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Bild.de lässt Bergmänner am Times Square demonstrieren

Die Bundesregierung hat beschlossen, bis 2038 aus der Braunkohle auszusteigen. Doch die “Bild”-Zeitung ist dagegen.

Der Ausstieg sei viel zu “teuer und kompliziert”, wetterte “Bild”-Vize Nikolaus Blome schon kurz nach dem Beschluss. Wenn es nach den Grünen und den Umweltschützern ginge, säßen wir “irgendwann alle im Dunkeln.”

Von “Öko-Irrsinn” ist die Rede, von “Klima-Chaos”. Der Kohleausstieg: ein riesiger Fehler! “Unser Wohlstand verträgt keinen übereilten Kohle-Ausstieg!”, schreit “Bild” schon vor dem Beschluss und warnt: “STANDORT DEUTSCHLAND IN GEFAHR!” Und nicht nur das!

BILD-Titelseite: Steuern! Strompreis! Arbeitsplätze! DAS KOSTET UNS DAS KOHLE-AUS
Schlagzeile Bild.de: Experten rechnen mit Strompreis-Hammer
Schlagzeile Bild.de: Energiewende - Wie viel Kohle ist uns das wert?
Schlagzeile BILD: Kohle-Aus kostet bis zu 78,5 Milliarden Euro
Schlagzeile BILD: Milliarden-Loch - Scholz geht wegen Kohle-Aus die Kohle aus
Schlagzeile BILD: Merkel äußert Zweifel am Kohle-Ausstieg - Wenn wir so weitermachen, werden wir scheitern

Heute präsentiert Bild.de …

Schlagzeile Bild.de: 5 Gründe, warum der Kohle-Ausstieg so nicht funktioniert

Grund Nummer 3:

Widerstand in den Regionen. Aus den betroffenen Kohle-Regionen — Sachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg — gibt es Widerstand gegen das Kohle-Aus, weil viele Jobs wegfallen. Im Saarland unterzeichneten mindestens ein Dutzend Bürgermeister einen Brief an die Bundesregierung, sie fordern finanzielle Unterstützung. Sogar am Times Square in New York wurde demonstriert.

Der Link steht da so im Original, und wer sich die Mühe macht, ihn anzuklicken, sieht schnell, dass das keine Demonstration empörter Braunkohlearbeiter war …

Schlagzeile Bild.de: Bergbau-Label "Grubenhelden" mit Flashmob aus New York - Pott-Kumpel leuchten am Times Square - Mode-Start-Up nimmt auch an der Fashion Week teil

… sondern eine PR-Kampagne von einem Modelabel.

Mit Dank an den Hinweisgeber!

Nun auch in “Bild”: Seenotretter nicht wegen Schleuserei vor Gericht

In der Dienstagsausgabe der “Bild”-Zeitung, auf Seite 2, ganz gut versteckt zwischen “Iran-Regime bleibt sich beim Amerika-Hass treu” und “‘Unser Deutschland gibt es nicht für lau!'” finden sich diese 39 Zeilen:

Ausriss Bild-Zeitung - Gegendarstellung - In der Bild-Zeitung vom 28. Januar 2019 heißt es in einem Artikel unter der Überschrift: Mission Lifeline auf Twitter: Seenotretter werben für Ehen mit Flüchtlingen: Kapitän Claus-Peter Reisch (57) steht derzeit in Malta wegen des Vorwurfs der Schleuserei vor Gericht. Hierzu stelle ich fest: Kapitän Claus-Peter Reisch steht derzeit in Malta nicht wegen des Vorwurfs der Schleuserei vor Gericht. In dem Gerichtsverfahren geht es um die angeblich falsche Registrierung des Schiffes. Leipzig, den 29. Januar 2019, Rechtsanwalt Dr. Jonas Kahl für Claus-Peter Reisch - Anmerkung der Redaktion: Herr Reisch hat recht.

Bei der Aufmachung der ursprünglichen Berichterstattung hatte sich die “Bild”-Redaktion noch deutlich mehr ins Zeug gelegt.

Nachtrag, 12. Februar: Kapitän Claus-Peter Reisch hat sich offenbar auch gegen dieselbe (falsche) Behauptung in einem Artikel von Bild.de gewehrt. Auch dort ist inzwischen eine Gegendarstellung erschienen:

Screenshot Bild.de - Mission Lifeline auf Twitter - Gegendarstellung - In einem Artikel vom 28.01.2019 unter der Überschrift Mission Lifeline auf Twitter: Seenotretter werben für Ehen mit Flüchtlingen“ auf www.bild.de heißt es: Kapitän Claus-Peter Reisch (57) steht derzeit in Malta wegen des Vorwurfs der Schleuserei vor Gericht. Hierzu stelle ich fest: Ich stehe derzeit in Malta nicht wegen des Vorwurfs der Schleuserei vor Gericht. In dem Gerichtsverfahren geht es um die angeblich falsche Registrierung eines Schiffes. Landsberg, den 29. Januar 2019, Claus-Peter Reisch - Anmerkung der Redaktion: Herr Reisch hat recht.

Versuchter Journalismus

Kurzer Exkurs ins Strafrecht. Genauer: zum Paragrafen 24 des Strafgesetzbuchs.

Bei diesem Paragrafen geht es um den sogenannten Rücktritt: Für Täterinnen und Täter, die etwa wegen versuchten Mordes, versuchter Vergewaltigung oder versuchten Totschlags angeklagt sind, kommen mildere Urteile in Betracht, wenn sie während der Tat aus freien Stücken von dem Versuch zurückgetreten sind. Wer also “freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert”, so der Gesetzgeber, wird nicht wegen Versuchs bestraft.

Der Gedanke dahinter: Wenn sich jemand in der Tat befindet und sie dann doch nicht zu Ende führt, soll es eine Art Belohnung geben. Wenn es die nicht gäbe, könnte man die Tat ja auch einfach ausführen — wäre ohne Paragraf 24 StGB schließlich dieselbe Strafe, die man bekäme, egal, ob man’s nun zu Ende führt oder nicht. Diese Regelung kann letztendlich auch eine Chance für die Opfer sein, eine Tat zu überleben.

“Bild” und Bild.de berichten heute über diesen Paragrafen und nennen Beispiele von Personen, die wegen versuchten Mordes, versuchten Totschlags und versuchter Vergewaltigung angeklagt waren. Da die Gerichte bei ihnen allen einen freiwilligen Rücktritt sahen, wurden sie am Ende nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die Leute, um die es da geht, sind also keine Mörder (denn dafür hätten sie ihre Taten ja zu Ende führen müssen, und Paragraf 24 würde keine Rolle bei ihnen spielen). Überschrift Bild.de:

Screenshot Bild.de - Wie sich Mörder vor der Höchststrafe retten
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Damit bedient Bild.de einen Stammtischgedanken: Diese lasche Kuscheljustiz! Selbst Mörder können sich hier “vor der Höchststrafe retten”!

Dass das im Zusammenhang mit Paragraf 24 völliger Unfug und in Wahrheit viel komplizierter ist, erfährt man allerdings nur mit einem “Bild Plus”-Abo.

Bild.de zeigt verstorbene Kinder

Im US-Bundesstaat Maryland sind bei einem Autounfall fünf Kinder gestorben. Bild.de berichtet über den tragischen Vorfall und zeigt im Artikel als Aufmacherbild ein unverpixeltes Foto, auf dem zwei der Kinder, eine Fünf- und eine Achtjährige, zu sehen sind:

Screenshot Bild.de - Sie waren nicht angeschnallt - Fünf Kinder sterben bei Horror-Unfall. Dazu ein Foto, das zwei der Kinder, die bei dem Unfall gestorben sind, zeigt.
(Unkenntlichmachung durch uns.)

In der dazugehörigen Bildunterschrift steht:

[…] (5, l.) und […] (8) starben, weil sie nicht angeschnallt waren

Die Redaktion nennt also auch die Vornamen der beiden verstorbenen Kinder und dazu im Text Vor- und Nachnamen der Mutter, die am Steuer des Autos saß und verletzt überlebte.

Als Quelle des Fotos, das die beiden Mädchen zeigt, gibt Bild.de an: “Foto: privat”.

Mit Dank an Uwe S. und @UdoSchnappinger für die Hinweise!

Von Wagner und Werther

Seit Jahren warnen Experten davor, dass die Berichterstattung über Suizide gefährlich sein, und der sogenannte Werther-Effekt zu Nachahmungstaten und somit zu weiteren Suiziden führen kann. Es gibt reichlich Forschungsergebnisse zu dem Thema. Und dennoch missachten Redaktionen diese Erkenntnisse immer wieder.

Franz Josef Wagner macht es in “Bild” heute besonders schlimm. Sein Brief richtet sich an ein 11-jähriges Mädchen, das sich das Leben genommen hat. Es wurde in der Schule offenbar heftig gemobbt. Während die Überschrift erstmal nur pietätlos ist, und Wagner aus dem tragischen Fall das boulevardesk gekoppelte “Mobbing-Mädchen” kreiert …

Ausriss Bild-Zeitung - Post von Wagner - Liebes Mobbing-Mädchen, 11

… ist sein Brief gefährlich. Direkt zu Beginn schreibt er:

Du bist nun dort, wo es keine Schule gibt, keine Klassenkameraden/innen, die gemein sind, Dich ärgern. Du bist dort, wie ich hoffe, wo nur Engel sind.

Und am Ende:

Die Einsamkeit des 11-jährigen Mädchens rührt uns nach ihrem Tod. Sie hat die Welt des Bösen nicht ertragen. Lebe bei den Engeln glücklich!

Solltest Du Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.

Der Suizid als scheinbarer Weg zum Glück und zu den Engeln; als vermeintliche Erlösung von der Qual, von der “Welt des Bösen”. Das ist exakt die Art der Berichterstattung, vor der die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” und die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” warnen. Beide haben Leitfäden für Medien herausgegeben, in denen sie zeigen, wie Redaktionen über Suizide berichten sollten. Darin heißt es unter anderem:

In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, z.B. (…)

• den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe “in den Suizid getrieben”. (“Für ihn gab es keinen Ausweg”).

• den Suizid romantisierend oder idealisierend darzustellen (“Im Tod mit seiner Liebsten vereint”).

… so die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” (PDF). Die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” schreibt (PDF):

Nachahmung setzt Identifikation voraus. Diese Gefahr steigt, wenn: (…)

• der Suizid positiv bewertet, glorifiziert oder romantisiert wird

• der Suizid als nachvollziehbare Reaktion oder als einziger Ausweg bezeichnet wird

Die Nachahmungsgefahr sinke hingegen, wenn “der Suizid als Folge einer Erkrankung (z.B. Depression) dargestellt wird, die erfolgreich hätte behandelt werden können” und wenn “alternative Problemlösungen und Fälle von Krisenbewältigung aufgezeigt werden”.

Der gegenteilige Effekt entstehe, wenn eine Redaktion “einen Suizid auf der Titelseite oder als ‘TOP-News’ erscheinen” lasse und “die Begriffe Selbstmord, Suizid und Freitod in der Überschrift vorkommen”.

So sieht die “Bild”-Titelseite von heute aus:

Ausriss Bild-Titelseite - Mobbing bis zum Selbstmord - So erkennen Sie, ob Ihr Kind gefährdet ist

Bild.de verbreitet Messwert-“Gaga”-Unsinn des Verkehrsministers

Ernst Elitz begegnet uns ja normalerweise als Ombudsmann, der bei und in “Bild” für Recht und Ordnung sorgen soll. Manchmal schreibt Elitz aber auch als Autor für “Bild” und Bild.de und stiftet dann selbst mit falschen Fakten Unordnung. So auch jetzt wieder.

Elitz schrieb am Freitag über den Talk bei “Maybrit Illner”:

Aufreger der Woche! Das Thema bei “Maybrit Illner”: “Fahrverbot und Tempolimit — muss Deutschland runter vom Gas?”

Jeder hat eine Meinung. Wer hat die schlagenden Argumente?

Für Elitz und Bild.de offenbar Verkehrsminister Andreas Scheuer:

Screenshot Bild.de - Diesel-Talk bei Illner - Scheuer lästert über Gaga-Mess-Stationen

Scheuer macht sich lustig: In Stuttgart steht eine Mess-Station “am Neckartor in der Gebäudenische neben der Mülltonne. In Wien ist die zentrale Mess-Station in einer Fussgängerzone.” Scheuer: “Wenn man sich selber kasteien will, muss man es machen wie in Stuttgart.”

Noch ein Mess-Stationen-Witz vom Verkehrsminister: In Oldenburg wurden die höchsten Werte während eines Marathonlaufs gemessen. Scheuer: “Wenn das nicht Gaga ist.” Scheuer will die Grenzwerte noch mal überprüfen lassen.

Erstmal sollte Andreas Scheuer aber vielleicht seine Fakten überprüfen lassen. Und das am besten nicht von Ernst Elitz, der Scheuers “Mess-Stationen-Witz” aus Oldenburg bereitwillig aufgreift und verbreitet.

Denn es stimmt schlicht nicht, was der Verkehrsminister und der “Bild”-Ombudsmann da erzählen.

Die vermeintlich hohen Messwerte während des Marathons in Oldenburg kursieren schon länger. Neulich erst tauchten sie zum Beispiel in der Doku “Das Diesel-Desaster” im “Ersten” auf. Und jetzt eben bei “Maybrit Illner” und Bild.de.

Der Marathonlauf in Oldenburg fand am 21. Oktober 2018 statt. Die gesperrte Strecke führte unter anderem an einer Messstation für Stickstoffdioxid vorbei. Diese meldete für den 21. Oktober den Tageshöchstwert von 54 µg/m³, also ein gutes Stück über dem Grenzwert von 40 µg/m³.

Wurden in Oldenburg also “die höchsten Werte während eines Marathonlaufs gemessen”, wie Ernst Elitz dem Verkehrsminister nachplappert? Nein. Die 54 µg/m³ wurden um 21 Uhr gemessen, als der Marathon längst vorbei war, und wieder Autos an der Messstation vorbeifuhren. Während des Laufs — um 16 Uhr wurden die letzten Straßensperrungen aufgehoben — lagen die offiziellen Messergebnisse unter dem Grenzwert:

XXX

Die Stadt Oldenburg schreibt dazu:

Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Messstation am Heiligengeistwall wird auch häufig der Tag des Marathonlaufes in Oldenburg, 21. Oktober 2018, als Argument für die möglicherweise unzutreffenden Messwerte heran gezogen. Beim Marathonlauf gab es keine Autos in der Stadt, trotzdem hohe Messwerte. Wie lässt sich das erklären? (…)

Der Tagesmittelwert am 21. Oktober 2018 hat den üblichen Sonntagswert um 1,2 µg/m³ unterschritten.

Der Laufsonntag war auch für den Heiligengeistwall nicht verkehrsfrei. Lediglich im Zeitraum zwischen 9 und 14 Uhr sorgten Absperrungen für weniger Verkehr als sonst üblich. Während dieser Zeit konnten in Richtung Julius-Mosen-Platz etwa 670 Fahrzeuge den Bereich der Messstelle passieren. Im gesamten Zeitraum von 0 bis 24 Uhr befuhren etwa 2.500 PKW und rund 200 LKW/Busse die Strecke in diese Richtung.

Auf der Bild.de-Startseite wirbt Ernst Elitz so für seine Dienste als “Bild”-Ombudsmann:

Screenshot Bild.de - Debatte falsch dargestellt? Zweifel an Fakten? Schreiben Sie dem Bild-Ombudsmann

Wir hätten da was, siehe oben.

Mit Dank an theo und @MichaelKreil für die Hinweise!

Die ganz besondere “Bild”-“Wahrheit” zum Tempolimit

Nach seinem Diesel-“Manifest” aus dem vergangenen Jahr und den “10 Mitrede-Fakten zum Diesel-Durcheinander” von vor ein paar Tagen liefert Stefan Voswinkel, stellvertretender Chefredakteur Auto der „Bild“-Gruppe, nun “5 WAHRHEITEN” zur Diskussion ums Tempolimit:

Screenshot Bild.de - Fünf Wahrheiten zur Autobahn-Debatte - Ein Tempolimit verhindert keine tödlichen Unfälle

Voswinkels “Wahrheit 4”, die zur Überschrift bei Bild.de geführt hat, lautet:

Ein Tempolimit verhindert keine tödlichen Unfälle. Ob man mit 130 km/h oder 160 km/h verunglückt — die Folgen sind in beiden Fällen zumeist tödlich.

Das mag sein — wobei wir uns durchaus vorstellen können, dass es einen Unterscheid macht, ob man mit 160 km/h oder mit 130 km/h auf ein Auto brettert, das beispielsweise mit 100 km/h von der rechten auf die linke Autobahnspur ausschert.

Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Voswinkel geht davon aus, dass es einen Unfall gibt, und schaut sich dann die Auswirkungen verschiedener Geschwindigkeiten an. Die wenigen Studien, die es zum Thema gibt, zeigen aber, dass ein Tempolimit schon früher ansetzt: Mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h kommt es gar nicht erst zu so vielen Unfällen — und damit auch nicht zu so vielen tödlichen Unfällen — wie ohne Tempolimit.

Das Land Brandenburg hat bereits Ende 2002 auf einem 62 Kilometer langen Abschnitt der A24 eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h eingeführt (an den dazugehörigen Autobahndreiecken beträgt sie 120 km/h). Eine Studie hat unter anderem die Unfälle vor und nach Einführung untersucht (PDF). Die Ergebnisse sind ziemlich deutlich: In den drei Jahren zuvor gab es auf der Strecke 654 Unfälle, in den drei Jahren danach nur noch 337. Das entspricht einem Rückgang von 48 Prozent. Die Zahl der Verletzten und tödlich Verunglückten sank mit 57 Prozent noch stärker: von 838 in drei Jahren vor der Umstellung auf 362 in den drei Jahren danach. Allerdings war laut Studie auch die sogenannte Verkehrsstärke auf dem Abschnitt leicht rückläufig: von 47.200 Kfz pro 24 Stunden zwischen 2000 und 2002 auf 45.400 Kfz pro 24 Stunden zwischen 2004 und 2006.

Christian Frahm und Emil Nefzger haben sich bei “Spiegel Online” die Unfallstatistik für die 62 brandenburgischen Autobahnkilometer in einem noch größeren Zeitraum angeschaut:

Bemerkenswert ist vor allem die Entwicklung der Verletztenzahlen: So wurden von 1996 bis 2002 bei Unfällen auf diesem Autobahnabschnitt 1850 Menschen verletzt — im gleichen Zeitraum nach der Einführung der 130 km/h sank die Zahl um mehr als die Hälfte, auf 799 Verletzte.

Die Zahlen aus Brandenburg widerlegen auch die These des Verkehrsforschers Michael Schreckenberg, der sich gegen Tempolimits ausgesprochen hat. Auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar hatte er noch erklärt: “Ob ich mit Tempo 100 oder 160 vor den Baum fahre — ich bin in beiden Fällen tot.” Tatsächlich starben auf dem untersuchten Abschnitt der A24 in Brandenburg in den Jahren 1996 bis 2002 ohne Tempolimit 38 Menschen. Seit der Beschränkung auf 130 km/h im Jahr 2003 halbierte sich diese Zahl auf 19 Tote.

Ein Tempolimit kann, anders als Stefan Voswinkel bei Bild.de behauptet, offenbar tödliche Unfälle verhindern.

Das bestätigen auch Zahlen aus Nordrhein-Westfalen, die Frahm und Nefzger ebenfalls nennen:

Ein ähnliches Beispiel gibt es auch in Nordrhein-Westfalen, auf einem Autobahnabschnitt der A4 zwischen den Gemeinden Elsdorf und Merzenich. Dort wurde 2017 nach mehreren schweren Unfällen mit zahlreichen Verletzten und insgesamt neun Getöteten in den vorangegangenen drei Jahren ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde eingeführt. Nach Informationen des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) ereignete sich dort bis heute kein tödlicher Unfall mehr.

Ein Tempolimit könne laut der Studie aus Brandenburg übrigens noch weitere Vorteile haben: einen besseren Verkehrsfluss, eine höhere Kapazität und, da die sinkenden Unfallkosten die durch eine längere Fahrtzeit entstehenden zusätzlichen Kosten übertreffen, niedrigere Ausgaben für die Gesellschaft.

Mit Dank an Dirk H. für den Hinweis!

Vom “Unwort des Jahres” zu einer Bedrohung für die Meinungsfreiheit

Seit 28 Jahren wird in Deutschland das “Unwort des Jahres” gewählt — sehr zum Gefallen der “Bild”-Zeitung, die seit vielen Jahren gerne darüber berichtet, oft sogar auf der Titelseite.

Ausriss Bild-Zeitung - Unwort des Jahres - Zum Unwort des Jahres 2009 hat eine Jury den Begriff betriebsratsverseucht gewählt. Ein Mitarbeiter einer Baumarkkette hatte das Wort im TV verwendet
(“Bild”, 2010, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Gesellschaft für deutsche Sprache - Alternativlos ist das Unwort des Jahres 2010 - Es war Angela Merkels Kommentar zur Griechenland-Hilfe
(Bild.de, 2011)

Ausriss Bild-Zeitung - Döner-Morde ist das Unwort des Jahres
(“Bild”, 2012, Titelseite. Dass sie selbst zur Verbreitung des Begriffs beigetragen hatte, ließ die Redaktion natürlich lieber unerwähnt.)

Ausriss Bild-Zeitung - Schlecker-Frauen Unwort des Jahres?
(“Bild”, 2013, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Aus über 1300 Einsendungen gewählt - Sozialtourismus ist Unwort des Jahres
(Bild.de, 2014)

Ausriss Bild-Zeitung - Lügenpresse ist Unwort des Jahres
(“Bild”, 2015, Titelseite)

Ausriss Bild am Sonntag - Jury sucht Unwort 2015
(“Bild am Sonntag”, 2016)

Ausriss Bild-Zeitung - Umvolkung und Rapefugee sind Favoriten - Endspurt für Unwort 2016
(“Bild Frankfurt”, 2017)

Ausriss Bild-Zeitung - Volksverräter Unwort des Jahres
(“Bild”, 2017, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Jury aus Sprachwissenschaftlern hat entschieden - Alternative Fakten ist Unwort des Jahres 2017
(Bild.de, 2018)

Ausriss Bild-Zeitung - Unwort des Jahres 2017: Alternative Fakten
(“Bild”, 2018, Titelseite)

Auch über die jüngste Wahl zum “Unwort des Jahres 2018” hat “Bild” vor ein paar Tagen wieder berichtet. Diesmal aber mit einer, nun ja, leichten Änderung im Ton. Die Zeitung schreibt:

Ausriss Bild-Zeitung - Große Debatte um das Unwort des Jahres - Sprach-Polizei verordnet Deutschland Sagbarkeits-Regeln

Die Jury der sogenannten „Sprachkritischen Aktion“ aus Sprachwissenschaftlern hat die Formulierung „Anti-Abschiebe-Industrie“ von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt (48) zum „Unwort des Jahres 2018“ gekürt – und löst damit kritisches Nachfragen aus.

Und zwar in erster Linie bei den Autoren des “Bild”-Artikels, Filipp Piatov und Ralf Schuler, die empört fragen: “Wer ist die Sprachpolizei überhaupt?” “Was hat die Sprach-Jury auszusetzen?” Und vor allem: “Wer soll das noch verstehen?”

“Niemand hat diese Jury legitimiert”, zitieren sie einen Sprachprofessor. Die Jury stehe “immer auf der sicheren Seite der politischen Korrektheit”. Diese ganze Sache sei “eine Farce”.

Man dürfe, so das bittere Fazit der “Bild”-Autoren, in diesem Land eben nicht mehr öffentlich sagen, was man möchte:

Nach der Kritik von Sport-Star Stefan Kretzschmar (45) diskutiert Deutschland, ob man eigentlich noch öffentlich sagen kann, was man möchte. Erkenntnis seit gestern: Ja, darf man. Es sei denn, es passt der Sprachpolizei nicht…

Über diese Kretzschmar-Sache hatte “Bild” schon in den Tagen davor groß berichtet:

Ausriss Bild-Titelseite - Darf man nicht mehr sagen, was man denkt? Die Debatte über Meinungsfreiheit geht weiter - was Prominente sagen

Die Antwort dürfte den “Bild”-Lesern spätestens seit dem “Unwort”-Artikel klar sein. Stichwort: Political Correctness! Stichwort: Sprachpolizei!

Jahrelang hielt die “Bild”-Zeitung die Wahl zum “Unwort des Jahres” für eine berichtenswerte Nachricht, sie widmete ihr prominente Plätze auf der Titelseite, machte regelrecht Werbung dafür: Diese Begriffe stehen zur Auswahl! So können Sie Vorschläge einreichen! Das sind die Gewinner!

… und auf einmal ist sie das Werk der “Sprachpolizei”, die mit ihrer “politischen Korrektheit” die Meinungsfreiheit in diesem Land einschränken will.

Ganz neu sind diese Argumente und Begrifflichkeiten freilich nicht. 2017 schrieb die AfD zum Unwort des Jahres, hier schwinge sich “eine Gesellschaft zur Sprachpolizei” auf. 2018 schrieb “Compact”: “Das Unwort des Jahres 2017 steht fest. Na, toll – und jetzt? Was soll dieser Zirkus eigentlich? Will uns die Sprachpolizei hier rhetorisch einnorden? Alles frei nach Orwell: ‘Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken?'” Und “Tichy’s Einblick” erklärte vor ein paar Tagen, die Wahl zum “Unwort” diene “Linksintellektuellen” lediglich dazu, “Andersdenkende lächerlich zu machen und zu diffamieren”. Überschrift: “Jährlich meldet sich die linke Sprachpolizei”.

Und “Bild” marschiert — mal wieder — munter mit.

Der Rytmus, Rhytmus und Rythmus, bei dem man mit muss

Ausriss Bild-Zeitung - Barbara Schöneberger - Mit Leuten, die Rhythmus nicht schreiben können, breche ich den Kontakt ab

… sagt Schöneberger im Gespräch mit “Bild”. Dann war das wohl ihr letztes Interview mit den “Bild”-Medien.

Wenn Luna (11) auf dem Parkett tanzt, merkt man: Sie hat Rytmus im Blut!

(Bild.de am 10. Januar 2019)

Brungs: “Ishak ist leider immer bisschen verletzt, deshalb findet er nur schwer seinen Rythmus, obwohl er ein guter Spieler ist.”

(Bild.de am 6. Dezember 2018)

Eröffnet werden die Einzel ab 12:05 Uhr im 12-Minuten-Rhytmus, wobei das finale Match von Tee 1 um 14:17 Uhr starten soll.

(Bild.de am 29. September 2018)

Saracchi: “(…) Dort wird im Vierjahres-Rythmus von Olympia zu Olympia gedacht.”

(Bild.de am 4. September 2018)

Noval Djokovic hat dagegen direkt einen guten Rhytmus und erspielt sich einen Breakball.

(Bild.de am 19. August 2018)

Für Slovan Bratislava ist es bereits das dritte Spiel in der Europa League Qualifikation. Ein bisschen europäischen Rythmus haben sie also schon in den Beinen.

(Bild.de am 9. August 2018)

Das bringt die Eisbären aus dem Rythmus — Ausgleich!

(Bild.de am 24. April 2018)

Pella setzt zum slice an und stört damit den Rhytmus vom Schweizer, der prompt nur mit dem Rahmen den Ball trifft und verzieht.

(Bild.de am 15. Juni 2018)

Comeback-Weltmeister Nigel de Jong bei Sky: “(…) Ich brauche jetzt den Rythmus, brauche Spiele.”

(Bild.de am 13. Januar 2018)

Das Angebot richtet sich speziell an Frauen, im 30-Minuten-Rythmus wird per Zirkeltraining der Körper in Schwung gebracht.

(Bild.de am 6. Oktober 2017)

Der ungarische Coach nimmt eine Auszeit, um den Rhytmus der deutschen Aufschlägerin zu unterbrechen.

(Bild.de am 24. September 2017)

Auf dem Kurs in Spa fand Vettel im Training nicht zu seinem Rhytmus.

(Bild.de am 25. August 2017)

Das Beste: Das Rekordschiff bleibt Hamburg treu und wird im 12-Wochen-Rhytmus immer wieder bei uns festmachen.

(Bild.de am 5. August 2017)

Darmstadts Verteidiger Fabian Holland (26) leidet unter dem Wolff-Parkinson-White-Syndrom, das kann zu Herz-Rhytmus-Störungen führen kann.

(Bild.de am 11. Mai 2017)

“Bild” wirft Nebelkerzen ins Diesel-Durcheinander

Wenn ein “Bild”-Artikel schon so anfängt, sollte man schnell in Deckung gehen:

Die Diesel-Debatte dröhnt durch Deutschland, ohne dass man wirklich weiß, was man nun glauben soll: Sich widersprechende Experten, Ärzte, Politiker — viel Meinung, aber oft wenig Wissen. BILD bringt Ordnung ins deutsche Diesel-Durcheinander. Hier 10 Fakten, die jeder zur Kenntnis nehmen sollte

Tom Drechsler, Chefredakteur Auto der “Bild”-Gruppe sowie Schutzpatron der Pendler, und Stefan Voswinkel, stellvertretender Chefredakteur Auto der “Bild”-Gruppe, haben “Mitrede-Fakten zum Diesel-Durcheinander” zusammengetragen:

Screenshot Bild.de - Feinstaub, Messstationen, Tempolimits - Zehn Mitrede-Fakten zum Diesel-Durcheinander

… die am vergangenen Freitag auch in der gedruckten “Bild” erschienen sind:

Ausriss Bild-Zeitung - Bild bringt Ordnung ins Diesel-Durcheinander

Wie wenig Interesse Drechsler und Voswinkel jedoch an tatsächlicher Aufklärung haben, zeigen sie zum Beispiel in ihrem “Fakt” Nummer 8:

8. Kalifornien hat die strengsten Umweltgesetze der Welt. Trotzdem gilt dort ein NOx-Grenzwert von 58 µg/m³ Luft als nicht gesundheitsgefährdend, bei uns sind es 40 µg. Hätten wir die US-Grenzwerte, gäbe es in keiner einzigen deutschen Stadt ein Dieselfahrverbot!

Wer jetzt glaubt, dass keine deutsche Stadt bei den Stickoxiden (NOx) über dem kalifornischen Grenzwert liegt, ist auf den Trick der beiden “Bild”-Redakteure reingefallen. Geschickt vermischen sie verschiedene Vorgaben und lassen ein wichtiges Detail weg: Der Grenzwert in Kalifornien und die “US-Grenzwerte” sind nämlich zwei sehr unterschiedliche Dinge. Während in Kalifornien (und in einigen US-Bundesstaaten, die sich angeschlossen haben) ein Grenzwert von 57 µg/m³ (und nicht, wie “Bild” schreibt, 58 µg/m³) gilt, liegt er im Rest der USA bei 100 µg/m³. Die Aussage “gäbe es in keiner einzigen deutschen Stadt ein Dieselfahrverbot!” bezieht sich also auf einen deutlich höheren Grenzwert und hat nichts mit den Vorschriften in Kalifornien zu tun. Im Gegenteil: Auch bei Anwendung des kalifornischen Grenzwertes würde es in Deutschland Fahrverbote geben (PDF).

Weiter zu “Fakt” 6, wo Drechsler und Voswinkel aus einer Korrelation eine Kausalität machen:

6. 2010 überschritt die Zahl der Autos auf der Erde erstmals die Milliardengrenze, bis 2020 werden es 1,3 Milliarden sein. Die Lebenserwartung der Menschen steigt aber jedes Jahr. Laut WHO in den letzten 50 Jahren um 20 Jahre. Deutschland gehört zu den Ländern mit der höchsten Lebenserwartung: 80,8 Jahre.

Jeden Erwachsenen, der in einer Diskussion diese Nebelkerze als “Mitrede-Fakt” verkaufen wollte, würde man auslachen.

Oder “Fakt” 5, wo Tom Drechsler und Stefan Voswinkel als Argument gegen Elektroautos den Umstand anführen, dass diese — wie alle anderen Autos auch — Reifen haben, bremsen müssen und über Straßen fahren, auf denen Dreck liegt:

5. E-Autos sind nicht die Rettung. Sie fahren zwar emissionsfrei. Allerdings führen auch beim E-Auto Reifen- und Bremsabrieb zu Feinstaubbildung, außerdem der Dreck auf der Straße, den sie aufwirbeln.

Im vergangenen Jahr hat das Duo Drechsler/Voswinkel bereits ein “BILD-MANIFEST” mit Falschem und Verdrehtem aus der “Diesel-Hölle” veröffentlicht. Dass “viel Meinung, aber oft wenig Wissen” in der durch Deutschland dröhnenden Diesel-Debatte steckt, dürfte auch das Verdienst der zwei “Bild”-Auto-Chefs sein.

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