1. Leipzig unter Hochspannung (lto.de, Markus Sehl)
Am heutigen Mittwoch verhandelt das Bundesverwaltungsgericht das Vereinsverbot gegen “linksunten.indymedia”. Kritiker sähen das Vorgehen des Staats gegen die Internetseite als Gefahr für die Meinungs- und Pressefreiheit. Markus Sehl schreibt zu den Hintergründen des Verfahrens.
3. Freiheit für Osman Kavala (reporter-ohne-grenzen.de)
Die 30. Große Strafkammer zu Istanbul hat es so beschlossen: Der türkische Verleger und Kulturmäzen Osman Kavala muss nach mehr als zwei Jahren weiter in Untersuchungshaft bleiben. Reporter ohne Grenzen, Amnesty International, die Akademie der Künste, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union, das KulturForum TürkeiDeutschland und das PEN-Zentrum Deutschland fordern seine sofortige Freilassung. Zuvor hatte dies bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getan — vergeblich.
4. Haben Zeitungsleser für Journalismus jemals gezahlt? (indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer fragt sich: “Haben die Menschen früher WIRKLICH für den Journalismus gezahlt — oder haben sie für die Dienstleistung gezahlt (und tun das immer noch), eine Auswahl von Nachrichten auf Papier zu drucken und ihnen am Morgen in den Briefkasten zu stecken?” Knüwer tippt auf Letzteres und hat dafür gute Argumente.
5. Was nicht ins Heldenepos passt (sueddeutsche.de, Jürgen Schmieder)
Nach dem Unfalltod des US-Basketballstars Kobe Bryant verlinkte eine Reporterin einen Artikel aus dem Jahr 2016, der sich mit Vergewaltigungsvorwürfen gegen den Sportler beschäftigt. Daraufhin erhielt die Journalistin Morddrohungen und wurde von ihrem Arbeitgeber, der “Washington Post”, zwangsbeurlaubt.
Zur allgemeinen Thematik “Über Tote darf man nicht schlecht sprechen, oder vielleicht doch?” siehe auch “die Gewissensfrage” von Rainer Erlinger aus dem Jahr 2010 (sueddeutsche.de).
6. Medienaufseherin geht Influencer auf den Leim (uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Lust auf eine fette Portion Fremdschämen mit einer Prise WTF? Dann bitte lesen, wie und was die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt Cornelia Holsten alles so in ihrem Podcast bespricht. Und mit wem sie da so spricht.
1. Was passiert mit meinem Facebook-Profil, wenn ich sterbe? (lto.de, Hasso Suliak)
Die meisten Menschen kümmern sich nicht um ihren digitalen Nachlass und verdrängen das unangenehme Thema. Die Juristin Magdalena Naczinsky ist Mitautorin der Studie “Der digitale Nachlass – Eine Untersuchung aus rechtlicher und technischer Sicht”. Sie empfiehlt, zur Vereinfachung eine Liste der bestehenden Nutzerkonten samt Zugangsdaten zu hinterlassen. Aber Achtung: “Auf keinen Fall sollte eine solche Auflistung in einem Testament erfolgen, da sonst bei der Testamentseröffnung Unbefugte Kenntnis von den Zugangsdaten erlangen können. Wir empfehlen deshalb, dass der Nutzer die Zugangsdaten auf einem verschlüsselten lokalen Datenträger, also zum Beispiel einem USB-Stick, sichert.” Zur Verschlüsselung eigne sich bereits kostenlose Software. Naczinsky weiter: “Der Datenträger ist so mit einem Masterpasswort gesichert, das bei einer Vertrauensperson, etwa einem Notar, hinterlegt ist. Den Datenträger bewahrt der Erblasser selbst auf und im Testament erfolgt lediglich ein Hinweis darauf, wo Datenträger und Masterpasswort hinterlegt sind.”
2. 150.000 neue Verfahren durch Gesetz gegen Hasskriminalität erwartet (zeit.de)
Das Gesetz gegen Hasskriminalität ist nicht nur datenschutzrechtlich umstritten, sondern erfordert auch deutlich mehr juristisches Personal als zuvor. Der Deutsche Richterbund rechnet mit bis zu 150.000 neuen Verfahren pro Jahr, für deren Bewältigung bundesweit etwa 400 zusätzliche Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Strafrichterinnen und -richter nötig seien. “Der Rechtsstaat ist gefordert, der Spirale von Hass und Gewalt klare Grenzen zu setzen. Ohne deutlich mehr Personal und eine weitergehende Spezialisierung in der Justiz wird es aber nicht gehen”, so Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn.
3. So tickt der chinesische Podcastmarkt (horizont.net, Constantin Buer & Vincent Kittmann)
Bei “Horizont” berichten Constantin Buer und Vincent Kittmann einmal im Monat über die neuesten Entwicklungen im Podcast-Business. In der aktuellen Ausgabe geht es um den chinesischen Audiomarkt und dessen Besonderheiten, um die sogenannten “Branded Podcasts” von Unternehmen und um die Frage, wie allumfassend und zielgenau Spotify seine Podcasts zukünftig vermarkten will.
4. Was Kurt Tucholsky schmutzig fand (sudelblog.de, Friedhelm Greis)
Vor knapp zwei Wochen druckte die “taz” eine Glosse von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1922 über “das, was heute Hate Speech heißt”. Tucholsky-Kenner Friedhelm Greis schreibt im “Sudelblog”, dass diese Hasskommentare und Morddrohungen auf eine “klassische Fake-News-Kampagne” reaktionärer Blätter zurückgingen. Tucholsky habe wegen dieser Verleumdungen den Satz geprägt: “Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.” Ein Satz, der heute sinnentstellend im AfD-Umfeld verwendet werde, um sich etwa gegen Kritik an Ausländerfeindlichkeit zu immunisieren.
5. Unterwegs im Ausland 2: Leid und Gefahr in Krisengebieten (anchor.fm, Levin Kubeth, Audio: 1:06:52 Stunden)
Der “Spiegel”-Reporter und Kriegsberichterstatter Christoph Reuter ist ein profunder Kenner des Nahen und Mittleres Ostens (Empfehlung des Kurators: Christoph Reuters Buch “Die schwarze Macht: Der ‘Islamische Staat’ und die Strategen des Terrors”). Im Medienpodcast “Unter zwei” hat sich Levin Kubeth mit Reuter über die gefährliche und spannende Arbeit in den Krisenregionen dieser Welt unterhalten. Technischer Hinweis: Der Link oben ist nur eine Möglichkeit, den Podcast zu hören. Das Gespräch kann auch über die üblichen Podcast-Player oder Spotify angehört werden.
6. Chronik: Januar 2020 (54books.de)
Die Literaturkritiker und -kritikerinnen von “54books” kommentieren die Mediengeschehnisse und Kulturereignisse des vergangenen Monats. Eine lesenswerte und abwechslungsreich durchmischte Chronik, in der es unter anderem um die Ereignisse beim WDR, Beethovens Geburtstag und den “Großschriftsteller” Uwe Tellkamp geht.
1. Koalition der Klimawandelleugner (spiegel.de, Susanne Götze & Annika Joeres)
Neue Rechte und Klimawandelleugner haben eine Medienkampagne gegen mehr Klimaschutz in Deutschland gestartet. Zu den “Kooperationspartnern” der Initiative würden der ultra-konservative CDU/CSU-Flügel “Werteunion”, der rechtslastige Arbeitgeberverband DAV sowie AfD-, CDU- und FDP-Mitglieder und ehemalige Abgeordnete gehören. Die CDU habe sich trotz mehrfacher Nachfrage nicht zu der Kampagne und der Rolle der “Werteunion” äußern wollen: “Man darf spekulieren, dass die Parteispitze darauf hofft, mit der Werteunion und dem Grenzgänger Maaßen AfD-nahe Wähler holen zu können. Auch wenn die Gruppe von Präsidium und Vorstand der CDU nicht anerkannt wird.”
2. Was ist ein Mensch wert: Sat.1 trommelt für “Big Brother” (dwdl.de, Alexander Krei)
“DWDL” berichtet über die fragwürdige Ankündigung der neuen “Big Brother”-Staffel (Sat.1) und wird dafür selbst kritisiert: “Wie unbedarft muss man eigentlich sein, um so einen geschichtsvergessenen, faschistoiden Schund unkommentiert zu vermelden?”, fragt Till Räther auf Twitter. “DWDL” veröffentlichte später am Tag noch einen Kommentar von Redakteur Alexander Krei zur “Big Brother”-PR-Strategie. Auch Rainer Leurs, Redaktionsleiter bei “RP Online”, kommentiert die Marketing-Kampagne des Fernsehsenders: “Mit gelbem Stern entscheiden, ‘was ein Mensch wert ist’ & ‘Follow the Leader’ als Titelsong — die Provokation ist so obvious, dass ich nicht an eine Panne glauben kann. Bei der Geschmacklosigkeit dürfte der Social-Media-Aufschrei Teil des Plans gewesen sein. Eklig ist das.” Und Anna Aridzanjan fällt nur noch ein: “Ob diese Marketingleute in der Geschichtsstunde Kreide holen waren habe ich gefragt”.
3. Untertitel für Pornos (taz.de, Denis Gießler)
Für viele klingt es zunächst wie ein Witz: Der gehörlose New Yorker Yaroslav Suris habe laut ABC News mehrere Online-Pornoplattformen wegen fehlender Untertitel verklagt. Suris stütze sich dabei auf den Americans with Disabilities Act, der US-Amerikaner mit Behinderungen seit 1990 bundes- und staatsübergreifend vor Diskrimierung schützen soll. Es wären nicht die USA, wenn es dabei nicht auch um jede Menge Geld gehen würde — in Form von Strafzahlungen, aber auch als Schadensersatz.
4. Der Deutsche Podcastpreis ist eine Fehlkonstruktion (uebermedien.de, Daniel Bouhs)
Mitte März soll erstmals der Deutsche Podcastpreis verliehen werden. Unter den Initiatoren befinden sich öffentlich-rechtliche Radiosender, aber auch privatwirtschaftliche Podcast-Schwergewichte wie Amazon und Spotify. Im Vorfeld regt sich allerlei Kritik: Podcasts hätten sich mit dem Label “nominiert” schmücken können, über die “Crowd-Jury” sei wenig bekannt und das Auswahlverfahren sei überfordernd. Daniel Bouhs kommentiert: “So ehrenhaft der Versuch auch sein mag, unter dem Stichwort ‘Crowd’ alle zu umarmen: Engere Kriterien und eine Vorjury wären nur fair, um Brillantes verlässlich identifizieren und so tatsächlich allen eine Chance bieten zu können. Die Nominierten, erst recht die Prämierten, hätten es dann wirklich verdient.”
5. “Und morgen bist du tot!” (zeit.de, Hasnain Kazim)
Was macht es mit einem, wenn man über einen längeren Zeitraum und nahezu täglich Hassnachrichten und Morddrohungen erhält? Es lohnt sich, dem für seine Deutlichkeit bekannten Journalisten Hasnain Kazim zuzuhören. Nicht nur, weil sein persönliches Erleben so erschütternd ist, sondern weil die Angriffe auf ihn in gewisser Weise auch Angriffe auf die Gesellschaft sind: “Manchmal erkennen mich Leute auf der Straße. ‘Sind Sie nicht …?’ Oder: ‘Ich kenne Sie doch!’ Ich freue mich darüber, es ist ja eine Form der Anerkennung. Aber in letzter Zeit hat sich ein Unbehagen eingeschlichen. Ich weiche unweigerlich zurück, wenn fremde Leute auf mich zukommen. Was, wenn sie mir etwas antun wollen? Dann wieder ärgere ich mich darüber, dass ich so misstrauisch geworden bin. Es zeigt, dass die Drohungen mich verändern.”
6. Die vier Gesichter unserer Internetprofile (sz-magazin.sueddeutsche.de, Marc Baumann)
Die US-amerikanische Country-Sängerin Dolly Parton veröffentlichte eine Bildcollage, die zeigen sollte, wie unterschiedlich wir uns auf Plattformen wie Linkedin, Facebook, Instagram und Tinder darstellen. Damit war die “Dolly Parton Challenge” geboren, der sich nun unzählige Promis, mal mehr und mal weniger lustig, anschließen.
Wenn sich in einem Gerichtsprozess herausstellt, dass ein Angeklagter nicht so ganz in das Feindbild passt, das die “Bild”-Medien ihrer Leserschaft präsentieren wollen, kennt die Redaktion ein paar Kniffe.
Ein 27-Jähriger stand am Mittwoch in Leipzig vor Gericht, weil er in der Silvesternacht einem Polizisten ein Bein gestellt hatte. Der Beamte fiel zu Boden und verletzte sich leicht an Arm und Knöchel. Der Angeklagte wurde wegen Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie Körperverletzung schuldig gesprochen — sechs Monate Haft auf Bewährung und 60 Stunden gemeinnützige Arbeit, so das Urteil. Der Prozess hat vor allem deswegen viel Aufmerksamkeit bekommen, weil das Beinstellen im Leipziger Stadtteil Connewitz passiert ist, wo es an dem Abend gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen mutmaßlichen Linksradikalen und der Polizei gab.
Kniff 1: Bei Bild.de schreibt der anonyme Autor, der Angeklagte sei nach wie vor uneinsichtig:
Wohl auch wegen der eindeutigen Beweislage hatte [A.] vor dem Urteilspruch ein Geständnis abgelegt. Einsicht zeigte der Mann jedoch nicht. Er rechtfertigte den Angriff auf die Polizei vielmehr: Er sei das erste Mal zu Silvester am Connewitzer Kreuz gewesen. Bevor er den Beamten angriff, habe er gesehen, wie Polizisten auf Zivilisten losgegangen seien.
Bei so gut wie allen anderen Medien klingt das völlig anders:
Der nicht vorbestrafte Angeklagte entschuldigte sich in der Verhandlung immer wieder. Er könne sich nicht erklären, warum er das Bein gestellt habe. “Das war eine riesengroße Dummheit”, sagte er.
Der 27-jährige Straßenkünstler zeigte sich reumütig.
Auch Bild.de erwähnt die Entschuldigung in einem Halbsatz und schreibt, dass der Mann von einem riesengroßen Fehler “gestammelt” habe.
Anders als Bild.de behauptet, nutzte der Angeklagte es auch nicht als Rechtfertigung für seine Tat, dass er gesehen habe, “wie Polizisten auf Zivilisten losgegangen seien”: Die Frage des Richters, ob er dem Beamten deswegen das Bein gestellt hatte, verneinte der Angeklagte.
Kniff 2: Bild.de schreibt, die Staatsanwaltschaft sei davon überzeugt gewesen, dass der Mann in Connewitz “mitgemischt” habe:
Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft hatte der 27-Jährige mitgemischt, als an Silvester nach Mitternacht die Situation zwischen Linksradikalen und der Polizei eskalierte.
Die dpa schreibt hingegen:
Der 27-Jährige war eher eine Randfigur in dem gewalttätigen Geschehen auf dem Connewitzer Kreuz in dem als linksalternativ geltenden Stadtteil Leipzigs. Mit dem schwerwiegendsten Tatvorwurf aus der Silvesternacht — einem versuchten Mord an einem 38 Jahre alten Polizisten — hatte er laut Staatsanwaltschaft nichts zu tun.
Die Darstellung von Bild.de passt schon zeitlich nicht richtig. Bei taz.de steht:
Was der 27-Jährige sich hat zuschulden kommen lassen, geschah weit später als die Tat, die nun als Mordversuch gilt und über die jetzt alle reden. In dem Zusammenhang habe man A. nicht gesehen, bestätigen auch die zwei Polizeizeugen.
Und der MDR schreibt:
Zum Tatzeitpunkt gegen ein Uhr nachts war es wieder ruhiger am Connewitzer Kreuz. Auch sei der Angeklagte den Polizisten zuvor nicht aufgefallen. Daher sah das Gericht keinen Zusammenhang mit den Ausschreitungen in der Silvesternacht.
Kniff 3: Im Post in den Sozialen Netzwerken lässt die “Bild”-Redaktion es trotzdem so aussehen, als habe der Angeklagte mit jenen “Angriffen auf Polizisten” zu tun, über die seit Tagen heftig debattiert wird:
(Der Augenbalken stammt von “Bild”, die restliche Unkenntlichmachung von uns.)
Kniff 4: In der Überschrift des Artikels schreibt Bild.de, dass der Angeklagte ein “mildes Urteil” bekommen habe:
Darüber lässt sich natürlich streiten. Man kann aber auch der Meinung sein, dass bei einem nicht vorbestraften, geständigen und reumütigen Täter sowie den überschaubaren Folgen der Körperverletzung ein halbes Jahr Gefängnis auf Bewährung plus 60 Stunden gemeinnützige Arbeit durchaus angemessen sind — wenn man nicht gerade versucht, auf Biegen und Brechen ein Feindbild zu bedienen.
1. “Wir werden nicht einer Meinung sein” (zeit.de, Ralf Heimann)
Nach Ansicht vieler Kritiker hat WDR-Intendant Tom Buhrow mit seiner übereilten Telefon-Intervention und der Bitte um Entschuldigung für den eigentlichen Skandal um das Satireliedchen von der Oma als “Umweltsau” gesorgt. Viele WDR-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter fühlten sich im Stich gelassen, hatten das Gefühl, ihr Chef sei ihnen in den Rücken gefallen. Nun fand in Köln eine Redaktionsversammlung statt, zu der 700 Leute kamen. Buhrow habe dort sein Verhalten in einer Weise verteidigt, die Zweifel daran aufkommen lasse, dass er verstanden hat, worum es bei der Sache geht.
Weiterer Lesehinweis zum Hintergrund: Aufgepasst, Ihr Umweltsäue! — warum die Vorwürfe gegen die WDR-Satire falsch sind (taz.de, Heiko Werning). Lesenswert auch die aktuelle Kolumne von Sascha Lobo zur Debattenkultur: Diagnose: Vorzeitiger Nachrichtenerguss (spiegel.de).
2. “Ibiza lebt” (sueddeutsche.de, Leila Al-Serori)
In Österreich wird ein erbitterter Kampf um die “Krone” geführt. Das Blatt mit einer Reichweite von 30 Prozent weckte bereits die Begehrlichkeiten des damaligen FPÖ-Politikers Heinz-Christian Strache, wie man im “Ibiza-Video” sehen und hören konnte. Nun versuche der Tiroler Immobilienmilliardär und Investor René Benko das Blatt zu übernehmen: “Eine weitere Parallele zu Ibiza bekommt der Machtkampf auch durch die Nähe René Benkos zum Kanzler: der Milliardär gehört dem engsten Zirkel rund um Sebastian Kurz an. Benko beteuert, dass es nicht um Politik, sondern nur ums Geschäft gehe.”
3. Ein Abschied vom Vermesser (taz.de, Steffen Grimberg)
Horst Röper, die “taz” nennt ihn den “King of Medienforschung”, geht in den Ruhestand. Der Journalist und Medienwissenschaftler leitete seit 1984 das Formatt-Institut (“Forschung Medien Aktuell Technologie Transfer”) und sei damit “das Gedächtnis der deutschen Zeitungslandschaft”. “taz”-Autor Steffen Grimberg in seiner Art Ruhestandslaudatio: “Und jetzt will der Mann, der sich als Einziger noch so richtig um all diese Fragen kümmert, in den Ruhestand gehen. Einfach so. Is nich, Horst. Wir brauchen dich!”
4. Happy new Leak! (deutschlandfunk.de, Samira El Quassil, Audio: 5:23 Minuten)
Die Firma Cambridge Analytica brachte es zu trauriger Berühmtheit, als 2018 bekannt wurde, dass ihre Datenanalysen für personalisierte Wahlwerbung auf dem illegalen Besitz von Informationen zu Millionen von Facebook-Profilen beruhten. In der Folge meldete das umstrittene Unternehmen Insolvenz an. Nun tauchen Tausende von neuen Dokumenten auf, die von einer Ex-Mitarbeiterin stammen sollen. Samira El Ouassil ordnet den Fall für den Deutschlandfunk neu ein.
5. Versöhnt in der Irritation (faz.net, Nina Rehfeld)
Aus dem us-amerikanischen Phoenix berichtet Nina Rehfeld über die Zwickmühle des TV-Senders Fox News: Einerseits fungiere er als Sprachrohr der Republikaner und Stichwortgeber des amtierenden Präsidenten Donald Trump. Andererseits habe Starmoderator und Publikumsliebling Tucker Carlson den Angriff auf den iranischen General Soleimani und die offizielle Begründung dafür scharf kritisiert.
Die “Bild”-Medien berichten seit einigen Tagen ausgiebig über einen Unfall in Südtirol, bei dem sieben Menschen starben, und der Fahrer stark alkoholisiert war. Dabei läuft sehr vieles sehr schief.
***
Auf der heutigen “Bild”-Titelseite zeigt die Redaktion Fotos der Opfer und des Unfallfahrers:
Die Unkenntlichmachung bei drei der Opfer und beim Fahrer stammt von uns, die beim Opfer ganz rechts stammt von “Bild” (dazu später mehr). Das zweite Opferfoto von links, das “Bild” heute auf Seite 1 und auf Seite 3 unverpixelt zeigt und das auch bei Bild.de auf der Startseite unverpixelt zu sehen war, zeigt allerdings eine Frau, die mit dem Unfall rein gar nichts zu tun hat. Sie war nicht in Südtirol und vor allem: sie lebt.
Gestern Abend schrieb sie bei Facebook (nur für Freunde öffentlich zu sehen):
LIEBE BILD? Wie kann das passieren? Ich bin am Leben und es wird wahllos ein Bild vor gefühlt 8 Jahren ins Netz gestellt obwohl ich nicht betroffen bin? HABT IHR SIE NOCH ALLE? schlimm genug dass ihr mit der Story Kohle verdient!
Bild.de hat das Foto inzwischen ausgetauscht und zeigt nun zum selben Opfernamen ein unverpixeltes Foto einer anderen Frau. Im “Bild”-E-Paper war das Foto noch lange zu sehen. Inzwischen sind auch dort die Fotos auf der Titelseite und auf Seite 3 ausgetauscht. An Tankstellen, in Bäckereien und an Kiosken liegen hingegen weiter Hunderttausende “Bild”-Exemplare aus, auf deren Titelseiten eine lebende Frau mit unverpixeltem Foto für tot erklärt wird.
Wir haben bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, wie es zu dem Fehler kommen konnte. Er hat uns bisher nicht geantwortet.
***
Die “Bild”-Medien zeigen Fotos von vier weiteren Personen, bei denen es sich um Menschen handeln soll, die bei dem Unfall gestorben sind. Als Quellenangabe gibt die Redaktion für alle “PRIVAT” an, was nichts anderes heißen dürfte als: Bei Facebook oder Instagram per rechter Maustaste zusammengeklaubt.
Außerdem geht “Bild” sehr unterschiedlich bei der Unkenntlichmachung vor: Manche Fotos sind verpixelt, andere nicht. Bei den zwei Personen, die verpixelt sind, steht in den Bildunterschriften:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Eines der Fotos zeigt einen Mann, das andere eine Frau. Bei dem Mann ist die “Bild”-Redaktion ziemlich inkonsequent: Im Blatt ist sein Gesicht entsprechend der Bildunterschrift verpixelt, auf der Titelseite hingegen nicht — zumindest in der E-Paper-Ausgabe. Bei der gedruckten “Bild” ist sein Gesicht zumindest in Berlin auch auf der Titelseite verpixelt. Nachdem wir “Bild”-Sprecher Senft in unserer Mail auf die fehlende Verpixelung auf Seite 1 aufmerksam gemacht haben, hat die Redaktion es auch im E-Paper überall verpixelt.
Wir wollten von Christian Senft wissen, ob “Bild” und Bild.de bei den Eltern aller Opfer nachgefragt hat, ob diese mit einer Foto-Veröffentlichung — gepixelt oder ungepixelt — einverstanden sind. Er hat uns bisher nicht auf unsere Frage geantwortet.
Und wir haben Senft gefragt, ob “Bild” die Eltern und Familien, die in den Bildunterschriften erwähnt werden, vor der Veröffentlichung der Fotos gefragt hat, ob das verpixelte Zeigen ihres Kindes für sie in Ordnung ist — oder ob diese sich bei “Bild” melden mussten, nachdem die Redaktion die Fotos bereits unverpixelt veröffentlicht hatte, um wenigstens noch die Verpixelung zu erreichen.
Auch darauf hat Christian Senft nicht geantwortet. Es spricht aber vieles dafür, dass die Familien intervenieren mussten, damit die Fotos ihrer Kinder nachträglich verpixelt werden: Der oben bereits erwähnte Mann, dessen Foto die “Bild”-Medien “auf Wunsch der Eltern” verpixelt haben, war gestern Nachmittag noch ohne Unkenntlichmachung auf der Bild.de-Startseite zu sehen:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Entweder haben die Eltern sich umentschieden (erst unverpixelt in Ordnung, dann nur verpixelt in Ordnung). Oder die “Bild”-Redaktion hat einfach, ohne zu fragen, das Foto unverpixelt veröffentlicht, und die Eltern mussten aktiv werden.
Ganz ähnlich bei der Frau, deren Foto “Bild” “auf Wunsch der Familie” verpixelt hat: Anfangs war ein Foto, das sie zeigt, bei Bild.de verpixelt, dann nicht mehr und nun wieder.
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Wir haben “Bild”-Sprecher Senft gefragt, ob die Eltern und Familien der Opfer, deren Fotos nicht verpixelt sind, einer unverpixelten Veröffentlichung zugestimmt haben, oder ob sie sich bisher einfach nicht gegen die unverpixelte Veröffentlichung gewehrt haben. Auch darauf bekamen wir keine Antwort.
Die Veröffentlichung des Fotos der Frau, die “Bild” fälschlicherweise für tot erklärt hat, spricht dafür, dass die “Bild”-Medien niemanden vorher gefragt haben — denn wer stimmt schon einer (unverpixelten) Veröffentlichung zu, wenn man überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat?
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Viele Beiträge zum Thema hat Bild.de hinter die Paywall gestellt. So auch diesen “MIT VIDEO”:
(Unkenntlichmachung des Namens und der Person in der Mitte durch uns. Unkenntlichmachung der beiden Personen außen durch Bild.de.)
Nicht nur, dass die Redaktion sich private Videoaufnahmen einer verstorbenen Person besorgt — sie versucht dann auch noch, damit ein paar Abos zu verkaufen und Geld zu machen.
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Um an Informationen zu kommen, scheinen die “Bild”-Medien nicht nur die Profile der Opfer in den Sozialen Netzwerken zu durchforsten — offenbar behelligen sie auch deren Familien. Bei Reddit schreibt ein User:
Heute hab ich plötzlich eine Nachricht von einer Freundin bekommen, dass eines der Opfer der Bruder ihres Freundes ist. Ich kannte den verstorbenen Bruder nicht persönlich, aber dafür ihren Freund und war auch wenn ich nicht viel mit ihm zutun habe zutiefst geschockt.
Was mir allerdings dann erzählt wurde lässt mir echt den Kragen platzen. Anscheinend haben irgendwelche fuckig Reporter von der Bildzeitung wie auch immer herausgefunden, wo die Angehörigen des verstorbenen wohnen und noch am selben Tag angeschellt, die Familie bedrängt und nach einem Interview gefragt. Wie kann man so fucking dreist sein? Man kriegt die Nachricht von der Polizei, dass dein Sohn/Bruder gestorben ist und am selben Tag kommt die scheiß Bildzeitung zu dir nach Hause und fragt nach einem Interview, damit sie aus der Tragödie anderer Menschen Material für ihre scheiß Titelseite haben um Leute zu ködern ihre scheiß Zeitung zu kaufen?
Außerdem haben uns mehrere BILDblog-Leserinnen und -Leser geschrieben, dass sie Verwandte der Opfer kennen. Sie alle sagen, dass die Berichterstattung der “Bild”-Medien für die Familien nur schwer zu ertragen sei.
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Neben den Fotos der Opfer veröffentlichen “Bild” und Bild.de auch mehrere unverpixelte Fotos des Unfallfahrers. Online ist sein Gesicht seit mehreren Tagen durchgängig auf der Startseite zu sehen. Dass der Mann derzeit “als psychisch nicht stabil gilt”, berichten die “Bild”-Medien zwar; ein Grund, seine Fotos nur verpixelt zu zeigen, ist das für sie aber offensichtlich nicht. In einem Video zeigte Bild.de sogar eine unverpixelte Aufnahme, während ein Reporter erzählt, dass der Mann gerade in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert wurde.
Wir haben den “Bild”-Sprecher gefragt, ob die Redaktion eine Erlaubnis des Mannes hat, seine Fotos ohne Unkenntlichmachung zu zeigen. Christian Senft hat darauf nicht geantwortet.
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“Bild” und Bild.de hauen alles zu dem Fall raus, was sie in die Finger bekommen. Zwei Titelseiten sind zu dem Unfall in Südtirol schon erschienen, im Blatt zwei Doppelseiten, weit mehr als ein Dutzend Artikel bei Bild.de und dazu online mehrere Live-Sendungen. Es wirkt ein bisschen wie ein weiterer Probelauf für den geplanten “Bild”-TV-Sender: Wie groß können alle “Bild”-Kanäle auf einmal ein Thema machen?
Dafür sind 14 (!) Autorinnen und Autoren im Einsatz. Mit ihrer Arbeit sorgen sie dafür, dass Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, sich in ihrer Trauer auch darum kümmern müssen, dass das Schicksal ihres Kindes, ihres Bruders oder ihrer Schwester nicht gnadenlos von einer Boulevardredaktion ausgeschlachtet wird.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 8. Januar: Von “Bild”-Sprecher Christian Senft haben wir nach wie vor keine Antworten auf unsere Fragen bekommen. “DWDL” hat er heute allerdings geantwortet:
Gegenüber DWDL.de äußerte sich Springer-Sprecher Christian Senft am Mittwoch jedoch zu der Foto-Panne: “Aufgrund eines bedauerlichen Fehlers in der Herstellung ist bei der umfassenden Berichterstattung von ‘Bild’ zum tragischen Unfall in Südtirol in der gedruckten Zeitung ein falsches Foto für eines der Unfallopfer erschienen. Wir haben dafür bei der betroffenen Familie um Entschuldigung gebeten und das Foto online sowie im E-Paper sofort ausgetauscht. Insofern uns die Familien darum gebeten haben, wurden die Fotos der Opfer bei der Berichterstattung verpixelt.”
Eine Antwort auf die Frage, weshalb sich “Bild” überhaupt dazu entschlossen hat, Fotos der Opfer unverpixelt zu drucken, gab es nicht.
Nachtrag, 9. Januar: Für eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion eine falsche Person für tot erklärt hat, war in “Bild” bisher leider kein Platz.
Das “6 vor 9”-Jahr nähert sich dem Ende, die Feiertage stehen vor der Tür. Für viele von Euch die Gelegenheit, sich mit einem guten Buch aufs Sofa zurückzuziehen, Podcasts zu hören oder den Streamingdienst der Wahl leer zu “bingen”. Das Angebot ist riesig, doch was lohnt? In dieser Ausgabe der “6 vor 9” geht es um die besten Hör-, Lese- und Sehtipps aus den Redaktionen. Wir wünschen viel Spaß und eine unterhaltsame und/oder erkenntnisreiche Zeit!
1. Die Redaktion empfiehlt: 17 Hör- und Lesetipps (mediummagazin.de)
“Medium”, das Magazin für Journalistinnen und Journalisten, präsentiert zum Ende des Jahres 17 Hör- und Lesetipps. Im weitesten Sinne haben alle Empfehlungen etwas mit Medien zu tun, aber durchaus auf unterhaltsame Art und Weise. Der Blick auf die Zusammenstellung lohnt.
2. Hören, Sehen, Lesen – Tipps für die Feiertage (deutschlandfunknova.de, Daniel Fiene & Sebastian Pähler, Audio: 41:05 Minuten)
Die “Was mit Medien”-Podcaster Daniel Fiene und Sebastian Pähler haben ein Dutzend Medienmacher und Medienmacherinnen nach ihren Empfehlungen für die Feiertage gefragt: “Welche Podcast-Episoden lohnen sich? Welche Zeitschrift sollte man mal durchblättern? Welche Streaming-Serie eignet sich zum Bingen zwischen den Jahren?” Interessante Tipps von interessanten Leuten.
3. Lesen, schmökern, wälzen und – lauschen (tagesanzeiger.ch)
Das Ressort “Wissen” des Schweizer “Tagesanzeigers” empfiehlt 19 spannende Sachbücher. Die Themen sind breit gestreut: Von “mörderischen Bäumen und verheerenden Bränden” sowie den “Gesetzen der Physik als Gutenachtgeschichte” bis hin zum “Geheimnis der 100-Jährigen”.
4. Kinder- und Jugendbücher für den Gabentisch (deutschlandfunk.de, Ute Wegmann & Dina Netz & Tanya Lieske & Jan Drees, Audio: 24:36 Minuten)
Welche Kinder- und Jugendbücher eignen sich für den Gabentisch? Das Redaktionsteam der “Bücher für junge Leser” hat auf den letzten Drücker noch ein paar Geschenktipps zu Weihnachten. Wer es nicht mehr schafft, sich die Sendung anzuhören: Auf der oben verlinkten Webseite sind die Buchtipps samt Mini-Rezensionen übersichtlich aufgelistet.
Weiterer Lesetipp: “Diese Kinderbücher empfehlen SPIEGEL-Redakteure”.
5. SJ-Podcast: Die besten neuen Serien 2019, Trends, Tipps und mehr (serienjunkies.de, Audio: 1:31:29 Stunden)
Die “Serienjunkies” werfen in ihrem Podcast einen Blick auf die besten neuen Serien des vergangenen Jahres: “Was waren die neuen Top-Serien 2019? Welche Trends konnte man beobachten, was war besonders auffällig und wie wird es in der Welt der Serien weitergehen?”
6. Diese Filme lohnen sich bei Amazon und Netflix (spiegel.de, Oliver Kaever)
An den Feiertagen und zwischen den Jahren kann man endlich guten Gewissens vor dem Fernseher oder Laptop abhängen und einen Film nach dem anderen weggucken. Oliver Kaever hat sich bei Netflix und Amazon Prime nach geeignetem Futter umgeschaut.
Weiterer Lesetipp: Das sind die schlimm-besten Weihnachtsfilme zum Streamen (jetzt.de, Lena Mändlen) .
Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 6: Storydenken.
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Im Jahr 1944 veröffentlichten die österreichischen Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel eine etwas mehr als eine Minute lange Animation, die zwei Dreiecke und einen Punkt zeigen. Die Formen bewegen sich innerhalb und außerhalb eines Rechtecks. Probandinnen und Probanden bekamen die Aufgaben, sich die Szene anzusehen und sie zu beschreiben.
Einige von ihnen schilderten eine Verfolgungsjagd, andere eine Eifersuchtsszene. In den Dreiecken und dem Punkt sahen sie häufig zwei Männer und ein Frau. Das Quadrat stellten sie sich als Haus vor. Sie machten sich Gedanken über die Motive der Figuren und über deren Gefühle. Einige Deutungen glichen einer Seifenoper. Nur: Einen Punkt, zwei Dreiecke und ein Rechteck sah so gut wie niemand. Die Beschreibungen hatten fast alle eine Gemeinsamkeit: Sie waren eine Geschichte.
Ungefähr so scheint der Mensch zu funktionieren. Wo er auch hinschaut, entdeckt er Sinn und Zusammenhänge. Das ist das Format, in dem das Gehirn Informationen speichert. Und in dieses Format konvertieren Menschen alles, was sie sehen und erleben.
Im Rückblick sieht fast alles so aus, als wäre es eine zwangsläufige Folge aus sich logisch auseinander ergebenden Ereignissen, obwohl vieles im Leben einfach durch Zufall passiert, und man bei einer genaueren Untersuchung feststellen würde: Es hat keinen Sinn. Diesen Fall lässt das Gehirn allerdings nur ungern zu. Wo es keinen Sinn erkennen kann, schließt es die Sinnlücke mit einer eigenen Konstruktion. Und das ist im Journalismus ein Problem, denn es führt zu einer Verzerrung, die als Story bias bekannt ist.
Menschen biegen sich die Dinge gern so zurecht, dass sie zu einer guten Geschichten werden. Sie unterschlagen Details, die nicht ins Bild passen. Sie konstruieren Zusammenhänge, wo keine sind. Diese Tendenz bewirkt, dass Gerüchte oft immer abenteuerlicher werden, weil neue Details hinzugedichtet werden, die aus dem Gerücht eine noch bessere Geschichte machen. Im Grunde beschreibt das Story bias ein Grundprinzip der “Bild”-Zeitung: Die Geschichte ist wichtiger als die Wahrheit.
Der Effekt führt auch dazu, dass Geschichten ohne schlechte Absicht so sehr vereinfacht werden, dass sie die Wirklichkeit kaum noch abbilden können. Eine Weltwirtschaftskrise oder ein Krieg zum Beispiel lassen sich wunderbar im Info-Grafik-Format erklären. Erst passierte dies, dann das, dann kam der nächste Schritt. So wird das Ereignis am Ende greifbar, aber es entsteht der falsche Eindruck, dass die Welt sich wie ein Domino-Spiel erklären lässt — und bei den gegebenen Ereignissen alles zwangsläufig so kommen musste.
Der Schriftsteller Rudolf Dobelli beschreibt das Story bias in seiner Kolumnensammlung “Die Kunst des klaren Denkens” an einem Beispiel: Eine Brücke stürzt ein und reißt einen Autofahrer mit in die Tiefe. Danach wird man die tragische Geschichte des Autofahrers lesen. Vielleicht war er auf dem Weg zu seiner Familie. Vielleicht kam er gerade von der Arbeit. Vielleicht wollte er in der Woche darauf heiraten.
Nur das, was eigentlich passiert ist, ist keine gute Geschichte. Die Brückenkonstruktion hat aus irgendeinem Grund nachgegeben, vielleicht durch eine komplizierte Kette aus unglücklichen Zufällen, die sich nicht zurückverfolgen lässt. Für Menschen sind aber vor allem die Menschen interessant.
Journalistinnen und Journalisten gehen zudem gern so vor, dass das Ergebnis schon vor der Recherche feststeht. Sie formulieren eine These und suchen dann nach den passenden Belegen. Im Januar 2019 musste der WDR einräumen, dass die Wirklichkeit sich doch etwas anders darstellte, als sie in einigen Dokumentationen der Reihe “Menschen hautnah” gezeigt wurde. Eine Autorin hatte Protagonisten für eine Doku aus einer Komparsen-Datenbank rekrutiert. Die Geschichte stimmte so nicht ganz. Es sollte alles etwas besser klingen, als es wirklich war.
Dass ein Beitrag schon vor der Recherche steht, ist keine Besonderheit der WDR-Doku-Reihe. Das zeigt zum Beispiel der Abschlussbericht über den Fall Relotius beim “Spiegel”. An einer Stelle zitiert das Autoren-Team aus einer inzwischen sehr bekannt gewordenen E-Mail. Der damalige Leiter des Gesellschaftsressorts, Matthias Geyer, gibt darin Anweisungen zu Aufbau und Inhalt einer Reportage:
Dort heißt es unter anderem: “Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze ankündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.”
Wie die Geschichte aussehen soll, steht schon vor der Recherche fest. Das Ergebnis muss in die vorgegebene Form passen. Und wenn das der Fall ist, steht am Anfang der Recherche nicht die Frage: Wie ist es gewesen? Sondern: Woher bekomme ich das Personal?
In diesem Fall sollte die Story offenbar möglichst preiswürdig sein. In anderen Fällen konstruieren Journalistinnen und Journalisten, weil es schneller geht, als ergebnisoffen zu recherchieren — oder weil sie davon überzeugt sind, die Antwort eh schon zu haben.
Pressesprecher sagen, sie kennen das. Wenn sie von Journalistinnen und Journalisten angerufen werden, wüssten diese oft längst, was sie hören wollen. Sie bräuchten nur noch jemanden, der es sagt. Der Bundesverband deutscher Pressesprecher hat im Jahr 2015 eine Studie mit dem Titel “Thesenjournalismus statt ergebnisoffener Recherche?” veröffentlicht. Dazu hatte er über eintausend Pressesprecher befragt. Ein Ergebnis war:
Über alle Medien hinweg gehört es inzwischen zum journalistischen Standard, thesengeleitet zu recherchieren und Storys zuzuspitzen.
In der Zusammenfassung heißt es:
Probleme bereiten den Pressesprechern […] vor allem Situationen, in denen die Journalisten nicht bereit sind, ihre Ausgangseinschätzungen zu ändern — auch wenn sie in der Recherche neue Informationen bekommen, die die Storyline widerlegen.
Auch das ist nicht allein ein Problem von Journalistinnen und Journalisten. Wissenschaftler haben in verschiedenen Studien gezeigt, dass Menschen sogar dann an falschen Informationen festhalten, wenn sie sehen, dass sie falsch sind. Die Forscher sprechen von Belief perseverance oder Faktenresistenz.
In einem Experiment sollten 19 Probandinnen und Probanden, jeder von ihnen promoviert in einem naturwissenschaftlichen Fach, den Inhalt einer Kugel bestimmen. Sie erhielten eine manipulierte Formel. Dann gab man ihnen Kugeln. Sie berechneten den Inhalt erst mit der Formel, später füllten sie Wasser in die Kugeln, gossen es in eine Kiste und bestimmten das Volumen. Das errechnete Ergebnis stimmte nicht mit dem tatsächlichen überein. Dennoch hielten mit Ausnahme eines Wissenschaftlers alle an der falschen Formel fest.
Auch der Innsbrucker Psychologe Tobias Greitemeier untersuchte den Effekt in einem Experiment. Er ließ Probandinnen und Probanden einen wissenschaftlichen Artikel lesen. Einige informierte er im Anschluss darüber, dass die Daten gefälscht waren. Die übrigen bekamen diese Information nicht. Eine dritte Gruppe (Kontrollgruppe) las den Artikel nicht. In Befragungen zeigte sich, dass die Menschen, die über die Fälschung informiert wurden, ihre Meinung zwar korrigierten, aber auch danach weiterhin stärker von den Informationen beeinflusst waren als die Personen aus der Kontrollgruppe, die den Artikel gar nicht kannte. Im Abstract seiner Arbeit schreibt Greitemeier:
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Widerrufserklärung eines empirischen Artikels in einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht ausreicht, um sicherzustellen, dass die Leser des ursprünglichen Artikels nicht mehr an die Schlussfolgerungen des Artikels glauben.
Bei journalistischen Beiträgen ist das wahrscheinlich nicht anders.
Das Gehirn wirkt schon beim Sammeln von Informationen darauf hin, dass vorhandene Informationen begünstigt werden (Confirmation bias) und neue es schwerer haben. Ergeben sich Widersprüche (kognitive Dissonanzen), versucht das Gehirn, sie aufzulösen, indem es sie umdeutet. Jürgen Schaefer schreibt in einem “Geo”-Essay: “Wenn andere viel zu schnell mit ihrem Rad durch die Fußgängerzone fahren, halten wir das für ‘idiotisch’, bei uns selbst für ‘verwegen’.”
So formt die Wahrnehmung unsere Wirklichkeit. Und wie die Wirklichkeit aussehen wird, beeinflussen Journalistinnen und Journalisten mit ihrer Erwartung, die in ihrer These enthalten ist. Das passiert auch in der Wissenschaft, wo in der Regel viel gründlicher gearbeitet werden kann und mehr Zeit bleibt, alles noch einmal zu überdenken. Jürgen Schaefer berichtet von zwei Studien, in denen es um die Frage geht, ob es Herzpatienten hilft, wenn Unbekannte für sie beten:
Eine Studie ergab: Ja, es helfe. Die zweite kam zum gegenteiligen Ergebnis: Nein, es schade sogar. Das naheliegende Ergebnis — dass es weder hilft noch schadet — wollte keiner nachgewiesen haben: nicht spektakulär genug.
Auch hier ist es wahrscheinlich, dass diese Beobachtung nicht nur die Wissenschaft betrifft, sondern ebenso den Journalismus: Die Geschichte muss gut sein. Dann verbreitet sie sich — und mit ihr die inbegriffene Botschaft. Das ist das Prinzip, nach dem “Fake News” und Gerüchte funktionieren.
Eine Rolle spielt dabei, dass Geschichten von anderen Hirnregionen verarbeitet werden als Fakten. Und dass die Spiegelneuronen im Gehirn es möglich machen, sich in eine Geschichte hineinzuversetzen. So können Menschen von den Erfahrungen anderer lernen, ohne sie selbst gemacht zu haben. Und Geschichten finden sehr viel leichter Zugang zum Gehirn als sperrige Fakten, die beim Eingang auch noch kritisch überprüft werden.
Das ist das Erfolgsgeheimnis von Geschichten. Aber das macht sie gleichzeitig zu manipulativen Werkzeugen: Sie müssen nicht stimmen, damit Menschen sie glauben. Sie müssen vor allem plausibel klingen. Und wie das ausgehen kann, steht im Abschlussbericht zum Fall Relotius.
Das Dumme ist: Es gibt keine Alternative zur Geschichte. Auf keine andere Weise lassen sich Emotionen, Werte oder Erfahrungen so gut transportieren und so erfolgreich Sinn und Identität stiften. Kein anderes Format ist in der Lage, Menschen so zu berühren, sogar körperliche Reaktionen auszulösen. Menschen weinen im Kino, wenn sie Geschichten sehen, die im Grunde nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Und in keinem anderen Format ist der Inhalt so lange haltbar. Je eindrucksvoller eine Geschichte ist, desto besser kann das Gehirn sie sich merken. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt:
Reine Information ist nur limitiert anknüpfbar. Wenn Sie sie aber in eine Geschichte verpacken, liefern Sie in deren Rahmen viele Anknüpfungspunkte an bereits vorhandene Gedächtnisinhalte. So kann man die Geschichte besser im Gedächtnis abspeichern und daraus dann die entscheidenden Aussagen ableiten. Dazu kommt: Jeder Lernprozess wird von Emotionen begleitet, bei der nackten Vermittlung von Fakten werden diese emotionalen Bereiche nicht angesprochen.
Den Effekt kennt jeder aus schockierenden oder auf andere Weise bewegenden Momenten. Die meisten Menschen, die den 11. September 2001 erlebt haben, können sich genau daran erinnern, wo sie waren, was sie gemacht haben und was sie um sich herum wahrgenommen haben, als die Flugzeuge ins Word Trade Center flogen. Es ist alles gespeichert, wie in einem Film. Es erscheint noch immer sehr real. Nur möglicherweise stimmt es nicht, weil die Erinnerung es mit den Jahren an einigen Stellen verformt hat.
Journalistinnen und Journalisten können das nicht verhindern. Aber sie können dem entgegenwirken, indem sie sich diese Effekte bewusst machen und sich nicht allein auf ihre Erinnerung verlassen, sondern ihre Recherchen so gut es geht dokumentieren, damit das Gehirn sich die Geschichte nicht zurechtformt. Sie können ihre Vermutungen immer wieder infrage stellen, indem sie nach Widersprüchen suchen — und Argumente sammeln, die für das Gegenteil sprechen.
Und wenn sie dann feststellen, dass diese Widersprüche sich im Beitrag nicht unterbringen lassen, weil die Geschichte dann nicht mehr funktionieren würde, sollten sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Geschichte so, wie sie es sich vorgestellt hatten, einfach nicht funktioniert.
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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier und Teil 5 hier. Oder alle Teile auf einmal hier.
Ein “Shitstorm” ist laut Duden ein “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht”.
Bei “Bild” haben sie hingegen eine leicht andere, eigenwillige Definition, und die geht in etwa so: Um einen “Shitstorm” handelt es sich, wenn auf einen Witz bei Twitter weit über 200 Personen mit “Gefällt mir” reagieren, mehr als 30 Personen ihn per Retweet verbreiten und zwölf Personen auf den Tweet antworten, wobei die Antworten vor allem mit einem Daumen nach oben, lachenden Gesichtern, vielen Herzchen und Aussagen wie “Sehr schön … danke dafür :-)” oder “Herrlich” versehen sein müssen. Oder anders: Wir finden Linken-Politiker und Ministerpräsident Bodo Ramelow blöd, also lasst uns ihm mal einen “Shitstorm” andichten:
Shitstorm für MP Bodo Ramelow (Linke)!
Grund sei dieser “schräg formulierte Nachrichten-Mix des Politikers auf Twitter”:
Die Thüringen-Ausgabe der “Bild”-Zeitung schreibt über die Reaktionen:
Ein verärgerter User antwortete: “Bodo lass das, Witze kann nicht jeder, mach lieber ordentliche Politik!”
Andere fanden, dass sich der Beitrag wie ein Antrag auf Pensionierung lese, fragten beim MP sogar nach, ob er alkoholisiert gewesen sei.
1. Juan Moreno ist der Journalist des Jahres 2019 (mediummagazin.de)
Der vor allem durch die Causa Relotius bekannt gewordene freie Reporter Juan Moreno ist von einer rund 100-köpfigen Jury des “medium magazin” zum “Journalisten des Jahres” 2019 gewählt worden: “Moreno zeigte als Reporter die Hartnäckigkeit des gründlichen Rechercheurs und ehrlichen journalistischen Handwerkers. Zudem bewies er den Mut, für die Wahrheit persönlich viel aufs Spiel zu setzen, da ihm zunächst niemand glauben wollte. Die Folgen seiner Recherchen werden die Debatten über Qualitätsjournalismus weit über 2019 hinaus prägen.”
2. Ein Recht auf Sendezeit gibt es nicht (deutschlandfunk.de, Arno Frank)
Zum Ende des Jahres wird gerne nachgezählt, wie oft welche Politikerinnen und Politiker bei den großen politischen Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen zu sehen waren. Begleitet von der Kritik, dass manche Parteien beziehungsweise deren Vertreterinnen und Vertreter zu kurz gekommen seien, wenn man die Sitzverteilung im Bundestag als Maßstab heranziehe. Eine Kritik, die Arno Frank nicht nachvollziehen kann: “Die Auswahl der Gäste erfolgt nicht nach demokratischem Proporz, sondern nach redaktionellen Erwägungen. Jede Sendung ist der Versuch, eine ergiebige Gesprächsrunde zu orchestrieren.”
3. “Projekt Herkules”: Springer-Chef Döpfner lockt “Bild”-Mitarbeiter mit Turbo-Prämie zum Ausscheiden (meedia.de, Gregory Lipinski)
Der Axel-Springer-Konzern will “die Kostenbasis durch strukturelle Anpassungen um insgesamt rund 50 Millionen Euro senken” und setzt vor allem beim Personal an. Möglichst viele “Bild”-Beschäftigte sollen mit Prämien dazu bewegt werden, freiwillig das Unternehmen zu verlassen. Eine Vorgehensweise, die man bei der “Welt” schon gewählt hatte.
4. Die Like-Fabrik (sueddeutsche.de, Svea Eckert & Simon Hurtz & Sören Müller-Hansen & Vanessa Wormer)
“SZ”, NDR und WDR liegt eine Liste mit Links zu knapp 90.000 Social-Media-Präsenzen vor, die von gekauften Likes des Like-Lieferanten “Paidlikes” profitierten. Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum hatten die unzureichend geschützten Daten der Website entnommen und zugänglich gemacht. Obwohl aus ihnen nicht ersichtlich wird, wer den Likekauf beauftragt und bezahlt hat, ermöglicht die Recherche interessante Einblicke in das Geschäftsmodell mit den gekauften “Gefällt mir”-Angaben und Herzen.
5. Polizisten können zwei Tage lang nicht twittern (netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Auf Twitter wurden am Wochenende mehrere kleinere Polizei-Accounts zumindest zeitweise gesperrt. netzpolitik.org hat Ursachenforschung betrieben. Der Verdacht auf “Overblocking” liege nahe. Warum jedoch ausgerechnet die elf Polizei-Accounts betroffen waren, von denen die Sperrung bekannt wurde, sei unklar.
6. TikTok: Wir haben Videos von Polizeigewalt hochgeladen, dann wurden sie gelöscht (vice.com, Sebastian Meineck)
Kritischer Journalismus ist auf TikTok anscheinend nicht erwünscht, so eine mögliche Erkenntnis aus einem Experiment der “Vice”-Redaktion. Die fünf testweise hochgeladenen Videoaufnahmen von Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Zivilbevölkerung seien entweder gelöscht oder in ihrer Reichweite gedrosselt worden.