil des belebten Wrangelkiezes, in dem es viele Wohnhäuser, Hostels und Firmen gibt, zum “kbO”.

Unter den acht Fällen von “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff” befinden sich laut Polizeistatistik sechs Vergewaltigungen oder versuchte Vergewaltigungen. Dazu hat “taz”-Redakteur Erik Peter bei der Polizei genauer nachgefragt. Mit dem Ergebnis:

Einzig die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung aus dem Juni fand tatsächlich im Görlitzer Park statt. Sie ist zudem die einzige der registrierten Vergewaltigungen, die im öffentlichen Raum geschah.

In den fünf anderen Fällen vergewaltigten die mutmaßlichen Täter demnach in Privaträumen im umliegenden Kiez: Laut der Polizei kam es demnach zu einer versuchten Vergewaltigung in einem Gewerbebetrieb, zwei Vergewaltigungen in Hostels sowie zwei Vergewaltigungen in Wohnhäusern. Nähere Auskünfte zu den Ermittlungsständen gab die Polizei mit Verweis auf laufende Ermittlungsverfahren nicht.

Natürlich macht der Ort einer Vergewaltigung diese nicht weniger schrecklich. Aber wenn die “Bild”-Redaktion schreibt: “Allein acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park”, ist das grob falsch. Sie heizt damit eine eh schon hitzige Debatte mit falschen Behauptungen weiter an.

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DOCH VERÖFFENTLICHT !!!!!!!!!!!!!!

Es gibt die verschiedensten Varianten: Ein Mensch stirbt, die “Bild”-Redaktion besorgt sich ein Foto der Person, berichtet über den Fall, und die Familie des oder der Verstorbenen wehrt sich juristisch gegen die Berichterstattung. Oder: Ein Mensch stirbt, “Bild” veröffentlicht ein Foto, das aber eine völlig andere Person zeigt, und die beschwert sich anschließend. Oder: Ein Mensch stirbt, “Bild” berichtet, niemand wehrt sich, weil niemand die Nerven und die Kraft dazu aufbringen kann oder weil die möglichen Rechtsmittel nicht bekannt oder zu kostspielig sind oder weil niemand es mitbekommen hat oder auch weil die Familie mit der Berichterstattung einverstanden ist.

Am vergangenen Freitag kam eine neue Variante hinzu, die uns so bisher noch nicht begegnet ist:

Screenshot Bild.de - Nicht veröffentlichen - es folgen vierzehn Ausrufezeichen - Trauer um 41-jährigen Mediziner - Nicht publizieren - Witwe will es nicht - Augsburger Oberarzt stirbt im Kroatien-Urlaub - Bruder sammelt für die Familie spenden - dazu ist ein unverpixeltes Foto des verstorbenen Mannes zu sehen, das wir vor der Veröffentlichung hier im BILDblog unkenntlich gemacht haben

Ein Mann stirbt, “Bild” will berichten und erstellt einen entsprechenden Bild.de-Beitrag, die Witwe macht aber schon vor der Veröffentlichung klar, dass sie damit nicht einverstanden ist, die “Bild”-Redaktion erfährt das ganz offensichtlich auch, und dann wird der Artikel doch veröffentlicht, mit unverpixeltem Foto des Verstorbenen (die Unkenntlichmachung stammt von uns).

Auf unsere Anfrage, warum der Artikel bei Bild.de publiziert wurde, obwohl die Familie des Verstorbenen dies offenbar nicht wollte, antwortete uns eine “Bild”-Sprecherin:

Wie am internen Hinweis in der Überschrift und der Dachzeile zu erkennen, wurde der Artikel versehentlich publiziert. Es handelt sich um einen bedauerlichen Fehler, der sehr schnell bemerkt wurde. Der Artikel war am frühen Morgen des 28. Julis für wenige Minuten online, wurde umgehend depubliziert und seither nicht erneut veröffentlicht.

Zu unseren weiteren Fragen, warum sich der Artikel überhaupt noch im Redaktionssystem befunden hat, obwohl die Witwe sich so deutlich geäußert hatte, ob die “Bild”-Redaktion noch auf irgendeine Entwicklung bei der Geschichte gewartet hat, beispielsweise dass die Frau doch noch einer Veröffentlichung zustimmt, und warum Bild.de ein unverpixeltes Foto des Mannes verwendet hat, bekamen wir keine Antwort.

Mit Dank an Jens L. für den Hinweis!

“Unser Urlaub”

Sommer 2016, in Spanien, in Portugal, in Frankreich, in Griechenland, auf Madeira und auf den Kanaren kämpfen die Menschen gegen heftige Waldbrände. Es gibt Tote und Verletzte, Menschen verlieren ihre Häuser und Lebensgrundlagen. Und Bild.de titelt:

Screenshot Bild.de - Hier fackelt unser Urlaub ab - Waldbrände lodern auf Madeira, den Kanaren, in Frankreich, Spanien, Portugal

Sommer 2017, in Kroatien, in Montenegro, in Griechenland, in Italien, in Frankreich und in Portugal brennen die Wälder. Ein Mann kommt in der Nähe von Neapel ums Leben, viele verlieren alles, was sie haben. Und Bild.de titelt:

Ausriss Bild.de - Waldbrände in Italien, Kroatien Frankreich - Hilfe, unser Urlaub brennt - Sind Sie auch betroffen? Schicken Sie uns Ihre Urlaubsfotos aus der Flammenhölle

Und jetzt, im Sommer 2023, wo in den Urlaubsregionen in Griechenland, in Kroatien, in Portugal, in Italien und in Frankreich wieder riesige Waldbrände wüten, mit Toten und Verletzten und zerstörten Existenzen, ist die “Bild”-Redaktion wieder ganz bei sich und “uns”:

Screenshot Bild.de - Waldbrände in Griechenland, Landminen-Explosionen in Kroatien - Hier brennt unser Urlaub!

Kennt “Bild” einen Clan-Einbruch, kennt “Bild” alle

Im November 2022 wurden bei einem Einbruch im Kelten-Römer-Museum im bayerischen Manching 483 keltische Goldmünzen und ein goldener Gusskuchen – der Kelten-Goldschatz von Manching – gestohlen. Seit dieser Woche, acht Monate nach dem Einbruch, sitzen vier Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Zwei von ihnen wurden bei einer Übergabe von Goldstücken festgenommen, deren Legierung zum Kelten-Goldschatz passen soll. Alle vier Tatverdächtigen sollen bislang zu den Vorwürfen schweigen.

Bereits kurz nach der Tat hatte die “Bild”-Redaktion einen Verdacht, wer hinter dem Einbruch stecken könnte:

Screenshot Bild.de - Goldschatz im Manchinger Museum geklaut - Führt die Spur ins Clan-Milieu?

Auch andere Medien, etwa der “Tagesspiegel” oder die “Berliner Zeitung” (dort führten in der Überschrift die Spuren sogar ohne Fragezeichen “ins Berliner Clan-Milieu”), brachten eine mögliche Clan-Verbindung ins Spiel. Aber keine Redaktion gab sich dabei so viel Mühe wie “Bild”. In dem Artikel vom 23. November hieß es unter anderem:

Der Tatort ist neu, aber die Vorgehensweise der Einbrecher bei dem Raub des Goldschatzes erinnert an jüngste Clan-Coups …

Und:

Nach Angaben der Ermittler könnte die Spur ins Clan-Milieu führen.

Und:

Die Fahnder stehen im engen Kontakt mit Kollegen aus Berlin und Dresden. Sie erhoffen sich Hinweise zum Vorgehen der Täter bei ähnlichen Einbruchsdiebstählen 2017 im Bode-Museum und 2019 im Grünen Gewölbe. Damals wurden in beiden Museen Ausstellungsstücke im Wert von mehr als 100 Millionen Euro geklaut. Die Spuren führten zu Tätern aus dem Clan-Milieu.

Vor allem hat “Bild” einen KriminalKunstexperten aufgetan, der von “Barbaren” spricht und von Goldgeschäften, die sich “in der Hand von arabischen und türkischen Großfamilien” befänden:

“Da werden Erinnerungen an das Grüne Gewölbe wach”, erklärt auch Kunstexperte Robert Weis (54) vom Auktionshaus Hermann Historica BILD. “Auch in Dresden wurde zuerst die Alarmelektrik lahmgelegt. Da sind Leute am Werk, die wissen, was sie tun. Das werden Barbaren sein, die das Gold einschmelzen. Das ist kein Problem. Der Goldankauf ist in der Regel in der Hand von arabischen und türkischen Großfamilien. Die sind bestens vernetzt. In Berlin gab es keine Probleme, die große Münze kleinzumachen und weiterzuverkaufen. Es können auch Nachahmungstäter gewesen sein. Um in Museum einzubrechen, braucht man ein gewisses Maß an organisierter Kriminalität und Fachwissen. Da liegt der Gedanke nah, dass es sich bei den Tätern um Clans handeln könnte.”

Gestern gab es eine Pressekonferenz zur Festnahme der Tatverdächtigen in dem Fall. Die “Süddeutsche Zeitung” schreibt über die Erkenntnisse der Ermittler:

Zumindest die Theorie, wonach der Museumseinbruch im vergangenen November von einem kriminellen Berliner Clan begangen wurde, räumen sie am Donnerstag vom Tisch. Bei den vier festgenommenen Tatverdächtigen handelt es sich demnach um vier Deutsche “ohne Migrationshintergrund” zwischen 42 und 50 Jahren. “Berufseinbrecher”, sagt [Bayerns] Innenminister Herrmann. Drei von ihnen sollen jahrelang als kriminelle Bande umhergezogen sein und in mehreren Bundesländern sowie in Österreich Einbrüche begangen haben. Seit 2014 sollen sie in elf Fällen Casinos, Supermärkte und eine Kfz-Zulassungsstelle geplündert haben, berichtet der Ingolstädter Staatsanwalt Nicolas Kaczynski. Dabei sei ein Beuteschaden von mehr als einer halben Million Euro entstanden. […] Die Vierergruppe besteht aus einem Fernmeldetechniker, einem Buchhalter, einem Filialleiter im Einzelhandel und einem Mitarbeiter einer Abbruchfirma.

Auch Bild.de berichtet über die Festnahmen. In einem Artikel erfährt man, dass die vier Männer, die nun in Untersuchungshaft sitzen, Alexander, Robert, Jörn und Maximilian heißen sollen. Von der eigenen, falschen Clan-Verdächtigung erfährt man in dem Text hingegen nichts.

Mit Dank an @zeitungsboy für den Hinweis.

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Songs für jemand ganz besonderen

Seit geraumer Zeit sucht die “Bild”-Redaktion nach dem endgültigen Beweis dafür, dass Mentalist Timon Krause und Profitänzerin Ekaterina “Ekat” Leonova ein Paar sind. Ein offizielles Pärchenfoto, ein Statement der beiden, irgendwas, das dieses “Liebes-Versteckspiel”, wie “Bild” es nennt, endlich beendet. Doch diesen Beweis findet die Redaktion nicht. Und so klammert sie sich seit Monaten an Gerüchte und Indizien, vor zwei Tagen erst wieder:

Screenshot Bild.de - Ich liebe dich für immer, doch halte es geheim - Timons geheime Liebes-Playlist für Ekat aufgetaucht?

“Bild”-Unterhaltungschefin Tanja May, Markus Brachat und Sarina Roocks haben eine neue Fährte aufgenommen:

Jetzt soll Timon (aus Versehen?) einen versteckten Hinweis gegeben haben: eine Liebes-Playlist!

BILD erfuhr: Timon soll vergangene Woche seinen Spotify-Kanal auf Instagram geteilt, seinen Followern die Playlist “Das Versunkene Theater – Inspiration” gezeigt haben. BILD erfuhr aus dem engen Umfeld des Paares, dass der Account tatsächlich Timon gehört.

Aber Moment! Auf diesem Spotify-Kanal haben May, Brachat und Roocks noch eine weitere Playlist entdeckt, ohne Namen, nur mit zwei Liebes-Emojis versehen:

Screenshot von der Spotify-Playlist, zu sehen sind ein Emoji mit Herzen, die ums lächelnde Gesicht schwirren und ein Herz-Emoji

Und die darin enthaltenen acht Songs haben es aus “Bild”-Sicht in sich:

Erfahren Sie mit BILDplus, welche Lieder sich darauf verstecken und warum diese Songs haargenau die Liebesgeschichte der beiden widerspiegeln.

Im Bild.de-Artikel folgen dann ausgiebige Interpretationen einiger Lieder, die wir euch in ihrer Fülle ersparen wollen. Nur exemplarisch diese hier:

Das erste Lied der Playlist stammt von der Band Fäaschtbänkler, der Titel: “Für dich”. In dem Song heißt es:

“Dein Lachen ist wichtig, macht mich zum Optimist, der Rest ist fast nichtig … Mit dir fängt alles an!”

Fakt ist: Ekat hat ein Strahlen, das jeden Mann umhauen kann. Unter einen Instagram-Post, den Ekat zu Timons Geburtstag veröffentlichte, schrieb der Mentalist: “Ich bin ganz gerührt und bin immer noch ganz überrascht, was du mit deiner Art aus einem sehr verschlossenen Mentalisten alles rausgeholt hast – tänzerisch und menschlich.”

Klingt, als wäre Timon durch Ekat ein richtiger Optimist geworden.

Na, dann: Fall gelöst!

Viel interessanter ist aber, dass die “Bild”-Redaktion auch einen Screenshot der Playlist in den Artikel eingebaut hat, auf dem die acht Lieder zu sehen sind:

Screenshot von der Spotify-Playlist mit den acht Songs

In der dazugehörigen Bildunterschrift steht:

Fans fällt bei diesen acht Songs sofort etwas auf: Bei “Let’s Dance” verriet Timon, dass er großer von der Band Pur ist. Welcher Hit passt da besser auf eine Liebes-Playlist als “Ich lieb’ Dich”?

Uns fällt bei diesen Songs etwas anderes auf – die Kombination aus dem jeweils ersten Buchstaben der acht Songtitel:

Screenshot von der Spotify-Playlist mit den acht Songs, dabei haben wir den jeweiligen ersten Buchstaben jedes Songs hervorgehoben. Daraus ergibt sich: FUCK BILD

Ganz am Anfang ihres Artikels fragen Tanja May, Markus Brachat und Sarina Roocks:

Sind diese Songs für jemand ganz besonderen gedacht?

Wir würden sagen: ja!

Mit Dank an Klaus B. für den Hinweis.

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Eine Anti-EU-Kampagne wie eine Flasche leer

Dieses Land hat Angst …

Angst vor [der] Mega-Bierflaschen-Vernichtung in Deutschland!

Denn wenn man “Bild”, dem Deutschen Brauerbund, dem Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels und CDU/CSU glaubt, müssen unsere geliebten deutschen Bierflaschen aus Glas bald alle vernichtet werden. Und alles nur wegen eines maliziösen Plans der EU-Kommission.

Vorgestern berichtete Bild.de:

Screenshot Bild.de - Brauer schlagen Alarm - Müssen wir Milliarden Bierflaschen vernichten?

In der gedruckten “Bild” fand man das Thema sogar auf der Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Müssen wir Milliarden Bierflaschen vernichten?

Und heute legt Bild.de noch einmal nach:

Screenshot Bild.de - Milliarden Pullen in Gefahr - Aufstand gegen Bierflaschen-Vernichtung der EU

Es gibt einen Vorschlag der EU-Kommission “für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Verpackungen und Verpackungsabfälle”. Vor zwei Tagen berichteten eben auch die “Bild”-Medien über diese “Pläne der EU-Kommission”, die “in Deutschland dramatische Folgen haben” könnten:

Deutschlands Brauer und Getränkehersteller sind entsetzt.

Die EU plant neue Regeln für Pfandsysteme und Verpackungen. Die unfassbare Folge: Es droht die Vernichtung von MILLIARDEN deutscher Bierflaschen!

Grund: Diese müssten aus dem Verkehr gezogen, mit Präge-Logo und Seriennummer neu hergestellt werden.

Auf drei Quellen stützt sich “Bild”-Redakteur Sebastian Geisler in seinem Beitrag:

1. “Brauerbund-Boss Holger Eichele”, der vom “Irrsinn” spricht, der “verhindert werden” müsse, und behauptet: “Werden die EU-Pläne Wirklichkeit, müssten wir alle Mehrwegflaschen einschmelzen.” 2. “einen Brandbrief” des Deutschen Brauerbunds. Und 3. “Dirk Reinsberg (52), Geschäftsführender Vorstand Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels”, der vor dem “ökologischen und ökonomischen Wahnsinn” warne.

Mit anderen Worten: Der gesamte Artikel basiert auf alarmierenden Aussagen von Vertretern der Getränkelobby. Die EU-Kommission kommt nicht zu Wort.

Heute dann die Fortsetzung mit dem “Aufstand gegen [die] Bierflaschen-Vernichtung der EU”. Dafür hat Sebastian Geisler vor allem Stimmen von Politikerinnen und Politikern eingefangen: “Jetzt gibt es Widerstand aus der Politik.” Wobei es bei der Auswahl der Parteien eine, nun ja, leichte Schlagseite gibt. Es kommen zu Wort:

  • CSU-Generalsekretär Martin Huber: “Aufgrund bürokratischer Vorgaben Milliarden Bierflaschen und Bierkästen zu vernichten, ist eine umweltpolitische Farce.”
  • Sebastian Brehm, Vorsitzender der CSU-Mittelstandsunion: “Brüssel droht unsere regionale Bierkultur zu zerschlagen.”
  • Ulrich Lange, für die CSU im Bundestag: “Die Pläne der EU schlagen dem Bierfass den Boden aus!”
  • Angelika Niebler, für die CSU im EU-Parlament: “Wir haben beantragt, dass unsere bestehenden Mehrwegsysteme von der Neuregelung ausgenommen werden!”
  • Monika Hohlmeier, ebenfalls für die CSU im EU-Parlament: “Das ist ein Kleinbrauereien-Vernichtungsprogramm”.
  • Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU: “Kleinteilige Regelungen aus Brüssel, die vieles gut meinen, aber wenig besser machen, braucht es hier gewiss nicht.”

Fünfmal CSU, einmal CDU. Vertreter anderer Parteien werden nicht zitiert. Dafür aber eine Sprecherin des Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministeriums. Und bei deren Aussage können einem erstmals Zweifel an der großen Gefahr für die deutsche Bierflasche kommen:

Entwarnend heißt es: “Die Europäische Kommission hat betont, dass sie nicht beabsichtigt, etablierte Mehrwegsysteme zu gefährden.”

Doch diesen leichten Widerspruch zum Bierflaschen-Armageddon lässt “Bild”-Autor Geisler direkt im nächsten Absatz durch einen alten Bekannten wieder einfangen:

Dirk Reinsberg (52), Geschäftsführender Vorstand Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels, reicht diese Absichtsbekundung nicht aus. Er ist wegen Artikel 10 und 11 des Entwurfs der Kommission in größter Sorge! Darin steht, dass eine neuartige Mehrweg-Kennzeichnung “dauerhaft auf der Verpackung angebracht, aufgedruckt oder eingraviert” werden müsse. Reinsberg entsetzt zu BILD: “Diese Anforderung erfüllen die heute mit Leim angebrachten Etiketten nicht!”

Dieser Absatz ist deswegen interessant, weil dort, ganz am Ende des zweiten Artikels zum Thema, zum ersten Mal konkret benannt wird, was “größte Sorge” auslöst. Schaut man sich “Artikel 10 und 11 des Entwurfs der Kommission” mal an, stößt man auch auf die Passage, die “Bild” zitiert. Sie lautet komplett:

Die in den Absätzen 1 bis 3 genannten Etiketten und der QR-Code oder ein anderer digitaler Datenträger gemäß Absatz 2 werden gut sichtbar, deutlich lesbar und dauerhaft auf der Verpackung angebracht, aufgedruckt oder eingraviert.

Es geht also sehr wohl um Etiketten (mit QR-Code). Diese Information ist im “Bild”-Artikel beim Kürzen des Zitats blöderweise untergegangen. Und diese Etiketten können auf der Verpackung angebracht oder aufgedruckt werden. Sie können auch eingraviert werden, was aber keine Pflicht ist.

Bleibt die Frage, was mit “dauerhaft” gemeint ist: Muss ein Etikett künftig so auf der Mehrwegflasche montiert sein, dass es nie mehr abgehen kann? Oder reichen doch die “heute mit Leim angebrachten Etiketten”, die beispielsweise bei zu viel Feuchtigkeit auch mal abblättern und die laut “Bild”-Artikel nicht reichen? Wir haben bei der EU-Kommission nachgefragt. Eine Sprecherin antwortete uns:

Entscheidend ist, dass die Information von allen Verbraucher:innen gelesen/abgerufen werden können in dem Moment, in dem sie die Verpackung (in diesem Falle eine Flasche) in Händen halten. Löst sich der Hinweis beim Waschvorgang ab, muss er einfach neu aufgebracht werden, bevor die Flasche wieder zurück in den Handel geht. Das erfüllt die Vorgabe “dauerhaft”.

Nachzulesen ist das auch noch mal in einer Pressemitteilung, die die EU-Kommission inzwischen veröffentlicht hat:

Der Kommissions-Vorschlag sieht vor, dass jede Verpackung gekennzeichnet sein muss: Etikett und QR-Code mit der Information, woraus die Verpackung besteht und in welchen Abfallbehälter sie gehört. Diese Information muss dauerhaft angebracht sein. Ablösbare Papier-Etiketten, die im deutschen Flaschenpfandsystem üblich sind, können diese Bedingung erfüllen. Vorausgesetzt, sie sind verfügbar, so lange die Flasche im Umlauf ist. Kommt sie in die Rotation zurück und löst sich das Etikett beim Waschvorgang ab, muss für die weitere Wiederverwendung ein neues angebracht werden. Es ist aber nicht notwendig, die Information in die Flasche einzugravieren. Diese Form der Kennzeichnung ist im Kommissionsvorschlag nur als Option genannt.

Das hat die EU-Kommission übrigens schon vor zwei Tagen – also deutlich vor dem heute erschienenen, zweiten Bild.de-Artikel – in einem Tweet klargestellt.

Das heißt alles also: Abgesehen von ein paar Zusatzinformationen und einem QR-Code auf den geleimten Etiketten dürfte sich für die deutschen Brauer und Getränkehersteller bei den Bierflaschen aus Glas nichts ändern. Es muss nichts “aus dem Verkehr gezogen, mit Präge-Logo und Seriennummer neu hergestellt werden”, wie “Bild” behauptet. Es muss auch nichts eingeschmolzen werden, wie der Brauerbund sagt. Die von der EU veranlasste milliardenfache Bierflaschen-Zerstörung ist ein Fantasiegebilde der “Bild”-Redaktion und ihrer Verbündeten.

Hinzu kommt: Vorausgesetzt, der Vorschlag der EU-Kommission wird angenommen, bleibt noch eine Menge Zeit, bis die Umgestaltung der Etiketten umgesetzt werden müsste. So steht es auch im Vorschlag der EU-Kommission, der “Bild” eigentlich vorzuliegen scheint. Die Sprecherin der EU-Kommission sagte uns dazu:

Der Vorschlag sieht eine Übergangsphase für die Labelling-Vorschriften vor. Wenn also ein Trilog eine Einigkeit der Institutionen gebracht haben wird und die Verordnung in Kraft tritt, beginnt eine Phase von vier Jahren. Das ist aus unserer Sicht eine ausreichende Zeitspanne, um die neuen Vorgaben umzusetzen.

Anstatt der eigenen Leserschaft all das ordentlich und in Ruhe zu erklären, schürt die “Bild”-Redaktion lieber die “Angst vor [der] Mega-Bierflaschen-Vernichtung in Deutschland” und damit die Wut auf die Europäische Union, die uns jetzt auch noch vermeintlich die Bierflasche wegnehmen will.

Mit Dank an Alfonso für den Hinweis!

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“Bild” bringt Geflüchtete in “Luxus-Hotel” unter

Auf ihrer Suche nach Möglichkeiten zur Unterbringung von Geflüchteten plant die Bezirksregierung Münster, ein Hotel in Gladbeck zu mieten und in eine Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) umzuwandeln. 620 neue Plätze sollen so entstehen. BILDblog-Leserinnen und -Leser aus Gladbeck erzählen uns, dass in der Stadt über das Vorhaben zwar kontrovers, aber “zum Glück noch einigermaßen sachlich” diskutiert werde. Jedenfalls bislang, denn jetzt schaltet sich “Bild” ein.

Gestern auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Land NRW will Flüchtlinge im Vier-Sterne-Hotel unterbringen

Heute in der “Bild”-Bundesausgabe:

Ausriss Bild-Zeitung - NRW will Flüchtlinge in Luxus-Hotel unterbringen - Vier Sterne und 600000 Euro Miete pro Monat

Und größer in der heutigen Ruhrgebiet-Ausgabe:

Ausriss Bild-Zeitung - Land will Flüchtlinge in Luxus-Hotel unterbringen - Vier Sterne und 600000 Euro Miete pro Monat

Die “Bild”-Redaktion gibt sich große Mühe, das Hotel Van der Valk Gladbeck als Luxus-Unterkunft wirken zu lassen, in der es sich die Geflüchteten dann mit allerlei Annehmlichkeiten gemütlich machen können. Sie betont den “Bettwäsche- und Handtuchwechsel für bis zu 618 Personen”, der für die ZUE geplant sei, sie schreibt vom “Hausmeister und Gärtner”, der zu den “Zusatzdienstleistungen” gehöre, und sie erwähnt die “Hochzeitssuite ‘Blaue Lagune'”, die es im Hotel gibt. In einer Bildunterschrift steht (samt Einzahl/Mehrzahl-Fehler):

Das Zimmer sind mit stilvollen Design-Möbeln eingerichtet

Das dazugehörige Foto zeigt aber nicht etwa die “stilvollen Design-Möbel” eines normalen Einzel- oder Doppelzimmers des Hotels, sondern die der bereits erwähnten Hochzeitssuite.

In einer anderen Bildunterschrift heißt es:

Ausriss Bild-Zeitung - Man gönnt sich ja sonst nichts: Das Doppelzimmer gibt es derzeit ab 79 Euro pro Nacht, die Hochzeitssuite

Die drei Fotos, die die “Bild”-Redaktion dazu abdruckt (und die alle vom Hotelbetreiber stammen), zeigen: 1. die Hochzeitssuite, 2. eine Executive Suite und 3. die Terrasse des Hotels.

Bei all dem Bemühen, das Gladbecker Hotel im Glanz erstrahlen zu lassen, hat “Bild” eine interessante Info leider vergessen: Die Anzahl der Zimmer ist nirgends im Text zu finden. Auf wie viele “Man-gönnt-sich-ja-sonst-nichts”-Luxus-Zimmer sollen sich die 620 Geflüchteten eigentlich verteilen? Die Antwort gibt es auf der Website des Hotels: Momentan seien es 181. Das heißt: Pro Zimmer sollen rein rechnerisch drei bis vier Geflüchtete unterkommen. Das ist in der Hochzeitssuite “Blaue Lagune”, die es der “Bild”-Redaktion so angetan hat, wahrscheinlich kein größeres Problem. In einem herkömmlichen Hotel-Doppelzimmer ist das auf Dauer hingegen schon eher problematisch und hat mit einer Luxus-Unterbringung nicht mehr viel zu tun.

Während die Quantität der Zimmer von “Bild” also gar nicht thematisiert wird, scheint die Darstellung der Qualität der Zimmer – laut “Bild” ja “mit stilvollen Design-Möbeln eingerichtet”, “gut ausgestattet” und mit “4-Sterne-Komfort” – nicht so recht mit den Erfahrungen früherer Hotelgäste übereinzustimmen. Schaut man in die Bewertungen für das Hotel in Gladbeck (wir haben extra einen Zeitraum gewählt, der vor der Bekanntgabe der Pläne der Bezirksregierung Münster liegt, um irgendwie politisch motivierte Rezensionen ausschließen zu können), findet man einige Rezensenten, die mit ihrem Aufenthalt sehr zufrieden gewesen sind. Man findet aber auch zahlreiche Kommentare, die betonen, wie “abgerockt” die Zimmer seien. Möbel seien verschlissen, Teppiche fleckig, Duschen schimmelig:

Die Zimmer sind sehr in die Jahre gekommen und nicht zeitgemäß eingerichtet. Ich habe ein Upgrade auf eine Suite erhalten, diese war schon sehr abgewohnt.

Alles ziemlich alt und abgenutzt

Möbel fielen teilweise auseinander.

Die Möbilierung im Zimmer zeigte Verschleißerscheinungen.

Sehr renovierungsbefürftige Anlage.

komplett veraltet, müßte dringend renoviert und modernisiert werden

Total veraltetet Inventar in den Zimmern. Man kommt sich vor wie 1965.

Renovierung dringend erforderlich.

Raumausstattung sehr veraltet

Im Bad war Schimmel über der Dusche, Steckdosen waren nicht mehr fachgerecht angebracht und das gesamte Mobiliar aus Holz ist mittlerweile abgeplatzt.

Das Hotel ist leider in die Jahre gekommen. Die Zimmer waren eher vom Standard einer Monteur Unterkunft. Der frühere Glanz ist nur noch im Empfang und dem Speisesaal erkennbar.

Zimmer benötigen Renovierung.

Das Hotel war damals vielleicht schön, ist jetzt aber leider komplett ungepflegt, verwohnt

sehr abgewohnt

Teppiche fleckig, Fenster und Türen undicht

Fliesen gibt es auf dem Balkon nicht, dafür aber einen Estrich beton auf dem mal Fliesen waren.

Einrichtungen veraltet

der Zustand der Zimmer inklusive Möbel ist für den Preis nicht tragbar. Alles sehr abgerockt und alt.

Zimmer sind veraltet.

Die Dusche hatte Schimmelsporen an der Decke!

Alles in allem ganz schön in die Jahre gekommen, müsste alles mal dringend erneuert werden.

Auch das klingt nich gerade nach dem Luxus, den “Bild” dem Hotel in Gladbeck gern zuschreiben möchte.

All diese zusätzlichen Informationen scheint die “Bild”-Leserschaft für ihr Urteil aber sowieso nicht zu brauchen. Allein die Kombination aus “Flüchtlinge” und “Vier-Sterne-Hotel”, die die “Bild”-Redaktion ihr hinwirft, scheint zu verfangen. In den Hunderten Kommentaren unter den “Bild”-Posts bei Twitter und Facebook tobt die Wut auf Geflüchtete und auf die Politik. Es geht dabei um die gegen uns und um arm gegen ganz arm:

Für das Gesundheitssystem und Rentner ist kein Geld da, aber die Flüchtlinge wird das Geld nur so rausgeschmissenes.

Während viele Rentner zur Tafel gehen und Leute, die früher zur Mittelschicht gehörten, mittlerweile jeden Cent 2x umdrehen müssen.

Hauptsache, d. Rentner in diesem Land sammeln fleißig Flaschen. Die brauchen nicht mal über einen 3-Tage-Urlaub in einem Luxushotel nachdenken.

Unsere deutschen Mitbürger leben teils auf der Straße und viele Rentner am Existenzminimum!

Wenn hier in der Stadt die Obdachlosenunterkünfte voll sind, müssen Obdachlose, die dort keinen Platz mehr bekommen, unter der Brücke schlafen. Nix Hotel…. aber es sind halt auch Deutsche dabei.

Abartig! Wie wäre es, wenn das 4-Sterne-Hotel für die pflegebedürftigen alten Menschen hergerichtet wird!

Aber Deutsche Rentner finden keinen Platz im Altersheim. Beschämend!!!

Die “Bild”-Redaktion weiß sehr genau, was sie da tut.

Mit Dank an Bernd L. für den Hinweis!

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Wenn “Bild” sämtliche pressethischen Standards einhält

In Dresden wird eine Frau erschlagen. Bild.de zeigt ein unverpixeltes Foto des Opfers. Der Presserat erteilt dafür eine Rüge: “Eine Einwilligung für eine identifizierbare Abbildung konnte die Redaktion nicht vorlegen.”

In Nürnberg wird ein Mann erschossen. “Bild” und Bild.de zeigen ein unvepixeltes Foto des Opfers. Der Presserat erteilt dafür eine Rüge: “Die Identität von Opfern muss laut Ziffer 8, Richtlinie 8.2 des Pressekodex besonders geschützt werden.”

In Ibbenbüren wird eine Frau mit mehreren Messerstichen getötet. “Bild” und Bild.de zeigen ein unverpixeltes Foto des Opfers. Der Presserat erteilt dafür eine Rüge: “Das Wissen um die Identität des Opfers ist in der Regel unerheblich. Eine Einwilligung der Angehörigen lag nicht vor, es handelte sich auch nicht um eine Person des öffentlichen Lebens.”

In Stadtallendorf wird eine Frau mit mehreren Messerstichen getötet. “Bild” und Bild.de zeigen ein unvepixeltes Foto des Opfers. Der Presserat erteilt dafür eine Rüge: Im Artikel “zeigte die Redaktion das Porträt des Opfers, für das offenbar keine Einwilligung der Angehörigen vorlag.”

In Warendorf wird eine Frau getötet. Bild.de zeigt ein unvepixeltes Foto des Opfers. Der Presserat erteilt dafür eine Rüge: “Das Bild stammte von der Gedenkseite eines Bestattungsunternehmens. Eine Einwilligung der Angehörigen zur Veröffentlichung bei BILD.DE lag offenbar nicht vor.”

Der Deutsche Presserat hat vergangene Woche Rügen verteilt: insgesamt 17 Stück, acht allein an “Bild” und Bild.de, davon fünf für “Verstöße gegen den Opferschutz”.

Gestern berichteten die “Bild”-Medien über einen “tödlichen Streit um Vermögen in Hamburg”. In der “Bild”-Bundesausgabe groß auf Seite 6:

Ausriss Bild-Zeitung - Rocker im Vorgarten hingerichtet

Bei Bild.de auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - Tödliche Schießerei in Hamburg - Rocker D. im Vorgarten hingerichtet

Die Verpixelungen oben stammen alle von uns. “Bild” und Bild.de haben die Fotos des Opfers und des Tatverdächtigen, der auch nicht mehr lebt, ohne irgendeine Unkenntlichmachung veröffentlicht.

Wir haben bei “Bild” nachgefragt, ob der Redaktion Einwilligungen der Familien vorliegen, die Fotos ohne Verpixelung zu veröffentlichen. Ein “Bild”-Sprecher antwortete uns: Das Foto des Tatverdächtigen …

wurde uns aus dem direkten familiären Umfeld rechtefrei für unsere Berichterstattung zur Verfügung gestellt.

Leider sagt er nicht, von wem genau. Es könnte die Verlobte des Mannes sein, jedenfalls scheint “Bild” mit ihr gesprochen zu haben, sie wird im Artikel zitiert. Ob das mit Blick auf den Pressekodex für eine Veröffentlichung reichen würde, ist fraglich. In dem eingangs erwähnten Fall aus Nürnberg hatte “Bild” das Foto offenbar von einem Cousin des Opfers erhalten. Das reichte dem Presserat nicht: “Die für eine identifizierbare Berichterstattung notwendige Einwilligung eines nahen Angehörigen konnte die Redaktion nicht vorlegen, lediglich die eines Cousins.” Die Entscheidung des Presserats: “Zustimmung des Cousins zur Verwendung eines Opferfotos reichte nicht aus”.

Doch zurück zum Hamburger Fall. Zur Veröffentlichung des Fotos, das das Opfer zeigt, schreibt der “Bild”-Sprecher: Die Aufnahme sei …

in sozialen Medien mit großer Reichweite öffentlich und dort ebenfalls unverpixelt einsehbar.

Die Argumentation ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant. Erstmal scheint keine Einwilligung der Familie vorzuliegen, jedenfalls erwähnt der “Bild”-Sprecher sie nicht. Mit der Begründung macht er es sich bemerkenswert einfach: Dass irgendwer irgendwas irgendwo in irgendwelchen “sozialen Medien” postet, soll für “Bild” und Bild.de ein legitimer Grund für eine identifizierende Berichterstattung sein? Und was meint der “Bild”-Sprecher überhaupt, wenn er davon schreibt, das Foto sei “in sozialen Medien mit großer Reichweite öffentlich”?

Die “Bild”-Redaktion gibt selbst an, wo sie das Foto her hat: von der Instagram-Seite eines Hells-Angels-Charters (auch nicht unbedingt die typische “Bild”-Quelle). Dort trauern sie um das verstorbene Mitglied. Der Account hat aktuell 3.172 Follower, der Beitrag mit dem Foto, das sich die “Bild”-Redaktion geschnappt hat, wurde bislang 392 Mal geliket, es gibt 75 Kommentare. Nun ja.

Eine gute halbe Stunde nach der ersten Mail des “Bild”-Sprechers schickt er uns eine zweite. Wir “dürfen bitte noch ergänzen”:

Die Veröffentlichung der Fotos erfolgte unter Einhaltung sämtlicher presserechtlicher und pressethischer Regeln und Standards.

Ob das stimmt, werden wir vermutlich nach der nächsten Sitzung des Deutschen Presserats erfahren.

Kriegt auch Bild.de irgendwann die Wendler-Kurve?

Tanja May und Sarina Roocks sind erleichtert. Beinahe hätten sie mitansehen müssen, wie ein deutscher TV-Sender einem “Extremisten” eine Plattform bietet. Denn beinahe hätte RTLzwei eine Dokusoap über Michael Wendler und Laura Müller, “den umstrittenen Sänger und seine schwangere Frau”, wie May und Roocks schrieben, gedreht. Über den Michael Wendler, der “2021 beim Nachrichten-Dienst Telegram Corona-Regeln mit einer erschütternden Holocaust-Verharmlosung kommentiert” hatte, der immer wieder “mit kontroversen Aussagen, Verschwörungstheorien und Werbung für Krisen-Produkte (z.B. Entgiftungskuren, Strom-Aggregatoren und ‘Das große Buch der Überlebenstechniken’) die Öffentlichkeit” schockierte, der “Schwurbel-Geschäfte im Netz” machte, so May und Roocks. Doch soweit wird es nun doch nicht kommen: RTLzwei hat sich nach heftiger Kritik und großem Entsetzen von dem Projekt verabschiedet.

Tanja May und Sarina Roocks, bei “Bild” für die Promi-Berichterstattung zuständig, können aufatmen:

Gut, dass RTLZWEI die Kurve gekriegt hat.

Man stelle sich mal vor, es gäbe eine Redaktion, die durch ihre Berichterstattung einen Typen normalisiert, der auf seinem Telegram-Kanal allen möglichen Unsinn und jegliche Schrecklichkeiten zu “Ufos, Chemtrails, Impf-Panikmache, Antisemitismus, Reichsbürger-Ideologie, Pro-Putin-Propaganda, Wahlbetrug-Lügen, Klimawandelleugnung, Gewaltverherrlichung” verbreitet, wie das Team vom “Volksverpetzer” dokumentiert. Eine Redaktion, die, wenn Michael Wendler und Laura Müller ihr “Mietshaus in der Palmetto Street in Punta Gorda (Südflorida) verlassen” müssen, berichtet:

Screenshot Bild.de - Traumhaus-Aus! Warum der Wendler seine Sachen packen muss

Eine Redaktion, die, wenn Michael Wendler und Laura Müller kurz darauf ein neues Haus gefunden haben, berichtet:

Screenshot Bild.de - Ein Tag im neuen Leben der Wendlers - Neue Bude, Supermarkt und ein Luxus-Auto für Laura

Eine Redaktion, die dann auch noch “Exklusiv! Die Fotos!” dazu zeigt:

Screenshot Bild.de - Kein Pool, Nörgel-Nachbarn und die Ex um die Ecke - Wendlers neues Haus - ob Luxus-Laura darauf abfährt? Exklusiv! Die Fotos!

Eine Redaktion, die selbstverständlich auch über Michael Wendlers “NEUES BOOT” berichtet:

Screenshot Bild.de - Wendler hat ein neues Boot - Hier schlackern nicht nur Lauras Hund die Ohren

Oder eine Redaktion, die einfach mal nur “die wahre Liebesgeschichte” von Michael Wendler und Laura Müller erzählen will:

Screenshot Bild.de - Laura war 16, als sie den Wendler traf - Bei Edeka saß sie an Kasse 3 - Bild hat ihre Mitschüler und Mama Müller getroffen - Die wahre Liebesgeschichte von Laura und Michael Wendler

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der umfassenden Wendler-Berichterstattung der “Bild”-Medien der vergangenen Monate und Jahre. All diese Beiträge da oben sind nach 2021 bei Bild.de erschienen, also nachdem Michael Wendler “beim Nachrichten-Dienst Telegram Corona-Regeln mit einer erschütternden Holocaust-Verharmlosung kommentiert” hatte. Die meisten Artikel befinden sich hinter der “Bild-plus”-Paywall, die Redaktion will mit Michael Wendler Geld verdienen.

Auch über Laura Müllers Schwangerschaft, also das Thema der für kurze Zeit geplanten RTLzwei-Dokusoap, deren Ausfall Tanja May und Sarina Roocks so erleichtert, berichtet die “Bild”-Redaktion ausführlich. Natürlich erstmal über die Nachricht an sich:

Screenshot Bild.de - Unser großes Glück ist unterwegs - Wendlers Laura schwanger!

Sie lässt eine alte Familienfehde aufleben:

Screenshot Bild.de - Bild hat mit Michaels Vater gesprochen - Ein Wendler-Baby? Ich habe erst mal Brechreiz gekriegt!

Schreibt über die Nachwuchsfreude in der Familie:

Screenshot Bild.de - Michaels Vater hat Brechreiz - Wer sich wirklich aufs Wendler-Baby freut!

Und dokumentiert den wachsenden Babybauch (“Und SO schön entspannt sieht ihre Schwangerschaft aus”):

Screenshot Bild.de - Exklusive Babybauch-Fotos! So schön schwanger ist Laura - und der Wendler auch

SIE trug ein schlichtes, schwarzes Kleid aus dehnbarem Material, die Haare schnell hochgesteckt. Zeigte glücklich ihre Kugel.

Hoppla! Auch Michael Wendler scheint etwas zugelegt zu haben. Sein Golf-Shirt spannt am Bauch.

Sind sie nicht herrlich normal, die Wendlers?

Die “Bild”-Redaktion rätselt auch über das Geschlecht des Kindes (und will selbst “Kohle” dafür):

Screenshot Bild.de - Laura und der Wendler - Jetzt wollen sie sogar Kohle fürs Baby-Geschlecht - BILD kennt es schon

Und lässt die Leserschaft einen Blick auf den “Schwangerschafts-Alltag bei Wendlers” werfen:

Screenshot Bild.de - Porsche-Cabrio, Weihnachtsmann und ein alter Sauger - Was der Wendler alles in seiner Garage parkt

Da ist Laura Müller “mit süßer Babykugel” unterwegs, Michael Wendler kümmert sich per Aufsitzmäher um den Rasen, und die “Bild”-Redaktion schaut in die offene Garage:

Ob die werdenden Eltern hier bald schon Teile ihrer Baby-Ausstattung parken werden?

Wir werden es zu gegebener Zeit ganz bestimmt erfahren. Denn eigentlich gibt es schon längst eine Dokusoap über Michael Wendler und Laura Müller, in verschriftlichter Form, garniert mit Fotos, bei Bild.de.

Tanja May und Sarina Roocks werden intern sicherlich dafür kämpfen, dass diese Praxis bald ein Ende hat, egal wie geil dieser Wendler-Content geklickt wird, egal wie viele “Bild-plus”-Abos man damit verkaufen kann. Denn wer will schon einen Verbreiter von Verschwörungstheorien und Holocaust-Verharmlosungen zu größerer Prominenz verhelfen?

Ich denkmal, der Hausbauer rechnet nicht mit Habeck ab

Man wird ja wohl noch träumen dürfen, erst recht als “Bild”-Leser:

Es wäre doch gigantisch, wenn BILD demnächst auf Seite 1 schreiben könnte: “Aufstand! 40 Mio. Haushalte wehren sich gegen Habecks Schwachsinn”.

Dieser Wunsch von “Bild”-Leser Mathias erschien gestern als Leserbrief auf der Titelseite des Boulevardblatts. Und die “Bild”-Redaktion wäre nicht die “Bild”-Redaktion, wenn sie nicht alles versuchen würde, ihren Leserinnen und Lesern solch kühne Träume irgendwie zu erfüllen.

Ebenfalls gestern erschienen, acht Seiten hinter dem Leserbrief, in der Dresden-Ausgabe der “Bild”-Zeitung:

Ausriss Bild-Zeitung - 109 Jahre alte Fenster dürfen trotz Energie-Sanierung nicht ausgetauscht werden - Hausbauer rechnet mit Habeck ab

Der von Mathias gewünschte “Aufstand!”, er scheint loszugehen. Gut, nicht “40 Mio. Haushalte”, sondern erstmal nur eine Person, aber immerhin.

Aber was hat sich Wirtschaftsminister und Grünen-Politiker Robert Habeck denn nun eigentlich schon wieder geleistet? Gehen wir den Fall aus dem “Bild”-Artikel mal Stück für Stück durch:

Holger Schubert (41) aus Dresden will alles richtig machen – bevor Habecks Sanierungshammer greift. Doch er wird für ihn zum Boomerang! Denn der sächsische Denkmalschutz spielt nicht mit!

Kurze Überprüfung: Hat das was mit Robert Habeck zu tun? Nein, wohl eher mit dem “sächsischen Denkmalschutz”.

Weiter im “Bild”-Text:

“Ich saniere ein denkmalgeschütztes Haus aus dem Jahre 1914, tausche die vorhandene Kohleheizung gegen eine moderne Wärmepumpe ein, dämme Fassade und Dach und will natürlich auch die Fenster erneuern”, erklärt Schubert. Doch letzteres verbietet ihm die Denkmalschutzbehörde.

Hat das was mit Robert Habeck zu tun? Nein.

Der Witz: Sowohl sein direkter Nachbar verbaute im ebenfalls denkmalgeschützten Haus ungefragt Kunststoff-Fenster. Und die Stadt Dresden betreibt unweit in der denkmalgeschützten, früheren Feuer-Wache eine Kita mit Hort. Die hat ebenso neue Holzsprossenfenster!

Warum das so ist, wollte das Denkmalschutzamt der Stadt Dresden BILD auf Anfrage nicht erklären.

Hat das was mit Robert Habeck zu tun? Nein.

In seiner Verzweiflung schrieb der gebürtige Dresdner dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (47, CDU) und dessen Umweltminister Wolfram Günther (49, Grüne) einen Protest-Brief – ohne Erfolg.

Hat das was mit Robert Habeck zu tun? Nein.

Letzte Woche erhielt nun auch Bundes-Klimaschutzminister Robert Habeck (53, Grüne) Post von Schubert. Er schreibt: “Ich möchte als Bauherr freiwillig energetisch sanieren, es wird mir seitens der Ämter aber leider untersagt. In wenigen Jahren werde ich dann vermutlich gesetzlich dazu verpflichtet – ist das nicht schizophren?”

Und dann ist der “Bild”-Artikel auch schon zu Ende. Ein “HAUSBAUER” schreibt Robert Habeck also in einem Brief, dass er sein Haus freiwillig etwa im Sinne Habecks sanieren will, ihm die Ämter, mit denen Habeck nichts zu tun hat, aber Steine in den Weg legen. Die “Bild”-Redaktion macht daraus eine Abrechnung dieses Mannes “mit Habeck”. So kann man die Dinge natürlich auch verdrehen, um die eigene Leserschaft zu bedienen.

Mit Dank an @Cleanthinking und @Pflegekraft1 für den Hinweis!

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Bild.de schiebt Özdemir radikales Werbeverbot für Milch unter

Cem Özdemir und sein Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wollen an Kinder gerichtete “Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt in allen relevanten Medien” verbieten. So soll es im Fernsehen und Radio zwischen 6 und 23 Uhr keine entsprechenden Werbespots mehr geben, auch bestimmte Printmedien wären betroffen, ebenso Soziale Netzwerke und das dort stattfindende Influencer-Marketing, genauso Sponsoring, das sich an Kinder richtet, und so weiter. Es ist ein recht umfassendes Vorhaben zum Schutz von Unter-14-Jährigen, so das Ministerium. Einen Überblick darüber, welche Auswirkungen eine Umsetzung des Gesetzesentwurfs hätte, bietet Jost Maurin in der “taz” – allein schon wegen der vielen konkreten Beispiele sehr lesenswert.

Am vergangenen Freitag wollte auch die “Bild”-Redaktion ihren Leserinnen und Lesern erläutern, welche Folgen Özdemirs Plan hätte:

Screenshot Bild.de - Sogar Milch ist dabei! Özdemirs Werbe-Verbotsliste

In einer früheren Version lautete die Überschrift:

Screenshot Bild.de - Bild hat die ganze Liste - Özedmir will sogar Werbung für Milch verbieten

Zwischenzeitlich hatte es die aktuell in der Dachzeile genannte Milch also – neben einen fehlerhaften Ministernamen – sogar in die Bild.de-Überschrift geschafft. Und es klingt ja auch erstmal ziemlich irre: Ein wichtiger Calciumlieferant wie Milch soll auf einmal so gefährlich für Kinder sein, dass diese vor Milchwerbung geschützt werden müssen. Warum denn das?

Die Antwort ist recht simpel: Es stimmt schlicht nicht, was die “Bild”-Redaktion titelt.

Bereits am 27. Februar hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft eine Pressemitteilung zu Cem Özdemirs Gesetzesvorhaben veröffentlicht, in der unter anderem steht:

Milch (hinsichtlich des Fettgehalts) und Säfte (ohne zusätzlichen Zucker oder Süßungsmittel) sollen von der Regelung ausgenommen sein.

Am selben Tag hat “taz”-Redakteur Jost Maurin einen Artikel zum Thema veröffentlicht, in dem er schreibt:

Betroffen sind nur die Lebensmittel, die das Ministerium als zu fettig, zuckerig und salzig einstuft. Dabei will es sich nach eigenen Angaben an den Nährwertprofilen der Weltgesundheitsorganisation WHO orientieren. Sie gibt für 17 Kategorien Obergrenzen für diese Inhaltsstoffe vor. […] Bei Milch und Säften dagegen wolle man von den WHO-Grenzen abweichen, sagte [die zuständige Abteilungsleiterin des Ministeriums Eva] Bell der taz.

Vier Tage später titelt Bild.de: “Özedmir will sogar Werbung für Milch verbieten”. Im Text von “Bild”-Autor Elias Sedlmayr klingt es allerdings schon etwas anders:

Diese radikalen Werbeverbote plant Özdemir

► Milch und Milchgetränke, Getränke aus Soja, Nüssen oder Saaten, die Zuckerzusatz oder Süßstoff enthalten, dürfen nicht mehr beworben werden. Absurd: Normale Vollmilch hat einen Milchzucker-Gehalt von 4,7 Prozent.

Es scheint also gar nicht um Milch zu gehen, wie die “Bild”-Redaktion es in ihrer Überschrift wirken lässt, sondern um Milch mit zusätzlichem Zucker. Nur ist das dann keine Milch mehr (außer man würde auch Milch mit Orangensaft oder Milch mit Sojasauce oder Milch mit Rattengift als Milch einstufen). Im deutschen Milch- und Margarinegesetz ist ziemlich klar geregelt, was Milch ist:

Milch: das durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnene Erzeugnis der normalen Eutersekretion von zur Milcherzeugung gehaltenen Tierarten

Ein von “Bild” bei Twitter geposteter Ausschnitt des eigentlich nicht-öffentlichen Referentenentwurfs des Ministeriums bestätigt noch mal, dass es sich ausschließlich um ein mögliches Werbeverbot für Milch mit zusätzlichem Zucker oder Süßungsmittel handelt. Der in der Milch vorhandene Milchzucker spielt dabei keine Rolle.

Die “Bild”-Redaktion scheint das eigentlich auch verstanden zu haben. Einen Tag später, in der Samstagsausgabe der gedruckten “Bild”, erschien ebenfalls ein Artikel zu “Özdemirs absurder Werbeverbotsliste”. Weder in der Überschrift noch in der Dachzeile ist von “Milch” die Rede (in der Dachzeile lediglich von “Milchprodukten”). Im Artikel, ebenfalls von Elias Sedlmayr verfasst, steht nur zutreffend:

Auch Milch mit Zuckerzusatz ist vom Verbot betroffen.

Online bleibt die “Bild”-Redaktion hingegen bei ihrer falschen Milch-Behauptung.

Ob nun an Kinder oder an Jugendliche gerichtet, an Erwachsene oder an alle – welchen Stellenwert Lebensmittelwerbung als Einnahmequelle für “Bild” und den Axel-Springer-Verlag hat, erkennt man, wenn man sich das Blatt regelmäßig anschaut und nach Anzeigen durchsucht. In der zurückliegenden Woche, also seit vergangenem Mittwoch, sind in der “Bild”-Bundesausgabe insgesamt 52 Anzeigen erschienen. 22 davon stammten von Supermärkten oder Lebensmitteldiscountern – also über 42 Prozent (der Anteil erhöht sich noch einmal deutlich auf über 61 Prozent, wenn man die 16 Eigenanzeigen für “Bild”, “Bild am Sonntag” oder andere Springer-Veröffentlichungen rausrechnet). Nun kann es sich dabei ja um sehr unterschiedliche Anzeigengrößen und damit um sehr unterschiedliche Anzeigenpreise handeln. Also: Alle acht halbseitigen Anzeigen, die in dieser Zeit veröffentlicht wurden, kamen von Supermärkten oder Discountern. Sie schalteten auch fünf der insgesamt sieben ganzseitigen Anzeigen. Und auch die einzige doppelseitige Anzeige, die in diesem Zeitraum erschienen ist, hat ein Lebensmitteldiscounter geschaltet (nur zwei große Elektromärkte können da vielleicht noch mithalten: Sie haben in derselben Zeit zwar keine Anzeigen gebucht, dafür aber an drei Tagen mehrseitige Prospekte beilegen lassen).

Nicht wirklich überraschend, dass die “Bild”-Redaktion sich mit Verve und einer falschen Behauptung einem geplanten Werbeverbot entgegenstellt.

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Bild.de zeigt Hinrichtung eines Menschen

Wenn auf der Bild.de-Startseite ein Artikel mit der Überschrift “Mann erschießt Obdachlosen auf dem Bordstein” zu finden ist und in der dazugehörigen Dachzeile steht: “SCHOCKIERENDES VIDEO AUS USA”, dann ist zu befürchten, dass die “Bild”-Redaktion eben dieses Video auch zeigt. Und genau so ist es: Bei Bild.de ist seit gestern zu sehen, wie ein Mensch regelrecht hingerichtet wird (auf jegliche Verlinkungen verzichten wir in diesem Fall bewusst).

Screenshot Bild.de - Schockierendes Video aus den USA - Mann erschießt Obdachlosen auf dem Bordstein
(Die Unkenntlichmachung stammt von uns. Mehr dazu weiter unten im Beitrag.)

Am Montag soll in St. Louis ein Mann einen anderen am helllichten Tag auf der Straße erschossen haben. Ein Passant hat einen Teil der Tat mit seiner Handykamera aus kürzerer Distanz, leicht versteckt gefilmt. Dieses Video hat die “Bild”-Redaktion in ihren Artikel eingebettet. Zu Beginn blendet sie einen Warnhinweis ein:

Screenshot Bild.de - Achtung gewaltsame Szenen

Anschließend ist eine Straßenszene zu sehen, in der ein Mann auf dem Bordstein sitzt. Ein anderer steht neben ihm und hantiert mit einer Waffe. Nichts ist verpixelt, nicht das Opfer, nicht der Täter. Nach kurzer Zeit streckt der stehende Mann den Arm aus und richtet die Waffe auf den Kopf des sitzenden Mannes. In diesem Moment friert bei Bild.de das Video ein (dieses Standbild ist auch die Aufnahme, die bei Bild.de auf der Startseite zu sehen ist, und die wir weiter oben unkenntlich gemacht haben). Die Tonspur des Videos läuft hingegen weiter, ein Schuss ist zu hören und die Aussage der filmenden Person: “Oh my God, he just fucking killed him.”

Was nicht in dem Video zu sehen ist, aber aus einem Polizeiprotokoll hervorgeht: Dem Opfer wurde vom Täter zuvor bereits in den Rücken geschossen. Der Mann sitzt völlig wehrlos auf dem Bordstein, während der Täter seine Waffe nachlädt. Es ist eine regelrechte Hinrichtung, die die “Bild”-Redaktion da zeigt. Und sie zeigt sie nicht nur einmal – in dem 1:21 Minuten langen Clip zeigt sie die Szene insgesamt dreimal. Es scheint dabei einzig um Sensationsgier zu gehen.

In einem recht ähnlichen Fall sprach der Deutsche Presserat im September 2020 eine Rüge gegen die “Bild”-Redaktion aus:

Als unangemessene Darstellung von Brutalität und Leid nach Ziffer 11 des Pressekodex beurteilte der Presserat das Video einer Tötungsszene. Unter dem Titel “Mann in New York aus Auto erschossen” zeigte BILD.DE, wie ein Mann beim Überqueren einer Straße erschossen wird und zu Boden fällt. Die Redaktion hatte das Fahndungsvideo vom Twitter-Account der New Yorker Polizei übernommen. Nach Ansicht des Presserats bediente das Video – in dem die Tötung wiederholt gezeigt wurde – reine Sensationsinteressen. Der ursprüngliche Fahndungszweck des Videos hatte in der deutschen Öffentlichkeit keine Bedeutung. Für die Presse gilt bei der Veröffentlichung von Ermittler-Material der Pressekodex, betonte der Beschwerdeausschuss.

Die “Bild”-Redaktion weiß von dieser Kritik, sie hat die Rüge damals unter dem entsprechenden Bild.de-Artikel wie vorgeschrieben veröffentlicht.

Ein Unterscheid zwischen dem aktuellen Video aus St. Louis und dem aus New York, für das Bild.de die Rüge bekommen hat: Während in dem New Yorker Fall das Video nach einem Schnitt auch die Szene nach dem Schuss und damit den Übelebenskampf des Opfers zeigt, friert das Video aus St. Louis bei Bild.de, wie gesagt, direkt vor der Schussabgabe ein. Allerdings sollte man das nicht als Rücksichtnahme auf Opfer und Leser-/Zuschauerschaft und als letztes Fünkchen Anstand der “Bild”-Mitarbeiter deuten. Im Originalvideo, das uns vorliegt, schwenkt die filmende Person genau in diesem Moment weg. Die Redaktion konnte also gar nichts weiter zeigen.

Kranke Debatte

Was braucht die “Bild”-Redaktion alles, um eine angeblich große, bedeutende “Debatte” zu konstruieren und Millionen von Menschen Sorgen um ihr Geld und ihre Gesundheit zu bereiten?

Sie braucht 1) einen Professor, der gern mit steilen Thesen zu allerlei sozialpolitischen Themen von Medien zitiert wird, und, ja, das wär’s dann eigentlich auch schon.

Am vergangenen Mittwoch schrieb Jan W. Schäfer, Politik-Ressortleiter bei “Bild” und Mitglied der Chefredaktion, über einen “brisanten Vorstoß”:

Ausriss Bild-Zeitung - Experte wagt brisanten Vorstoß - Patienten sollen beim Arzt bis zu 2000 Euro selbst zahlen

Es geht um die die gesetzliche Krankenversicherung. “Kassen-Patienten (und Arbeitgeber) überweisen vom Gehalt heute so viel wie nie an Krankenkassen. Im Schnitt 16,2 Prozent”, schreibt Schäfer:

Bis 2035 könnte der Beitrag sogar auf 22 Prozent hochschnellen, warnt Gesundheitsexperte Prof. Bernd Raffelhüschen (65, Uni Freiburg): “Wir können uns das System nicht mehr leisten.”

Raffelhüschen hat daher einen brisanten Reformplan entwickelt: Kassen-Patienten sollen künftig einen Teil der Arzt- und Klinikkosten aus eigener Tasche bezahlen. Das Ziel: die Kosten-Explosion dämpfen.

Konkret sollen gesetzlich Versicherte gestaffelt zunächst bis zu 50 Prozent ihrer Arztkosten (maximal 500 Euro), dann bis zu 20 Prozent der Kosten (maximal 500 Euro) selbst zahlen. Insgesamt maximal 1500 bis 2000 Euro im Jahr. Geringverdiener soll der Staat mit Zuschüssen unterstützen.

Zum “brisanten Plan gegen die Kosten-Explosion” zählen noch weitere Ideen Raffelhüschens: Raucher an möglichen Folgekosten extra beteiligen, höhere Selbstbeteiligung für Übergewichtige, die Behandlungskosten für einen Beinbruch beim Skifahren soll der Skifahrer komplett selbst tragen, 30 bis 40 Prozent der Kliniken sollen dicht gemacht werden.

Da hat also ein Professor eine mehr oder weniger grobe Bierdeckel-Rechnung aufgemacht. Neben Bernd Raffelhüschen kommt in dem Artikel niemand zu Wort. Aber einen Tag später, “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Debatte um höhere Selbstkosten für Kassenpatienten - Kann ich mir Kranksein bald nicht mehr leisten?

Raffelhüschen habe mit seinen Reform-Vorschlägen “in ein Wespennest gestochen!” Und es ist laut “Bild” auch nicht nur eine “Debatte”, sondern eine:

Ausriss Bild-Zeitung - Riesen-Debatte nach Experten-Forderung zur Selbstbeteiligung

Diese von “Bild” aufgestöberte “Riesen-Debatte” sieht so aus: Bernd Raffelhüschen sagt etwas, alle anderen sagen: “Nein”, Ende der Debatte. Ausnahmslos alle Personen, die neben Raffelhüschen in dem “Bild”-Artikel zitiert werden, halten dessen Vorschlag für gar keine gute Idee: CDU-Politiker Dennis Radtke nicht (“Es ist Konsens, dass jedem die bestmögliche medizinische Versorgung ermöglicht wird”), Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nicht (“Für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht” bezahlbar), Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse DAK-Gesundheit, nicht (“Die Vorschläge sind unsolidarisch und völlig inakzeptabel”), CSU-Politikerin Emmi Zeulner nicht (“Ein solches Bestrafungssystem verschärft die soziale Ungleichheit”) und auch CDU-Politiker Peter Liese nicht (“Skifahren z. B. ist in der Regel gesünder als auf dem Sofa sitzen und Chips essen”). Nach diesem Schema lässt sich zu wirklich jedem Thema eine “Debatte” inszenieren: Man muss nur eine Person finden, die beispielsweise meint, Delfine sollten aufgrund ihres IQ berechtigt sein, bei der Bundestagswahl zu kandidieren, alle anderen sagen: “Auf gar keinen Fall!”, “Wespennest” und “Riesen-Debatte” drüberschreiben – fertig ist die nächste Seite 1.

Gewinner dieser Journalismus- und Debattensimulation sind Bernd Raffelhüschen, der Publicity bekam, und die “Bild”-Redaktion, die zwei Tage lang Zeilen und eine Titelseite füllen konnte. Verlierer sind all jene, die “Bild” glauben und sich auf dieser Grundlage um ihre gesundheitliche und finanzielle Zukunft sorgen.

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“Das ist völlig falsch”

Gestern Abend war “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer in der Talksendung “maischberger” zu Gast. Er diskutierte dort mit Kerstin Palzer aus dem ARD-Hauptstadtstudio und Kabarettist Urban Priol. Und entweder hat Ronzheimer, trotz seiner Rolle als stellvertretender Chefredakteur, nicht mitbekommen, was und wie sein Blatt in letzter Zeit berichtet hat. Oder er hat es mitbekommen und tut so, als wüsste er es nicht besser. Jedenfalls hat er es bei “maischberger” geschafft, in gerade mal zweieinhalb Minuten die “Bild”-Berichterstattung zweimal falsch darzustellen.

Moderatorin Sandra Maischberger zitiert in der Sendung den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder: “Eine Fortsetzung der rot-rot-grünen Regierung” in Berlin wäre angesichts des Wahlergebnisses “eine grobe Missachtung der Demokratie”. Dazu sagt Kerstin Palzer (ab Minute 4:55):

Also mich hat’s sehr geärgert, weil ich finde, das klingt total nach diesem “Wahl-Klau”, diese Kampagne da auch, das klingt letztendlich so wie Trump.

Maischberger fragt nach: “Welche Kampagne?” Darauf Palzer:

“Wahl-Klau”? Von der “Bild”-Zeitung.

Übergabe an Paul Ronzheimer:

Das war keine Kampagne, sondern wenn man sich mal anschaut, wie die SPD nach der Bundestagswahl argumentiert hat, und man gesagt hat: Armin Laschet hat die Wahl haushoch verloren, und die SPD, die damals zwei Prozentpunkte ungefähr vor der Union war, gesagt hat: Wir haben den klaren Auftrag und sonst niemand, da hat man alle platt gemacht, die was anderes gesagt haben. Deswegen finde ich es besonders lächerlich von der SPD, dass man sich daran nicht mehr erinnern will. Und wenn man jetzt mit Argumenten von 2001 kommt und sagt: Mensch, der Schill damals, also dass die SPD sich jetzt Herrn Schill als Beispiel nimmt, um zu sagen, dass das doch irgendwie geht, diese Koalition. Und man muss doch mal eins klar sagen: Also, Franziska Giffey hat ihr Direktmandat verloren. Die ganzen, also die große Mehrheit hat kein Direktmandat bekommen der SPD, in den Bezirken hat man keine Mehrheit mehr. Und Sie sagen, Herr Priol, es sei da vor allem um Gender-Gaga und andere Dinge gegangen. Nein, es waren ernste Themen.

Urban Priol grätscht rein: “Von Söders Seite.” Wieder Ronzheimer:

Ja, gut aber wenn wir uns Berlin anschauen, dann geht’s um innere Sicherheit, um Verwaltungschaos, um etwas, wo die SPD hier insgesamt über Jahrzehnte regiert hat. Und ich glaube, der Wähler hat klar gezeigt, dass man will, dass die SPD in die Opposition geht.

Paul Ronzheimer sagt also recht viel, aber so gut wie nichts zur “Wahl-Klau”-Geschichte von “Bild”. Kerstin Palzer hakt noch mal nach:

Ich will auch gar nicht argumentieren, ob es wirklich das Beste wäre, wenn diese Regierung Rot-Rot-Grün bliebe. Das ist ja noch mal ein anderes Thema. Aber zu behaupten, es wäre quasi ein Verlust an Demokratie, wenn sich die Regierung Rot-Rot-Grün wieder zusammenfände – das ist doch einfach falsch. Und dass die “Bild”-Zeitung dann titelt: Das ist ein “Wahl-Klau”, also quasi wie Trump argumentiert.

Ronzheimer:

Das war ja der Vorwurf, der aus der Union kam. Darauf bezog sich das.

Diese Behauptung Ronzheimers stimmt schlicht nicht. Seine Darstellung, dass ein Vorwurf des “Wahl-Klaus” von CDU/CSU kam, und “Bild” ihn lediglich aufgegriffen habe, ist Unsinn. Vor einer Woche erschien die “Bild”-Geschichte – mit “Bild”-Überschriften

Screenshot Bild.de - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor
Ausriss Bild-Zeitung - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor

… und einem “Bild”-Text, in dem vom “Wahl-Klau” die Rede war – ohne Anführungszeichen oder einen anderen Hinweis auf ein Zitat, ohne Bezug auf eine Aussage aus der Union:

Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau? (…)

Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!

In dem “Bild”-Artikel kommen drei Unionspolitiker mit kurzen Aussagen zu Wort: CDU-Generalsekretär Mario Czaja (“Der Regierungsauftrag liegt bei der stärksten Kraft. Punkt.”), Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (“Für eine Koalition der Verlierer haben die Bürger kein Verständnis.”), und Kai Wegner, Berliner Spitzenkandidat der CDU (“Ich bin mir sicher, dass alle Parteien den demokratischen Wählerwillen respektieren werden.”). Keiner von ihnen spricht von einem “Wahl-Klau”. Das macht nur die “Bild”-Redaktion (später löschte sie klammheimlich alle “Wahl-Klau”-Stellen). Und Paul Ronzheimer behauptet bei “maischberger” einfach irgendwas anderes.

Dort greift kurze Zeit später Urban Priol einen anderen Aspekt aus der “Bild”-Berichterstattung auf:

Aber wir müssen jetzt nicht bis 2001 zurückgehen. 2021 nach der Bundestagswahl war es auch die “Bild”-Zeitung, die gesagt hat: Moment mal, es könnte ja auch Jamaika sein.

Dazu Ronzheimer:

Nein, Herr Priol, das ist völlig falsch.

Urban Priol:

Nein, das ist nicht falsch. Das habe ich vorgestern erst gelesen.

Und Ronzheimer:

Doch, das ist falsch. Ich habe in der Nacht der Wahl einen Kommentar geschrieben und gesagt: Wer sagt es endlich Herrn Laschet, dass er verloren hat? Also: Die “Bild”-Zeitung hat sich da sehr klar positioniert und hat gesagt: Die SPD hat diese Wahl gewonnen.

Tatsächlich gab es kurz nach der Bundestagswahl einen Videokommentar von Ronzheimer mit der Überschrift: “BILD-Vize Paul Ronzheimer: ‘Warum sagt da keiner ‘Hallo Armin, aufwachen!””. Aber das war natürlich nicht der einzige “Bild”-Beitrag zum Thema. Dass Ronzheimer Urban Priols Aussage als “völlig falsch” bezeichnet, ist völlig falsch. Priol hat nämlich völlig Recht: Nach der Bundestagswahl 2021 erklärte die “Bild”-Redaktion ihrer Leserschaft:

Screenshot Bild.de - Auch der Zweitplatzierte kann eine Regierung bilden - wie einst Helmut Schmidt

Fakt ist: Das Jamaika-Bündnis kommt wie die Ampel auf eine klare Mehrheit im Parlament – Union und FDP bevorzugen diese Koalition. Fakt ist auch: Kein Gesetz verbietet es dem Zweitplatzierten, sollte es so kommen, eine Regierung anzuführen. (…)

Die SPD wird den Regierungsauftrag für sich beanspruchen. Dennoch hat auch Laschet weiter Chancen auf das Kanzleramt.

Es ist schon ganz beeindruckend, mit welcher Überzeugung Paul Ronzheimer irgendwas behauptet, ohne wirklich zu wissen – oder wissen zu wollen -, wie es tatsächlich war.

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Betr.: “Drogen-Hölle”

Der Fall ist schon traurig und tragisch und schlimm genug: In Hagen soll ein fünfjähriger Junge von seiner Mutter über längere Zeit in einem Zimmer eingeschlossen worden sein. Die Ausstattung des Raums soll lediglich aus einer Matratze und einem Eimer für die Notdurft bestanden haben. Das Kind ist am vergangenen Sonntag aus dem Fenster und auf das Dach des viergeschossigen Hauses geklettert. Dort entdeckten es Nachbarn und alarmierten die Polizei, die den Jungen befreite. Das eingeschaltete Jugendamt nahm ihn daraufhin mit in eine städtische Einrichtung, brachte ihn allerdings am Montag wieder zurück in die Wohnung der Mutter und des Stiefvaters – offenbar aufgrund eines Fehlers. Am Dienstagmorgen ist das Kind dann vom Jugendamt wieder aus der Familie geholt worden.

Wie gesagt: Das alles ist schon schrecklich genug. Die “Bild”-Redaktion aber will es noch etwas schrecklicher haben:

Screenshot Bild.de - Er flüchtete über die Dachrinne vor seinen Eltern - Jugendamt bringt Jungen zurück in die Drogen-Hölle
(Links zu sehen ist ein gemeinsames Foto der Mutter, des Stiefvaters und des Kindes. Mehr zur Unkenntlichmachung des Fotos weiter unten im Text.)

Die “Drogen-Hölle”, von der Bild.de auf der Startseite spricht, soll aus “einigen Cannabispflanzen” bestehen. So steht es im dazugehörigen Artikel. Das erfahren allerdings nur jene, die mit ihrem “Bild-plus”-Abo hinter die Paywall schauen können. In einem weiteren Bild.de-Artikel (ebenfalls nur mit “Bild-plus”-Abo lesbar) wird es konkreter: Es soll sich um “drei Cannabispflanzen” handeln. Das erklärt die “Bild”-Redaktion also zu einer “Drogen-Hölle”. Es ist eine völlig unnötige Übertreibung zu diesem schlimmen Fall, die auch den sowieso schon heftigen Fehler des Jugendamts in der Schlagzeile noch mal heftiger wirken lässt.

Zur Bebilderung des Artikels nutzt Bild.de unter anderem ein gemeinsames Fotos des Jungen, der Mutter und des Stiefvaters. Die Gesichter der Erwachsenen hat die “Bild”-Redaktion verpixelt, den Jungen hat sie komplett mit einer weißen Fläche überdeckt. Die zusätzliche, großflächige Verpixelung stammt von uns. In der Bildunterschrift steht:

[Vorname und abgekürzter Nachname der Mutter] und [Vorname und abgekürzter Nachname des Stiefvaters] mit dem Kind am Tag ihrer Hochzeit. Um ihn zu schützen, nennt BILD den Namen des Jungen nicht

Das ist ja erstmal eine für die “Bild”-Redaktion überraschend weitsichtige Idee. Sie hat sie aber so gut wie gar nicht umgesetzt: Wenn Bild.de die Vornamen der Mutter und des Stiefvaters sowie den abgekürzten Nachnamen nennt und dazu ein Foto der beiden zeigt, auf dem zwar deren Gesichter verpixelt sind, sie aber beispielsweise aufgrund der Statur zumindest für Personen, die das Paar kennen, dennoch identifizierbar sind, dann dürfte diesen Personen auch direkt klar sein, um welches Kind es sich handelt.

Nur die “Bild”-Redaktion geht so vor – in keinem anderen Artikel zu dem Fall, den wir gesehen haben, wird ein Foto der beteiligten Personen gezeigt.

Mit Dank an Sabine P. für den Hinweis!

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“Jetzt wollen sie sogar Kohle fürs Baby-Geschlecht”

Telegramkanalbetreiber Michael Wendler und dessen Ehefrau Laura Müller sollen Nachwuchs erwarten. Müller verdient ihr Geld unter anderem damit, Fans auf der Plattform OnlyFans für exklusive Fotos bezahlen zu lassen. Dort soll sie auch schon Aufnahmen ihres Babybauchs angeboten haben. Und dann gibt es ja noch die Frage nach dem Geschlecht des erwarteten Kindes.

Darüber schreiben auch Tanja May und Mark Pittlekau bei Bild.de. Und sie klingen geradezu schockiert, was Müller und Wendler alles so für Geld machen und vielleicht noch vorhaben:

Allein für ein Voting – wird Baby Wendler ein Junge oder ein Mädchen? – sollen Fans der beiden rund 11 Euro blechen. Auch alle weiteren Baby-Updates sollen kosten.

Kohle machen mit einem wehrlosen Kind. Oder wie May und Pittelkau schreiben:

Sogar das Baby-Geschlecht wollen sie jetzt zu Geld machen. BILD weiß schon, ob es ein Junge oder Mädchen wird!

So steht es bei Bild.de vor der “Bild-plus”-Paywall. Denn, ja, May, Pittelkau und “Bild” echauffieren sich nicht nur über die Geldmacherei der baldigen Eltern, sondern wollen auch selbst ein bisschen Geld mit dem Geschlecht des noch gar nicht geborenen Kindes verdienen: Nur wer für ein “Bild-plus”-Abo zahlt, erfährt, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden soll:

Screenshot Bild.de - Laura und der Wendler - Jetzt wollen sie sogar Kohle fürs Baby-Geschlecht - Bild kennt es schon - der verlinkte Artikel befindet sich hinter der Bild-plus-Paywall

Vor vielen Jahren haben wir uns hier im BILDblog schon einmal gefragt, ob alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der “Bild”-Redaktion den sogenannten Spiegeltest bestehen würden, in dem untersucht wird, ob ein Lebewesen sich selbst in einem Spiegel erkennt und somit eine Selbstwahrnehmung besitzt. Diese Frage bleibt auch elf Jahre später aktuell.

Dass die “Bild”-Redaktion nach eigener Aussage “weiß”, “ob es ein Junge oder ein Mädchen wird”, ist angesichts der dünnen Faktenlage, die Tanja May und Mark Pittelkau in ihrem Artikel präsentieren, übrigens eine bemerkenswert selbstbewusste Behauptung. Das “Bild”-Duo schreibt, dass ein anonymer “Augenzeuge” Laura Müller und Michael Wendler beim Einkaufen gesehen habe, und dass die beiden werdenden Eltern etwas besorgt hätten, das man “fast nur” für eines der beiden Geschlechter kauft. Was genau das sein soll, wird nicht weiter spezifiziert. Jedenfalls ließe der Einkauf “höchstwahrscheinlich” auf das Geschlecht schließen, so der “Augenzeuge”. Das reicht bei “Bild”, um etwas zu “wissen”.

Ob es nun ein Junge oder ein Mädchen wird, das verraten wir hier natürlich nicht. Dafür müsst ihr schon unser kostenpflichtiges BILDblog-Babynews-Abo abschließen.

Kleiner Scherz. Es ist uns schlicht Wurscht und geht uns auch gar nichts an.

Mit Dank an Meike O. für den Hinweis!

Bei der Union völlig legitim, bei Rot-Grün ein Skandal, bei Bild.de klammheimlich

Da hat die “Bild”-Redaktion gestern also die Vorbereitungen für einen “Wahl-Klau” durch Rot-Grün bei der anstehenden Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus ausgemacht. Und wenn man das jetzt alles noch einmal bei Bild.de nachlesen will, um heute Abend beim Stammtisch gut vorbereitet über diese rot-grün-rote Schweineaktion lospoltern zu können, findet man: nichts.

Screenshot Bild.de - Bild.de-Suche, Übersicht der Ergebnisse eins bis zehn von insgesamt 25 Treffern Ihrer Suche nach Wahl-Klau

Der “Wahl-Klau” ist spurlos von Bild.de verschwunden. Die Formulierung findet sich in dem Artikel von “Bild”-Autor Carl-Victor Wachs an keiner Stelle mehr. Die ursprüngliche Überschrift

Screenshot Bild.de - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor

… wurde geändert:

Screenshot Bild.de - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - CDU vorne? So will Rot-Grün trotzdem weiterregieren

Der Absatz “Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau?” wurde ersatzlos gestrichen. Genauso der Absatz “Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!”

Dafür wurden die Zitate des CDU-Generalsekretärs Mario Czaja, des Berliner CDU-Spitzenkandidaten Kai Wegner und des ersten parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsbundestagsfraktion Thorsten Frei ausgebaut sowie die Ergebnisse einer aktuellen INSA-Umfrage hinzugefügt.

Das alles ist klammheimlich passiert. Was es nämlich nirgends gibt: Eine transparente Erklärung der Redaktion, dass und warum sie den Artikel verändert und die “Wahl-Klau”-These verworfen hat. Erst recht gibt es nirgends eine ansatzweise Entschuldigung dafür, dass man einen legitimen demokratischen Vorgang – auch ohne den Wahlsieger eine Regierung zu bilden, sofern die dafür erforderliche Mehrheit vorhanden ist – prophylaktisch mit Schmutz beworfen und Rot-Grün-Rot unlauteres Verhalten unterstellt hat. Stattdessen nur die Verachtung für die eigene Leserschaft, die es aus Sicht der “Bild”-Redaktion offenbar nicht wert ist, all das mitgeteilt zu bekommen.

“Bild”-Autor Carl-Victor Wachs schrieb gestern kämpferisch bei Twitter über seinen “Wahl-Klau”-Beitrag:

Wenn Du heftig für einen Text angefeindet wirst, hast Du einen Nerv getroffen.

Ja, genau, so könnte es sein. Oder aber du hast einfach zündelnden Blödsinn geschrieben, den selbst deine eigene Zündel-Redaktion inzwischen nicht mehr mittragen will.

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Bei der Union völlig legitim, bei Rot-Grün ein Skandal

Es ist der 27. September 2021, am Tag zuvor hat Deutschland gewählt. Die SPD mit Spitzenkandidat Olaf Scholz ist stärkste Kraft, die Union mit Kanzlerkandidat Armin Laschet muss starke Verluste hinnehmen und landet auf Platz 2. Klar ist: Will man keine Fortsetzung der Großen Koalition, muss es ein Dreierbündnis mit den Grünen und der FDP geben. Aber wer wird es anführen: die Sozialdemokraten in einer Ampelregierung? Oder CDU/CSU in einem Jamaika-Bündnis? Beide Varianten sind rechnerisch möglich.

Der “Bild”-Redaktion ist es an diesem Morgen nach der Wahl jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Zweitplatzierter, in diesem Fall die Union, später die Regierung anführt; und der Erstplatzierte, die SPD, in die Opposition muss:

Screenshot Bild.de - Auch der Zweitplatzierte kann eine Regierung bilden - wie einst Helmut Schmidt

Fakt ist: Das Jamaika-Bündnis kommt wie die Ampel auf eine klare Mehrheit im Parlament – Union und FDP bevorzugen diese Koalition. Fakt ist auch: Kein Gesetz verbietet es dem Zweitplatzierten, sollte es so kommen, eine Regierung anzuführen. 1980 gewann die Union gegen die SPD. Am Ende saß trotzdem Helmut Schmidt und nicht Helmut Kohl im Kanzleramt. (…)

Die SPD wird den Regierungsauftrag für sich beanspruchen. Dennoch hat auch Laschet weiter Chancen auf das Kanzleramt.

Es ist der 9. Februar 2023, heute. In drei Tagen soll in Berlin die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus stattfinden. Einer aktuellen INSA-Umfrage zufolge liegt die CDU klar vorn, die SPD auf Rang 2. Zusammen mit den Grünen und der Linkspartei könnten die Sozialdemokraten aber die derzeitige rot-grün-rote Koalition fortführen. Dazu könnten alle drei Parteien durchaus bereit sein. Die CDU müsste dann in die Opposition.

Der “Bild”-Redaktion ist es heute jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es sich in diesem Fall um einen “Wahl-Klau” handeln würde:

Screenshot Bild.de - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor
Ausriss Bild-Zeitung - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor

Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau? (…)

In Umfragen hat die CDU mit Kandidat Kai Wegner (50) bis zu 6 Punkte Vorsprung auf SPD und Grüne. Würde bedeuten: Die CDU hätte den Regierungsauftrag.

Doch SPD und Grüne wollen das offenbar verhindern. Man wolle auch bei Niederlage mit der Linkspartei (aktuell bei 12 Prozent) ein Bündnis schmieden – und weiterregieren, heißt es aus beiden Parteien. Es gebe zahlreiche Beispiele, “wo die Regierungsbildung über einen Zweitplatzierten stattfand”, so Grünen-Frontfrau Bettina Jarasch (54) zu BILD.

Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!

Das zeigt nicht nur, dass die “Bild”-Redaktion ein demokratisches Fähnchen im Wind ist und sich ihre Überzeugungen je nach beteiligter Partei strickt. Es kann auch brandgefährlich sein, den Leuten mit einem Begriff wie “Wahl-Klau” einzuhämmern, dass ein völlig legitimer und üblicher demokratischer Vorgang mindestens etwas Anrüchiges, wenn nicht gar etwas Verbotenes hat.

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Ohne Loser, aber mit Werbung für die Wunderwaffe gegen Hautalterung

Wenn vier prominente Frauen sich treffen, offen über ihr Single-Dasein plaudern und von ihrer Männersuche erzählen, dürfte das für ein Boulevardmedium ein großes Geschenk sein. Selbstverständlich hat sich “Bild”-Chefreporterin Iris Rosendahl diese Geschichte nicht entgehen lassen:

Screenshot Bild.de - Ruland, Ahrens, Halmich und Bülter im Girls-Talk - Wir wollen keine Loser

Sie gehen zusammen auf Partys, fahren teils zusammen in den Urlaub und sind seit vielen Jahren miteinander befreundet: die Schauspielerinnen Tina Ruland und Mariella Ahrens, Ex-Boxweltmeisterin Regina Halmich und Moderatorin Tanja Bülter.

Und alle eint, dass sie aktuell Single sind. Sie lachen, tuscheln und rechnen, als BILD am SONNTAG die vier darauf anspricht. Dann steht das Ergebnis fest. “Zusammen sind wir 15 Jahre Single”, sagt Tina Ruland.

Vorab musste natürlich noch die Frage geklärt werden, wo das Lach-und-Tuscheltreffen stattfinden könnte. Aber auch dafür gab es eine Lösung:

Zusammen machte das Berliner Freundinnen-Quartett einen Ausflug nach Werder (Havel, Brandenburg) (…) Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Praktisch.

Ohne unsere Auslassung lautet die Passage im Bild.de-Artikel übrigens so:

Zusammen machte das Berliner Freundinnen-Quartett einen Ausflug nach Werder (Havel, Brandenburg), testete dort ein neuartiges Anti-Aging-Lasersystem PicoSure Pro (eins von drei in Deutschland!) in der Privatpraxis von Dr. med Jasmin Last. Hollywood schwört bereits auf die Wunderwaffe im Kampf gegen die Hautalterung.

Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Im gesamten Beitrag gibt es keine einzige inhaltliche Verbindung zum “neuartigen Anti-Aging-Lasersystem”, keine zu der Privatpraxis, zum Thema Hautalterung oder zur “Wunderwaffe im Kampf” dagegen. Zu Hollywood gäbe es die Verknüpfung, dass mit Tina Ruland und Mariella Ahrens zwei Schauspielerinnen in der Runde dabei sind, und in Hollywood auch geschauspielert wird. Das wäre es dann aber auch. Es gibt nur diese zwei Absätze, die so überraschend und brachial daherkommen, dass man wohl nicht mehr von Schleichwerbung, sondern von Trampelwerbung sprechen müsste. Dazu noch ein Foto der vier Freundinnen und der Ärztin, die lächelnd um das “eins-von-drei-in-Deutschland-!”-Lasersystem stehen, von der “Bild”-Chefreporterin eigenhändig aufgenommen:

Screenshot Bild.de - Foto von Ruland, Ahrens, Halmich und Bülter neben der Ärztin und der  mit der Bildunterschrift - Die Freundinnen testeten das Anti-Aging-Lasersystem PicoSure Pro bei Dr. med. Jasmin Last (35, ganz links). Die Ärztin für Ästhetische Medizin zu BamS: Wer mit seinem eigenen Gesicht verzögert und natürlich älter werden möchte, ist bei mir richtig. Der Laser hilft bei der Hautverjüngung, Narben und Pigmentreduzierung.

Nach dem eingeschobenen, nicht gekennzeichneten Werbeblock für die Praxis geht es zusammenhangslos wieder um die Partnersuche der vier Promi-Frauen:

(…) Hollywood schwört bereits auf die Wunderwaffe im Kampf gegen die Hautalterung.

Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Gegen einen neuen festen Partner hätten aber alle vier nichts einzuwenden. Doch der muss auch ins Profil passen.

Und so weiter.

In der gedruckten “Bild am Sonntag” ist der Artikel ohne die Passage zu “PicoSure Pro” und das Foto erschienen. Dort geht es nur um die vier Freundinnen und ihr Single-Leben.

Mit Dank an Bastian für den Hinweis!

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“KEIN FOTOCREDIT!”

Im nordrhein-westfälischen Ibbenbüren wurde vor zwei Wochen eine Lehrerin an einer Berufsschule mit mehreren Messerstichen getötet. Als tatverdächtig gilt ein Schüler, der selbst die Polizei gerufen hat, bislang aber zur Tat schweigen soll.

In den “Bild”-Medien kann man seitdem beobachten, wie rücksichtslos sich eine Redaktion mit ihrer Berichterstattung allen gegenüber verhalten kann – dem Opfer und dessen Familie, den Schülerinnen und Schülern, den Gästen beim Trauergottesdienst.

Bereits zwei Tage nach der Tat zeigte Bild.de in einem Artikel (auf jegliche Verlinkungen verzichten wir bewusst) ein Foto des Opfers und eines des Tatverdächtigen. Das Bild der Lehrerin sieht so aus, als hätte der “Bild”-Fotograf ein öffentlich zugängliches Gruppenportrait abfotografiert. “Bild” zeigt die Frau ohne jegliche Unkenntlichmachung.

Genauso den Tatverdächtigen. Den scheint derselbe Fotograf aus größerer Entfernung aufgenommen zu haben. Der 17-Jährige trägt auf dem Bild zwar einen Mundschutz, auf eine Verpixelung oder einen Augenbalken hat die “Bild”-Redaktion allerdings verzichtet. Der Minderjährige ist eindeutig zu erkennen.

Offenbar haben “Bild”-Reporter auch die Schülerinnen und Schüler der Berufsschule in Ibbenbüren behelligt. Im Artikel zitieren sie eine “Schülerin” mit einer Aussage “zu BILD” und einen “Jugendlichen” mit einer Aussage “zu BILD”. Dass sich auch diese teils minderjährigen Personen in einem Ausnahmezustand befinden dürften, wissen die “Bild”-Reporter. In einem früheren Artikel zum selben Fall schrieben sie:

Ein Sprecher der Bezirksregierung in Münster am Mittwoch: “Der Unterricht ist abgesagt, aber die Schule bleibt geöffnet.” Damit sei gewährleistet, dass die Schüler eine Anlaufstelle haben.

Ein Krisen-Interventions-Team, Schulpsychologen und Notfallseelsorger seien vor Ort

Am vergangenen Freitag fand in einer Kirche in Ibbenbüren die Trauerfeier für die getötete Lehrerin statt. Auch darüber berichtete “Bild”:

Obwohl die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war, behielt die Trauerfeier einen sehr stillen und privater Charakter.

So “still” und “privat” wie eine Trauerfeier eben sein kann, wenn vor der Tür ein “Bild”-Fotograf lauert und Fotos von den Trauernden macht. Drei Fotos sind im Bild.de-Artikel eingebettet. Zwei davon – eine Nahaufnahme des Autos, mit dem der Sarg der Lehrerin zur Kirche gebracht wurde, und eine Nahaufnahme von trauernden Menschen (immerhin mit verpixelten Gesichtern), die sich in den Armen liegen – hat die “Bild”-Redaktion, vermutlich aus Versehen, mit einem verräterischen Fotocredit versehen:

Screenshot Bild.de - Bildunterschrift des einen Fotos - Am frühen Nachmittag erreicht der Sarg der Lehrerin die Christus-Kirche in Ibbenbüren - dazu der Fotocredit Foto: KEIN FOTOCREDIT!
Screenshot Bild.de - Bildunterschrift des zweiten Fotos - Die Trauernden spenden sich gegenseitig Trost - dazu der Fotocredit Foto: KEIN FOTOCREDIT!

Offenbar war auch den “Bild”-Leuten klar, dass niemand namentlich mit der fotografischen Belästigung von Trauergästen in Zusammenhang gebracht werden möchte.

Mit Dank an Tihomir für den Hinweis!

“Regierung-verschenkt”-Schlagzeile ist “Bild” nicht zu billig

Die Stromproduzenten in Deutschland haben 2022 laut “Bild” 62,05 Terawattstunden Strom ins Ausland exportiert, also etwas mehr als 62 Milliarden Kilowattstunden. Sie sollen dafür rund 12,5 Milliarden Euro bekommen haben. Das entspricht einem durchschnittlichen Preis pro Kilowattstunde von etwa 20 Cent.

Es muss allerdings auch immer mal wieder Strom nach Deutschland importiert werden. Laut “Bild” waren das im vergangenen Jahr 35,77 Terawattstunden. Der importierte Strom kostete im Schnitt pro Kilowattstunde circa 27 Cent.

Wer den exportierten Strom weder produziert noch gehandelt hat: die Regierung.
Was der exportierten Strom nicht wurde: verschenkt.

Und jetzt kann die “Bild”-Redaktion aus all diesen Informationen mal eine Schlagzeile für die Bild.de-Startseite basteln:

Screenshot Bild.de - Regierung verschenkt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal - Dazu zu sehen ein Foto von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck

Das stimmt so einfach nicht.

Auch mit dem Halbsatz “und wir zahlen drauf!” empört sich die “Bild”-Redaktion in ihrer Überschrift maximal missverständlich. Was sie zu meinen scheint, ist die Differenz zwischen den Preisen für importierten und exportierten Strom. Darauf kommt man aber auch nur, wenn man mit einem “Bild-plus”-Abo hinter die Bezahlschranke gucken kann. Für alle anderen dürfte es so klingen, als hätten “wir” dem “Ausland” nicht nur Energie “geschenkt”, sondern als hätten “wir” dafür auch noch irgendetwas zusätzlich zahlen müssen.

Ebenfalls nur mit “Bild-plus”-Abo erfährt man den Hauptgrund für den massiven Stromexport aus Deutschland in andere Länder:

Wir verkaufen Strom vor allem, weil wir es müssen! Denn: Es gibt nicht genügend Speicher und Leitungen für den Strom-Transport vom windreichen Norden in den Süden – und so wird er ins Ausland verscherbelt. (…)

Wenn erneuerbare Energieträger an wind- und sonnenreichen Tagen voll ausgelastet sind, ist Strom sehr billig. Wegen fehlender Infrastruktur kann der Strom an solchen tagen trotzdem nicht ausreichend in den Süden fließen.

Die Ursache liegt also nicht in einem altruistisch gesinnten Robert Habeck, der die Nachbarn kostenlos mit Energie versorgen will, sondern in mangelnden Speicherkapazitäten und fehlenden Nord-Süd-Leitungen innerhalb Deutschlands.

Inzwischen hat die “Bild”-Redaktion die Überschrift leicht angepasst. Aus “verschenkt” wurde “verscherbelt” …

Screenshot Bild.de - Regierung verscherbelt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal

… den Rest hat sie so gelassen.

Gesehen bei @MKreutzfeldt

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Wie die Blackout-Gefahr einmal durch den Springer-Kosmos gereicht wird

Bis vergangenen Mittwoch, also bis die “Bild”-Redaktion sich einschaltete, war es eine Geschichte von einem Behördenchef, der merkwürdig unsachkundige Dinge sagt, und den “Welt”-Medien, die daraus klick- und verkaufsträchtige Überschriften basteln. Dann kam eben “Bild” dazu und verdrehte das Ganze zu einem möglichen Polit-Vertuschungsskandal.

Angefangen hat es alles mit einem Interview in der “Welt am Sonntag”. Auf die Frage “Rechnen Sie angesichts der Energieknappheit mit Blackouts?” antwortete Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK):

Wir müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird. Damit meine ich eine regional und zeitlich begrenzte Unterbrechung der Stromversorgung. Wobei die Ursache nicht nur Energieknappheit sein wird, sondern auch das gezielte, zeitweise Abschalten der Netze durch die Betreiber, mit dem Ziel, die Netze zu schützen und die Gesamtversorgung nicht zu gefährden.

Das Risiko dafür steigt ab Januar und Februar, sodass wir davon ausgehen, dass es von da an stellenweise für eine gewisse Zeit zu Unterbrechungen der Stromversorgung kommt.

Das ist eine bemerkenswerte Aussage, weil sie a) vom “obersten Katastrophenschützer” des Landes kommt und b) dessen Verständnis von einem Blackout ziemlich genau das Gegenteil der Blackout-Definition einer anderen Bundesoberbehörde, der Bundesnetzagentur, darstellt. Die Bundesnetzagentur, die für die Energieinfrastruktur in Deutschland zuständig ist, versteht unter einem Blackout:

ein unkontrolliertes und unvorhergesehenes Versagen von Netzelementen. Das führt dazu, dass größere Teile des europäischen Verbundnetzes oder das gesamte Netz ausfallen (sogenannter Schwarzfall). Ein solches Ereignis könnte beispielsweise auftreten, wenn in einer angespannten Last- und Erzeugungssituation zusätzlich schwere Fehler an neuralgischen Stellen des Übertragungsnetzes auftreten. Ein Blackout ist also grundsätzlich kein durch eine Unterversorgung mit Energie ausgelöstes Ereignis, sondern bedingt durch Störungen im Netzbetrieb.

Das, was Ralph Tiesler im “WamS”-Interview beschreibt – ein regional und zeitlich begrenztes, mitunter gezieltes Abschalten der Netze, um diese zu schützen -, klingt hingegen nach einem Brownout. Auch dafür hat die Bundesnetzagentur eine Definition:

Demgegenüber steht der sogenannte (kontrollierte) Brownout. Dieser kann notwendig werden, wenn im Vergleich zur nachgefragten Menge zu wenig Strom produziert werden kann, z.B. aufgrund eines Brennstoffmangels für Kraftwerke oder einer allgemein zu geringen Erzeugung, beispielsweise auch durch Nichtverfügbarkeiten von Erzeugungsanlagen. In diesem Fall ist es notwendig, die Nachfrage soweit zu reduzieren, dass das Angebot die Nachfrage wieder vollständig decken kann. Nur so kann die Versorgung mit Strom weiterhin stabil und zuverlässig gewährleistet werden.

Tiesler scheint das eigentlich auch zu wissen. Gleich eine Antwort später sagt er:

Wie gesagt, wir rechnen eher mit kurzfristigen, sogenannten Brownouts als mit lang anhaltenden, großflächigen Blackouts. Gute Vorbereitung ist aber auch dafür wichtig.

Er liefert also im gleichen Interview die Auflösung zur Verwirrung, die er eine Antwort zuvor selbst gestiftet hat.

Wie kann eine Redaktion mit diesem Durcheinander nun umgehen? Sie könnte im Interview schon nach der ersten Antwort widersprechen und sowas sagen wie: “Moment, Herr Tiesler, Sie meinen doch gar keinen Blackout, sondern einen Brownout, oder?” Oder sie erklärt der Leserschaft nachträglich in einem Zusatztext, dass Tieslers Aussage “Wir müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird” mit der darauffolgenden “Damit-meine-ich”-Definition nicht zusammenpasst. Oder sie macht es so, wie die “Welt”-Medien es machen, isoliert und überbetont Tieslers Warnung vor einem eher unwahrscheinlichen Blackout und steigert damit bei einer ohnehin schon verunsicherten Bevölkerung die Verunsicherung:

Ausriss Welt am Sonntag - Katastrophenschutz erwartet Strom-Blackouts im Winter
Screenshot Welt.de - Oberster Katastrophenschützer - Müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird

Mit der ersten Schlagzeile auf der Titelseite lag die “Welt am Sonntag” in ganz Deutschland an Kiosken, Tankstellen und in Bäckereien. Die zweite Schlagzeile schaffte es auf die Welt.de-Startseite. Die große Blackout-Winter-Warnung konnte also von vielen gesehen werden, das dazugehörige Interview mit all den Brownout-Einschränkungen in Ralph Tieslers Antworten konnte hingegen nur jener Bruchteil mit einem “Welt-plus”-Abo lesen.

Bereits an dem Sonntag schaltete sich auch Tieslers Behörde ein. Bei Twitter erklärte sie in einer “Klarstellung des BBK”:

Ein großflächiger Stromausfall in Deutschland ist äußerst unwahrscheinlich. Das elektrische Energieversorgungssystem ist mehrfach redundant ausgelegt und verfügt über zahlreiche Sicherungsmechanismen, um das Stromnetz bei Störungen zu stabilisieren.

Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit als gering angesehen, dass es regional und zeitlich begrenzt zu erzwungenen Abschaltungen kommt, um die Gesamtversorgung weiter sicherzustellen.

Auf ein solches Szenario hatte sich BBK-Präsident Ralph Tiesler in seinem Interview mit der “Welt am Sonntag” bezogen, um die grundsätzliche Bedeutung von Vorsorgemaßnahmen hervorzuheben.

Die missverständliche Formulierung bedauert das BBK und stellt diese hiermit klar.

Das rief die “Bild”-Redaktion auf den Plan:

Screenshot Bild.de - Rückzieher vom Katastrophenschutz - Will Faeser die Blackout-Warnung vertuschen?

Die “Bild”-Autoren Johannes C. Bockenheimer und Nikolaus Harbusch schreiben:

Versucht das Innenministerium, die Energiekrise zu beschönigen?

Innenpolitiker diskutieren, warum eine Behörde des Ministeriums von Nancy Faeser (52, SPD) Warnungen vor Stromausfällen im Winter kurz darauf zurücknahm. (…)

War Faeser beziehungsweise ihren Beamten die Stromausfall-Warnung des BBK-Chefs also zu heikel?

Bockenheimer und Harbusch geben sich große Mühe, der eigenen Leserschaft möglichst wenig zu dem Fall zu erklären. Sie lassen all das, was gegen ihre Vertuschungsthese spricht, großzügig weg. Im “Bild”-Text erfährt man weder, dass Tiesler im “WamS”-Interview mit einer alternativen Blackout-Definition arbeitet, noch, dass er eine Antwort später seine Aussage selbst relativiert und von Brownouts spricht.

Das “Bild”-Duo könnte ganz einfach erzählen, “warum eine Behörde des Ministeriums von Nancy Faeser (52, SPD) Warnungen vor Stromausfällen im Winter kurz darauf zurücknahm.” Man muss davon ausgehen können, dass sie als Springer-Mitarbeiter Zugang zu “Welt-plus”-Artikeln oder zur “Welt am Sonntag” haben. Im Interview mit Ralph Tiesler hätten sie die Antwort gefunden. Sie hätten es auch in einem Tweet von Malte Kreutzfeldt nachlesen können oder in einem Text vom “Volksverpetzer”. Dort steht überall, dass Tiesler eine erfundene Blackout-Definition verwendet hat, was die “Klarstellung” des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erklärt. Und das wiederum ist auch die Antwort auf die Frage aus den Überschriften von “Bild” und Bild.de, ob Nancy “Faeser die Blackout-Warnung vertuschen” will: Es geht schlicht um die Richtigstellung einer verhunzten Interviewaussage. Johannes C. Bockenheimer, Nikolaus Harbusch und die “Bild”-Redaktion können das alles nicht nicht gewusst haben.

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“Bild” und “die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit”

Die russische Armee hat Polen bombardiert!

So beginnt der Kommentar von “Bild”-Chefredakteur Johannes Boie, den man heute in der gedruckten “Bild” lesen kann und der bereits gestern Abend bei Bild.de erschienen ist. Überschrieben ist er mit “Putin spielt mit dem Weltkrieg”:

Ausriss Bild-Zeitung - Kommentar - Putin spielt mit dem Weltkrieg - von Johannes Boie

Auch die heutige “Bild”-Titelseite lässt wenig Zweifel am Ursprung der Rakete (oder Raketen), die gestern im polnischen Dorf Przewodów eingeschlagen ist und zwei Menschen getötet haben soll:

Ausriss Bild-Titelseite - Nach amerikanischen Angaben - Zwei Tote - Putin feuert Raketen nach Polen - Nationaler Sicherheitsrat einberufen

Genauso deutlich auf Seite 2:

Ausriss Bild-Zeitung - Gezielter Angriff oder verirrte Geschosse? Polen in höchster Alarmbereitschaft - Putin-Raketen auf Nato-Gebiet

Und bei Bild.de hieß es schon gestern Abend eindeutig:

Screenshot Bild.de - Nationaler Sicherheitsrat einberufen - Zwei Tote! Russen-Raketen in Polen eingeschlagen

Heute berichtet Bild.de:

Screenshot Bild.de - Nach Explosion in Polen - Hinweise auf ukrainische Flugabwehrrakete

Denn so klar, wie die “Bild”-Medien es erscheinen ließen, war die Lage gestern Abend nicht. Inzwischen sollen die USA davon ausgehen, dass die Rakete nicht von Russland aus gestartet wurde, sondern dass es sich um eine Flugabwehrrakete handelt, die ukrainische Soldaten abgefeuert haben. Gestern wurde die Ukraine erneut heftig von Russland mit Raketen beschossen. US-Präsident Joe Biden antwortete auf die Frage, ob es zu früh sei, um sagen zu können, ob die Rakete von Russland abgefeuert wurde, dass es vorläufige Informationen gebe, die dagegensprächen. In Anbetracht der Flugbahn der Rakete sei es unwahrscheinlich, dass sie von Russland abgefeuert wurde, so Biden. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte, es gebe keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert wurde. “Höchstwahrscheinlich” stamme sie von der ukrainischen Luftabwehr, so Duda, “absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war”. Und auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte heute in einer Pressekonferenz, dass die bisherigen Untersuchungen darauf hinweisen, dass es sich um eine Flugabwehrrakete der Ukraine gehandelt hat.

“Bild” und Johannes Boie meinten hingegen, mehr zu wissen.

Auf der heutigen Titelseite hat die Redaktion über ihrer riesigen Überschrift zwar noch klein “NACH AMERIKANISCHEN ANGABEN” geschrieben. Aber das ist ein etwas merkwürdiger Versuch, die Tatsachenbehauptung jemand anderem zuzuschreiben. Es gab durchaus eine Meldung der Nachrichtenagentur AP, in der ein um Anonymität bittender “U.S. official” von russischen Raketen spricht, die nach Polen geflogen seien. Es gab gestern Abend aber auch eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, in der ein namentlich genannter Sprecher des Pentagon sagt, dass man bislang keine Informationen habe, mit denen man Medienberichte bestätigen könnte, dass es sich um Raketen Russlands handelt.

Einen Hinweis auf “die Nachrichtenagentur AP mit Berufung auf einen US-Geheimdienstbeamten” hat auch Chefredakteur Johannes Boie bei Bild.de noch nachträglich in seinen Kommentar geschrieben. Und nicht nur das. In der Ursprungsversion, die heute auch in der “Bild”-Zeitung zu lesen ist, legt Boie sich fest, dass es sich um “einen bewaffneten Angriff auf Nato-Territorium” handelt, erörtert die politischen Folgen, sollte es sich dabei um ein Versehen Russlands handeln, und schreibt anschließend:

Oder Putin hat die Nato mit Absicht angegriffen. Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt.

Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg.

Inzwischen findet man bei Bild.de an dieser Stelle einen weiteren Absatz. Die Passage lautete nun:

Oder Putin hat die Nato mit Absicht angegriffen. Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt.

Sollte die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit zutreffen, dass die Explosion die Folge der ukrainischen Flugabwehr war, dann sind – tatsächlich – auch die Russen schuld. Denn sie spielen an der Nato-Grenze mit dem Feuer.

Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg.

In üblicher “Bild”-Manier fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass an dem Text nachträglich etwas verändert wurde.

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Bild.de lässt mögliche Täter-Uhr stehen bleiben

In der Nacht auf den 3. Oktober ist im bayerischen Hohenaschau eine 23-jährige Frau getötet worden. Etwa um 2:30 Uhr soll sie einen Club verlassen und sich auf den Heimweg gemacht haben. Bereits kurz darauf, spätestens um 3 Uhr, soll es zu dem Verbrechen gekommen sein. Die Polizei sucht noch nach Tatverdächtigen und setzt dabei auch auf eine Armbanduhr: Die Beamten fanden ein markantes, überwiegend aus Holz gefertigtes Modell am mutmaßlichen Tatort, das Armband aufgerissen. Ganz in der Nähe lag auch ein Ring, den das Opfer am Abend noch getragen hatte. Ob die Uhr mit der Tat in Verbindung steht, ist nicht klar. Die Polizei sucht aber nach dem Besitzer.

Am Mittwoch waren Fall und Uhr auch Thema in der ZDF-Sendung “Aktenzeichen XY… Ungelöst”. Hans-Peter Butz, Leiter der eingesetzten Sonderkommission, war zu Gast im Studio.

Und dann konnte Bild.de gestern auch noch berichten:

Screenshot Bild.de - Mordfall Hanna bei Aktenzeichen XY ungelöst - Um 2:39 Uhr blieb diese Uhr stehen - Sie wurde in der Nähe des Tatorts gefunden
(Unkenntlichmachung durch uns.)

“Bild”-Reporter Jörg Völkerling schreibt:

Butz im Gespräch mit XY-Moderator Rudi Cerne: “Es ist möglich, dass die Uhr beim Kampf mit dem Täter abgerissen wurde.” Auffällig: Die Zeiger blieben bei 2.39 Uhr stehen!

Das lässt den Zusammenhang von Uhr und Tat noch klarer erscheinen: Die Tatzeit liegt zwischen 2:30 Uhr und 3 Uhr, die Zeiger der gefundenen Armbanduhr sollen laut Bild.de um 2:39 Uhr stehen geblieben sein – Treffer!

Das Problem dabei: Die Uhr ist, anders als von Völkerling behauptet, gar nicht stehen geblieben. Schon in der ZDF-Sendung konnte man auf zwei verschiedenen, eingeblendeten Fotos erkennen, dass sich der Sekundenzeiger zwischen beiden Aufnahmen bewegt hat:

Screenshot Aktenzeichen XY ungelöst - Zu sehen sind zwei verschiedene Fotos der Uhr, auf denen der Sekundenzeiger unterschiedliche Stellungen hat

Auf Nachfrage bestätigte uns ein Sprecher des zuständigen Polizeipräsidiums Oberbayern Süd:

Die Stellung der Zeiger der Uhr spielt, wie wir bereits bei Veröffentlichung der Fotos erwähnt haben, keine Rolle. Die Uhr war zum Zeitpunkt des Fundes funktionstüchtig, lief also. Das Foto entstand am Tag nach dem Fund der Uhr, zufällig zu einer Zeit, die mit der – von Medienvertretern vermuteten – Tatzeit übereinstimmen könnte.

(Hervorhebungen im Original.)

Oder anders gesagt: Die “Bild”-Redaktion stiftet bei einen Verbrechen, bei dem sowieso noch vieles geklärt werden muss, zusätzliche Verwirrung.

Mit Dank an Stefan für den Hinweis!

“Bild” packt auch die Bundespolizei-Zahlen auf den Tisch, die laut Bundespolizei gar nicht von der Bundespolizei stammen

“Alle Zahlen auf den Tisch!”, forderte gestern “Bild”-Autor Frank Schneider in seinem Kommentar. Es geht ihm um die Zahlen der illegalen Einreisen nach Deutschland, und Schneider meint, dass das Bundesinnenministerium und Ministerin Nancy Faeser versuchen, “Zahlen zu schönen, zu verschleiern. Oder kleinzurechnen.”

Ja, “alle Zahlen auf den Tisch” ist tatsächlich eine gute Idee im Sinne der Transparenz und Aufklärung, wenn man vorher nicht Statistiken durcheinander mischt, die nicht vergleichbar sind, unergründliche Zahlen dazwischenwirft und das fehlerhafte Ergebnis dann der eigenen Leserschaft als potenziellen Skandal verkauft:

Ausriss Bild-Titelseite - Rund 40000 illegale Einreisende weggeschummelt? Frau Faeser, erklären Sie uns das bitte mal!
Ausriss Bild-Zeitung - Statistik der Ministerin weist zehntausende Migranten zu wenig aus - Schummelt Faeser sich die Flüchtlings-Zahlen schön?

Das ist die “Bild”-Berichterstattung, die gestern neben Schneiders Kommentar erschienen ist. Zusammen mit Zara Riffler und Peter Tiede schreibt Schneider:

Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, rast seit Monaten rauf! […]

Doch die zuständige Innenministerin ignoriert die hohen Zahlen der Bundespolizei offenbar. BILD erfuhr: Nancy Faeser (52, SPD) weist intern viel weniger aufgegriffene illegal-eingereiste Migranten aus.

► Laut “Migrationsanalyse-Bericht” ihres Ressorts wurden im September 12 701 illegal Eingereiste von Bundespolizisten aufgegriffen. Die Bundespolizei hat dagegen andere Zahlen: 20 000. […]

Fest steht: Seit Januar sind laut Faeser-Statistik insgesamt rund 57 000 Migranten eingereist. Laut Bundespolizei gut 100 000. Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Es handelt sich also um drei verschiedene Statistiken, die “Bild” nennt: Da wäre einmal eine aus Nancy Faesers Innenministerium, eine, die von der Bundespolizei stammen soll, und eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). “Bild” verrührt alle zu einem schnaubenden Aufreger.

Am ehesten passen noch die Statistiken zusammen, die “Bild” dem Innenministerium und der Bundespolizei zuschreibt. In beiden soll es um von der Bundespolizei aufgegriffene illegal Eingereiste gehen. Schneider, Riffler und Tiede nehmen sich schlicht die eine und die andere Zahl und rechnen sie gegeneinander auf: Statistik der Bundespolizei (“gut 100 000”) minus Statistik des Innenministeriums (“57 000”) gleich “Bild”-Schlagzeile (“Rund 40 000 illegale Einreisende weggeschummelt?”).

Das Problem dabei: Die Zahlen, die “Bild” der Bundespolizei zuschreibt, sollen nicht von der Bundespolizei stammen. Eine Sprecherin des Innenministeriums, dem die Bundespolizei untergeordnet ist, teilte uns gestern auf Nachfrage mit:

Die heute von der BILD-Zeitung genannten Zahlen, welche dort der Bundespolizei zugeordnet werden, stammen nicht von der Bundespolizei und sind nicht nachvollziehbar. Wir können diese Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen.

57.647 sei die korrekte von der Bundespolizei festgestellte Gesamtzahl unerlaubter Einreisen von Januar bis einschließlich September 2022, so die Sprecherin.

Die Bundespolizei sah sich gestern genötigt, eine Pressemitteilung mit der Überschrift “Unerlaubte Einreisen – Bundespolizei ordnet öffentlich kursierende Zahlenangaben ein” zu veröffentlichten. Auch sie nennt 57.647 illegale Einreisen von Januar bis September 2022 (beziehungsweise 71.011, wenn man die gerade veröffentlichte, aber noch nicht qualitätsgesicherte Zahl aus dem Oktober dieses Jahres hinzunimmt). Bundespolizeipräsident Dieter Romann sagt in der Mitteilung mit Blick auf die Arbeit der Beamtinnen und Beamten:

Nicht dienlich ist dabei, die Lauterkeit und Transparenz ihrer Arbeit in Zweifel zu ziehen. Auch die Zahlentransparenz bleibt selbstverständlich unverändert bestehen.

Nur, um das noch einmal zu verdeutlichen: “Die hohen Zahlen der Bundespolizei”, die Innenministerin Nancy Faeser laut “Bild”-Artikel “offenbar” ignoriere und die sie laut “Bild”-Kommentator Frank Schneider schöne, verschleiere oder kleinrechne, stammen laut Bundespolizei gar nicht von der Bundpolizei.

Aber woher dann? Woher haben Schneider, Riffler und Tiede die Zahlen? Unsere Anfrage dazu beim “Bild”-Sprecher blieb bislang unbeantwortet.*

Was im Zusammenhang mit den Zahlen zu illegal Eingereisten übrigens nicht unwesentlich ist: 1. Menschen können illegal nach Deutschland einreisen, von der Polizei aufgegriffen werden und damit in die Statistik eingehen, ohne die Absicht zu haben, einen Asylantrag zu stellen. 2. Kann es zu einer Mehrfachersfassung derselben illegal eingereisten Person kommen, weil die entsprechende Polizei-Statistik keine personenbezogenen Daten umfasst. Aber das nur nebenbei.

Es gibt dann ja noch eine weitere Statistik, die der “Bild”-Artikel ins Verwirrspiel bringt:

Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Diese Zahl ist im Zusammenhang mit der illegalen Einreise nach Deutschland ziemlich ungeeignet. Zuallererst ist sie zu hoch, wenn es um Personen gehen soll, die dieses Jahr nach Deutschland gekommen sind: Bei den 154.557 Anträgen 2022 handelt es sich nämlich um Erst- und Folgeanträge. Nimmt man nur die Erstanträge in diesem Jahr (bis einschließlich September), sind es laut BAMF 134.908 (PDF). Was “Bild” darüber hinaus nicht erläutert: Auch Menschen, die legal nach Deutschland eingereist sind, können einen Asylantrag stellen und damit in der Statistik landen. Und: Bekommt eine Asylbewerberin in Deutschland ein Kind, landet auch dieses mit einem Asylantrag in der Statistik – ganz ohne legale oder illegale Einreise. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt dazu:

Reist ein minderjähriges lediges Kind nachträglich ins Bundesgebiet ein oder wird es nach der Asylantragstellung der Eltern hier geboren, haben die Eltern, von denen noch mindestens ein Elternteil im Asylverfahren ist, oder die Ausländerbehörde das Bundesamt von der Geburt zu informieren. Damit gilt der Asylantrag des Kindes ebenfalls als gestellt. […]

Ist der Antrag der Eltern bereits entschieden, wenn ihr Kind geboren wird oder nachträglich einreist, müssen sie für das Kind einen gesonderten Asylantrag stellen.

Das Durcheinanderwerfen von Statistiken, das Hinzuziehen von Zahlen, bei denen niemand weiß, woher sie stammen, das falsche Skandalisieren zeigt Wirkung. Gestern Nachmittag schrieb die AfD bei Twitter:

#Faeser rechnet sich die alarmierenden Zahlen der nach #Deutschland strömenden #Zuwanderer schön. So gibt ihr Ministerium viel geringere Zahlen an, als tatsächlich gezählt werden.

Die “Bild”-Redaktion hat mit ihrem Artikel offenbar die Zielgruppe erreicht.

*Nachtrag, 18:40 Uhr: Der “Bild”-Sprecher hat inzwischen auf unsere Anfrage, woher die Zahlen stammen, geantwortet:

Es handelt sich bei den von BILD genannten Vergleichszahlen um Daten der Bundespolizei. Diese hat BILD unter Beachtung des Quellenschutzes öffentlich gemacht. Diese beinhalten nicht nur die offiziell genannten Zahlen der Bundespolizeiinspektionen direkt an der Grenze, sondern auch die illegalen Migranten, die später in den Zügen und/oder im Inland aufgegriffen werden. Die offizielle Meldung der Bundespolizei wie auch die offiziellen Zahlen des BAMF bestätigen diese kleingerechnete Diskrepanz nur.

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Der Muezzin ruft zum Gebet, der “Bild”-Kolumnist zur Klage

Joachim Steinhöfel, Rechtsanwalt und “Bild”-Kolumnist, hat einen ganz großen Wunsch:

Screenshot Bild.de - Alahu Akbar in Köln - Eine Klage gegen den Muezzin-Ruf muss her - Eine Kolumne von Joachim Steinhöfel

Steinhöfel schreibt:

Seit etwa zwei Wochen kommt man in Köln-Ehrenfeld auch ungewollt in den Genuss ganz besonderer religiöser Unterweisung.

“Allahu Akbar” (Allah ist der Größte) schallt es jetzt regelmäßig aus den Lautsprechern der Zentralmoschee.

Tatsächlich läuft derzeit ein “zweijähriges Modellprojekt” der Stadt Köln: Der Adhān, also der Ruf des Muezzin zum Gebet, darf nun auch außerhalb der Moschee hörbar sein – einmal in der Woche, immer freitags zwischen 12 und 15 Uhr, maximal fünf Minuten lang. Momentan nutzt das nur die DİTİB-Zentralmoschee im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, erstmals am 14. Oktober, ein zweites Mal am vergangenen Freitag.

Und genau dagegen solle laut Steinhöfel nun “ein betroffener Anwohner zügig vor Gericht gehen”:

Seine Klage hätte Aussicht auf Erfolg. Art. 4 des Grundgesetzes (GG) schützt nicht nur die Religionsfreiheit der Muslime, sondern auch die sogenannte negative Religionsfreiheit der Nicht-Muslime. Niemand darf gezwungen werden, gegen seinen Willen mit religiösen Bekundungen behelligt zu werden. Eine Rolle spielt auch Art. 14 GG, der das Eigentum garantiert.

Denn negative Auswirkungen auf die Immobilienpreise, wenn man sich akustisch nach Mekka versetzt fühlt, sind denkbar.

Ob das alles rechtlich wirklich stringent ist, sei mal dahingestellt. Interessanter ist eh, was Joachim Steinhöfel in seinem Text partout nicht erwähnt: Der Muezzin-Ruf der Kölner Zentralmoschee ist nicht besonders weit zu hören. Die Lautstärke ist vertraglich auf höchstens 60 Dezibel festgelegt, was in etwa einer normalen Unterhaltung mit einem Abstand von einem Meter entspricht.

Einige Redaktionen hatten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den zwei Freitagen, an denen der Muezzin-Ruf bisher zu hören war, zur Moschee in Ehrenfeld geschickt. Darunter auch der “Kölner Stadt-Anzeiger”, wo Redakteur Oliver Görtz berichtet (nur mit Abo lesbar), dass “auf dem Platz vor dem Haupteingang” der Moschee die Stimme des Muezzin “in Zimmerlautstärke vernehmbar” sei, an der Straße davor höre man “fast nichts”:

Eine schnelle Messung mit einer nicht geeichten Smartphone-App ergibt rund 70 Dezibel – inklusive Umgebungsgeräusche.

Auf dem Bürgersteig der Venloer Straße vor der Moschee misst die Smartphone-Anwendung schon bevor der Muezzin beginnt knapp 80 Dezibel. Während er ruft, ändert sich die Amplitude nicht. Jedes vorbeifahrende Auto übertönt den kaum hörbaren Muezzin.

Ähnliches berichtet Tom Hoops bei t-online.de. Er hat unter anderem mit einem Anwohner gesprochen:

Die Religionsfreiheit sei wichtig, doch die Moschee sei zugleich eine staatliche Institution des türkischen Präsidenten, was die Angelegenheit zu etwas Politischem machen würde. Er ergänzt schulterzuckend: “Ich wohne hier um die Ecke und habe letzte Woche nichts vom Ruf gehört. Meine Nachbarn auch nicht”. Deswegen sei er heute ganz nah herangekommen.

Und ein Polizist antwortet auf die Frage, “ob der Ruf lauter oder leiser war als erwartet”:

“Sagen wir mal so, wenn ich mich hier mit Ihnen etwas lauter unterhalte” – er richtet sich auf und erhebt leicht seine Stimme – “dann waren die Lautsprecher sogar etwas leiser”.

An wen richtet sich Joachim Steinhöfels Klage-Appell also? An vielleicht eine Handvoll Leute, die in der Umgebung der Moschee wohnen und die ein leises Stimmchen vernehmen können? An ein Dutzend Personen? Ist das inzwischen die Zielgruppengröße von “Bild”? Oder handelt es sich einfach nur um astreinen Populismus?

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Ohne Hinweis auf Alter des Textes und Leichte Sprache

“Bild” hat es heute mal wieder hinbekommen, der eigenen Leserschaft neues Futter für die Wut auf die Grünen und deren Gefährdung “unserer Kinder” zu liefern. Die Redaktion ist damit lediglich ein paar Jahre zu spät und liegt bei der Partei daneben.

Heute groß im Blatt auf Seite 2:

Ausriss Bild-Zeitung - Ohne Hinweis auf Risiken und Folgen - Familienministerium rät Kindern zu Pubertäts-Blockern

Albert Link, Nikolaus Harbusch und Marta Ways schreiben:

Kopfschütteln über Familien- und Jugendministerin Lisa Paus (54, Grüne).

Mit offiziellem Logo und aus Steuergeldern finanziert wendet sich ihr Ministerium im Internet an Kinder, die “merken: Ich bin gar kein Mädchen. Oder: Ich bin gar kein Junge”.

► Wörtlich heißt es auf dem “Regenbogenportal” – laut Ministerium gedacht als “Informationsplattform für die LSBTIQ*-Community”: “Bist du noch sehr jung? Und bist du noch nicht in der Pubertät? Dann kannst du Pubertäts-Blocker nehmen (…) So hast du mehr Zeit zum Nachdenken. Und du kannst in Ruhe überlegen: Welcher Körper passt zu mir?”

Und dies OHNE Hinweis auf die erheblichen Risiken, Nebenwirkungen und Folgen, vor denen Mediziner warnen.

Im dazugehörigen Kommentar schreibt “Bild”-Parlamentsbüro-Leiter Ralf Schuler:

Diese Ministerin gefährdet die Gesundheit unserer Kinder!

Gemeint ist auch hier Familienministerin Lisa Paus, seit April 2022 im Amt.

Es stimmt, dass das “Regenbogenportal” ein Projekt des von Paus geführten Familienministeriums ist. Laut Impressum wird es “herausgegeben von der Internetredaktion des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend”. Es war allerdings nicht Lisa Paus, die es ins Leben gerufen hat. Das Portal ging im Mai 2019 online, initiiert von der damals amtierenden Familienministerin und SPD-Politikerin Franziska Giffey. Paus hat es sozusagen geerbt. Auch der Text über die Pubertätsblocker, den “Bild” zitiert, ist nicht in Paus’ Amtszeit entstanden. Er ist mindestens seit August 2020 auf der Seite zu finden. Auch damals war Giffey Familienministerin, die Regierung stellte die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die Grünen und Lisa Paus hatten damit nichts zu tun.

Wenn man also der Meinung sein sollte, dass der Pubertätsblocker-Text problematisch ist, dann wäre der einzige Vorwurf, den man Paus machen kann, dass sie nicht dafür gesorgt hat, ihn zu löschen oder zu ändern. Im Laufe des gestrigen Tages, wohl nach einer Anfrage der “Bild”-Redaktion, wurde das “Regenbogenprotal” überarbeitet. Der Satz “Dann kannst du Pubertäts-Blocker nehmen” wurde gestrichen, dafür ein Hinweis auf eine ärztliche Beratung hinzugefügt:

Pubertäts-Blocker nehmen
Bist du noch sehr jung?
Und bist du noch nicht in der Pubertät?
So kannst du deinen Arzt / deine Ärztin fragen,
ob dir Pubertätsblocker vielleicht helfen könnten.

Pubertäts-Blocker sind besondere Medikamente.
Das Wort Blocker heißt: etwas stoppen.
Diese Medikamente sorgen dafür,
dass du nicht in die Pubertät kommst.
Das heißt: Dein Körper entwickelt sich erst mal nicht weiter.
Weder in Richtung Frau.
Noch in Richtung Mann.
So hast du mehr Zeit zum Nachdenken.
Und du kannst in Ruhe überlegen:
Welcher Körper passt zu mir?

Die Aussage zu den “besonderen Medikamenten” und die Erklärung, was Pubertätsblocker mit dem Körper machen, fanden sich auch in der alten Version des Textes. Im “Bild”-Artikel wurde die Passage aber per Auslassungszeichen weggelassen.

Was die “Bild”-Redaktion ebenfalls an keiner Stelle erwähnt: Es handelt sich sowohl bei der alten Version als auch bei der neuen um einen Text in Leichter Sprache. Daher ist schon qua Definition die Komplexität niedriger. Vermutlich wäre auch in Leichter Sprache ein deutlicherer Hinweis auf die weitreichenden Folgen einer Behandlung mit Pubertätsblockern möglich. Aber es bleibt dabei: Die inhaltlichen und sprachlichen Vorwürfe von “Bild” richten sich gegen einen Text in Leichter Sprache.

Und dann ist da noch die Frage, ob das Familienministerium Kindern wirklich zu Pubertätsblockern “rät”, wie “Bild” titelt. Immerhin steht am Anfang des Textes im “Regenbogenportal”:

Manche Kinder oder Jugendliche merken:
Ich bin gar kein Mädchen.
Oder: Ich bin gar kein Junge.
Auch wenn die anderen mich so sehen.
Wir haben Tipps für euch.

Aber handelt es sich bei diesen “Tipps” nicht eher um Aufklärung und Informationen über mögliche Behandlungsformen? Schließlich erhält man die entsprechenden Medikamente nicht einfach nach Lektüre des “Regenbogenportals” rezeptfrei in der Apotheke. Es sind Arztbesuche, bei denen sicher auch Risiken, Nebenwirkungen und Folgen angesprochen werden, und eine Diagnose nötig. So schreibt auch “Bild” in einem zusätzlichen Infotext:

Das Medikament Leuprorelin wird nur nach genauer medizinischer Indikation durch den Arzt als Pubertätsblocker gespritzt

Am Ende des “Bild”-Artikels können Albert Link, Nikolaus Harbusch und Marta Ways noch eine Politikerin präsentieren, die sich über die ganze Geschichte mächtig aufregt:

Empört auf die Kinder-“Tipps” reagierte Ex-CDU-Ministerin und Bundesvorstand Julia Klöckner (49). Klöckner zu BILD: “Pubertätsblocker sind ein großer und schwerwiegender Eingriff in die Entwicklung der Kinder. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung diese Medikamente empfiehlt wie Hustenbonbons!”

Hätte das “Bild”-Trio gewollt, dann hätte es auf Klöckner antworten können, dass es sich bei der Bundesregierung, die den Text zu den Pubertätsblockern ins Internet gestellt hat, um jene handelt, von der Klöckner selbst Teil war.

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Viel Energie fürs Zitateverkürzen

Vergangene Woche meinte die “Bild”-Redaktion, bei ihrer Suche nach Argumenten und Mitstreitern gegen die Energiewende mal wieder fündig geworden zu sein:

Screenshot Bild.de - Chemie-Chef rechnet mit Habecks Strompolitik ab - Vom Industrieland zum Industriemuseum

Die beiden “Bild”-Autoren Jan Schäfer und Carl-Victor Wachs schrieben:

Knallhart-Abrechnung mit der Energiepolitik von Robert Habeck (53, Grüne)!

Der neue Präsident des Chemieverbands VCI, Markus Steilemann (52), warnt den Wirtschaftsminister vor dem Kollaps des Industriestandorts Deutschland. Es drohe gigantischer Strommangel, da der geplante Ausbau der Windkraft nicht zu stemmen sei.

Konkret warnt Steilemann: Um Habecks Energieziele bis 2030 zu erreichen, bräuchte man “jeden Tag zehn Windkraftanlagen. Eine davon braucht 4000 Tonnen Stahl; das ist ein halber Eiffelturm. Das heißt: fünf Eiffeltürme jeden Tag. Und das für die nächsten 8 Jahre.”

Steilemann knallhart: “Das möchte ich mal sehen, wie wir das auf den Weg kriegen.” Deutschland drohe der Absturz “vom Industrieland zum Industriemuseum”.

An dem Eiffelturm-Vergleich von Markus Steilemann ist so ziemlich alles falsch, was falsch sein kann. Der Bundesverband WindEnergie hat das in einem Twitter-Thread wunderbar aufgedröselt: Steilemanns Angabe zum benötigten Stahl ist viel zu hoch (den Fehler hat er selbst auch längst eingeräumt), die Anzahl der täglich neu benötigten Windenergieanlagen soll ebenfalls zu hoch sein, und das Gesamtgewicht des Eiffelturm-Stahls hat Steilemann in seiner Rechnung auch eher grob angegeben. “Wir brauchen also weniger als einen halben Eiffelturm pro Tag – nicht fünf”, so das Fazit des Bundesverbands WindEnergie.

Das alles hätte man mit ein wenig Recherche herausfinden können. Aber darauf haben die zwei “Bild”-Autoren offensichtlich verzichtet.

Interessant ist, wie sie die Stelle zitieren, die es zum Teil auch in die Überschrift bei Bild.de geschafft hat. Schäfer und Wachs schreiben:

Steilemann knallhart: “Das möchte ich mal sehen, wie wir das auf den Weg kriegen.” Deutschland drohe der Absturz “vom Industrieland zum Industriemuseum”.

Das gesamte Steilemann-Zitat ist etwas länger. Es ist in einer Diskussionsrunde des Verbands der Chemischen Industrie zum Thema “Energie und Klima” gefallen, bezieht sich auf die falsche Eiffelturm-Rechnung sowie die Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien und lautet:

Das möchte ich mal sehen, wie wir das auf den Weg kriegen. Da müssen wir hin. Weil ansonsten wird alles, was wir hier heute diskutieren, Makulatur bleiben. Und Deutschland wird sich von einer Industrienation in ein Industriemuseum verwandeln, und zwar schneller, als wir uns das vorstellen.

Die Forderung “Da müssen wir hin.” haben die “Bild”-Autoren einfach weggelassen. Stattdessen schreiben sie, Steilemann wäre der Ansicht, dass “der geplante Ausbau der Windkraft nicht zu stemmen sei.” Tatsächlich aber fordert er – selbst unter dem Eindruck seiner viel zu hohen Stahl-Annahme -, die Herausforderung anzunehmen und den Ausbau der Windkraft voranzutreiben. Das passt auch vielmehr zu früheren Aussagen Steilemanns. So sprach er sich beispielsweise 2019 in einem Interview mit dem “Tagesspiegel” für eine Beschleunigung beim Ausbau der Erneuerbaren und der dazugehörigen Infrastruktur aus.

Der Artikel bei Bild.de wurde inzwischen überarbeitet. Nun weist ein “Update” auf den Fehler bei der Stahl-Rechnung hin, eine Aussage des Bundesverbands WindEnergie wurde hinzugefügt. Das verkürzte Zitat wurde kommentarlos gestrichen, dafür steht im Text aber noch immer fälschlicherweise, dass Markus Steilemann der Meinung ist, der geplante Ausbau der Windkraft sei nicht zu stemmen.

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“Bild” macht sich mit Foto von Dieter Schwarz zum Otto

Wenn irgendwo in Deutschland jemand ums Leben kommt, und “Bild” will darüber berichten, hat aber kein Foto der Person parat, dann zieht die Redaktion los, sucht nach Facebook-Profilen mit dem entsprechenden Namen und schnappt sich das zu schnappende Fotomaterial.

Wenn irgendwo in Deutschland jemand zur reichsten Person des Landes erklärt wird, und “Bild” will darüber berichten, hat aber kein Foto der Person parat, dann zieht die Redaktion los, sucht nach Facebook-Profilen mit dem entsprechenden Namen und schnappt sich das zu schnappende Fotomaterial.

Das Ergebnis sieht dann so aus:

Screenshot Bild.de - Wechsel an der Spitzenposition - Er ist jetzt der reichste Deutsche

Es geht um Lidl-Gründer Dieter Schwarz, der dem gestern erschienenen “Manager-Magazin”-Ranking zufolge der reichste Deutsche sein soll. Schwarz sei das “Phantom der Hochfinanzen”, “der geheimnisvollste Milliardär Deutschlands”, wie “Bild” vor zwei Jahren schrieb: “Keine Fotos, keine Interviews – aber 43 Milliarden Euro Vermögen”. Umso erstaunlicher ist, wo die “Bild”-Redaktion das Foto von Dieter Schwarz her hat. Als Quelle gibt sie an:

Dieter Schwarz/Facebook

Ein Mensch, der phantomartig zurückgezogen lebt, von dem es nur ganz wenige Aufnahmen gibt, der aber gleichzeitig ein Foto von sich bei Facebook postet?

Tatsächlich gibt es eine Facebook-Seite mit dem Namen “Dieter Schwarz”, auf dem das von Bild.de verwendete Foto zu sehen ist. Steckbrief: “Businessman”, 203 “Gefällt-mir”-Angaben, der letzte Post vor gut einem Jahr. Wer die Seite ins Leben gerufen hat, ist nicht klar. Jedenfalls zeigt die Aufnahme nicht Dieter Schwarz, sondern Unternehmer Michael Otto.

Die “Bild”-Redaktion hat das Foto inzwischen ausgetauscht. Nun ist im Artikel die “vom Thron gestoßene” BMW-Erbin Susanne Klatten zu sehen.

Wie gesagt: Auch bei Menschen, die ums Leben gekommen sind, gehen die “Bild”-Medien regelmäßig auf Facebook-Beutezug (was schon verachtenswert genug ist). Und auch bei ihnen liegen sie viel zu oft daneben.

Mit Dank an Alex für den Hinweis!

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“Die Widerlich-Botschaft von K.I.Z” und “unser Oktoberfest, wie es wirklich ist”

Einst war die Rap-Crew K.I.Z für die “Bild”-Redaktion eine “Berliner Hip-Hop-Band” mit “Kultstatus”, ihre Live-Auftritte galten als “absolute Weltspitze”, und die Gruppe sei “schon länger dafür bekannt, sich zu Gesellschaftsthemen zu äußern.” Aber nun, wo sich Tarek, Maxim und Nico in einem neuen Song dem Oktoberfest gewidmet haben, ist alles anders:

Screenshot Bild.de - Song-Video stellt Wiesn als Suff-Koks-Kotz-Party dar - Berliner Deppen-Rapper verärgern Stadt und Wirte
(Der Vollständigkeit halber: Auf dem Weg vom “Kultstatus” zu den “Deppen-Rappern” gab es noch den Zwischenschritt “Gewalt-Verherrlicher”.)

K.I.Z und das Frankfurter Rap-Duo Mehnersmoos haben kürzlich einen Song mit dem Titel “Oktoberfest” veröffentlicht. Das dazugehörige Video, eine Collage mit allerlei Saufeireien, Pinkeleien, Torkeleien, Kotzereien, Prügeleien, Koksereien und Fummeleien vom Oktoberfest, wurde erst bei Youtube hochgeladen, dann von Youtube gesperrt, genauso wie der gesamte K.I.Z-Kanal, der inzwischen wieder erreichbar ist, allerdings ohne das “Oktoberfest”-Video. Und nun ist die “Bild”-Redaktion wütend, aber nicht, weil sie wie sonst immer, wenn etwas Künstlerisches gelöscht wurde, irgendwas mit “Cancel Culture” vermutet, sondern weil “unsere Wiesn” von den “Berliner Deppen-Rappern” besudelt werden:

Das Video, das die Berliner Rapper Tarek, Maxim und Nico (“K.I.Z”) zu ihrem neuen Song “Oktoberfest” auf YouTube hochgeladen hatten, zeigt unsere Wiesn als Suff-Koks-Kotz-Vergewaltigungs-Arie.

Die Widerlich-Botschaft von K.I.Z: Oktoberfest heißt knutschen mit Uli Hoeneß, koksen mit Markus Söder, vollgepisste Lederhosen, tausende bayerische Frauenschläger, überall Schnapsleichen. Ein mit 3 Promille tot gefahrenes Kind.

Die “Bild”-Autorin zitiert einen empörten “Wiesn-Wirte-Sprecher” (und auch nur den, sonst niemanden) und gibt sich große Mühe, das Bild vom Oktoberfest geradezurücken:

“Billige Effekthascherei”, schimpft Wiesn-Wirte-Sprecher Peter Inselkammer. “Die Bilder und Worte entsprechen nicht der Realität. Es ist leider ein Trend, dass Menschen die Wiesn benutzen, um selbst Aufmerksamkeit zu bekommen.”

Aber dass die Tatsachen falsch dargestellt werden, das ist eine neue, unschöne Variante der Oktoberfest-Sonnen-Mitnutzer. Die Wiesn 2022 war eine friedliche, fröhliche, ausgelassene. Es gab keine Schnapsleichen unter Tischen in Zelten. Es flogen keine Bierkrüge durch die Menge. Keine Koks-Linien auf den Biertischen.

Für die “Bild”-Redaktion steht fest:

Von Skandal keine Spur: die Wiesn 2022 waren fröhlich, friedlich und herzlich

So lautet eine Bildunterschrift. Und eine andere:

Wiesnchef Clemens Baumgärtner ist zu Recht stolz auf unser Oktoberfest, wie es wirklich ist

Wie das gerade zu Ende gegangene Oktoberfest “wirklich” war, kann man unter anderem herausfinden, indem man in die “Wiesn-Abschlussbilanz der Münchner Polizei” (PDF) schaut: Die Gesamtzahl der Straftaten sei im Vergleich zum Oktoberfest 2019 “etwa gleichbleibend”. Bei den Gewaltdelikten habe es einen Rückgang gegeben, bei den angezeigten Sexualdelikten einen leichten Anstieg. Im direkten Umfeld des Oktoberfests kam es zu einem versuchten Totschlag.

Wenn “Bild” schreibt, es seien keine Bierkrüge durch die Menge geflogen, ist das entweder völlig unwissend oder gelogen, jedenfalls schlicht falsch. 35 Fälle zählte die Polizei, in denen es zu Körperverletzungen mit dem Tatwerkzeug Maßkrug kam, drei mehr als 2019. Ein Beispiel aus einem Polizeibericht:

Zeitgleich kam ein dritter Täter hinzu, der mit voller Wucht dem immer noch am Boden liegenden 23-jährigen Geschädigten einen Maßkrug auf den Kopf schlug.

Ein weiterer beispielhafter Fall:

Am Samstag, 24.09.2022, gegen 22:00 Uhr, gerieten ein 25-Jähriger mit Wohnsitz in München und ein 22-Jähriger aus dem Landkreis Schwandorf in Streit. Im weiteren Verlauf des Streites warf der 25-Jährige dem 22-Jährigen einen Maßkrug ins Gesicht.

Und noch einer:

Am Mittwoch, 28.09.2022, gegen 19:00 Uhr, kam es in einem Festzelt zwischen einem 38-jährigen Franzosen und seinen Begleitern zunächst zu einem verbalen Streit mit einem 25-jährigen Australier. Im Laufe der Auseinandersetzung griff der Franzose nacheinander mehrere auf dem Biertisch stehende Maßkrüge und warf diese in Richtung des 25-Jährigen. Durch die Würfe wurde der 25-Jährige am Kopf getroffen und ging daraufhin mit einer Platzwunde zu Boden. Ein weiterer Maßkrug traf einen bislang unbekannten Geschädigten, der sich jedoch anschließend unerkannt entfernte.

Wenn es im Song von K.I.Z und Mehnersmoos also heißt “Heute schieß’ ich mir die Birne weg, Bierkrüge fliegen durchs Wiesn-Zelt” oder “Ich haue einem Bauern die Augen lila, mit einem Bierkrug von Augustiner” oder “Ich steh’ mit Motorradhelm, mitten im Bierkrughagel, werd’ dir das Riesenmaß, über die Rübe schlagen” ist das nicht völlig entkoppelt von der Realität.

Genauso die Textzeile “Bin hacke und mache den Hitlergruß”. Die Polizei berichtet von mehreren Fällen, in denen Personen den Hitlergruß gezeigt oder Äußerungen mit Bezug zur NS-Zeit getätigt haben sollen.

Und auch zur Songpassage “Heut begeh’ ich einen sexuellen Übergriff, Spießer sagen: ‘Vergewaltigung’, wir nennen es einfach nur ‘Tradition'” findet man Zahlen in der “Wiesn-Abschlussbilanz der Münchner Polizei”: Es gab in diesem Jahr Anzeigen zu drei Vergewaltigungen und einer versuchten Vergewaltigung auf dem Oktoberfestgelände. Insgesamt hat die Polizei 55 Sexualdelikte gezählt (2019: 47).

Dass es, wie “Bild” schreibt, “keine Koks-Linien auf den Biertischen” gegeben hat, ist eher unwahrscheinlich. Die Polizei schreibt in ihrer Abschlussbilanz:

Im Bereich der Aufgriffe von Betäubungsmittel wurde ein Rückgang festgestellt. Die Polizei leitete hier 184 (-22,7%; 2019: 238) Ermittlungsverfahren ein (Festnahmen: 2022: 174; 2019: 242). Hauptsächlich handelte es sich dabei um den unerlaubten Besitz von geringen Mengen von illegalen Betäubungsmitteln. Vorwiegend konnte Cannabis und Kokain festgestellt werden. Der Rückgang der Aufgriffe im Vergleich zu 2019 lässt sich vermutlich ebenfalls auf die schlechte Witterung zurückführen.

Angesichts der völligen Leugnung aller negativen Aspekte am Oktoberfest durch “Bild”, wo es noch nicht mal “Schnapsleichen unter Tischen in Zelten” geben darf, scheint ein Song mit dem gegrölten Refrain “O, o, o’zapft is, wenn du mich suchst, ich liege unterm Tisch, O, o, o’zapft is, die Lederhosen san vollgepisst” einer Band, die sich wahlweise als “Kannibalen in zivil” oder “Klosterschüler im Zölibat” bezeichnet, der Realität deutlich näher zu kommen als der Artikel einer Redaktion, die vorgibt, journalistisch zu arbeiten.

Auf der heutigen “Bild”-Titelseite findet man übrigens diese Geschichte:

Ausriss Bild-Titelseite - Er spricht von Raub. Er wurde gefesselt und festgesetzt - FDP-Politiker schlägt Frau ins Gesicht
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Wo das passiert sein soll? Auf dem “fröhlichen, friedlichen und herzlichen” Oktoberfest.

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Hält “Bild” die eigene Leserschaft eigentlich für blöd?

Absolute Binsenweisheiten seien das, “allseits bekannte Spartipps”, manchmal müsse man “sich wirklich fragen: In welcher Welt leben unsere Politiker eigentlich?”, schreibt Ralf Schuler heute. Er und seine “Bild”-Redaktion haben noch eine weitere Frage:

Ausriss Bild-Zeitung - Von-oben-herab-Tipps von Kretschmann und Co - Haltet Ihr uns eigentlich für blöd?

Grund für den Furor sind zwei Videos der baden-württembergischen Landesregierung zum Energiesparen. Ralf Schuler schreibt dazu:

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (74, Grüne) fordert die Bürger in einer neuen Kampagne zum Energiesparen auf.

Darin gibt er ernsthaft die Tipps, z.B. tropfende Wasserhähne zu reparieren, nachts die Heizung herunterzudrehen, undichte Fenster abzudichten. Außerdem solle man die Spülmaschine nur mit viel Geschirr laufen lassen. (…)

Auch Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (62, CDU) gibt Spartipps, rät u.a.: bei Elektrogeräten dem Standby-Modus “den Stecker ziehen”.

Kretschmann und Strobl seien “nicht die ersten Top-Politiker, die mit allseits bekannten Spartipps belehren”:

So rief Wirtschaftsminister Robert Habeck (53, Grüne) zu kürzeren Duschzeiten auf.

Die “Bild”-Redaktion ärgert sich also über Politiker, die so bescheuert sind, völlig offensichtliche Ratschläge zu geben, die jeder schon kennt und niemand mehr hören muss. “Wie lebensfremd muss man sein, um ernsthaft zu glauben, man müsse den Menschen wirklich erklären, dass man die Heizung herunterdreht, wenn man sie nicht braucht?”, schreibt Schuler heute noch zusätzlich in einem Kommentar.

Die Antwort lautet offenbar: so lebensfremd wie die “Bild”-Redaktion.

Während Winfried Kretschmann rät, tropfende Wasserhähne zu reparieren, rät “Bild” in einem Artikel mit Tipps zum Sparen:

Reparieren Sie einen tropfenden Wasserhahn

Während Kretschmann rät, nachts die Heizung herunterzudrehen, rät “Bild” im selben Artikel:

Elektronische Thermostate einbauen, die zeitbasiertes Heizen erlauben (Kosten ab 60 Euro, Ersparnis bis 60 Euro)

Während Kretschmann rät, undichte Fenster abzudichten, rät “Bild” ebenda:

Fenster und Türen abdichten (Kosten ab 13 Euro, Ersparnis bis 35 Euro)

Während Kretschmann rät, die Spülmaschine nur mit viel Geschirr laufen zu lassen, rät “Bild” in einem weiteren Spartipp-Beitrag:

Spülmaschine nur voll anmachen und mit Öko-Taste nutzen. Das spart 110 Euro/Jahr.

Während Thomas Strobl rät, bei Elektrogeräten dem Standby-Modus “den Stecker zu ziehen”, rät “Bild”:

Geräte abschalten. Der Fernseher frisst im Standby-Modus 36 Euro pro Jahr, die Stereoanlage: 28 Euro, PC mit Monitor und Drucker: 25 Euro.

Und während Robert Habeck rät, kürzer zu duschen, rät “Bild”:

Kürzer duschen! Täglich acht Minuten duschen (bei 42 Grad) kostet 513 Euro/Jahr. Mit Sparduschkopf (kostet 20 Euro) und fünf Minuten (bei 38 Grad) sind es nur noch 146 Euro/Jahr. Ersparnis: 367 Euro/Jahr.

Mit einem Punkt hat Ralf Schuler übrigens recht: Für Menschen, “die täglich auf jeden Cent schauen müssen”, um irgendwie über die Runden zu kommen, und das häufig nicht erst, seit sich die Strom- und Gaspreise dramatisch erhöht haben, sind derartige Sparmaßnahmen gewiss nichts Neues und die Tipps wahrscheinlich blanker Hohn – ob sie nun von Winfried Kretschmann oder von der “Bild”-Redaktion kommen.

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Achse der Intransparenz

Joachim Nikolaus Steinhöfel, geboren 1962 in Hamburg, ist einer der profiliertesten deutschen Juristen.

So, so.

Schon 2004 stelle das Handelsblatt fest: “Fast 200 Fälle hat er zum BGH hoch prozessiert, rund 70 Prozent davon gewonnen.”

Sieh an.

Er erwirkte die erste, jemals erlassene einstweilige Verfügung wegen Löschungen auf Facebook und hat sich wie kaum ein anderer Jurist um die Meinungsfreiheit verdient gemacht.

Aha.

Steinhöfel moderierte Sendungen für RTL und RTL 2, trat als Werbe-Testimonial für Europas größten Anbieter von Unterhaltungselektronik und als Sachverständiger im Bundestag auf.

Sag bloß.

1999 gewann er den Werbepreis “Effie” in Silber.

Oho.

Für BILD schreibt er im Abstand von zwei Wochen über die Abgründe von Gegenwart und Gesellschaft.

Okay.

Das da oben ist der Autorentext, der unter der “Bild”-Kolumne “RECHT KLAR!” von Joachim Steinhöfel zu finden ist. Auch unter der aktuellen Ausgabe:

Screenshot Bild.de - Eurowings und Co - Moral heucheln und Denunzianten gehorchen

Steinhöfel schreibt darin über Firmen, die aus freien Stücken die Ausspielung ihrer eigenen Online-Werbeanzeigen auf Websites gestoppt haben, nachdem Twitter-User diese Firmen auf die Inhalte der Websites aufmerksam gemacht hatten.

Oder wie Joachim Steinhöfel es ausdrückt: Es geht um Unternehmen, die sonst keine “Berührungsängste” beim “Geld von Kinderschändern, Vergewaltigern oder Antisemiten” hätten (“Man kann bei Millionen von Kunden schließlich nicht jeden überprüfen.”) und die nun vor “anonymen Verleumdern”, vor “anonymen Denunzianten mit rechtlich fragwürdigen Boykottaufrufen” einknicken würden.

Steinhöfel zitiert auch vier konkrete Fälle, wie diese Unternehmen bei Twitter reagiert haben:

“Wird sofort geprüft. Sind dran!”, Kaufland.

Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.

“…vielen Dank für den Hinweis. Wir haben die [Werbung] sofort gestoppt,” Aktion Mensch.

Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.

“…für alle Werbeaktivitäten geblacklisted”, Eurowings.

Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.

“Wir werden den Fall prüfen und unsere Blacklist überarbeiten”, Audi.

Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.

Dass es ausschließlich um die “Achse des Guten” geht, erwähnt Joachim Steinhöfel in seinem Text merkwürdigerweise nicht. Und es ist leider auch nirgends zu lesen, dass Steinhöfel selbst Autor der “Achse des Guten” ist und sie als Anwalt rechtlich vertritt. Auch im oben zitierten, recht ausführlichen Autorentext war für einen Transparenzhinweis kein Platz.

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“Bild” spielt arm gegen ganz arm aus

Das geplante Bürgergeld, das am morgigen Mittwoch vom Kabinett beschlossen und kommendes Jahr das bisherige Arbeitslosengeld II (auch Hartz IV genannt) ablösen soll, sei eine Demotivation für Geringverdiener, findet der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Unter anderem die Erhöhung von 53 Euro pro Monat beim Bürgergeld im Vergleich zum Hartz-IV-Satz mache es für Personen mit niedrigem Einkommen unattraktiver, weiterhin arbeiten zu gehen.

Die “Bild”-Redaktion sieht es ganz ähnlich wie der Handwerks-Präsident:

Screenshot Bild.de - Hartz-Irrsinn - Wer arbeitet, ist künftig der Dumme

“Bild”-Reporter Albert Link hat dafür auch eine passende Rechnung parat:

Rechenbeispiel: Beziehen in einer Familie (zwei Kinder zwischen 6 und 13) beide Partner Bürgergeld, dann summieren sich die Leistungen auf 902 Euro (zwei Erwachsene) plus 696 Euro für die Kinder – also 1598 Euro. Einem verheirateten Maler (gesetzlich versichert, kein Kirchen-Mitglied) mit zwei Kindern bleiben z. B. in Berlin von 2500 Euro Monatslohn im besten Fall 1967,12 Euro netto (Alleinverdiener, Berechnung: gehalt.de).

Doch weil er davon – anders als Bürgergeld-Bezieher – Miete und Heizkosten tragen muss, lohnt sich das Aufstehen für ihn NICHT mehr.

Bei der “Bild”-Rechnung fehlt allerdings was. Die Familie des Malers bekommt für jedes der zwei Kinder Kindergeld. Das sind aktuell 219 Euro pro Kind, zusammen also 438 Euro pro Monat. Diese Summe fehlt in Links Rechnung gänzlich. Die Familie mit dem Bürgergeld bekommt die 438 Euro theoretisch zwar auch, sie werden allerdings praktisch komplett als Einkommen bei den Leistungen für die Kinder angerechnet. Oder anders gesagt: Bei der Familie mit Bürgergeld gibt es das Kindergeld nicht obendrauf.

Allerdings fehlen in der “Bild”-Rechnung auch auf der Seite der Bürgergeld-Empfänger verschiedene Posten. So werden zumindest aktuell bei Hartz-IV-Berechtigten unter anderem die Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung übernommen (beim Maler sind die in der “Bild”-Rechnung mit drin), und es fällt der Rundfunkbeitrag weg. Dass bei Leistungsempfängern die Heizkosten immer in Gänze übernommen weden, ist wiederum nicht so eindeutig, wie “Bild” es wirken lässt. Es müsse sich dafür um einen “angemessenen” Verbauch handeln, so die Vorschrift.

Der Vergleich zwischen Bürgergeld-Beziehern und Familien mit geringem Einkommen ist also deutlich komplexer als von “Bild” dargestellt. Und sowieso pickt sich Albert Link einen speziellen Fall heraus: zwei Erwachsene, zwei Kinder, beim Bürgergeld beide Erwachsene als Bezieher, der Beispiel-Maler ist Alleinverdiener. Die zumindest theoretisch vorhandene Möglichkeit, dass auch die Ehefrau oder der Ehemann etwas dazuverdienen kann, kommt in der “Bild”-Rechnung nicht vor. Und auch gerade die zwei Kinder machen in dem Beispiel einen großen Unterschied. Für sie gibt es beim Bürgergeld zusätzliches Geld, bei Arbeitnehmern (neben dem Kindergeld, das “Bild” ja aber weglässt) hingegen nicht. Die Auswirkung wird deutlich, wenn man die Kinder sukzessive aus der Rechnung nimmt: Hätten die zwei Vergleichsfamilien jeweiles nur ein Kind, dann wäre der Unterschied nicht 1.598 Euro (Bürgergeld) zu 1.967 Euro (Maler), sondern 1.250 Euro zu 1.967 Euro. Wären die Erwachsenen kinderlos, läge der Unterschied bei 902 Euro zu 1.958 Euro (Veränderung durch den etwas höheren Beitrag für die Pflegeversicherung). Und würde es sich beim Bürgergeld-Bezieher und beim Maler um Singles handeln, betrüge der Unerschied 502 Euro zu 1.737 Euro (Veränderung durch die geänderte Lohnsteuerklasse).

Die “Bild”-Redaktion präsentiert ihrer Leserschaft aber nur das Beispiel der vierköpfigen Familie, erklärt das alles zum “HARTZ-IRRSINN” und stellt das geplante Bürgergeld zumindest implizit als zu hoch dar. Sie spielt einmal mehr arm gegen ganz arm aus. Dass es aber auch andersrum sein könnte, dass also nicht das Bürgergeld zu hoch ist, sondern viele Löhne viel zu niedrig sind, darauf wollen sie bei “Bild” offenbar nicht kommen.

Mit Dank an Michel T. für den Hinweis!

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Bei “Bild” ist “das Ausland” konservativ

Es sei der “AKWahnsinn”, schreibt “Bild” zu den Plänen von Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister “druckst und trickst sich um die AKWende”, es sei “Habecks mieser Atom-Poker”, “Habecks MIESES SPIEL mit unserem Strom”, und “BILD ENTLARVT”: “Habecks größte AKWidersprüche”.

Wir haben das leichte Gefühl, in der “Bild”-Redaktion finden sie Robert Habecks Entscheidung, die drei in Deutschland noch laufenden Atomkraftwerke nicht weiter Strom produzieren zu lassen, sondern lediglich zwei davon als Notreserve zu behalten, nicht so gut. Um der eigenen Leserschaft zu zeigen, dass “unsere Nachbarn” sowie “das Ausland” das ganz genauso sehen, haben “Bild” und Bild.de mal bei EU-Politikern nachgefragt, was die von Habecks Plan halten:

Screenshot Bild.de - Verrat an Nachbarländern - EU-Politiker entsetzt über Habecks Atom-Irrsinn

“Entsetzt” zu Wort kommen:

  • ein polnischer EU-Abgeordneter der nationalistischen und konservativen PiS,
  • ein tschechischer EU-Abgeordneter der konservativen ODS,
  • eine niederländische EU-Abgeordnete der christdemokratischen CDA,
  • ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CSU,
  • ein weiterer deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CSU,
  • ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CDU
  • und noch ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CDU.

Ausgesprochen ausgewogen.

Mit Dank an anonym für den Hinweis!

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Don’t Truss “Bild”

Liz Truss, bisher Außenministerin Großbritanniens, wird neue Parteichefin der Tories und damit auch britische Premierministerin. Sie setzte sich bei einer parteiinternen Abstimmung gegen ihren Konkurrenten, den früheren Finanzminister Rishi Sunak, durch. Damit folgt Truss auf Boris Johnson, der Anfang Juli seinen Rücktritt als Tory-Chef bekannt gab und gleichzeitig ankündigte, auch als Premier zurücktreten zu wollen, sobald es eine neue Parteispitze gibt. Zuvor hatten Dutzende Regierungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ihr Amt aufgegeben, auch und vor allem aus Protest gegen Johnson.

In “Bild” und bei Bild.de stellt heute Alexander von Schönburg Truss der Leserschaft vor:

Ausriss Bild-Zeitung - Boris-Nachfogerin Liz Truss - Queen muss sie zur Premierminsiterin machen

Der “Bild”-Autor hat wirklich Überraschendes herausgefunden:

Truss war eine der Tory-Rebellen, die Boris Johnson (58) im Juli gestürzt haben.

Damit weiß Alexander von Schönburg mehr über Liz Truss’ Rolle beim Sturz Boris Johnsons als Liz Truss selbst. Die sprach eine Woche nach Johnsons Rücktrittsrede von ihrer großen Loyalität gegenüber ihrem Premier:

Speaking on her relationship with Boris Johnson, Ms Truss said she was “loyal person” and remains “loyal” to him despite a series of scandals triggering mass resignation of senior ministers and parliamentary private secretaries.

“I am a loyal person. I am loyal to Boris Johnson. I supported our Prime Minister’s aspirations and I want to deliver the promise of the 2019 manifesto.”

Diese Loyalität habe sie davon abgehalten, ihr Amt als Außenministerin niederzulegen. Dass Liz Truss dieses Amt bis zuletzt unter Noch-Premier Johnson weiterführen konnte, ist vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass sie nicht zu diesen “Tory-Rebellen” gehörte. Genauso ihr Vorschlag, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufzulösen, der sich mit möglichen Lügen Johnsons gegenünber Abgeordneten beschäftigt. Und auch sonst schreiben alle nur von Liz Truss’ Treue gegenüber Boris Johnson. Alle, außer Alexander von Schönburg und “Bild”.

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“BILD ist mitgelaufen”, leider

“Wir betreiben hier keinen Elends-Tourismus, Drogenkranke werden nicht vorgeführt.”

Das sagen die zwei Männer, die in Frankfurt am Main für Interessierte eine Führung durch das Bahnhofsviertel anbieten, durch jene Gegend also, die auch und vor allem für ihre offene Drogenszene bekannt ist. Der Titel der Tour: “Crack, Koks, Heroin im Bahnhofsviertel – Warum Frankfurt auch ‘Crack-City’ heißt”.

Das Zitat der beiden stammt aus einem großen Artikel, der am vergangenen Freitag in der Frankfurt-Ausgabe der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de erschienen ist. Der Ansatz, vorhandene Probleme sichtbar zu machen und die üble Situation der Drogenkranken zu thematisieren, dabei aber keinen Elends-Tourismus fördern und niemanden vorführen zu wollen, ist sehr lobenswert. Ob die “Bild”-Redaktion den gleichen Ansatz verfolgt, da haben wir allerdings Zweifel.

Bereits in der Überschrift klingt es stark nach Elends-Tourismus:

Ausriss Bild-Zeitung - Neue Tour führt in den Drogensumpf im Bahnhofsviertel - Ausflug ins Elend
Screenshot Bild.de - Neue Tour in den Frankfurter Drogensumpf - Crack, Koks, Heroin! 25-Euro-Ausflug ins Elend - Bild ist mitgelaufen

Im Artikel gibt es mehrere Fotos, auf denen Süchtige entweder gerade Drogen konsumieren oder anscheinend kürzlich konsumiert haben und nun benommen auf der Straße sitzen. Was gut ist: Die “Bild”-Redaktion hat alle Gesichter verpixelt oder so fotografiert, dass sie verdeckt sind (wobei wir vermuten, dass das nähere Umfeld der Personen sie durch andere, nicht verpixelte Merkmale trotzdem identifizieren können dürfte). Was hingegen schlecht ist und doch stark nach Vorführen von Drogenkranken aussieht: die dazugehörigen Bildunterschriften. Zu einem Foto eines Mannes, der in einem Hauseingang liegt, schreibt Bild.de beispielsweise:

Das Frankfurter Bahnhofsviertel: Elends-Gestalten, wo man hinblickt

Und noch etwas hämischer zu einem Foto eines Mannes, der offenbar zugedröhnt auf einer Treppe liegt:

Crack-Süchtiger am Ziel seiner Träume…

Einer der zwei Tour-Guides sagt gegenüber “Bild” noch: “Wir wollen eine Lanze für diese Leute brechen.” Auch das ist sehr lobenswert. Aber vielleicht sollte man dann beim nächsten Mal nicht “Bild” mit auf Tour nehmen.

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Balken für den Verdächtigen, Pixel für das Kind, nichts für das Opfer

In Hamburg läuft seit Donnerstag ein Prozess gegen einen Mann, der im Februar dieses Jahres seine damalige Lebensgefährtin erstochen haben soll. Ob der Tatverdächtige überhaupt voll schuldfähig ist, ist wegen einer möglichen posttraumatischen Belastungsstörung bislang nicht sicher.

Bild.de und die Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung berichten heute größer über den Prozessauftakt. Während im Text mehrere “soll”s noch die Unschuldsvermutung garantieren, gibt es auf der Bild.de-Startseite schon einen Schuldspruch:

Screenshot Bild.de - Mutter (25) seiner Tochter mit acht Stichen getötet! - Plötzlich rammte M. (35) ihr das Messer in den Hals

Sowohl online als auch in der gedruckten Zeitung zeigen die “Bild”-Medien das Gesicht des Opfers ohne irgendeine Verpixelung. Der Tatverdächtige hat einen Augenbalken verpasst bekommen. Beim Kind der beiden wurde das Gesicht von “Bild” verpixelt. Alle weiteren Unkenntlichmachungen im Screenshot oben stammen von uns.

Als Quelle des Fotos, das Bild.de auch schon im Februar verwendet hat (auch damals mit Augenbalken für den Verdächtigen, Verpixelung für das Kind, nichts für das Opfer), gibt die Redaktion “Foto: Repro:” sowie den Namen des “Bild”-Reporters an. Das ist in solchen Fällen häufig ein Hinweis darauf, dass der jeweilige Fotograf ein von Trauernden in der Öffentlichkeit aufgestelltes Bild abfotografiert hat. In einem ähnlichen Fall, nachdem “Bild” Fotos von Opfern des Germanwings-Unglücks auf einem Marktplatz abfotografiert und veröffentlicht hatte, erkannte der Deutsche Presserat darin einen Verstoß gegen den Pressekodex: Die “Bild”-Redaktion erhielt eine Rüge, weil das Aufstellen der Fotos, auch wenn es an einem öffentlichen Ort passierte, “nicht für die Medienöffentlichkeit und ohne Zustimmung der Abgebildeten oder Angehörigen” geschah.

Eine Fotoauswahl zum Protestieren

Das Meinungsforschungsinstitut INSA hat vor wenigen Tagen eine Umfrage zu den Folgen der Preissteigerungen bei den Heiz- und Energiekosten durchgeführt. Die Auftraggeberin: die Redaktion der “Bild am Sonntag”. Dort konnte man vor zwei Tagen, genauso wie bei Bild.de, die Ergebnisse nachlesen:

Und auch 65 Prozent der Menschen in Deutschland rechnen mit Massenprotesten und Unruhen im Herbst und Winter (INSA, 1001 Befragte am Freitag).

Ein Grund: 51 Prozent haben Angst, dass sie im Winter ihre Rechnung nicht mehr bezahlen können. 56 Prozent geben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation in diesem Jahr verschlechtert hat.

Die Bebilderung des Artikels ist online und in der gedruckten “BamS” identisch – und bemerkenswert:

Screenshot Bild.de - Wegen Energiekrise - Deutsche befürchten Massenproteste und Unruhen

Auf dem Foto zu sehen sind Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten. In der dazugehörigen Bildunterschrift steht:

Protest gegen Flüssiggas in Wilhelmshaven: Die Aktivisten besetzten die Baustelle, zeigten Transparente mit Slogans wie “Sauberes Gas ist eine Lüge”

Auch im Artikel geht es erstmal nur und ausführlich um Klima-Proteste. Erst spät (und auch nur dieses eine Mal) werden mögliche Demonstrationen von “unzufriedenen Bürgern” erwähnt:

Deutschland drohen ungemütliche Wochen und Monate! Bereits an diesem Wochenende schlugen Klima-Aktivisten zu:

► In Wilhelmshaven besetzten am Freitag mehrere Hundert Anhänger der Gruppe “Ende Gelände” die Baustelle für das geplante Terminal, worüber Deutschland ab Winter mit dem dringend benötigten Flüssiggas versorgt werden soll.

► Gestern legten etwa 400 Klima-Aktivisten den Hamburger Hafen lahm, besetzten die einzige Bahnstrecke zum Containerterminal.

Ist das nur der Anfang für einen “heißen Herbst”, in dem Klima-Aktivisten gegen Gas-Importe und die reaktivierten Kohlekraftwerke sowie unzufriedene Bürger gegen die Explosion der Energiekosten demonstrieren?

Direkt im Anschluss leitet der Text zur INSA-Umfrage über:

Vor “Volksaufständen” hatte Außenministerin Annalena Baerbock (41, Grüne) gewarnt. Und auch 65 Prozent der Menschen in Deutschland rechnen mit Massenprotesten und Unruhen im Herbst und Winter (INSA, 1001 Befragte am Freitag).

Wir haben bei INSA nachgefragt, wie die genauen Formulierungen der Umfrage lauteten, auf der der Artikel von Bild.de und “BamS” basiert. Die Antwort:

1. Erwarten Sie aufgrund der aktuellen Preissteigerungen Massenproteste bzw. soziale Unruhen in Deutschland im kommenden Herbst und Winter?
2. Hat sich Ihre persönliche wirtschaftliche Situation in diesem Jahr (eher) verbessert, (eher) verschlechtert oder ist sie in etwa gleich geblieben?
3. Haben Sie persönlich Angst, dass Sie im Winter Ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können?

In der Befragung ging es an keiner Stelle um Klima-Proteste, sondern um die Folgen “der aktuellen Preissteigerungen”. Oder anders gesagt: Die Klima-Aktivisten, die die “Bild”-Medien zeigen und über die sie schreiben, haben nichts mit den befürchteten “Massenprotesten und Unruhen” zu tun. Nur “Bild am Sonntag” und Bild.de stellen diese Verknüpfung her.

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Kurz korrigiert (538)

In ihrer Berichterstattung über das Attentat auf den Autor Salman Rushdie versucht die “Bild”-Redaktion, ihrer Leserschaft auch zu erklären, was eine Fatwa ist. In der gedruckten “Bild” erschien gestern extra ein Infokasten zum Thema:

Ausriss Bild-Zeitung - Fatwas auch gegen Frauen

Bei Bild.de ist dieselbe Erklärung im Artikel eingebaut. Im Print wie online steht unter anderem:

“Fatwas” sind zwingende Rechtsverordnungen, die in islamischen Ländern wie Gesetze gelten.

Der Journalist Yassin Musharbash bezeichnet diese Aussage bei Twitter als “eindeutig zu grobkörnig”, und wir würden ergänzen: Sie ist in ihrer versuchten Allgemeingültigkeit schlicht falsch.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung etwa schreibt zu Fatwas:

Eine fatwa ist ein Rechtsgutachten eines islamischen Rechtsgelehrten, das in Bezug auf ein bestimmtes Problem ein nicht bindendes Gutachten auf Grundlage der Quellen der Scharia darstellt.

Und auch die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt in ihrem “Kleinen Islam-Lexikon”:

Fatwa, arabisch für Rechtsgutachten, in dem der Mufti ein bestimmtes Problem unter Berücksichtigung des islamischen Rechts beantwortet. Das Gewicht eines derartigen Gutachtens beruht grundsätzlich auf der persönlichen Autorität seines Ausstellers. Die vertretene Rechtsauffassung ist deshalb im Unterschied zu einem Gerichtsurteil nur für denjenigen bindend, der diese Autorität anerkennt.

Im sunnitischen Islam ist es beispielsweise möglich, dass jemand eine Fatwa einholt und, sollte er damit nicht zufrieden sein, den nächsten Mufti konsultiert. Die Unterscheidung zwischen der Bedeutung von Fatwas im sunnitischem beziehungsweise im schiitischem Islam fehlt bei “Bild” gänzlich. Sie ist auch keine Marginalie. Es gibt mehrere Länder, in denen der sunnitische Islam Staatsreligion ist; außerdem gehören die in Deutschland lebenden Muslime mehrheitlich dem sunnitischen Islam an.

Es gibt Fatwas zum Thema Beten, Fatwas zum Fasten, Fatwas zum Rauchen, Fatwas zu ganz alltäglichen Fragestellungen, aber eben auch Tötungsaufrufe wie im Fall von Salman Rushdie. Dazu schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung:

Der Tötungsaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wurde vom damaligen Ayatollah Khomeini in Form einer Fatwa erlassen. Die große Beachtung, die dieser Aufruf fand, rührte daher, dass Khomeini zu Lebzeiten eine hohe Stellung im schiitischen Islam einnahm.

Das kommt durch die Autorität Khomeinis im Iran sicherlich schon an eine gesetzesähnliche Bedeutung heran. Aber das gilt eben nicht, wie “Bild” es darstellt, für alle Fatwas überall. So kann es verschiedene Fatwas zur selben Frage geben, die sich inhaltlich widersprechen. Wären diese dann “zwingende Rechtsverordnungen, die in islamischen Ländern wie Gesetze gelten”, wäre das bei der praktischen Umsetzung ausgesprochen schwierig.

Gesehen bei @abususu.

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Gibt es bei “Bild” einen Zwang, in der Mittagspause Weißwurst zu essen?

Nein, gibt es nicht. Aber fragen kann man ja mal, auch wenn man es eigentlich besser weiß. So, wie hier:

Screenshot Bild.de - Live im Fernsehgarten - Deutet Andrea Kiewel hier Genderzwang im ZDF an?

… titelte die “Bild”-Redaktion gestern groß auf der Bild.de-Startseite. Zuvor sprach Moderatorin Andrea Kiewel im ZDF-“Fernsehgarten” von “Singer-Songwriter*innen”, also mit Gender-Pause. Und sagte anschließend mit Blick ins Publikum: “Nicht das Gesicht verziehen. Ich muss.”

Da war natürlich was los in den Sozialen Netzwerken: Schreibt das ZDF etwa das Gendern vor? Und auch Bild.de fragte auf der Startseite empört mit. Dabei weiß die Redaktion zu diesem Zeitpunkt schon längst, dass es einen derartigen “GENDERZWANG” nicht gibt – es steht eindeutig im dazugehörigen Artikel:

BILD fragte nach. Das ZDF dementierte: “Es gibt keine Anweisung zum Gendern im ‘ZDF-Fernsehgarten’. Andrea Kiewel ist es ein persönliches Anliegen, alle anzusprechen, daher verwendete Sie die Formulierung ‘Singer- und Songwriter*innen’ im Zusammenhang mit ‘muss’.”

Gegenüber BILD stellte Kiewel am Sonntag klar: “Niemand, nicht das ZDF und sonst auch niemand, sagt mir, dass ich gendern muss. Ich benutze den männlichen und weiblichen Plural schon seit langer Zeit, weil ich es unbedingt will und es mir sehr wichtig ist. Es liegt mir am Herzen. Und so meinte ich es auch in der Live-Sendung. Kann schon mal vorkommen, dass in einer zweistündigen Live-Sendung nicht jedes Wort maßgeschneidert passt. Aber es ist so. Ich will es. Ich muss es nicht.”

Kiewel trotzig: “Alles, was ich sage oder schreibe, mache ich aus tiefster Überzeugung. So bin ich. Eine Frau, der das -innen am Herzen liegt. Aber auch wichtig: Jeder soll es so machen, wie er oder sie es für richtig hält.”

Aber fragen (und auf der Wutwelle mitsurfen und so Klicks einsammeln) kann man ja mal.

Auf der Titelseite der heutigen “Bild”-Zeitung versucht die Redaktion übrigens noch einmal, möglichst zweideutig zu berichten:

Ausriss Bild-Titelseite - Andrea Kiewel über ihre Gender-Sprache im Fernsehgarten - Ich muss

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“Freiheit für die Ukraine”, Trikotverkäufe für “Bild”

“Der Ball rollt, der Rubel rollt – aber jetzt rollen auch die Panzer”, schreibt “Bild”-Sportchef Walter M. Straten heute und meint damit die Sponsoringtätigkeiten des staatlich kontrollierten, russischen Erdgaskonzerns Gazprom im Fußballgeschäft. Unerträglich sei das, so Straten: “Wir müssen im TV zur Champions-League-Hymne die Werbung von Gazprom sehen, während Putins Truppen in die Ukraine einmarschieren.”

Und da ist ja nicht nur die Champions-League-Hymne. Seit vielen Jahren ist Gazprom auch Trikotsponsor des FC Schalke 04. Walter M. Straten: “Wir werden die Schalker in ihren Gazprom-Trikots erleben, so als wäre der Konzern ein ganz normaler Werbepartner seit 2007 – und nicht ein Finanzier der russischen Staatsmacht. Damit auch des Krieges.” “Bild” fordert daher:

 Kein Schalker Trikot mit dem Gazprom-Schriftzug. Klebt ihn einfach ab. Das wäre ein starkes Symbol.

Während der FC Schalke 04 und der Fußballverband Uefa laut Straten aber jetzt schon versuchen, sich mit “verlogenen”, “pflaumenweichen Erklärungen herauszuwinden”, macht “Bild” bei der ganzen Sache nicht mehr mit:

BILD macht bis auf Weiteres Schluss mit Putins Trikot-Werbung!

Wir überkleben das Logo in der Zeitung und im Internet mit der Forderung: Freiheit für die Ukraine!

Das verkündet die Redaktion heute öffentlichkeitswirksam in der Zeitung:

Ausriss Bild-Zeitung - Russland-Einmarsch in der Ukraine - Bild macht Schluss mit Putns Werbung

Und online bei Bild.de:

Screenshot Bild.de - Bild macht Schluss mit Putns Werbung

Das ist konsequent. Geht es hingegen ums Geldverdienen, ist “Bild” nicht so konsequent.

Im auf der Bild.de-Startseite verlinkten, Springer-eigenen “BILD SHOP” kann man zwischen “Volks-Akku” und Blumenzwiebeln auch Fußballtrikots kaufen. Unter anderem diese hier:

Screenshot Bild-Shop - Es ist ein Angebot für ein Schalke-Trikot mit dem Trikotsponsor Gazprom zu sehen

In seinem flammenden Appell schreibt Walter M. Straten: “Wenn Putin das Nachbarland überfällt und ihm jedes Existenzrecht abspricht, ist jede Grenze überschritten! Der Fußball kann nicht ungerührt weiter kassieren, solange Putin Krieg führt.” Der Springer-Verlag offenbar schon.

Mit Dank an Christian für den Hinweis!

Nachtrag, 12:10 Uhr: Der Springer-Verlag hat die Schalke-Trikots mit der Gazprom-Werbung nun aus dem Shop genommen.

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Bis zu 100 Prozent einer “Bild”-Überschrift sind falsch

Manchmal reichen der “Bild”-Redaktion ein besonderer Fokus und zwei kleine Wörter, um die Leserschaft in die gewünschte Richtung zu lenken.

Am späten Montagabend stand ganz oben auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Bild-Umfrage bei den Gesundheitsministerien zeigt - Bis zu 29 Prozent der Corona-Toten starben nicht an Corona

Sowie am Tag darauf auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Viele Corona-Tote starben nicht an Corona! Bis zu 29 Prozent! Sie wurden als Corona-Tote gezählt, aber das Virus war nicht Todesursache - Wie die Bürokratie das Vertrauen der Bürger verspielt

Und in den Sozialen Medien:

Screenshot des Facebook-Posts der Bild-Redaktion
Screenshot des Tweets der Bild-Redaktion

Es geht um die zwei Wörter “Bis zu”. Die hat die “Bild”-Redaktion klug gewählt, klug im Sinne von: manipulativ. Schaut man sich nämlich den dazugehörigen Artikel an – wofür man allerdings entweder die “Bild”-Zeitung kaufen oder ein “Bild-plus”-Abo besitzen muss -, sieht man recht schnell: Mit den 29 Prozent hat “Bild” sich einen extremen Ausreißer rausgesucht. Autor Filipp Piatov listet in seinem Beitrag die Werte aus acht Bundesländern auf: In Baden-Württemberg sind laut dortigem Gesundheitsministerium 6 Prozent der als “Corona-Tote” gemeldeten Personen nicht am, sondern mit dem Coronavirus gestorben, in Bayern 11 Prozent, in Hessen 7 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 9 Prozent, in Niedersachsen 10 Prozent, in Rheinland-Pfalz 17 Prozent, im Saarland 10 Prozent und in Sachsen-Anhalt 29 Prozent.

Ausriss Bild-Zeitung - Tabelle mit den oben genannten Werten

Für “Bild” ist der Fokus klar: “Bis zu 29 Prozent”.

Hätte die Redaktion stattdessen plump den Durchschnitt der acht Bundesländer errechnet, hätte sie nur 12,4 Prozent vermelden können. Hätte sie den Durchschnitt anhand der Anzahl der gemeldeten Corona-Toten gewichtet, wären es 14,2 Prozent gewesen.

Das sind nicht so wahnsinnig überraschende Werte. Bereits im April 2021 berichtete “Quarks” beispielsweise:

Die Deutsche Gesellschaft für Pathologie hat im Jahr 2020 Untersuchungen an 154 Verstorbenen durchgeführt, die zuvor an Covid-19 erkrankt waren. Das Ergebnis: 86 Prozent dieser Todesfälle waren wesentlich oder alleinig auf die direkten Folgen der Infektion zurückzuführen (…)

Die Todesursachenstatistik des Bundesamtes für Statistik bestätigt diesen Befund: Bei den Corona-Todesfällen für das Jahr 2020 wurde bei 83 Prozent der Fälle Corona als hauptsächliche Ursache angegeben. Bei den restlichen 17 Prozent habe Corona demnach als “Begleiterkrankung zum Tod beigetragen”.

(Um die Debatte, ob die Unterscheidung zwischen an und mit Corona verstorben sinnvoll ist, oder den Gedanken, dass niemand an einem Virus stirbt, sondern an den körperlichen Folgen, soll es hier erstmal nicht weiter gehen.)

Das liegt in etwa in dem Bereich der von uns errechneten Durchschnittswerte. Piatov nennt sie nirgendwo in seinem Artikel.

Stattdessen haben er und seine Redaktion sich den Extremwert aus Sachsen-Anhalt rausgepickt. Nicht ohne Wirkung: Bei Facebook und Twitter ist der Ärger der “Bild”-Leserinnen und -Leser gewaltig. In etwa 2.000 Kommentaren wettern sie gegen die Regierung: “Die Politik und Ministerien sind mit dem fälschen von Zahlen schmerzfrei.” Und fragen: “Wann rollen eigentlich mal Köpfe?” Aufgrund der Paywall bei Bild.de dürften viele der Kommentatoren nur die 29 Prozent mitbekommen haben.

Und es gibt noch ein Problem: Die 29 Prozent stimmen gar nicht.

Wir haben am Dienstag beim sachsen-anhaltischen Gesundheitsministerium nachgefragt, ob die in “Bild” angegeben 29 Prozent korrekt sind. Wir hatten Zweifel, weil es sich um einen so deutlichen Ausreißer handelt. Und weil wir uns gewundert hatten, dass es in einem Bundesland mit etwa 2,2 Millionen Einwohnern im selben Zeitraum mehr Corona-Tote gegeben haben soll (laut “Bild”-Artikel 1.455) als in Baden-Württemberg (laut “Bild”-Tabelle 1.236 Corona-Tote), wo es mehr als fünfmal so viele Einwohner gibt.

Der Fehler liegt in diesem Fall allerdings nicht bei “Bild”, sondern beim Gesundheitsministerium. Ein Mitarbeiter antwortete uns:

Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt tatsächlich bei uns.

Richtig ist: Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.

Es sind also nicht 29 Prozent, sondern 19,8. Dadurch ändert sich der einfache Mittelwert auf 11,3 Prozent und der gewichtete auf 10,6.

In der “Bild”-Zeitung ist dazu eine Art Korrektur erschienen, nicht groß auf der Titelseite, sondern klein in der Ecke auf Seite 2:

Ausriss Bild-Zeitung - Corona - Ministerium korrigiert Todeszahlen

Bei Bild.de wurde die Überschrift des Artikels geändert …

Screenshot Bild.de -

… und am Ende des Textes eine “Aktualisierung” hinzugefügt:

Aktualisierung: In der ersten Fassung des Artikels berichtete BILD, dass in Sachsen-Anhalt 29% aller Verstorbenen, die seit dem 1. Dezember 2021 als Corona-Tote gemeldet wurden, nicht an Corona verstorben waren. Dies beruhte auf Angaben aus dem Gesundheitministerium Sachsen-Anhalt. Nach der Veröffentlichung des BILD-Berichts erklärte die Behörde gegenüber BILD: “Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt bei uns.” Richtig sei: “Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.” BILD hat den Bericht daraufhin aktualisiert.

Der Tweet und der Facebook-Post mit den falschen 29 Prozent sowie die ganzen wütenden Kommentare der Leserschaft dazu sind unverändert online.

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*Namen von der Redaktion genannt

An Silvester gab es auf dem Mailänder Domplatz mehrere Angriffe auf Frauen, die italienische Polizei ermittelt wegen sexueller Nötigung, elf Anzeigen gibt es bisher. Unter den Opfern sind auch zwei Frauen aus Deutschland.

Vergangenen Dienstag berichtete die “Süddeutsche Zeitung” online über sie (nur mit Abo lesbar). Die zwei Studentinnen sprechen in dem Artikel über die Silvesternacht:

“Überall waren Hände”, sagt die eine. “Ich habe versucht, einem von denen ins Gesicht zu schlagen, der hat einfach nur gelacht”, sagt die andere. Die Freundinnen sind beide zwanzig Jahre alt, Studentinnen aus Mannheim, sie waren an Silvester nach Mailand gefahren. Zum Feiern. Sie standen auf der Piazza del Duomo, es gab Musik, Feuerwerk und trotz Pandemie doch recht viele Menschen. Dann wurden sie plötzlich aus einer Gruppe heraus angegriffen. Zehn Tage später erzählen die beiden Frauen gemeinsam im Video-Telefonat mit der Süddeutschen Zeitung davon. Ihre Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen.

Später am selben Tag berichtete auch Bild.de:

Screenshot Bild.de - Übergriffe in Mailand erinnern an Horror-Nacht von Köln - Silvester-Mob attackiert deutsche Studentinnen
(Zu sehen ist eine Szene des Angriffs. Unkenntlichmachung der Gesichter der Frauen durch Bild.de, weitere Unkenntlichmachung durch uns.)

In der aktuellen Version des Textes steht unter anderem:

Die beiden Studentinnen Monika E.* und Sabine G.* (*Namen von der Redaktion geändert) kommen aus Mannheim, berichten in der “Süddeutschen Zeitung” und in italienischen Medien, was ihnen mitten in Mailand passierte

Es stimmt, dass Bild.de die Namen der beiden Frauen geändert hat – allerdings erst, nachdem diese sich bei der Redaktion beschwert hatten. Sie mussten sich gegen die “Bild”-Berichterstattung wehren: In der Ursprungsversion des Artikels standen ihre tatsächlichen Namen (jeweils kompletter Vor- und abgekürzter Nachname). Genauso im großen Artikel, der am vergangenen Mittwoch in der gedruckten “Bild” erschienen ist:

Ausriss Bild-Zeitung - Übergriffe in Mailand erinnern an Horror-Nacht von Köln - Silvester-Mob attackiert deutsche Studentinnen
(Unekenntlichmachungen: siehe oben)

Das E-Paper mit den Namen der zwei Frauen ist bis heute unverändert online.

Ganz am Ende ihres Artikels schreibt die “Bild”-Autorin:

“Die beiden Frauen aus Deutschland sind noch immer völlig aufgelöst, mit den Nerven am Ende”, so ein Ermittler zu BILD.

Und in so einer Situation müssen sie sich auch noch darum kümmern, dass eine Boulevardredaktion ihrer Bitte nachkommt, nicht namentlich genannt zu werden.

“Bild” wird leider verfälschen, verfälschen, verfälschen

Ende vergangener Woche konnte die “Bild”-Redaktion einen alten Bekannten präsentieren, ein “Schreckgespenst”, immer gut für große Aufregung und Blutdruckerhöhung bei den Leserinnen und Lesern:

Er war DAS Schreckgespenst der Griechenland-Krise, Frauenschwarm (polierte Glatze, muskulös, enge Hemden, dickes Motorrad) und Finanzminister der radikal-linken Syriza-Regierung auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise im Jahr 2015.

Gemeint ist: Yanis Varoufakis. Und der jagt den deutschen Steuerzahlern laut “Bild” gleich wieder einen Riesenschreck ein:

Screenshot Bild.de - Schock-Aussage von Ex-Minister Varoufakis kurz vor Merkel-Besuch in Athen - Die Deutschen werden leider zahlen, zahlen, zahlen

Buh!

Dieses Zitat, das Bild.de am Donnerstagabend auf der Startseite veröffentlichte, und die “Bild”-Zeitung in leicht abgeänderter Form …

Ausriss Bild-Zeitung - Griechenlands Ex-Finanzminister Varoufakis - Deutsche Arbeiter werden zahlen und zahlen und zahlen

… am Freitag im Blatt druckte, steht höchstens noch im losen Zusammenhang mit dem, was Varoufakis tatsächlich gesagt hat. Die linke Bewegung DiEM25, deren Gründer Varoufakis ist, hat auf ihrer Website die drei Fragen, die “Bild” geschickt hatte, und Varoufakis’ Antworten darauf in voller Länge veröffentlicht. Dort liest sich das alles etwas anders:

BILD: Will we ever get our money back?

Yanis Varoufakis: If you are one of the German or Greek oligarchs who benefitted immensely from the Greek state’s bailout, you have already received gargantuan returns – and you will receive even more in the future. Alas, if you a German or a Greek worker or middleclass person, you will be paying, and paying and paying…

(Hervorhebungen im Original, hier auch als deutsche Übersetzung lesbar.)

Anders als die “Bild”-Redaktion es darstellt, geht es Yanis Varoufakis offensichtlich nicht um einen vermeintlichen Konflikt zwischen den zahlenden Deutschen und den kassierenden Griechen, sondern, plakativ gesagt, um Oben gegen Unten – die deutschen oder griechischen Oligarchen, die Profiteure, auf der einen Seite und die deutschen oder griechischen Arbeiter und Mitglieder der Mittelschicht, die Zahlenden, auf der anderen.

Die Griechen, die laut Varoufakis ebenfalls “zahlen und zahlen und zahlen” werden, hat “Bild” einfach rausgestrichen. Das wörtliche Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, ist eine Erfindung der “Bild”-Redaktion.

Im Text zitieren Peter Tiede und Liana Spyropoulou zwar etwas originalgetreuer, aber auch dort fehlten die zahlenden Griechen gänzlich:

Und heute?

Rechnet er knallhart ab und prophezeit den “deutschen Arbeitern und Mittelständlern” gegenüber BILD in Athen: “Sie werden leider zahlen und zahlen und zahlen …”

Profiteure der Krise: “Deutsche oder griechische Oligarche”, die laut Varoufakis “immens vom Rettungspaket des griechischen Staates profitiert haben” – und in Zukunft noch weiter profitieren werden.

Wir haben bei “Bild” nachgefragt, warum das Varoufakis-Zitat derart verfälscht wiedergegeben wird. Ein Sprecher antwortete uns:

Wir haben bei BILD nicht das vollständige Wortlautinterview mit Herrn Varoufakis veröffentlicht, sondern aus diesem insbesondere seine konkrete Antwort auf die Frage, ob wir (Deutsche) unser Geld wiederbekommen werden, in den Mittelpunkt des Beitrages gestellt.

Dabei wurde in der ursprünglichen Fassung des Artikels ein Zitat von Herrn Varoufakis nicht vollständig wiedergegeben. Er sprach nicht nur von deutschen Arbeitern und Mittelschichtlern, die “leider zahlen und zahlen und zahlen”, sondern von deutschen und griechischen. Wir haben dies inzwischen für unsere Leser transparent präzisiert.

Inzwischen befindet sich unter dem Bild.de-Artikel eine entsprechende “Anmerkung der Redaktion”. Die Überschrift lautet nun nicht mehr “‘Die Deutschen werden leider zahlen und zahlen und zahlen …'”, sondern “Deutsche Arbeiter werden ‘leider zahlen und zahlen und zahlen …'”. Und im Text steht jetzt:

Und heute?

Rechnet er knallhart ab und prophezeit: “Wenn Sie ein deutscher oder griechischer Arbeiter oder Mittelschichtler sind, werden Sie leider zahlen und zahlen und zahlen …”

Dass die “Bild”-Redaktion reagiert und transparent korrigiert, ist gut, dürfte aber herzlich wenig bringen. Zahlreiche Medien haben das falsche Varoufakis-Zitat längst abgeschrieben: n-tv.de, “Focus Online”, Merkur.de, das Mitglieder-Magazin der AfD, das Rechtsaußen-Verschwörungsblatt “Compact”. Und auch in den Sozialen Medien wurde der Bild.de-Artikel mit der falschen Überschrift kräftig rumgereicht, unter anderem vom Werteunion-Vorsitzenden Max Otte, von AfD-Politiker Stefan Wirtz und in der Facebook-Gruppe “Dr Hans-Georg Maaßen für Kanzler”.


Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

In unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” schreiben wir in einem Kapitel über die Feindbilder, die “Bild” seit Jahrzehnten kreiert und bedient – von den 68er-Studenten über die Wölfe bis zu den Geflüchteten. Und es geht auch um die Griechen und deren früheren Finanzminister Yanis Varoufakis. Hier ein Auszug:

“EURE neue griechische Regierung ist dreist, unverschämt und tritt auf wie eine Horde von ungehobelten und manierlosen Pennern. Dieses Pack repräsentiert Griechenland, weil die Mehrheit Eures Volkes diese Leute gewählt hat !” So beginnt ein Brief, der im März 2015 ohne Absender, aber ordentlich frankiert mit 62 Cent, im Briefkasten eines griechischen Restaurants in Düsseldorf landet:

In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die “Scheißdeutschen”, sondern macht Euch auf zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland

Und als letzten, fett gedruckten Satz: “Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!”

Als sie den Brief gelesen habe, sei sie geschockt und verängstigt gewesen, erzählt die Restaurantbetreiberin später “Spiegel Online”: Sie habe sich gefragt, was als Nächstes komme. Stehe bald jemand vor der Tür und bedrohe sie, wenn sie abends das Lokal verlasse?

In seinem Brief greift der anonyme Verfasser jene Vorwürfe auf, die von den “Bild”-Medien in den Wochen zuvor nahezu täglich wiederholt wurden. Am 26. Februar 2015 etwa druckt “Bild” das Wort “NEIN” – quer über die gesamte Breite der Seite 2 der Bundesausgabe.1 Darunter die Forderung oder vielmehr der Befehl: “Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen!” In einem Kommentar daneben schreibt Julian Reichelt, seinerzeit Chef von Bild.de, zu der Verlängerung der Finanzhilfen für Griechenland:

Was am Freitag im Deutschen Bundestag geschehen wird, mag man eigentlich keinem vernünftigen Menschen mehr erklären. Zusammengefasst: Wir überweisen weiter Milliarden nach Griechenland dafür, dass man uns ALLE bisher gebrochenen Versprechen (z. B. Kampf gegen Korruption und Steuerhinterziehung) NOCH MAL verspricht.

Wir kaufen Griechenland also im wahrsten Sinne des Wortes seine alten Reformlügen mit neuem Geld ab. Und das, obwohl inzwischen JEDER weiß, dass wir unser Geld niemals wiedersehen werden.

Sind wenigstens die griechischen Politiker, die uns ihr Versprechen geben, glaubwürdiger als ihre Vorgänger?

NEIN!

Dazu startet “Bild” eine “große Mitmach-Aktion”: Man solle die “NEIN”-Seite hochhalten, ein Selfie damit machen und an die Redaktion schicken. So könne und solle man zeigen, dass man “auch gegen weitere Milliarden-Hilfen für die Griechen” sei.

Solche Lesermobilisierungsaktionen setzt die “Bild”-Zeitung schon seit ihren frühen Jahren immer wieder ein, vor allem gegen ihre Gegner. “Durch Appelle an die Lesermeinung fordert die Redaktion politische Willensbekundungen ihrer Leser heraus, die – obwohl demokratisch verbrämt – bisweilen undemokratische Formen annehmen”, schreibt Peter Jordan 1970. So startet “Bild” etwa nach dem Mauerbau 1961 eine Leserbrief-Aktion gegen jene westdeutschen Theaterintendanten, die weiterhin Stücke des bekennenden Marxisten Bertolt Brecht spielten (“Millionen verfluchen diesen Mann”2). “Diese zur Volksabstimmung erhobene Aktion” sei “in wüste Beschimpfungen” ausgeartet, schreibt Jordan. “Bild” sei eben sehr bemüht gewesen, “die ohnehin bewegte deutsche Öffentlichkeit weiter aufzustacheln”.3

Um die bewegte deutsche Öffentlichkeit des Jahres 2015 aufzustacheln, beginnt “Bild” im Frühjahr damit, die Griechen – die währenddessen durch die Sparvorgaben massenhaft in die Armut getrieben werden – als “Raffke-Griechen” und “Griechen-Raffkes” zu bezeichnen. Damit wird der von “Bild” in den Jahren zuvor eifrig verwendete Begriff der “Pleite-Griechen” abgelöst, denn jetzt haben sie ja Geld: “unser Geld”! Die neu gewählte griechische Regierung nennt “Bild” “Radikalos-Regierung” oder “Griechos Radikalos”, aus Finanzminister Varoufakis machen sie wahlweise Finanzminister “Varoutricksis”, den “Krawall-Griechen” oder “Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider”. (Ein “Naked Bike” ist einfach ein Motorrad ohne Verkleidung, für “Bild” weckt es aber offenbar aufregend-düstere Assoziationen.) Der damalige Politik-Chef Béla Anda etwa schreibt in seinem “Politik-Briefng”:

Wie lederbejackte Rüpel-Rocker röhren Griechenlands Neo-Premier und sein Posterboy-Finanzminister seit ihrem mit platten Parolen erzielten Wahlsieg durch Brüssel. Ihr Gesetz ist die Straße. Hier sind sie (politisch) groß geworden. Hier ist ihre Hood. Deren Unterstützung wollen die Kawa-Naked-Biker (zumindest Varoufakis hat eine) nicht verlieren.

Vor allem auf Varoufakis, den neuen, linken Finanzminister, schießen sich die “Bild”-Medien ein. Sie engagieren beispielsweise eine Grafologin, die seine Handschrift untersucht und darin “Pathos und Geltungsbedürfnis” feststellt; die Schrift wirke “selbstgefällig” und gehe merkwürdigerweise im “Schlusszug wieder scharf nach links”, das wirke, “als würde er sich selbst wieder durchstreichen, als würde er unbewusst das zuerst Gesagte wieder zurücknehmen”.

Wenig später ist “Bild” maßgeblich an einer bizarren Mittelfinger-Diskussion beteiligt, die sich tagelang hinzieht und weltweit für verwundertes Kopfschütteln sorgt. Im Kern geht es um ein Video, in dem Varoufakis, wie “Bild” entrüstet schreibt, “uns den Mittelfinger” zeige. Tatsächlich muss man die Geste im Kontext sehen: Das Video ist mehrere Jahre alt, Varoufakis zu dieser Zeit noch gar kein Minister und die Geste zur Illustration eines hypothetischen Szenarios gedacht, in dem Varoufakis den deutschen Banken den Finger gezeigt hätte. Eine ebenso komplizierte wie belanglose Geschichte, die in den “Bild”-Medien auf die Nachricht reduziert wird, Varoufakis habe den Mittelfinger “gen Deutschland” gereckt:

Keine Krawatte, der Kragen seines Sakkos hochgestellt, Hände in den Hosentaschen: So zeigen die meisten Fotos Yanis Varoufakis. […] Mit einer drastischen Geste – dem gestreckten Mittelfinger – zeigte er in der Vergangenheit auf Deutschland!

Die Diffamierungskampagne – die bis heute immer mal wieder aufflammt – beschränkt sich aber nicht bloß auf die Politiker Griechenlands, sondern trifft immer wieder auch die Griechen als gesamtes Volk. Seit Beginn der “Pleite-Griechen”-Berichterstattung werden “Bild”-Attacken häufig so formuliert, dass sie sich auf alle Griechen beziehen: “So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”4 “Wer soll den Griechen noch glauben?” “Keine Gnade mit den Griechen!” Michalis Pantelouris, Journalist und Sohn eines Griechen, schreibt schon 2010:

Es wird das Bild gemalt von einer Nation, die in fauler Gier anstatt zu arbeiten lieber die EU ausgenommen hat und jetzt überversorgt und fett am Strand liegt, während in Deutschland hart gearbeitet wird, um ihnen das Geld hinterher zu werfen. Natürlich braucht man keinen Nobelpreis, um zu erkennen, dass es so nicht stimmt. Man braucht gerade mal ein Gehirn.

Aber auch: ein Mindestmaß an Informationen, um sich ein realistisches Bild machen zu können. Doch wie bei den Studenten der 68er, den Wölfen und anderen Feinden ersetzt “Bild” bei den Griechen Fakten durch Gefühle. In einer Untersuchung der Griechenland-Berichterstattung deutscher Medien kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung 2016 zu dem Ergebnis:

“Bild” berichtete in 81,6 Prozent der Artikel und damit am stärksten negativ über die griechische Regierung, setzte am intensivsten auf Negativismus, war im geringsten Umfang ausgleichend zwischen verschiedenen Positionen, setzte gezielt Akteure mit negativen Positionen gegenüber der Regierung Griechenlands als Zitatgeber ein und stimmte dann in Artikeln am stärksten mit diesen überein. Die Reformagenda wurde zudem bei der Boulevardzeitung “Bild” im geringsten Umfang thematisiert. Es wurde sich nur auf sehr wenige Reformziele konzentriert, wie z. B. die Einführung einer Großvermögenssteuer, die Reform des Rentensystems oder eine Mehrwertsteuerreform. 73 spezifische Reformen wurden hingegen komplett ausgelassen, soviel wie bei keinem anderen Medium.

Ende Februar 2015 ist die Berichterstattung auch im Bundestag ein Thema. Axel Schäfer, damals stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, hält die (von ihm durchgestrichene) “NEIN”-Seite aus der “Bild”-Zeitung zu Beginn seiner Rede hoch und sagt unter Applaus:

Wir sind hier sicherlich in einer Reihe von Punkten unterschiedlicher Auffassung. Das ist auch gut so, dass wir das diskutieren. Aber in einem Punkt sollten wir uns hier alle […] einig sein: Wir unterstützen keine Kampagnen gegen andere Länder. Wir unterstützen das nicht!

“Die ‘Bild’ spricht von den gierigen Griechen”, fügt er später in einem Interview hinzu, “aber wir beleidigen niemals ein Land. Wir gegen die – das gibt es nur im Fußball …”

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Das Bild, das “Bild” abgibt

Angesprochen auf den äußeren Schaden, der durch die Affäre um Ex-“Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt entstanden ist, sagt der neue “Bild”-Chef Johannes Boie im Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” (nur mit Abo lesbar):

Ich denke, dass der Schaden nach außen vorhanden ist, aber an manchen Stellen auch gezielt größer gemacht wird, als er tatsächlich ist.

Eine grundsätzlichere Frage wäre: Was ist überhaupt noch an (positivem) “Bild”-Image vorhanden, das – auf welche Weise auch immer – beschädigt werden kann? Es gibt mehrere Studien und Umfragen, die darauf Antworten geben.

Das Reuters Institute for the Study of Journalism der Universität Oxford zum Beispiel hat in seinem “Digital News Report 2021” auch für Deutschland “Brand trust scores” erfragt, also: Wie sehr vertrauen die Befragten dem jeweiligen Medium? Das Ergebnis:

“Bild” landet unter den abgefragten Medien mit weitem Abstand auf dem letzten Platz. 60 Prozent der befragten Personen sagen, dass sie “Bild” nicht vertrauen. (Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Universität Mainz. “Wie vertrauenswürdig finden Sie diese Angebote?”, fragten die Forscherinnen und Forscher 2020, wobei sie dabei nicht konkrete Medienmarken nannten, sondern Gattungen. Darunter auch “Boulevard-Zeitungen”, deren wichtigster Vertreter nach wie vor “Bild” ist. Sie landeten ganz hinten (7 Prozent “sehr/eher vertrauenswürdig”, 56 Prozent “überhaupt/eher nicht vertrauenswürdig”).)

Einen etwas anderes Fokus haben die Initiative Reset. und die Agentur pollytix in ihrer Studie zur Debattenkultur (PDF) gesetzt. Sie fragten im Juni 2021 in einer bundesweiten repräsentativen Umfrage:

Glauben Sie, die folgenden haben einen eher positiven oder eher negativen Einfluss auf die Art und Weise, wie Diskussionen in Deutschland geführt werden?

Das Ergebnis:

Auch hier landet “Bild” auf dem letzten Platz, mit dem niedrigsten Wert bei “eher positiv” und dem höchsten bei “eher negativ”.

Der “GemeinwohlAtlas” der Leipziger Graduate School of Management und der Universität St. Gallen will den “gesellschaftlichen Nutzen” von deutschen sowie internationalen Unternehmen, Marken, Organisationen und Institutionen untersuchen und abbilden:

Im Jahr 2019 nahmen insgesamt 11.769 Personen im Alter zwischen 18 und 93 Jahren an der Befragung teil.

Kannten die Befragten mindestens eine der aufgelisteten Organisationen, wurden sie aufgefordert, für einzelne, randomisiert ausgewählte Organisationen den Beitrag zum Gemeinwohl in den vier Dimensionen Lebensqualität, Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt und Moral zu bewerten.

Hier landet “Bild” nicht auf dem letzten, sondern auf dem drittletzten Platz – Rang 133 von 135. Schlechter bewertet wurden nur die FIFA und Marlboro:

Und wie sieht die “Bild”-Belegschaft das selbst? Nach dem Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt im Frühjahr hat der Springer-Verlag eine Befragung unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.” durchgeführt. Sie konnten 51 vorgegebene Aussagen bewerten, auf einer Skala von 0 bis 10, von wenig bis hoher Zustimmung.

Der “Spiegel” berichtete Anfang Juni über die Ergebnisse (nur mit Abo lesbar). Und über die interne Präsentation durch “Bild”-Geschäftsführerin Carolin Hulshoff Pol:

Sie tritt an diesem Montagnachmittag demütig auf. Bei einem Wert, sagt sie, habe sie sich “echt erschrocken”. Er betrifft den Blick, den die Mitarbeiter auf die Außenwirkung ihrer Blätter haben, auf den Wert für die demokratische Öffentlichkeit. Abgefragt worden war: Werden “Bild”, “BamS” und “BZ” ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht? Die Belegschaft vergab dafür den Wert 5,5. “Das darf nicht unser Anspruch sein”, sagt Hulshoff Pol.

Das “Bild”-Image scheint auch aus Sicht der dort arbeitenden Menschen so ramponiert zu sein, dass nicht wenige nur ungern erzählen, wo sie arbeiten:

Und noch eine Zahl: 225 Befragte, also ein Viertel, erzählen nach außen ungern, dass sie bei “Bild” arbeiten. Eine Redaktion, die sich zumindest in Teilen für den eigenen Arbeitgeber schämt.

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Bild.de zeigt das blutüberströmte Gesicht eines getöteten 9-Jährigen

Inzwischen haben sie das Foto an der entsprechenden Stelle verpixelt. Aber am Samstag war auf der Startseite von Bild.de, an oberster Stelle, das blutüberströmte Gesicht eines zuvor getöteten 9-Jährigen zu sehen:

Screenshot Bild.de - H. tötete im Blutrausch zwei Menschen - Interview mit einem Kindermörder - Der Herne-Killer spricht zum ersten Mal über seine schickierenden Verbrechen

Alle Unkenntlichmachungen in diesem Screenshot stammen von uns: beim Namen des verurteilten Täters, bei dessen Alter, bei dessen Gesicht, bei dessen blutverschmierter Hand. Und auch die Verpixelung am linken Bildrand, wo sonst das Gesicht eines der Opfer, des bereits erwähnten 9-jährigen Kindes, zu erkennen wäre, ist von uns. Bei Bild.de war all das zu sehen. Nach Beschwerden hat die Redaktion zumindest das Gesicht des getöteten Kindes verpixelt.

Im Artikel schreibt “Bild”-Reporter Frank Schneider zu diesem Foto:

Die Morde von Herne schockierten auch deshalb, weil [H.] während und nach seinen Bluttaten Sprachnachrichten postete, sich in Chaträumen mit Fotos brüstete, die ihn an den Tatorten zeigten. Die blutgetränkten Hände, sein diabolisches Grinsen – ein einziger Albtraum.

Das, was der Mann im März 2017 noch selbst erledigen musste, übernahmen am Samstag Schneider und dessen “Bild”-Redaktion: Sie verbreiteten diesen “einzigen Albtraum”, sie zeigten einen Mörder in der von ihm gewählten triumphierenden Pose, sie halfen ihm dabei, sich viereinhalb Jahre später noch einmal mit der Tat zu brüsten.

Auch der Text bietet H. die große Bühne. “Aber wie begegnet man einem Menschen, den wohl kein Mensch je wieder sehen möchte?”, fragt sich “Bild”-Autor Schneider zu Beginn seines Artikels. Die Antwort der “Bild”-Medien lautet offenbar: Indem man diesem Menschen und seinen Gedanken, Rechfertigungen, abstrusen Aussagen möglichst viel Sichtbarkeit verschafft.

Der Doppelmörder bedauert sich selbst:

… schreibt Schneider zum Beispiel. Und lässt den Doppelmörder dann in einem Zitat sich selbst bedauern.

[H.] versucht zu dozieren, seine Sätze elegant zu formulieren – und bemerkt nicht, was für einen kranken Unsinn er redet.

… schreibt Schneider. Und zitiert H. im Anschluss mit krankem Unsinn.

Dann gibt er seinem Opfer eine Mitschuld:

… schreibt Schneider. Und lässt den Täter in einem Zitat dem 9-jährigen Opfer eine Mitschuld geben.

An einer anderen Stelle des langen Artikels darf H. damit angeben, dass er als Kampfsportler viele Messerstriche in einer Minute schaffe. “Offenbar registriert [H.] meine Fassungslosigkeit”, schreibt Frank Schneider dazu, was ihn aber nicht davon abhält, diese unsägliche Prahlerei zu verbreiten. Und so geht es bis zum Schluss weiter:

Die Gesprächszeit geht zu Ende, eine Botschaft will mir der Kindermörder noch mit auf den Weg geben:

… und natürlich verbreiten Schneider, Bild.de und Bild am Sonntag, wo der Artikel ebenfalls erschienen ist, auch noch diese letzte Botschaft.

Eigentlich, so scheint es, sind H. und dessen Opfer aber nur Mittel zum Zweck – für Werbung in eigener “Bild”-Sache. Über weite Strecken stehen gar nicht der “Herne-Killer” oder die zwei von ihm getöteten Menschen im Mittelpunkt, sondern der “Bild”-Reporter:

Es ist ein beklemmendes Gefühl, als ich entlang der hohen Mauer mit Überwachungskameras und Natodraht zum Gefängnis-Eingang gehe. Ein Kindermörder hat mich zum Gespräch gebeten.

… heißt es ganz am Anfang des Textes. Und weiter:

Gleich treffe ich also den Doppelmörder von Herne.

Ich war als Reporter dabei, als SEK-Polizisten den Killer tagelang im Ruhrgebiet jagten. Ich traf die Mütter der Opfer – und die fassungslose Mutter des Täters.

Ich betrete den modernen Gefängnis-Komplex durch eine Panzerglas-Tür, dann muss ich alles abgeben, nur Stift und Schreibblock darf ich behalten.

In einem Info-Kasten etwas weiter hinten im Artikel gibt es die Auflösung – es handelt sich um Reklame für den “Bild”-Fernsehsender:

Sehen Sie die Doku “Mein größter Fall”: “Die Bestie von Herne” am […] bei BILD im TV

Mit Dank an die Hinweisgeber!

Nachtrag, 28. Oktober: In der “Süddeutschen Zeitung” ist heute ein Interview mit dem neuen “Bild”-Chefredakteur Johannes Boie erschienen (online nur mit Abo lesbar). Darin geht es unter anderem auch um die Kritik, die wir in diesem Beitrag geäußert haben (auch wenn das BILDblog nicht explizit erwähnt wird). Auf die Frage …

In der Kritik steht Bild auch immer wieder wegen sensationslüsterner und grenzwertiger Berichterstattung, Rügen des Presserats werden nicht veröffentlicht. Erst diese Woche zeigte Bild das unverpixelte Bild eines ermordeten Neunjährigen. Bleibt das alles so?

… antwortet Boie:

Nein, das war ein schlimmer Fehler. Ich habe am selben Tag intern neue Regeln eingeführt, die die Berichterstattung bei schweren Kriminalfällen und Minderjährigen betrifft, unter anderem ein Sechs-Augen-Prinzip und eine technische Änderung in der Fotodatenbank. Der Fall zeigt allerdings zu einem kleinen bisschen auch, wie wir kritisiert werden: im Netz verbreiten unsere Kritiker nun die Grafik von Bild, auf der sie eine große Fläche gekennzeichnet haben. Da denkt jeder: Bild hat das Mordopfer groß und deutlich erkennbar gezeigt. Tatsächlich ging es um eine winzige schemenhafte Fläche im Hintergrund, die mit bloßem Auge kaum zu sehen war. Trotzdem war es ein schwerer Fehler, deshalb die klaren Maßnahmen.

Das klingt erstmal nicht schlecht.

Zwei Anmerkungen hätten wir allerdings zu Johannes Boies Aussage: Auch sein Vorgänger Julian Reichelt versprach in der Vergangenheit, “neue Kontrollmechanismen dazwischenschalten” zu wollen, nachdem “Bild” kräftig danebengelangt hatte. Man muss aus unserer Sicht also erstmal schauen, inwieweit Boies Maßnahmen wirklich etwas bringen. Und zu Boies Vorwurf der unfairen Kritik: Sowohl hier im Beitrag als auch bei Twitter schreiben wir, dass die von uns verpixelte Fläche nicht nur das 9-jährige Mordopfer verdeckt (dazu schreiben wir extra: “am linken Bildrand”), sondern auch das Gesicht des Täters und dessen blutverschmierte Hand.

Wer nichts zu verbergen hat

Es dürfte sich herumgesprochen haben: Julian Reichelt ist nicht mehr “Bild”-Chefredakteur. Und es dürfte sich auch herumgesprochen haben, warum: “Nach neuen Erkenntnissen” zum Machtmissbrauch durch Reichelt hat der Springer-Verlag ihn von seinen Aufgaben entbunden:

Die Axel Springer SE hat BILD-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden. Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.

… steht in einer Pressemitteilung, die Springer gestern veröffentlicht hat. Es geht dabei um Affären, die Reichelt mit Mitarbeiterinnen hatte, darunter deutlich jüngere Berufsanfängerinnen. Eine Affäre soll es auch nach Abschluss des im Frühjahr durchgeführten Compliance-Verfahrens gegeben haben. Das ist offenbar die “neue Erkenntnis”, die zu Reichelts Aus geführt hat.

Die “Bild”-Redaktion wirbt mit Slogans wie “Wir zeigen, was ist” und “Wir zeigen die Wahrheit” für ihre eigene Arbeit. Wer sich bei seiner täglichen Informationsbeschaffung auf diese Versprechen verlässt und nur auf “Bild” und/oder Bild.de zurückgreift, hat von den Gründen für Julian Reichelts Ausscheiden keinen blassen Schimmer. Auch mehr als 24 Stunden nach Verkündung des Reichelt-Aus findet man weder in “Bild” noch bei Bild.de eine genaue Angabe dazu. Lediglich zwei wortgleiche Artikel sind erschienen, gestern Abend bei Bild.de und heute in der gedruckten “Bild”:

Ausriss Bild-Zeitung - Wechsel in der Bild-Chefredaktion - Axel Springer hat Julian Reichelt als Folge von Presserecherchen von seinen Aufgaben als Bild-Chefredakteur entbunden. Neuer Vorsitzender der Bild-Chefredaktion ist ab sofort Johannes Boie, bislang Chefredakteur der Welt am Sonntag. Axel Springer Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner Julian Reichelt hat Bild journalistisch hervorragend entwickelt und mit Bild live die Marke zukunftsfähig gemacht. Mit Johannes Boie haben wir einen erstklassigen Nachfolger. Er hat unter Beweis gestellt, dass er journalistische Exzellenz mit modernem Führungsverhalten verbindet. Alexandra Würzbach bleibt Chefredakteurin Bild am Sonntag. Claus Strunz ist als Chefredakteur für das Bewegtbildangebot von BILD verantwortlich.

Das ist alles. Es war sicherlich nicht damit zu rechnen, dass die “Bild”-Redaktion heute im Blatt eine Doppelseite mit einer gnadenlosen Abrechnung in eigener Sache bringt. Aber wirklich nicht mehr als ein vages “als Folge von Presserecherchen”?

Es gibt einen ulkig gemeinten “Bild”-Werbeclip, in dem Julian Reichelt eine Art Stromberg spielt. Er sagt darin in einer Redaktionskonferenz: “Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.” Großes Gelächter in der Runde. Besser wäre vielleicht: Wer nichts zu verbergen hat, sollte die eigene Leserschaft nicht dumm halten.

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“Bild” ist Aktuelle-Äpfel-alte-Birnen-Europameister

“Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein”, lautet einer der fünf “Grundsätze und Werte” des Axel-Springer-Konzerns. Und auch die “Bild”-Redaktion vertritt in ihrer Berichterstattung überwiegend die Ansicht: Soll der Markt es regeln. Aber wenn es ums Autofahren geht oder genauer: um die Spritpreise, ja, dann

Screenshot Bild.de - Zwei-Euro-Marke teilweise schon geknackt - Wann kommt die Spritpreis-Bremse, Herr Scheuer? Wie der Verkehrsminister sein Versprechen halten will

Zum Zapfsäulen-Aktivismus der “Bild”-Redaktion passt auch diese exklusive “Bild”-Meldung von gestern:

Screenshot Bild.de - Auf diesen Titel hätten wir gerne verzichtet - Deutschland ist Spritpreis-Europameister

Keine Frage: Die Preise für Benzin und Diesel sind in letzter Zeit stark gestiegen. Das stellt viele Menschen, die aufs Autofahren angewiesen sind, vor größere finanzielle Herausforderungen. Aber dass die Spritpreise in Deutschland die höchsten in Europa sind, ist schlicht falsch.

Bei Bild.de steht dazu:

Die Preise an deutschen Tankstellen ziehen weiter an: Diesel und Super E10 erreichen 9-Jahre-Hochs, teilte der ADAC am Mittwoch mit. Und damit gewinnt Deutschland das, was Hansis Jungs zuletzt 1996 packten: Wir sind (Spritpreis-)Europameister! (…)

BILD macht den Check, wie es im europäischen Vergleich an den Zapfsäulen anderer Länder preislich derzeit aussieht.

Die erschütternde Bilanz vorab: Deutschland ist Spitzenreiter! Bei teuerstem Super UND Diesel. Dicht gefolgt von Norwegen.

Die “Bild”-Redaktion präsentiert in ihrem Artikel eine Tabelle mit den Super- und Dieselpreisen aus 15 verschiedenen Ländern: Deutschland, Norwegen, Italien, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Griechenland, Spanien, die Schweiz, Tschechien, Kroatien, Österreich, Polen, die Türkei und Bulgarien. Deutschland steht mit den höchsten Preisen ganz oben. Bild.de beruft sich dabei auf die Seite benzinpreis.de. Die schreibt über sich selbst:

benzinpreis.de ist ein Projekt, in dem Benzin- und Dieselpreise weltweit von Benutzern der Seite eingegeben und vom System statistisch aufbereitet werden.

Die Verlässlichkeit der Zahlen von benzinpreis.de hängt also davon ab, wie oft und wie genau die Nutzer dort Preise eintragen. Und das findet nicht so irre häufig statt: Der aktuellste Eintrag für Norwegen beispielsweise stammt sowohl bei Super als auch bei Diesel vom 20. April 2020. Aus den Niederlanden kam die letzte Super-Meldung am 3. August 2020 rein. Für Italien stammt der neueste Eintrag immerhin vom 15. September 2021 – ist damit aber auch schon einen Monat alt. Die Preise aus Kroatien stammen vom 22. Juni 2020. Die aus der Türkei vom 20. April 2020. Und so weiter. Die Preise für Deutschland stammen laut benzinpreis.de hingegen von der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe des Bundeskartellamts.

Die “Bild”-Redaktion vergleicht also aktuelle Zahlen aus Deutschland mit veralteten aus dem Ausland, teilweise von vor eineinhalb Jahren.

Schaut man sich hingegen aktuellere Zahlen an, beispielsweise auf der Seite GlobalPetrolPrices.com, die bei der Preisermittlung laut eigener Angabe auf mehrere voneinander unabhängige Quellen zurückgreift (PDF), sieht man, dass Deutschland bei weitem nicht “Spritpreis-Europameister” ist: Beim Superbenzin lagen am 11. Oktober die Niederlande, Norwegen, Dänemark, Griechenland und Italien mit höheren Preisen vor Deutschland. Nimmt man noch weitere europäische Staaten in den Vergleich mit auf, die, warum auch immer, in der “Bild”-Liste nicht auftauchen, liegen auch noch Schweden, Finnland, Island, Portugal und Monaco vor Deutschland. Beim Diesel waren die Preise in Schweden, Norwegen, Großbritannien, Island, Dänemark, Belgien, Monaco, Finnland, Kroatien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz höher als in Deutschland.

Mit Dank an Marian und Theo für die Hinweise!

Nachtrag, 17. Oktober: Noch ein nachgereichter Gedanke: Was in dem (falschen) “Bild”-Ranking überhaupt keine Rolle spielt, ist die unterschiedliche Kaufkraft in den verschiedenen europäischen Ländern.

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Empörung über Aussagen, die “Bild” aus dem Zusammenhang reißt, ist am billigsten

In den vergangenen Tagen konnte man gut beobachten, wie die “Bild”-Redaktion manipuliert, um an eine Geschichte zu kommen, und wie sehr sie Aussagen aus dem Zusammenhang reißt und verdreht, um skandalisieren zu können.

Es sei ein “DREISTER SPARTIPP VON KATARINA BARLEY”, empörte sich “Bild” am Dienstag. Die Aussage der SPD-Politikerin in der Talkrunde “Hart aber fair” scheine “mehr als weltfremd”, es handele sich um einen “Arroganz-Anfall”:

Screenshot Bild.de - Hammerpreise fürs Heizen - Arroganz-Anfall von SPD-Politikerin Katarina Barley - Kilowattstunde, die ich nicht verbrauche, ist am billigsten

In dem Artikel schreibt das “Bild”-Trio Peter Tiede, Sebastian Ahlefeld und Lou Siebert:

Mit einer dreisten Äußerung überraschte SPD-Politikerin und EU-Vizepräsidentin Katarina Barley (52) bei “Hart aber fair” (ARD). Am Montagabend diskutierte sie mit zum Thema Inflation und Energiepreise.

Tanken, Heizen und Lebensmittel sind deutlich teurer geworden – das stieß auch einem Zuschauer übel auf. Barley hielt ihm einen dreisten Tipp entgegen: “Die Kilowattstunde, die ich nicht verbrauche, ist am billigsten.”

Was die Politikerin damit offenbar sagen wollte: Wir sind selbst schuld, wenn wir zu hohe Rechnungen bekommen! Einfach mal die Heizung abdrehen und Licht ausschalten, um unter dem Strich angeblich noch Geld zu sparen?

Oder zusammengefasst in der Artikel-Überschrift:

Screenshot Bild.de - Dreister Spartipp von Katarina Barley - Strom zu teuer? Einfach weniger Energie verbrauchen

So viel schon mal jetzt: Katarina Barley hat bei “Hart aber fair” nicht derartige Tipps gegeben.

Aber erstmal weiter mit der großen Empörung. Die “Bild”-Redaktion konnte auch einen Politiker einspannen:

Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei (48) zu BILD: “Die Menschen haben begründete Sorge vor steigenden Energiepreisen. Wer diese Sorgen mit einem Aufruf zu mehr Sparsamkeit beantwortet, behandelt die Menschen abfällig und verächtlich. Frau Barley scheint zu glauben, dass die Menschen aus dem Fenster heizen und noch beträchtliche Einsparmöglichkeiten hätten. Wer das annimmt, hat die Bodenhaftung verloren.”

Gestern legte “Bild” nach:

Ausriss Bild-Zeitung - So verhöhnt die Politik den einfachen Bürger

Nikolaus Harbusch, Hans-Jörg Vehlewald und Peter Tiede schrieben dazu:

Deutschland stöhnt unter dramatisch steigenden Strom-, Heiz- und Spritkosten! Rentner, Geringverdiener und Pendler wissen nicht, wie sie über den Winter oder zur Arbeit kommen sollen!

Und was sagt die einstige Arbeiterpartei SPD dazu?

Spitzengenossin Katarina Barley (52) glänzt im WDR-Talk “Hart aber fair” mit Luxus-Ratschlägen: “Die Kilowattstunde, die am billigsten ist, ist die, die man nicht verbraucht.” Wer sich “neue Fenster” einbaut oder “gedämmt hat”, der komme “voll in den Genuss” staatlicher Förderung und könne jubeln: “Hey, jede Stunde, die jetzt teurer ist, habe ich mehr gespart” (…)

Für die Bürger, die sich vor dem teuersten Winter seit Jahrzehnten sorgen, müssen solche Sprüche wie Hohn klingen. Sollen sie sich nach der Corona-Krise noch verschulden für Solartechnik, Heizungssanierung oder Wärmedämmung?

Auch wenn die bis hierher erschienenen Artikel zu dem Thema nicht gerade meinungsschwach waren, veröffentlichte “Bild” zusätzlich auch noch einen Kommentar zu Barleys “Hart-aber-fair”-Auftritt:

Screenshot Bild.de - Der blanke Hohn

Julius Böhm schrieb über die “hochnäsigen Sprüche” der SPD-Politikerin:

Geht’s noch abgehobener? (…)

“Die Kilowattstunde, die am billigsten ist, ist die, die man nicht verbraucht”, empfahl Katarina Barley. Ihre Spar-Tipps: neue Fenster, Wärmedämmung.

Natürlich sparen Modernisierungs-Maßnahmen langfristig Geld. Doch für Millionen Normalverdiener sind solche Tipps der blanke Hohn. Und Rentner kriegen für solche Investitionen ohnehin keinen Kredit von der Bank.

Für alle, die am Monatsende jeden Euro umdrehen müssen und kein Geld für Dämmung, eine neue Heizung oder stromsparende Elektrogeräte haben, heißt Barleys Spar-Tipp übersetzt: Dann heizt weniger und macht das Licht aus!

Und auch bei “Bild TV” regen sie sich über Katarina Barley auf. Moderator Kai Weise sagt mit Blick auf die derzeit steigenden Energiepreise:

Es gibt immer mehr, die sagen: “Ist doch gut so. Ist doch genau das, was wir wollten.” Und auch die SPD-Politikerin, frühere Justizministerin Katarina Barley, heute in Europa unterwegs, hat diesen Satz bei den Kollegen von “Hart aber fair”, bei Frank Plasberg gesagt.

Es folgt eine Szene aus der “Hart-aber-fair”-Sendung. Weise im Anschluss:

Also das ist die Haltung von vielen Politikern aktuell. Die sagen: “Genau das wollten wir doch. Und jetzt, wenn’s euer Problem ist, dass ihr es euch nicht leisten könnt, dann verbraucht doch einfach weniger.”

“Bild”-Parlamentsbüro-Leiter Ralf Schuler, der ebenfalls im “Bild-TV”-Studio steht, ergänzt:

Absolut. Und wenn’s kein Brot gibt, kann man Kuchen essen. Also, die Sozialdemokratie an der Seite zu haben, da hat man aber echt ein Pfund. Ich mein’, da spricht wirklich eine Blinde von der Farbe.

Soweit die große “Bild”-Aufregung. Zwei Dinge haben die Empörten gemeinsam: Sie sind ganz doll aufgebracht. Und sie haben sich die “Hart-aber-fair”-Folge, wenn überhaupt, nicht besonders aufmerksam angeschaut (oder noch schlimmer: Sie haben sie sich aufmerksam angeschaut und behaupten bewusst Falsches).

Für die Einordnung von Barleys Aussage zur Kilowattstunde, die am billigsten ist, ist der Kontext wichtig, den man in der “Bild”-Berichterstattung an keiner Stelle korrekt wiedergegeben findet: “Hart-aber-fair”-“Zuschaueranwältin” Brigitte Büscher liest gerade eine Reaktion eines Zuschauers vor (ab Minute 50:07):

Screenshot Hart aber fair

Das ist noch eine sehr spannende Geschichte von Joop van Zee. Er hat uns nämlich geschrieben: Er hat versucht, alles richtig zu machen. Er hat mehrere Beispiel genannt. Er hat gesagt, er hat ein Haus, da hat er eine neue Gasheizung eingebaut. Dann hat er mehrere hundert Euro sparen können und, bums, jetzt gehen die Preise hoch, und kommt für sich dann zu diesem Schluss. Er sagt: “Kostenexplosionen mit Einsparungen zu begegnen, ist so das dämlichste Argument, was ich kenne.”

Moderator Frank Plasberg übernimmt:

Haben Sie das eigentlich im Auge, Frau Barley oder Herr Ramsauer oder auch Frau Neubaur als aktive Politiker, dass man tatsächlich, wenn Menschen das begriffen haben und auch in die Energiewende wirklich investiert haben, jetzt gucken und sagen: “Schwupp, ist weg durch gestiegene Preise.” Was macht das mit der Bereitschaft für andere, denen dann auch zu folgen?

Erst antwortet CSU-Politiker Peter Ramsauer:

Es hätte deswegen auch “Schwupp” gemacht, ganz genauso hätte es “Schwupp” gemacht. (…) Deswegen, weil es “Schwupp” gemacht hat, kann es ja im Nachhinein nicht unbedingt falsch sein, dass zum Beispiel der Umstieg von alten Ölheizungen auf moderne Wärmepumpen-Anlagen massiv gefördert wird.

Anschließend rechnet der Finanzjournalist Hermann-Josef Tenhagen vor:

Ich hätte 1500 Euro bezahlen müssen, habe eine Energiesparmaßnahme gemacht, jetzt zahle ich nur 1000. Jetzt bezahle ich [durch die Preissteigerrungen] künftig vielleicht 1200. Wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich bei 1800 gewesen. Das ist eine Milchmädchenrechnung, wenn man sagt: “Das rechnet sich nicht.” Natürlich rechnet sich das.

Und dann klinkt sich Katarina Barley ein:

Ja, und man muss ja auch sagen: Die Kilowattstunde, die am billigsten ist, ist die, die man nicht verbraucht. Also wenn man zum Beispiel sich neue Fenster hat einbauen lassen. Oder gedämmt hat. Also …

Ramsauer grätscht rein:

Wird auch gefördert.

Wieder Barley:

… wird alles gefördert, genau. Also weniger verbraucht, dann kommt man voll in den Genuss, dann kann man sogar sagen: “Hey, jede Stunde, die jetzt teuerer ist, habe ich mehr gespart.” Klingt jetzt ein bisschen zynisch, ist nicht so gemeint. Aber Investitionen in Energieeinsparen, die sind immer richtig.

Katarina Barley reagiert also auf einen ganz konkreten Fall, in dem ein Mann sagt, dass seine bereits getätigten Energiesparmaßnahmen nichts brächten. Dem entgegenet Barley, dass es sehr wohl etwas gebracht habe, schließlich habe er dadurch Kilowattstunden eingespart, und die kosten nichts und sind dadurch am billigsten. Diese simple Erkenntnis ist eigentlich auch schon alles. Die SPD-Politikerin sagt nicht, dass all jene, denen das Heizen nun zu teuer ist, künftig einfach die Heizung runterdrehen oder groß investieren sollen (sie spricht ja offensichtlich von bereits erfolgten Energiesparmaßnahmen: “… neue Fenster hat einbauen lassen. Oder gedämmt hat.”). “Bild” gibt sie falsch wieder – sowohl im größeren Zusammenhang als auch im Kleinen bei einzelnen wörtlichen Zitaten.

Es gibt aber solche Tipps, die “Bild” Katarina Barley unterzuschieben versucht und die der Redaktion zufolge “weltfremd” und “DREIST” sind, “abgehoben” und “der blanke Hohn” für “Millionen Normalverdiener” – bei “Bild”. Am Dienstag, also am selben Tag wie der “Arroganz-Anfall”-Artikel, veröffentlichte Bild.de diesen Beitrag:

Screenshot Bild.de - Kälte-Knall schon im Oktober - So senken Sie ganz einfach Ihre Heizkosten

Darin steht:

Der Winter kommt – und die Energiekosten explodieren. Stefan Materne (44), Referent Versorgungstechnik von der Energieberatung des Verbraucherzentralen-Bundesverbandes gibt Tipps, wie man beim Heizen Geld sparen kann.

“Zu den größten Fehlern zählen zu hohe Temperaturen in den Innenräumen. Bei 24 Grad im Raum anstatt 20 Grad kommt es zu einem Mehrverbrauch von fast 25 Prozent Heizenergie”, erklärt der Experte.

Also: weniger heizen. Und:

Ein Problem gerade in älteren Häusern: schlechte Dämmung. “Dicke Vorhänge und Zugluftstopper vor Fenstern und Türen können den Kaltlufteinfall zwar nicht verhindern, aber mindern”, sagt Versorgungstechniker Materne. “Am besten hilft jedoch eine intakte Dichtung bei Fenster und Türen. Sind die Bauteile zu alt, sollte über einen Austausch nachgedacht werden. Dafür gibt es bei der KfW-Förderbank umfangreiche Förderungen.”

Also: kräftig investieren.

“Bild”-Poltiktchef Jan Schäfer spricht in diesem ganzen Zusammenhang von einer “großen Heuchelei, die wir da sehen”. Er meint damit allerdings nicht die Berichterstattung seiner eigenen Redaktion.

Mit Dank an Jonas L. für den Hinweis!

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Falscher “HEIZ-KOSTEN”-“WINTER-WAHNSINN” auf der Titelseite

Momentan wird viel über die steigenden Energiepreise gesprochen und berichtet. Das Heizen könnte in diesem Winter deutlich teurer werden als im vergangenen. Und dann kam gestern die “Bild”-Redaktion mit dieser Hammerzahl auf der Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Heiz-Kosten bis zu 650 Euro rauf! Was diesen Winter alles teurer wird und wie Sie trotzdem sparen können

Laut Bild.de herrscht bald der “WINTER-WAHNSINN”:

Screenshot Bild.de - Winter-Wahnsinn - Heiz-Kosten bis zu 650 Euro rauf

Nur leider stimmt das so nicht. Die Kostensteigerung von 650 Euro – oder genauer: 652 Euro – bezieht sich nicht auf die “HEIZ-KOSTEN” eines Musterhaushalts mit drei Personen, sondern auf dessen gesamte Energiekosten. Da gehören die Heizkosten dazu, aber nicht nur, sondern zum Beispiel auch die Kosten fürs Benzin für das Familienauto. Die “Bild”-Autoren Albert Link, Julian Röpcke und Hans-Jörg Vehlewald schreiben das selbst in ihrem Artikel:

Folge für die Verbraucher: Ein Durchschnittshaushalt zahlt (Preisstand August) in diesem Jahr 4063 Euro für Energie (Heizung, Strom, Sprit). 2020 waren es 3411 Euro. Mehrkosten: 652 Euro! Ein Anstieg um satte 19 Prozent, so die Tarifwächter von Verivox!

Auch in der Pressemitteilung des Unternehmens Verivox von Anfang September, auf die sich die “Bild”-Autoren beziehen, wird klar, dass es sich bei der Steigerung um 652 Euro um die allgemeinen Energiekosten handelt:

Die Energiekosten für einen Musterhaushalt lagen im August 2021 bei 4.063 Euro pro Jahr. Im August 2020 kostete die gleiche Menge Energie noch 3.411 Euro. Damit sind die Ausgaben für Energie innerhalb von zwölf Monaten um 19,1 Prozent gestiegen. Die Haushaltskasse eines Drei-Personen-Musterhaushalts wird mit 652 Euro zusätzlich belastet.

Es sind die zwei kraftvollsten Mittel, die der “Bild”-Redaktion zur Verfügung stehen, gesehen von Millionen Menschen: Ein Aufmacher auf der Titelseite der gedruckten “Bild”, eine Top-Story auf der Startseite von Bild.de. Da wäre es doch toll, wenn das, was dort zu lesen ist, auch stimmt.

Mit Dank an Jens für den Hinweis!

Nachtrag, 17:48 Uhr: Die “Bild”-Redaktion hat beim Onlineartikel die Überschrift geändert. Sie lautet nun:

Energie-Kosten bis zu 650 Euro rauf!

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“Aber Halt!”

Kann das echt alles “Zufall” sein?

… fragte “Bild”-Redakteur Julian Röpcke vor einem Monat und meinte damit ein kurzes Video des öffentlich-rechtlichen Senders rbb zum Thema Fahrradfahren in Berlin. Röpcke schrieb dazu: “Eine typische Straßenumfrage mit zufällig ausgewählten Protagonisten, so scheint es …”. Im rbb-Clip waren nämlich auch zwei Personen zu sehen, die sich zu ihren Erfahrungen im Berliner Straßenverkehr äußerten. Einer davon: Georg Kössler, der zum damaligen Zeitpunkt für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus saß, vom rbb aber nicht als Grünen-Politiker gekennzeichnet, sondern als ganz normaler Passant präsentiert wurde. Unter anderem lobte Kössler neu entstandene Pop-up-Radwege in der Stadt, die zum Programm der Grünen gehören. Oder wie Röpcke schrieb:

Ein Radler, der den Grünen in Berlin aus der Seele spricht, so scheint es, und ihre begonnene Verkehrswende in der Stadt als Lichtblick aus der Misere sieht.

Aber Halt! Nutzern im sozialen Netzwerk Twitter fällt auf, dass der Mann kein Unbekannter ist.

Der rbb löschte das Video und bat um Entschuldigung.

Am vergangenen Freitag berichteten “Bild” und Bild.de über ein Foto der neuen SPD-Bundestagsfraktion:

Ausriss Bild-Zeitung - Nach SPD-Gruppen-Foto ohne Mundschutz - Warum dürfen sich Politiker über die Maskenpflicht hinwegsetzen Schüler aber nicht?

Dazu befragte die “Bild”-Redaktion auch eine Schülerin und zwei Schüler. Alle drei finden das Verhalten der SPD-Politikerinnen und -Politiker ziemlich daneben. So sagt Adrian Klant, dass das SPD-Foto “der reine Hohn für Lehrer und Schüler” sei. Jan-Luca Schmid fragt: “Wenn sich SPD-Politiker im Bundestag nicht an Hygiene-Regeln halten müssen, warum sollten es dann Kinder und Jugendliche tun?” Und zu Isabell Biersack schreibt “Bild”: “Über das SPD-Fotoshooting schüttelt sie den Kopf.”

Bei Adrian Klant erwähnt die “Bild”-Redaktion, dass er “Bundesvorsitzender der Schüler Union” ist, ohne weiter zu erklären, was die Schüler Union genau ist. Man erfährt nicht, dass es sich bei ihr nicht einfach um irgendeine Schülerorganisation handelt, sondern um eine CDU- und CSU-nahe. Man muss beim Begriff “Union” schon selbst drauf kommen. Aber immerhin wird die Schüler Union überhaupt erwähnt.

Jan-Luca Schmid und Isabell Biersack werden hingegen als ganz normaler Schüler und ganz normale Schülerin von “Bild” präsentiert. Dass der eine Schriftführer im Vorstand der Jungen Union Neckar-Odenwald-Kreis ist, und die andere stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union Trier, erwähnt “Bild” mit keinem Wort.

Drei Schülerinnen und Schüler befragt die Redaktion zu einem SPD-Fauxpas. Und alle drei haben einen CDU/CSU-Hintergrund, der bei zweien nicht mal erwähnt wird. Was würde “Bild”-Redakteur Julian Röpcke in so einem Fall wohl fragen?

Kann das echt alles “Zufall” sein?

Mit Dank an die Hinweisgeber!

Nachtrag, 5. Oktober: Mehrere BILDblog-Leserinnen und -Leser weisen darauf hin, dass bei ihren Kindern im laufenden Schuljahr bereits Klassenfotos aufgenommen wurden. Und dass die Kinder bei diesen Fotos, ähnlich wie beim SPD-Foto, ihre Masken abnehmen durften.

Außerdem schreiben einige, dass es in mehreren Bundesländern inzwischen keine Maskenpflicht an Schulen mehr gibt. In Berlin beispielsweise für die Klassenstufen 1 bis 6, im Saarland für alle Jahrgänge. In Bayern müssen Schülerinnen und Schüler im Schulgebäude zwar weiter eine Maske tragen, im Unterricht dürfen sie sie aber abnehmen. Im “Bild”-Artikel liest man von diesen Lockerungen nichts, obwohl die Landesregierungen den Wegfall der Maskenpflicht teilweise schon einige Tage vor Erscheinen des “Bild”-Beitrags publik gemacht haben.

Nachtrag 2, 5. Oktober: Die “Bild”-Redaktion hat auf unsere Kritik reagiert. Im Onlineartikel steht inzwischen bei Jan-Luca Schmid: “Mitglied der Jungen Union” und bei Isabell Biersack: “ist bei der Jungen Union engagiert”. Außerdem ist am Ende des Beitrags nun dieser Hinweis zu finden:

Anmerkung der Redaktion: Jan-Luca Schmid und Isabell Biersack sind Mitglieder der Jungen Union. Diese Angabe war in der ursprünglichen Fassung des Textes nicht enthalten.

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