Es geht um die zwei Wörter “Bis zu”. Die hat die “Bild”-Redaktion klug gewählt, klug im Sinne von: manipulativ. Schaut man sich nämlich den dazugehörigen Artikel an – wofür man allerdings entweder die “Bild”-Zeitung kaufen oder ein “Bild-plus”-Abo besitzen muss -, sieht man recht schnell: Mit den 29 Prozent hat “Bild” sich einen extremen Ausreißer rausgesucht. Autor Filipp Piatov listet in seinem Beitrag die Werte aus acht Bundesländern auf: In Baden-Württemberg sind laut dortigem Gesundheitsministerium 6 Prozent der als “Corona-Tote” gemeldeten Personen nicht am, sondern mit dem Coronavirus gestorben, in Bayern 11 Prozent, in Hessen 7 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 9 Prozent, in Niedersachsen 10 Prozent, in Rheinland-Pfalz 17 Prozent, im Saarland 10 Prozent und in Sachsen-Anhalt 29 Prozent.
Für “Bild” ist der Fokus klar: “Bis zu 29 Prozent”.
Hätte die Redaktion stattdessen plump den Durchschnitt der acht Bundesländer errechnet, hätte sie nur 12,4 Prozent vermelden können. Hätte sie den Durchschnitt anhand der Anzahl der gemeldeten Corona-Toten gewichtet, wären es 14,2 Prozent gewesen.
Das sind nicht so wahnsinnig überraschende Werte. Bereits im April 2021 berichtete “Quarks” beispielsweise:
Die Deutsche Gesellschaft für Pathologie hat im Jahr 2020 Untersuchungen an 154 Verstorbenen durchgeführt, die zuvor an Covid-19 erkrankt waren. Das Ergebnis: 86 Prozent dieser Todesfälle waren wesentlich oder alleinig auf die direkten Folgen der Infektion zurückzuführen (…)
Die Todesursachenstatistik des Bundesamtes für Statistik bestätigt diesen Befund: Bei den Corona-Todesfällen für das Jahr 2020 wurde bei 83 Prozent der Fälle Corona als hauptsächliche Ursache angegeben. Bei den restlichen 17 Prozent habe Corona demnach als “Begleiterkrankung zum Tod beigetragen”.
(Um die Debatte, ob die Unterscheidung zwischen an und mit Corona verstorben sinnvoll ist, oder den Gedanken, dass niemand an einem Virus stirbt, sondern an den körperlichen Folgen, soll es hier erstmal nicht weiter gehen.)
Das liegt in etwa in dem Bereich der von uns errechneten Durchschnittswerte. Piatov nennt sie nirgendwo in seinem Artikel.
Stattdessen haben er und seine Redaktion sich den Extremwert aus Sachsen-Anhalt rausgepickt. Nicht ohne Wirkung: Bei Facebook und Twitter ist der Ärger der “Bild”-Leserinnen und -Leser gewaltig. In etwa 2.000 Kommentaren wettern sie gegen die Regierung: “Die Politik und Ministerien sind mit dem fälschen von Zahlen schmerzfrei.” Und fragen: “Wann rollen eigentlich mal Köpfe?” Aufgrund der Paywall bei Bild.de dürften viele der Kommentatoren nur die 29 Prozent mitbekommen haben.
Und es gibt noch ein Problem: Die 29 Prozent stimmen gar nicht.
Wir haben am Dienstag beim sachsen-anhaltischen Gesundheitsministerium nachgefragt, ob die in “Bild” angegeben 29 Prozent korrekt sind. Wir hatten Zweifel, weil es sich um einen so deutlichen Ausreißer handelt. Und weil wir uns gewundert hatten, dass es in einem Bundesland mit etwa 2,2 Millionen Einwohnern im selben Zeitraum mehr Corona-Tote gegeben haben soll (laut “Bild”-Artikel 1.455) als in Baden-Württemberg (laut “Bild”-Tabelle 1.236 Corona-Tote), wo es mehr als fünfmal so viele Einwohner gibt.
Der Fehler liegt in diesem Fall allerdings nicht bei “Bild”, sondern beim Gesundheitsministerium. Ein Mitarbeiter antwortete uns:
Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt tatsächlich bei uns.
Richtig ist: Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.
Es sind also nicht 29 Prozent, sondern 19,8. Dadurch ändert sich der einfache Mittelwert auf 11,3 Prozent und der gewichtete auf 10,6.
In der “Bild”-Zeitung ist dazu eine Art Korrektur erschienen, nicht groß auf der Titelseite, sondern klein in der Ecke auf Seite 2:
… und am Ende des Textes eine “Aktualisierung” hinzugefügt:
Aktualisierung: In der ersten Fassung des Artikels berichtete BILD, dass in Sachsen-Anhalt 29% aller Verstorbenen, die seit dem 1. Dezember 2021 als Corona-Tote gemeldet wurden, nicht an Corona verstorben waren. Dies beruhte auf Angaben aus dem Gesundheitministerium Sachsen-Anhalt. Nach der Veröffentlichung des BILD-Berichts erklärte die Behörde gegenüber BILD: “Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt bei uns.” Richtig sei: “Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.” BILD hat den Bericht daraufhin aktualisiert.
Der Tweet und der Facebook-Post mit den falschen 29 Prozent sowie die ganzen wütenden Kommentare der Leserschaft dazu sind unverändert online.
1. Pörksen kritisiert Corona-Berichterstattung einzelner Medien (deutschlandfunk.de, Annika Schneider, Audio: 4:59 Minuten)
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hält den medialen Umgang mit der Corona-Krise für ein “Lehrstück der Lernunfähigkeit”. Die “Bild”-Redaktion habe beispielsweise eine “faktische Gewissheit, die es gab in der Pandemiebekämpfung, in eine medial inszenierte Pseudo-Ungewissheit verwandelt”. Zu dieser “medial befeuerten Ungewissheit” habe auch die Berichterstattung der anderen Springer-Zeitung “Welt” beigetragen.
2. Der “Bild”-Experte für Blaming News (georgstreiter.de)
Der Journalist Georg Streiter war selbst in führenden Positionen bei “Bild” beziehungsweise “Bild am Sonntag” beschäftigt. In seinem Blog rechnet er mit dem derzeitigen “Ressortleiter Meinung” Filipp Piatov ab, dem – wie Streiter ihn bezeichnet – “Experten für falsche oder nicht verstandene Information und Blaming News”. Streiter listet einige besonders eindrückliche Beispiele von Piatovs journalistischem Versagen auf und schließt mit einem Rat an die “Bild”-Bosse: “Jetzt, wo sein Ziehvater Julian Reichelt weg ist, sollte sich vielleicht jemand anderes um ihn kümmern. Sonst nimmt das vermutlich kein gutes Ende.”
3. Eine Aufrichtige (sueddeutsche.de, Lea Sahay)
Die chinesische Videobloggerin Zhang Zhan gehörte zu den wenigen unabhängigen Journalisten, die zu Beginn der Corona-Pandemie aus Wuhan berichteten. Sie musste dafür einen hohen Preis bezahlen: Weil sie “Streit angefangen und Ärger provoziert” hätte, wurde sie zu vier Jahren Haft verurteilt. Zhan befinde sich im Hungerstreik und sei in einem kritischen Zustand. Aller Appelle von außen zum Trotz halte China an dem Urteil fest.
4. Isabell Beer: “Investigativ-Journalismus ist sehr männlich geprägt” (quotenmeter.de, Fabian Riedner)
Isabell Beer arbeitet für das öffentlich-rechtliche Onlineformat “funk” und ist dort für die neu gestartete Reihe “ultraviolett stories” zuständig. Im Gespräch mit “Quotenmeter” geht es um ihren Werdegang, die Besonderheiten des Investigativ-Journalismus in Deutschland und Beers erstes Stück über Missstände bei Porno-Plattformen.
5. Hit the road, Jack (zeit.de, Lisa Hegemann)
Wohl auf Druck von Investoren verlässt Twitter-Chef Jack Dorsey, Gründer und bislang CEO des Sozialen Netzwerks, das Unternehmen. Lisa Hegemann ordnet die Personalie bei “Zeit Online” ein. Es gehe demnach um wirtschaftliche Fragen, die “notorische Erfolglosigkeit” und inhaltliche Kontroversen.
6. IDE stellt Märchenbuch zur Vermittlung von Medienkompetenz vor (netzwerk-medienethik.de, Julian Kraemer)
Das Institut für Digitale Ethik (IDE) ist auf eine kreative Idee zur Vermittlung von Medienkompetenz gekommen: Im gerade erschienenen Buch “Märchen und Erzählungen der digitalen Ethik” sollen “Grundspannungen moderner Medialität” durch Erzählungen aufgearbeitet werden. Das von Petra Grimm und Susanne Kuhnert herausgegebene Buch steht hier als PDF zum Download bereit.
Das war schon praktisch für die selbsternannten “Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes”, kurz: “Pegida”. Sie mussten bei ihren islamfeindlichen Veranstaltungen einfach nur ausgeschnittene Seiten aus der “Bild”-Zeitung aufhängen und konnten sich den Plakatdruck sparen:
Das ist schon praktisch für die selbsternannten “Querdenker”. Sie müssen bei ihren Demonstrationen gar nicht selbst Reden halten, sondern können einfach die “Bild-TV”-Kommentare von Chefredakteur Julian Reichelt abspielen.
Gestern gab es in Dresden einen kleinen “Querdenker”-Aufmarsch. Eine Szene wurde in einem kurzen Video festgehalten: Ein Redner erzählt erst einen, tja, Witz übers Impfen und sagt dann:
Im Folgenden hören Sie einen Kommentar von “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt vom 12.08.2021.
Und dann legt Reichelt los:
Der Staat hat kein Recht mehr, zu regulieren, wie wir leben.
Die Videoaufnahme ist dann leider schon zu Ende. Es klingt aber so, als werde der Reichelt-Kommentar von den “Querdenkern” noch weiter abgespielt – es ist zu hören, wie Reichelt zum nächsten Satz ansetzt. Offenbar handelt es sich dabei um die Tonspur eines Videos, das im “Bild”-Youtube-Kanal zu finden ist, ein Zusammenschnitt eines “Bild-live”-Auftritts von Reichelt und “Bild”-Meinungschef Filipp Piatov.
Julian Reichelt erzählt darin, dass man “uns” “zwingt und gängelt”, dass der Staat mit “uns” “wie mit Verfügungsmasse” umspringe, dass Angela Merkel “das große Projekt Impfen” vor allem für “ihre Rolle in den Geschichtsbüchern” angehe. Filipp Piatov behauptet, dass man “bei der Bundesregierung” den Eindruck habe, “man will gar nicht heraus” aus der Corona-Pandemie. Stattdessen erzähle die Regierung “Märchen”.
Zwischendruch blendet die “Bild”-Redaktion einen Bildtrenner ein: “Wir sagen, was Deutschland denkt”. Zumindest bezogen auf diese “Querdenker”-Demo gestern in Dresden stimmt das.
Wie sehr kann man etwas missverstehen wollen? Und wie stark kann man sich dann auf Grundlage dieses gewollten Missverständnisses empören? Die “Bild”-Redaktion versucht momentan, genau das auszuloten.
CDU-Politikerin Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und Teil von Armin Laschets “Zukunftsteam”, schrieb gestern bei Twitter:
Mit dem “Handy-Alarm” greift Prien einen “Bild”-Begriff auf. Seit einigen Tagen blendet die Redaktion im “Bild-TV”-Programm ein großes “Handy-Alarm” ein, wenn auf dem Smartphone des stellvertretenden Chefredakteurs Paul Ronzheimer wieder frische Interna aus den Sitzungen der kürzlich gewählten Bundestagsfraktionen eingetroffen sind:
In den meisten Fällen handelt es sich dabei derzeit um Aussagen aus Priens CDU. Bei diesen Sitzungen ist unter den Teilnehmern eigentlich eine Vertraulichkeit vereinbart. Aber manch einer füttert Ronzheimer (und auch andere Journalisten) mit den internen Infos, die dann umgehend als “Handy-Alarm” bei “Bild TV” landen. Auf nichts ist die “Bild”-Redaktion derzeit stolzer als auf Paul Ronzheimers Handy.
In Karin Priens Tweet stecken zweifelsohne große Worte und schwere Vorwürfe. Aber in welche Richtung zielen sie? Wer sind in Priens Augen die “Totengräber”? Wer verübt einen “Anschlag auf unsere Demokratie”?
Man kann es bereits aus ihrem Tweet recht problemlos herauslesen, wenn man denn will. Schließlich verortet Prien das Problem der durchgestochenen Interna bei den “Totengräbern jedweder vertrauensvollen Zusammenarbeit”. Sie kann damit nur die ursprünglich als vertrauensvoll gedachte Zusammenarbeit in den Gremien der Union meinen und mit den “Totengräbern” die CDU-Maulwürfe, die Ronzheimer die Infos stecken. Sie kann damit nicht die Arbeit von Medien meinen und mit den “Totengräbern” die “Bild”-Redaktion, auch wenn sie den von “Bild” geprägten Begriff “Handy-Alarm” aufgreift. Und damit sieht sie auch nicht in der Berichterstattung einen “Anschlag auf die Demokratie”, sondern im Weiterreichen eigentlich vertraulicher Aussagen.
Deutlich wird das auch durch einen Tweet, den Karin Prien einen Tag zuvor zum selben Thema verfasst hat:
Und auch nach ihrem “Totengräber”-Tweet machte Prien noch einmal deutlich, dass ihr Vorwurf nicht der “Bild”-Redaktion galt.
Doch die interessiert das alles nicht. Sie will sich hier als Opfer eines “Frontalangriffs” und als notwendige Verteidigerin einer (in diesem Fall gar nicht attackierten) Pressefreiheit sehen:
Bei “Bild TV”, der Heimat des “Handy-Alarms”, ist die Empörung besonders groß. Paul Ronzheimer spricht von “einem wirklichen Skandal”, Prien habe offenbar ein “höchst zweifelhaftes Verständnis von Pressefreiheit”. “Bild-TV”-Moderator Thomas Kausch sagt, dass Prien sich “dermaßen im Ton vergriffen” habe. “Bild”-“Show-Expertin” Özlem Evans hält das alles für eine “Frechheit”. “Eine absolute Frechheit”, findet auch Ronzheimer. Und auch er will Priens Tweet noch einmal missverstehen:
Ich verstehe das ja, dass man sich als Politikerin ärgert darüber, dass wir darüber informieren.
Den bisherigen Empörungshöhepunkt gab es gestern Abend in der Empörungssendung “Viertel nach Acht”. “Bild-TV”-Programmchef Claus Strunz erklärt Karin Prien zu seiner “absoluten Negativfigur des Tages” – “die hat sich heute nämlich wahnsinnig erregt über den ‘Handy-Alarm’ bei ‘Bild live’.” Man könnte, so Strunz, “fast sagen, sie ist durchgeknallt”:
“Ein Anschlag auf unsere Demokratie”? Also lassen Sie mich mal kurz nachdenken. Es ist doch Journalismus, es ist Informationsbeschaffung, es ist Pressefreiheit. Wer das als “Anschlag auf die Demokratie” sieht oder wertet, der will Pressefreiheit relativieren, vielleicht sogar abschaffen, das will ich nicht unterstellen. Auf jeden Fall hat der- oder diejenige große Probleme mit der Pressefreiheit.
Einen kurzen Lichtblick gibt es in der Sendung dann aber doch. “Welt”-Redakteur Constantin van Lijnden, der ebenfalls in der “Viertel-nach-Acht”-Runde sitzt, sagt über Karin Priens Aussage:
Die wohlwollendere Lesart ihres Tweets ist ja noch die, dass er sich nicht an die Journalisten richtet, weil das wäre nun wirklich unsinnig, denen irgendwie das Recht abzusprechen, solche Dinge zu veröffentlichen, sondern dass er sich nur in Anführungsstrichen an diejenigen Politiker, Parteikollegen richtet, die Dinge durchstechen.
Claus Strunz und die anderen Mitdiskutanten aus der “Bild”-Redaktion sind an diesem Gedanken aber nicht weiter interessiert.
“Bild”-Redakteur Jan W. Schäfer, Leiter des Politikressorts, fordert auch sogleich in einem Kommentar:
Denn, so behauptet es die “Bild”-Redaktion in einem weiteren Beitrag, in Deutschland sieht es beim Impfen doch ganz ähnlich aus wie in Dänemark:
Das ist eine etwas überraschende Behauptung. Dänemark gehört nach Portugal, Island, Malta und Spanien zu den Ländern Europas mit der höchsten Impfquote. Zwischen Dänemark und Deutschland liegen noch Irland, Finnland, Frankreich, Belgien, Italien, Norwegen, Großbritannien, San Marino, die Niederlande, Schweden, Monaco und Andorra. Oder anders gesagt: Es besteht durchaus ein gewisser Unterscheid zwischen den Impfquoten in Dänemark und in Deutschland.
Der Bild.de-Artikel befindet sich zwar hinter der “Bild-plus”-Paywall, doch auch davor kann man ohne Abo schon lesen, wie “ähnlich” die Impfquote ist:
Dänemark jubelt. Ab heute fallen bei unserem nördlichen Nachbarn alle Corona-Beschränkungen.
Corona wird nicht länger als “gesellschaftskritische Krankheit” kategorisiert. Diese Kategorisierung machte die Einführung bestimmter Regeln – wie beispielsweise die Maskenpflicht oder ein Versammlungsverbot – überhaupt erst möglich.
Spannend: Die Quote der vollständig Geimpften liegt in Dänemark bei 73,5 Prozent – also gar nicht so viel höher als in Deutschland (61,8 Prozent).
Das ist eine Differenz von 11,7 Prozentpunkten. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands also etwa 9,7 Millionen Menschen, die sich noch vollständig impfen lassen müssten, damit hier eine Impfquote wie in Dänemark erreicht wird. Dem offiziellen “Impfdashboard” zufolge werden derzeit in Deutschland im Schnitt etwa 180.000 Impfungen pro Tag durchgeführt. Um bei diesem Tempo 9,7 Millionen Menschen vollständig zu impfen, würde es also noch Monate dauern.
Auch bei den Über-60-Jährigen, also der von Corona besonders gefährdeten Gruppe, gibt es beim Impfen einen deutlichen Unterschied zwischen Dänemark und Deutschland. Das steht so auch im Bild.de-Artikel:
Mehr als 96 Prozent aller Menschen über 60 Jahren sind in Dänemark vollständig geimpft. Heißt: In Dänemark sind fast alle Menschen, die häufiger schwer erkranken und sogar sterben, geschützt!
Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Impfquote bei den Älteren über 60 Jahre bei gerade einmal 83 Prozent.
Dass die “Bild”-Redaktion es dennoch so darstellt, als wäre die Impfsituation in Deutschland angeblich eine “ähnliche” wie in Dänemark, in Deutschland aber die “epidemische Lage von nationaler Tragweite” verlängert wird, während in Dänemark alle Corona-Maßnahmen aufgehoben werden, passt zur generellen Corona-Berichterstattung der Redaktion. Da behauptet dann beispielsweise Kai Weise, eine der zentralen Figuren beim neuen “Bild”-TV-Sender, dass die Bundesregierung “offenbar Spaß dabei” habe, Ungeimpfte auszugrenzen und sie “zu Aussätzigen, zu Menschen zweiter Klasse” zu machen. Die Regierung habe “einen ungehörigen Spaß, die Leute zu knechten”. Chefredakteur Julian Reichelt sieht eine “berauschende Angst-Politik, die Politikern so viel Zugriff gegeben hat, dass sie davon gar nicht mehr lassen können”. Er behauptet, “die Politik möchte gar keinen Ausweg aus der Pandemie aufzeigen. Sie möchte diesen Zustand erhalten”. Und auch “Bild”-Meinungschef Filipp Piatov behauptet, dass man bei der Bundesregierung den Eindruck habe, dass sie gar nicht aus dem Lockdown heraus wolle.
Dieses Geraune in den “Bild”-Medien ist kaum noch zu unterscheiden von den Verschwörungserzählungen in den einschlägigen Telegram-Kanälen.
Weil für Politiker nicht die gleichen Gesetze gelten wie für den gemeinen Bürger!!
Die “Bild”-Redaktion hat es mal wieder geschafft: In den Facebook-Kommentaren zum Bild.de-Artikel über die TV-Show “Kannste Kanzleramt?” herrscht große Wut auf die da oben.
“Bild” und Bild.de berichten heute groß über die Sendung, die gestern Abend bei Sat.1 lief. In den Artikeln geht es aber nicht etwa um die Antworten von Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet auf die Fragen der 16 Mädchen und Jungen zwischen acht und 13 Jahren, die für die Show aus ganz Deutschland in einem Klassenzimmer in Berlin zusammengekommen sind. Stattdessen geht es um Masken, oder genauer: um fehlende Masken:
Die “Bild”-Medien schreiben dazu:
Seit vielen Monaten ertragen Deutschlands Schüler die Maskenpflicht im Unterricht. Tragen selbst im Klassenraum stundenlang Maske, in hessischen Schulen zum Teil sogar auf dem Schulhof!
Doch siehe da: Für den Wahlkampf bekommen die Kleinen maskenfrei. Dürfen in der Sat.1-Show (“Kannste Kanzleramt?”) als niedliche Kulisse herhalten. Im Beisein der Kandidaten Olaf Scholz (63, SPD), Armin Laschet (60, CDU) und Annalena Baerbock (40, Grüne).
FRAGT SICH: Warum dürfen die Kinder in der Wahlkampf-Show, was ihnen in den meisten deutschen Klassenzimmern verwehrt wird?
Die Redaktion lässt es so wirken, als sei das alles ein Privileg der Politikerkaste:
Nur für den hohen Besuch der Kanzlerkandidaten durfte die Maske im Klassenzimmer ab.
Das ist schlicht Unsinn. Der entscheidende Unterschied ist, dass es sich bei der Sat.1-Show um eine TV-Produktion handelt, für die andere Vorgaben gelten als für den Unterricht in der Schule (was man natürlich völlig bescheuert finden kann, aber dann sollte man nicht irgendwelche Unwahrheiten behaupten). Und zwar unabhängig davon, wo gedreht wird und wem Fragen gestellt werden. Wäre der Drehort nicht ein Klassenzimmer gewesen, sondern ein TV-Studio, die Turnhalle derselben Schule oder Julian Reichelts Büro, hätten die Kinder vor der Kamera genauso wenig eine Maske tragen müssen. Und wären statt Baerbock, Laschet und Scholz drei willkürlich ausgewählte Passanten befragt worden, hätte sich an der Befreiung von der Maskenpflicht auch nichts geändert.
Oder kurz gesagt: Nicht wegen des “hohen Besuchs der Kanzlerkandidaten durfte die Maske im Klassenzimmer ab”, oder “weil Politiker WAHLKAMPF machen”, sondern weil es sich um eine Fernsehaufzeichnung handelte. Ich war zufällig vorgestern selbst bei einer. Und auch dort: Keine Maskenpflicht vor der Kamera, hinter den Kulissen aber schon. Und vorheriges Testen alles Anwesenden.
In den “Bild”-Medien ist von der Erklärung mit der TV-Produktion nichts zu lesen. Es wird lediglich ein Sat.1-Sprecher zitiert:
Der Sender erklärt den Widerspruch so: “Vor Ort wurden alle gesetzlichen Hygieneauflagen umgesetzt.” Alle Anwesenden seien negativ auf Covid-19 getestet worden und “mussten deshalb keine Maske tragen”.
Uns liegt die komplette Antwort-Mail des Senders an “Bild”-Redakteur Filipp Piatov vor. Darin wird durchaus auf die Besonderheit einer Fernsehproduktion hingewiesen. Im “Bild”-Artikel wurde dieser entscheidende Teil aber einfach weggelassen. Die ganze Antwort lautet:
“Kannste Kanzleramt?” ist eine Fernsehproduktion wie “Gute Zeiten, schlechte Zeiten” oder der BILD-Talk “Viertel Nach Acht”. Vor Ort wurden alle gesetzlichen Hygieneauflagen umgesetzt. Alle Anwesenden waren den Empfehlungen der Berufsgenossenschaft folgend negativ auf COVID 19 getestet und mussten deshalb keine Maske tragen.
Aber was hätte das schon an Wut auf Politikerinnen und Politiker in den Facebook-Kommentaren gebracht?
1. Fernsehen ohne Ruhepuls: Bild hetzt durchs Programm (dwdl.de, Alexander Krei & Thomas Lückerath)
Alexander Krei und Thomas Lückerath haben ihre ersten Eindrücke vom neuen “Bild”-Fernsehsender aufgeschrieben. Zur Ruhe gekommen sind sie beim TV-Gucken nicht: “In einem Moment beschimpft CDU-Generalsekretär Ziemiak den SPD-Kanzlerkandidaten Scholz als politischen Hütchenspieler, im nächsten Moment wird über eine blutige Auseinandersetzung berichtet, in die die Influencerin Georgina Fleur involviert ist. Mal fabuliert Meinungschef Filipp Piatov über das ‘Inzidenz-Regime’ der Regierung, dann leitet Detlef Soost plötzlich zu Sit-Ups im Studio an, und im Gespräch mit einem Augenarzt geht es schließlich um die Tatsache, dass Fußball-Trainer Jürgen Klopp neuerdings keine Brille mehr trägt – mitsamt der wichtigen Abschlussfrage: ‘Ist das eine Kassenleistung?'”
2. Die Klimakrise ist nicht ein weiteres Problem auf der Bühne. Sie bedroht die ganze Bühne. (uebermedien.de, Sara Schurmann & Lea Dohm)
In einem Gastbeitrag für “Übermedien” setzen sich Sara Schurmann und Lea Dohm für mehr Klimaberichterstattung ein: “Wenn Menschen viel und oft von der Klimakrise lesen, können sie das Problem besser verstehen. Dafür müssen alle Medien ganz oft darüber berichten. Das Problem muss auch immer wieder als erstes in den Nachrichten kommen. Um die Klimakrise gut zu verstehen, ist es wichtig, sie zu fühlen. Zeitungen, Radio- und Fernsehsender können uns dabei helfen.” Der Text ist ein Vorabdruck aus dem heute erscheinenden Buch “Climate Action – Psychologie der Klimakrise”.
3. “Die Taliban haben mir alles genommen” (deutschlandfunk.de, Christoph Sterz, Audio: 9:01 Minuten)
Fast zwei Jahrzehnte lang hat der Fotojournalist und Pulitzer-Preisträger Massoud Hossaini aus Afghanistan berichtet, doch nun muss er seine Heimat verlassen. Den Taliban sei es gelungen, die Welt zu blenden, so Hossaini: “Sie selbst stiften das Chaos, das wir gerade erleben, und erklären dann: Seht her, was der Westen angerichtet hat, gemeinsam mit einem Präsidenten, den der Westen unterstützt hat. Die Situation am Flughafen von Kabul haben die Taliban orchestriert – und instrumentalisieren jetzt die Medien dafür, darüber zu berichten. Die Taliban lenken damit von einer Wirklichkeit ab, außerhalb vom Flughafen, außerhalb von Kabul – einer Wirklichkeit, über die die internationale Gemeinschaft unbedingt mehr erfahren müsste.”
4. Lobbytransparenz schaffen (netzwerkrecherche.org)
Mehr als 50 zivilgesellschaftliche Organisationen fordern in einem gemeinsamen Appell strengere Lobbyregeln. Als zentrale Maßnahmen von der Politik nennen sie, Einflussnahmen transparent zu machen, die Parteienfinanzierung zu reformieren und Lobbykontakte offenzulegen. “Wir brauchen eine politische Kultur, in der alle Teile der Gesellschaft gehört werden und in der Integrität, Unabhängigkeit und Transparenz von Politik und Verwaltung selbstverständlich sind.” Auch das Netzwerk Recherche schließt sich den Forderungen an. Eine Umsetzung hätte sicher positive Auswirkungen auf die mediale Berichterstattung über parlamentarische Entscheidungen oder Gesetzesvorhaben.
5. Lob des Zweifels (journalist.de, Christian Meier)
In der Reihe “Wie wir den Journalismus widerstandsfähiger machen” meldet sich “Welt”-Medienredakteur Christian Meier mit einem Plädoyer für den Zweifel zu Wort: “Die schöne Regel, dass man bei jedem Thema für einen Moment davon ausgehen sollte, dass die ‘andere Seite’ (schon wieder so ein problematischer Begriff, denn auf welcher Seite sollte ein Journalist überhaupt stehen?) Recht haben könnte – gilt sie noch? Ist sie in den Redaktionen akzeptiert? Und wie selbstverständlich ist es, eine auch in der eigenen Redaktion unpopuläre Position zu vertreten, notfalls gegen Kritik und Widerstände? Ich glaube, der Zweifel sollte unser ständiger Begleiter sein. Und das ist, ich merke es schon beim ersten Nachlesen, schon wieder so ein Besserwissersatz. Ich kann nur um Verzeihung bitten, wir sitzen alle im Glashaus.”
6. Impfgegner stürmen Foyer von TV-Nachrichtenproduzent ITN in London (rnd.de)
Dutzende Impfgegnerinnen und -gegner haben gestern die Zentrale des britischen Nachrichtenproduzenten ITN in London gestürmt. Dabei skandierten sie Parolen gegen Impfungen und Corona-Maßnahmen, belegten einen Nachrichtensprecher mit wüsten Beschimpfungen und widersetzten sich Polizisten, die versuchten, die Menschen von einem weiteren Eindringen in die Redaktionsräume abzuhalten.
Nach einem Telefonat mit einem ranghohen AfD-Politiker twitterte Martin Schmidt, Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, vor zwei Wochen:
Eine solche Geschichte kann der “Bild”-Redaktion und vor allem “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt nicht gefallen. Immer wieder betont Reichelt, wie “schrecklich” er die AfD finde. Zum Vorwurf, “Bild” sei der verlängerte Arm der AfD, sagt er, dass dies “eine Unverschämtheit” sei: “Man kann das nur dann behaupten, wenn man bereit ist, Fakten schlichtweg zu ignorieren.” Und jetzt erzählt die AfD, wie toll und hilfreich sie die Berichterstattung von Reichelt und dessen Team findet?
“Bild”-Meinungschef Filipp Piatov versuchte dann auch gleich, Martin Schmidts Geschichte zu diskreditieren. Bei Twitter schrieb Piatov:
Piatovs offensichtlich ausgedachte Erzählung soll wohl zeigen, dass er auch Schmidts Tweet für erfunden hält. In Sozialen Medien liest man häufiger den Vorwurf, das sei jetzt aber eine “Geschichte aus dem Paulanergarten”, also unwahr. “Bild”-Chef Reichelt retweetete Piatovs Tweet.
Nur drei Tage später zeigte sich allerdings, dass die AfD von der “Bild”-Berichterstattung tatsächlich begeistert ist. Als die Redaktion auf ihrer Titelseite von Angela Merkel forderte: “KANZLERIN, wir wollen EINIGKEIT und RECHT und FREIHEIT”, gab es zahlreiche Danksagungen von AfD-Mitgliedern und -Verbänden. Die Bundestagsabgeordnete Joana Cotar schrieb beispielsweise:
Ihr Kollege im AfD-Bundesvorstand Stephan Protschka konnte es selbst kaum glauben:
Guido Reil, für die AfD im Europäischen Parlament, dankte ebenfalls:
“#DankeBild” gilt immerhin bezogen auf aufrüttelnde Berichte gegen Gruppenvergewaltigungen und Mädchenmorde
Besser spät als nie. #DankeBild für die Übernahme sämtlicher AfD-Positionen.
Und der AfD-Kommunalpolitiker Christian Breu twitterte:
#BILD hilft allen Menschen, die Opfer der skrupellosen Drangsalierungs- und #Lügenpolitiker geworden sind.
#DankeBILD
Neu ist die AfD-Begeisterung für “Bild” nicht. Bereits 2017, vor der vergangenen Bundestagswahl und nachdem die Redaktion ihr eigenes “BILD-Wahlprogramm” veröffentlicht hatte, jubelte Uwe Junge, damals Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD in Rheinland-Pfalz: “Endlich! Die BILD als Wahlkampfblatt für die AfD! Unser Programm in BILD veröffentlicht!” Und auch die Bundespartei stellte zum “Bild”-Wahlprogramm fest: “Hallo @BILD, nahezu ALLES hier findet sich im #AfD-Wahlprogramm!”
Mit ihrer aktuellen Berichterstattung findet die “Bild”-Redaktion übrigens nicht nur Anschluss bei der AfD. Auch in den Telegram-Kanälen vieler Verschwörungserzähler wird sie gelobt. “Spioniker” schreibt zum Beispiel: “Hammer, was die BILD jetzt raushaut! Ich glaube, der kritische Punkt ist erreicht!” und konstruiert aus der gelben Hintergrundfarbe eines Artikelbanners bei Bild.de mit Hilfe des des Flaggenalphabets, wo die Farbe Gelb für das Q steht, eine Verbindung zu QAnon. Michael Wendler sieht “Bild” als einen möglichen “Gamechanger”. Und Eva Herman empfiehlt ein Video von “Bild TV” (“Der Staat hat kein Recht mehr, zu regulieren, wie wir leben”). Die Protagonisten darin: Julian Reichelt und Filipp Piatov.
Mehr über das Verhältnis von “Bild” und AfD schreiben wir übrigens in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste”, vor allem im Kapitel “‘Das wird man ja wohl noch sagen dürfen’ – ‘Bild’ und Rechtspopulisten”. Alle Infos dazu hier.
Es sei amtlich, verkündete “Bild”-Redakteur Filipp Piatov vergangenen Montag in einem Kommentar:
Es ist amtlich: Die “Bundesnotbremse” der Kanzlerin war nicht nur wirkungslos im Kampf gegen Corona. Sie war auch ein folgenschwerer politischer Fehler.
Der laut Überschrift “fatale Fehler” liegt Piatov zufolge nicht nur darin, dass die Politiker-Deppen und -Deppinnen in der Corona-Krise mal wieder nichts hinbekommen haben sollen, sondern vor allem darin, dass von dieser Stümperei die AfD profitiere:
Die dritte Corona-Welle war längst gebrochen, als Angela Merkel Ende April ihr Lockdown-Gesetz durchpeitschte, Ausgangssperren verhängte und Schulen dichtmachte.
Die einzige Zahl, die die “Notbremse” beeinflusste, sind die Umfrage-Werte der AfD. In Sachsen liegen die Rechtsextremen nun deutlich vor der CDU. Genau wie in Sachsen-Anhalt, wo am Sonntag gewählt wird.
Die AfD vor der CDU, weil die Kanzlerin Corona-Mist gebaut hat. Der Erzählung des “Bild”-Meinungschefs widersprach gestern dann nur die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Laut vorläufigem Ergebnis landet die CDU bei 37,1 Prozent, ein Zugewinn von 7,3 Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl 2016, das beste Ergebnis der Partei seit fast 20 Jahren. Die AfD ist im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren 3,5 Prozentpunkte schwächer und holt 20,8 Prozent. Die großen Gewinner der Union liegen also 16,3 Prozentpunkte vor den Verlierern der AfD. Oder wie Durchblicker Piatov schreibt: “Die ‘Bundesnotbremse’ der Kanzlerin war […] ein folgenschwerer politischer Fehler”, der nur der AfD nutze.
Nun ist man hinterher immer schlauer. Aber auch ohne das spätere Wissen des gestrigen Wahlergebnisses ist die Grundlage für Piatovs Analyse äußerst dünn. Bei seiner Aussage, dass die AfD in Sachsen und in Sachsen-Anhalt vor der CDU liege, bezieht er sich auf zwei von “Bild” in Auftrag gegebene Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Insa vom 25. beziehungsweise 26. Mai. In der Umfrage für Sachsen liegt die AfD bei 26 Prozent und damit gerade mal zwei Prozentpunkte vor der CDU. Bei der Umfrage für Sachsen-Anhalt ist die Differenz noch geringer: lediglich ein Prozentpunkt. Das ist der “deutliche” AfD-Vorsprung, von dem Piatov spricht – bei einer Fehlertoleranz solcher Umfragen, die meist im Bereich von zwei bis drei Prozent liegt. Außerdem handelt es sich um eine recht selektive Wahrnehmung von Filipp Piatov: Alle anderen Meinungsforschungsinstitute sahen die CDU in Sachsen-Anhalt (teilweise deutlich) vor der AfD.
Günter Wallraff recherchierte einst investigativ und verdeckt als “Hans Esser” bei “Bild” und sorgte mit seinen Büchern “Der Aufmacher” (1977) und “Zeugen der Anklage” (1979) für viel Aufsehen. Jakob Buhre hat für BILDblog Wallraff am 12. Dezember in Köln getroffen und mit ihm einige Passagen der neuen Amazon-Doku “Bild.Macht.Deutschland?” angeschaut.
Heiko Maas nach einem “Bild-Live”-Interview in der “Bild”-Redaktion, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eines der größten Printmedien in Deutschland, sie vermittelt einem Zugang zu der breiten Masse der Öffentlichkeit, und Politiker sind darauf angewiesen, dass sie kommunizieren können, in die Öffentlichkeit, mit dem was sie tun, mit dem was sie für richtig halten. Und dafür ist die ‘Bild’ ein richtig gutes Instrument.”
Wallraff: Man kann es schon fast als Unterwerfung deuten, wie staatstragende Politiker hier bei “Bild” ihre Aufwartung machen und antichambrieren. Aber hat unser Außenminister so etwas wirklich nötig?
Peter Tschentscher, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eine konservative Zeitung, ich bin ein konservativer Mensch und die Sozialdemokraten in Hamburg sind sehr bodenständig. Insofern passt das gut zusammen.”
Wallraff: Da bekennt ein Sozialdemokrat vor dem Springer-Hochhaus: “ich bin konservativ”. Ehrlich gesagt hat mich das jetzt erstmal verunsichert, ob Tschentscher nicht am Ende CDU-Mitglied ist. Warum dieser Kotau? Was passt denn da so gut zu zusammen?
Karl Lauterbach, Folge 3: “Es kommt drauf an, ob ich, um Hetze zu betreiben, kleine Unterschiede hochjazze und damit den Eindruck erwecke, die widersprechen sich alle, oder ob ich das Gemeinsame betone und einräume: an der Spitze gibt es noch unterschiedliche Bewertungen.”
Wallraff: Ich bin mit Karl Lauterbach befreundet. Für mich ist er ein Ausnahme-Politiker. Er hat kein sicheres Bundestagsmandat, redet keinem nach dem Mund und macht sich nicht gemein, sich denen anzubiedern. Er spricht hier davon, dass “Hetze betrieben wird”, das finde ich mutig. Und immerhin zeigen uns die Filmemacher das.
“Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.” (Foto: Christoph Michaelis)
Wie ist denn Ihr Eindruck insgesamt vom Filmischen her?
Wallraff: Da waren gerade sehr viele Zeitungen zu sehen. Können wir nochmal dahin spulen? – Hier, diese Stapel, das sind alles “Bild”-Exemplare. Entweder liegen in den Redaktionen auf den Schreibtischen wirklich keine anderen Zeitungen oder ist es eine plumpe Werbung?
Die Auswahl der Themen und Schauplätze wirkt auf mich sehr beliebig. Man erfährt nur wenig über den Durchschnitt der Artikel, die in der Zeitung erscheinen, welche Themen dort bevorzugt werden. Mir fehlen auch die “Bild”-Leserinnen und -Leser.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das alles sehr im gegenseitigen Einvernehmen von Amazon und “Bild” stattgefunden hat. Wären die Filmemacher unabhängig, hätten sie auch mit Opfern der “Bild”-Berichterstattung oder externen Medienkritikern gesprochen. So ist das die reinste “embedded”-Reportage.
Christian Lindner, von dem “Bild” einen Paparazzo-Abschuss druckte, äußert sich allerdings auch in der Doku.
Wallraff: Na, und. Aber wenn es um die namenlosen Opfer von “Bild” geht, das sehe ich hier nicht, dass die einmal zu Wort kommen. In Folge 7, von der Sie mir gerade Auszüge gezeigt haben, ist die Diskussion der Redaktion über Persönlichkeitsrechte zu sehen, immerhin. Allerdings vermute ich, dass die wenigsten Zuschauer sich diese ermüdende Serie bis zur letzten Folge antun werden.
Auch von Ihren Recherchen bei “Bild” gibt es Filmaufnahmen. Wie sind Sie damals mit Kameras in die “Bild”-Redaktion gekommen?
Wallraff: Das war gar nicht so einfach, es gab ja noch keine versteckten Kameras. Mir half damals ein Freund vom niederländischen Fernsehen, Jan Kuiper. Sein Sender hat vorgegeben, dass sie im Rahmen einer Städtepartnerschaft-Reportage auch in Hannovers Redaktionen filmen wollten. Die erste Anfrage hatte mein Redaktionsleiter abgelehnt. Also hat ein Team zwei bis drei andere Drehs simuliert und so getan, als würden sie zum Beispiel bei der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” Filmaufnahmen machen. Das hat bei “Bild” die Eitelkeit geweckt, und sie sind drauf angesprungen. Meine Freunde kamen schließlich mit zwei Teams. Die einen haben den Chefredakteur in ein Dauer-Interview verwickelt, die anderen haben im Großraumbüro das zynische Treiben gefilmt.
Günter Wallraff 1977 als “Hans Esser” in der “Bild”-Redaktion Hannover. (Foto: Günter Zint)
Zurück zur Amazon-Doku: Wie beurteilen Sie die Aussagen der Blattmacherinnen und Blattmacher, die Sie hier sehen?
Wallraff: Es kommen hier welche zu Wort, wo ich sagen würde: Diesen Typus gab es zu meiner Zeit höchst selten. Durchaus reflektierte, vielleicht auch entsprechend ausgebildete Journalisten, die in anderen Blättern vermutlich einen seriösen Journalismus vertreten würden, ihn hier aber nur schwerlich durchsetzen können.
Zu meiner Zeit gab es viel mehr den Drücker-Typ, der den Opfern halb-betrügerisch ins Haus einfiel. Und dann vor allem Machos: Mein Redaktionsleiter hatte einen Schießstand in seiner Penthouse-Wohnung, es wurde Blitzschach gespielt, und man musste sich als trinkfest beweisen. Es war sehr männerbündlerisch. Hier sehe ich, zumindest zwischendurch, auch vereinzelt Frauen, und die kommen eher nachdenklich zu Wort.
Ein großer Unterschied ist auch: Zu meiner Zeit bei “Bild” wurde dem Chef so gut wie nie widersprochen. Der Redaktionsleiter duzte alle, musste aber gesiezt werden.
Wir hatten damals auch viele Kettenraucher, und Whiskey war in der Redaktion das Leitgetränk. Es scheint doch einiges harmloser geworden zu sein, jetzt kaut der Chefredakteur seine Gummibärchen.
Redaktionskonferenz, Folge 1, Redakteur aus dem Off: “Wir wollen die Rede [von Angela Merkel] vernichten?” – Julian Reichelt: “Nein, ich will sie nicht vernichten.”
Wallraff: “Abschießen, vernichten” waren zu meiner Zeit bei “Bild” Alltagsbegriffe. Es ging oft darum, Menschen “fertig zu machen”. “Bring die Sau zur Strecke!” Es gab auch keine Trennung zwischen Berichterstattung und Meinung.
Wenn ich Reichelt hier sehe, habe ich den Eindruck, dass er in einer Art Kriegszustand lebt. Dazu passt ja auch sein Feldbett im Büro. Man weiß von ihm, dass er sich als jemand sieht, der Politik macht – und nicht begleitet.
“Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Alexandra Würzbach in einer Redaktionskonferenz, Folge 4: “Wir haben gesagt ‘Refugees Welcome’ und haben es uns zwei, drei Jahre später anders überlegt.” […] – Julian Reichelt: “Wir haben uns ‘Refugess Welcome’ nicht anders überlegt, das ist falsch, das lasse ich so nicht stehen.” Es folgen Filmaufnahmen von Paul Ronzheimer im Flüchtlingslager Moria.
Wallraff: Das überrascht mich und entspricht tatsächlich nicht dem Klischee. Vielleicht liegt es auch daran, dass Reichelt noch unter Kai Diekmann selbst in Kriegsgebieten war, in Afghanistan, in Syrien und im Irak, und sogar Flüchtlingen geholfen haben soll, nach Deutschland zu kommen, wie einst der “Spiegel” berichtete. So etwas prägt. Wenn “Bild” Not und Elend im Flüchtlingslager zeigt, könnte man daraus die Forderung an die Politik ableiten, dass sie sich des Themas annimmt.
Filipp Piatov in Folge 3: “Ich bin bei ‘Bild’, weil mir gewisse Grundlinien des Hauses sehr zusagen: Transatlantische Partnerschaft, gutes Verhältnis zu Israel, klares Verhältnis zur Marktwirtschaft, Ablehnung von linken und rechten extremen Ideologien.”
Wallraff: Naja, das sind so Gemeinplätze. Ein paar Gebetssäulen. Ich finde, das ist ein bisschen wenig.
Alexander von Schönburg in Folge 3: “Ich war früher bei der ‘FAZ’, bin jetzt bei der ‘Bild’ und empfinde das, was ich hier mache, als Aufstieg, auch als intellektuellen Aufstieg. […] Wer Wichtiges zu sagen hat, kann es in kurzen Sätzen sagen, dazu zwingt einen ‘Bild’. Darum habe ich persönlich profitiert, für mein eigenes Schreiben, dass man sich zwingt, kurz und präzise zu schreiben. Und nicht, wie das bei der ‘FAZ’ oder ‘SZ’ zum Teil ist: Du schreibst, um deine Kollegen zu beeindrucken.”
Wallraff: Ach, du Schande. Er tut mir richtig leid. Was muss der Mann erlitten haben, dass er sich hier so klein macht? Konnte er sich früher beim Schreiben nicht klar ausdrücken? Es gibt in der “FAZ” und der “SZ” doch genug Artikel, die eine deutliche und klare Sprache benutzen und trotzdem verständlich und differenziert sind.
Früher steckte in der “Bild”-Sprache sehr oft eine Aggression, Verächtlichmachung und Vernichtungswille bis hin zum Rufmord. Für mich benutzt “Bild” immer wieder eine in der Versimplung auch denunzierende Sprache.
“Das ist doch lächerlich und anmaßend.” (Foto: Christoph Michaelis)
Julian Reichelt in Folge 3: “Unser natürlicher Aggregatszustand ist zu hinterfragen. Und wie sehr wir hinterfragen, sieht man uns halt ein bisschen mehr an, weil unsere Überschriften größer sind und unsere Sprache klarer.”
Wallraff: Das ist doch lächerlich und anmaßend. Es klingt so, als würden andere Medien weniger hinterfragen, weil sie kleinere Buchstaben verwenden. Dabei sind es gerade sie, die differenzieren und auch zwischen Kommentar und Bericht zu trennen wissen.
Und zum “Hinterfragen”: Wenn sie Christian Drosten eine Stunde Zeit geben, um eine Anfrage zu seiner wissenschaftlichen Kompetenz abzuverlangen, nennen sie das “hinterfragen”? Ich fand, das war gegenüber Drosten eine Unverfrorenheit, eine Allmachtsallüre. Dass Drosten sich darauf nicht eingelassen hat, das ehrt ihn.
Die Causa Drosten wird in der Doku sehr ausführlich behandelt, mit vielen kritischen Stimmen von innerhalb und außerhalb der Redaktion.
Wallraff: Da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Ich habe da jetzt Redakteure gesehen, die sich als Opfer gerieren, keinerlei Reue zeigen, sich auch nicht entschuldigen. Und wenn es Reue gab: Wurde sie in der “Bild” zum Ausdruck gebracht? Ich habe nichts davon gehört.
Wenn Sie einmal “Bild” 1977 und “Bild” 2020 vergleichen …
Wallraff: Die “Bild” hat heute nicht mehr die zerstörerische Kraft und Macht, auch längst nicht mehr das kriminelle Potential wie damals. “Harmlos” wäre der falsche Begriff, aber sie hat nicht mehr die Relevanz. Damals war es ein beherrschendes, flächendeckendes Medium. Und was ich erlebt habe, war ein Hetzblatt, das auch Menschen mit Falschberichterstattung in den Suizid getrieben hat wie zum Beispiel den Schauspieler Raimund Harmstorf. Ich meine, dass ich mit dazu beitragen habe, dass diese Ära überwunden wurde.
Es gab damals die Rubrik “Bild hilft”, die vielen Menschen aber gar nicht geholfen, sondern hilfsbedürftige Personen bis ins Privateste hinein vorgeführt hat. Ein Junge mit Schulproblemen wurde als “Deutschlands faulster Schüler” und eine Frau, die sich wegen Problemen mit ihrer Fahrschule an “Bild hilft” gewandt hatte, fast kampagnenartig als “Deutschlands schlimmste Fahrschülerin” abgestempelt. Ich habe einen Rechtshilfe-Fonds finanziert, durch den “Bild”-Opfern zu Gegendarstellungen und Unterlassungen verholfen wurde bis hin zu Schadenersatz und Schmerzensgeld: Zum Beispiel für die hinterbliebenen minderjährigen Söhne eines Mannes, der sich nach einem Verleumdungsartikel umbrachte. In seinem Abschiedsbrief rief er zum “Bild”-Boykott auf: “Diese Schande kann ich nicht überwinden, ich wollte zuerst diesen Verbrecher, der K. [der “Bild”-Reporter] heißt, umbringen. Aber ihr solltet keinen Mörder als Vater haben. Durch meinen Tod aber ist er zum Mörder geworden. Wer etwas Ehrgefühl und Verstand hat, der sollte dieses Lügenblatt nicht kaufen!”
Es gibt heute natürlich auch eine andere Gegenöffentlichkeit: Es gibt die Rügen des Presserats, “Bild” liegt hier mit weitem Abstand vorne, lehnt es aber häufig ab, sie abzudrucken. Es gibt die Kollegen vom BILDblog, einige Prominente boykottieren “Bild”, und viele Gerichte betrachten die Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht mehr als Kavaliersdelikt.
Mehmet Scholl, Folge 6: “Die ‘Bild’-Zeitung hat mich ein Jahr lang völlig zerlegt, weil ich nicht mit ihnen gesprochen habe. […] Wenn die “Bild” im Sport alles schreiben würde, was sie wissen … Das tun sie aber nicht, weil sie schlau genug sind, zu wissen: Wir bekommen andere Informationen im Austausch dafür.”
Wallraff: Das sagt natürlich sehr viel aus. Da wird jemand zum Feindbild, weil er nicht mit “Bild” spricht. Und dass man bestimmte Geheimnisse nutzt, um an andere Informationen zu gelangen, das ist eigentlich eine Geheimdienst-Strategie: Wenn bestimmte Dienste Material über Verfehlungen von Politikern besitzen, können sie diese bei Bedarf “gefügig” machen.
Mehmet Scholl: “Ich habe mit der ‘Bild’ die Abmachung: keine privaten Storys. Wenn eine kommt, fragt mich – und dann haben wir es immer gemeinsam entschieden.”
Wallraff: Es gibt Prominente, die der “Bild” bis ins Intimleben hinein Dinge preisgeben, weil sie glauben, dass es ihnen nützt und dass sie geschont werden. Christian Wulff hat sich bis hin zur Home-Story zur Verfügung gestellt, aber es hat ihm nichts genützt. Er war für “Bild” irgendwann fällig, vermutlich aufgrund seiner Äußerung “Der Islam gehört zu Deutschland”. Da ging der Daumen nach unten, und es folgte eine der infamsten Rufmordkampagnen.
Was denken Sie heute über Journalisten, die für “Bild” arbeiten?
Wallraff: Ich differenziere. Wir haben jetzt einen gesehen, der von der “FAZ” zur “Bild” gegangen ist, die Mehrheit hat, glaube ich, eine Journalismus-Ausbildung. Aufgrund meiner früheren Erfahrungen würde ich mich aber nicht auf ein Interview oder eine Home-Story einlassen. Und denjenigen, die es tun, würde ich einen Warnhinweis mitgeben: “Alles, was Sie fortan sagen oder auch nicht sagen, kann gegen Sie verwendet werden.”
Ich kenne auch Menschen, die, durch meine Aufdeckungen inspiriert, zur “Bild” gegangen sind, weil sie es selber wissen wollten. Sandra Maischberger zum Beispiel erzählte in einem “Tagesspiegel”-Interview [Ausgabe vom 10. Februar 2002], dass sie deswegen bei “Bild” ein Praktikum machte und dann ein bisschen enttäuscht gewesen sei, weil sie das “Über-Leichen-gehen” dort nicht erlebt habe. Sie wurde dann übrigens am Ende gefragt, wie oft sie in dem Interview gelogen habe, worauf sie antwortete: einmal. (lacht)
Sollten Politiker heute “Bild” boykottieren?
Wallraff: Das wagt doch kaum noch jemand, aber sie sollten der eigenen Glaubwürdigkeit wegen zumindest Distanz wahren.
Günter Wallraff heute als Günter Wallraff. (Foto: Privat)
Hat man Sie eigentlich für die Amazon-Dokumentation angefragt?
Wallraff: Nein, ich hätte da auch abgesagt. Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.
Sie selbst sagen von sich, dass Sie Amazon boykottieren. Warum kann man dann Ihre Bücher dort kaufen?
Wallraff: Das kann ich leider nicht verhindern. Ich habe meinen Verlag schon vor langer Zeit angewiesen, meine Bücher nicht an Amazon auszuliefern. Mir wurde gesagt, ich würde dadurch zehn bis 15 Prozent Umsatz verlieren – damit kann ich leben. Amazon unterläuft meinen Boykott, indem sie meine Bücher jetzt über Zwischenhändler ordern. Das kann ich nicht verhindern, aber so muss Amazon sie etwas teurer einkaufen, als wenn mein Verlag sie direkt beliefert. Für mich ist Amazon eine globale Seuche, gegen die auch kein Impfstoff hilft.
Seuche ist ein starkes Wort, nicht nur angesichts der aktuellen Situation, wo Menschen froh sind, wenn sie Geschenke online kaufen können.
Wallraff: Das ist das Tragisch-Vertrackte, so ist Amazon auch noch der größte Corona-Krisengewinner, kann seine Umsätze verdoppeln und durch Steuervermeidungsstrategien Milliarden am Staat vorbei einstreichen. Ich verstehe jeden, der keine Möglichkeit hat, in ein Geschäft zu gehen, und deswegen online etwas bestellt. Ich selbst kann und möchte dieses Allmachtstreben von Jeff Bezos nicht unterstützen, der sein Unternehmen ursprünglich “Relentless”, “Gnadenlos” nennen wollte und Konkurrenten als Gazellen bezeichnet, die man jagen müsse. Die Innenstädte sterben aus, die Arbeitsbedingungen bei Amazon sind miserabel – es ist eine seelenlose, total überwachte Arbeitsorganisation. Ich kenne Menschen, die bei Amazon gearbeitet haben und von unheimlichem Druck erzählen. Wer nicht mindestens im Durchschnitt der übrigen Mitarbeiter liegt, fällt heraus. Und nach dem Weihnachtsgeschäft wird aussortiert. Dafür nutzt Amazon den Begriff “ramp down”, der aus dem Vieh-Transport stammt und so viel bedeutet wie “die Rampe runter treiben”. Diejenigen, die entlassen werden, können sich ja dann später neu bewerben, man will so ihre Festanstellung verhindern.
Zum Schluss: Haben Sie mit “Team Wallraff” aktuell jemanden bei “Bild” eingeschleust?
1. Das Dilemma mit kritischen Fragen (taz.de, Anne Fromm)
Die Medizinerin Sandra Ciesek tritt seit einiger Zeit im Wechsel mit Christian Drosten im Corona-Podcast des NDR auf. Ciesek ist als Professorin für Virologie und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie in Frankfurt mehr als qualifiziert für diese Aufgabe, wurde jedoch in einem “Spiegel”-Interview mit merkwürdigen Fragen konfrontiert. Die Redaktion verteidigte die Fragen auf Twitter als “kritisch”, “frech” und “provokant”. Anne Fromm hat sich angeschaut, wie dieselben “Spiegel”-Redakteurinnen im Mai mit Cieseks Kollegen Drosten umgegangen sind: “Da ist wenig Provokantes, Freches, Kritisches drin. Das liest sich eher wie Heldenverehrung. Der Spiegel konkretisierte nach der aktuellen Kritik eine Frage an Sandra Ciesek in der Onlineversion des Interviews. Eine der Interviewerinnen schob die Verantwortung für die Fragen dennoch Ciesek selbst zu, die doch bitte im Interview hätte deutlich machen sollen, dass sie mit den Fragen nicht einverstanden sei.”
2. Balance zwischen Empathie und Distanz (journalist.de, Marianna Deinyan)
Marianna Deinyan gibt zehn Tipps, wie Journalistinnen und Journalisten im Interview mit Personen umgehen können, die Terroranschläge, Naturkatastrophen oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Es sind gute und sensible Ratschläge, die von Verantwortung für die Gesprächspartner zeugen und die man allerhöchstens mit einem elften Ratschlag ergänzen könnte: Es im Zweifel sein zu lassen.
3. Die Krise der Kommunikation – Die große Gereiztheit unserer digitalen Gegenwart (1/2) (swr.de, Bernhard Pörksen, Audio: 29:56 Minuten)
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen macht sich Gedanken zur Reizüberflutung durch fragwürdige Nachrichten. All die Falschmeldungen, Verschwörungsmythen und Empörungstexte würden zu einer neuen Gereiztheit führen, die symptomatisch für eine neue Kommunikationskultur sei: “Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.” Pörksens Ausführungen können auch im Manuskript (PDF) nachgelesen werden.
4. Kijimea Reizdarm Pro: Anbieter droht dem Arznei Telegramm (arznei-telegramm.de)
Seit mehr als 50 Jahren versorgt das unabhängige “arznei-telegramm” Ärztinnen, Apotheker und Medizininteressierte mit Informationen zu Arzneimitteln. Um unabhängig zu sein, erfolgt die Finanzierung ausschließlich über Abonnements – Werbung gibt es nicht. Nun habe die Redaktion Anwaltspost bekommen, “die wir als unzulässigen Versuch empfinden, durch bloße Drohgebärde unsere redaktionellen Recherchen und Veröffentlichungen zu beeinflussen.”
5. Was hat Sucharit Bhakdi als Experte im Programm der ARD zu suchen? (uebermedien.de, Stefan Niggemeier & Holger Klein, Audio: 42:26 Minuten)
Im neuen “Übermedien”-Podcast unterhalten sich Stefan Niggemeier und Holger Klein über die Bhakdi-Panne der ARD. Vergangene Woche hatten MDR und hr-Info den emeritierten Epidemiologen Sucharit Bhakdi unhinterfragt in einem Interview zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass sich Bhakdi außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses bewegt.
6. Was besser wäre, als Pornoseiten zu sperren (netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Um Kinder vor verstörenden Inhalten zu schützen, will die nordrhein-westfälische Medienaufsichtsbehörde die großen Porno-Portale dazu zwingen, ihre Inhalte erst nach einer Altersverifikation preiszugeben, und droht ihnen bei Nichtbefolgung mit Netzsperren. Marie Bröckling hat sich bei Medienpädagoginnen und Fachleuten aus der Praxis umgehört, was diese von den Ausweiskontrollen halten und welche anderen Möglichkeiten es gibt, mit dem Thema umzugehen.
7. #Bild verfolgt in Sachen Corona eine besorgniserregende Agenda (twitter.com, Lorenz Meyer)
Zusätzlicher Link, da aus der Feder des “6 vor 9”-Kurators: Auf Twitter habe ich den Corona-Kommentar des “Bild”-Mitarbeiters Filipp Piatov analysiert. Eine der Erkenntnisse: “‘Bild’ agiert wie der Brand-Gaffer, der nicht nur die Löscharbeiten behindert, sondern die Besitzer des brennenden Hauses mit Hinweisen auf die Gefahren durch Löschwasser verunsichert. Wohlwissend, dass nicht das Wasser das Problem ist, sondern das um sich greifende Feuer.”
Wenn es darum geht, die Kampagne gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung weiterzuführen, greift die “Bild”-Redaktion zu verschiedensten schmutzigen Mitteln: Sie erfindet ein Zitat, denkt sich eine Bedrohung aus, stellt alles als “Irrsinn” dar.
Gestern auf der Bild.de-Startseite:
Frank Ulrich Montgomery, einst Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, einst Präsident der Bundesärztekammer, Ehrenpräsident des Deutschen Ärztetages und aktuell Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, soll sich in der Talkshow von Anne Will also gegen das Tragen von Masken ausgesprochen haben, weil dies eine Grundrechtseinschränkung wäre.
Es war komplett anders. Montgomery sprach sich bei Anne Will für das Benutzen von Masken aus. Sein Satz, in dem die Wörter “Grundrechtseinschränkung” und “Maske” fielen, endete auch nicht, wie die “Bild”-Redaktion behauptet, mit einem Ausrufezeichen, sondern mit einem Fragezeichen. Montgomery sagte am Sonntag (ab Minute 23:32):
Wir müssen immer vier Dinge, wie in einem Rechteck, bedenken. Da ist auf der einen Seite die Gesundheit, darüber reden wir jetzt hier. Da sind die soziokulturellen Folgen. Ich finde, die Auswirkungen auf das Bildungswesen haben Sie wunderbar beschrieben [er zeigt dabei auf Marina Weisband]. Da ist aber auch dann die Frage der Grundrechtseinschränkungen zum Beispiel. Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen? Und dann ist die Frage …
Anne Will unterbricht ihn:
Fanden Sie erst lächerlich, erinnere ich mich. Hatten Sie gesagt, das sei lächerlich.
Montgomery darauf:
Ja, ich habe mich geirrt. Ich habe damals zu Herrn Söder gesagt: Sie müssen richtige Masken, Sie müssen den Leuten FFP2-Masken mit einem Bußgeld auferlegen. Aber Sie können nicht mit einem feuchten Lappen vor dem Gesicht rumlaufen und darauf ein Bußgeld erheben, wenn das nicht getan wird. Inzwischen wissen wir, das hat Herr Yogeshwar wunderbar beschrieben, wir wissen inzwischen, dass alleine der mechanische Schutz einer Maske nicht den Träger, aber die anderen schützen kann. Und da hat Wissenschaft, und das ist übrigens was Tolles an dem ganzen Prozess, den wir gelernt haben, hat Wissenschaft auch gelernt zu sagen: Nee, also wir haben uns geirrt. Das ist jetzt anders. Wir sehen das anders.
Das Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, hat die Redaktion erfunden. Den Artikel und auch den dazugehörigen Tweet hat sie inzwischen still und heimlich gelöscht.
Solange es zur laufenden Kampagne passt, denken sich die “Bild”-Leute halt einfach Sachen aus, und sei es nur eine angebliche Bedrohung durch nasse Haare.
Vergangene Woche ärgerte sich Alexander von Schönburg in “Bild” und bei Bild.de:
Ginge es im Puff ums Singen mit vielen Leuten, wäre es dort vermutlich genauso verboten wie in der Kirche. Und Sex mit einer anderen Person könnte unter denselben Bedingungen in der Kirche genauso erlaubt werden wie im Puff – wenn es denn von der Kirche erlaubt wäre. Aber das nur nebenbei.
Das Puff/Kirchen-Beispiel illustriert schon ganz gut, worum es in von Schönburgs Artikel geht: Dinge zu vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben (etwa der vermeintliche Widerspruch, dass man in Berlin “jeden Tag Menschen ohne Helm, aber mit Mund-Nasen-Schutz Fahrrad fahren” sehe, wo doch die Krankenhäuser “voller Unfallopfer” seien, aber die “für die Covid-Patienten frei gehaltenen Intensivbetten” leer), um damit für Kopfschütteln und Neid zu sorgen (die Fußballfans dürfen im Stadion nun wieder grölen, von Schönburgs Nichte darf im Musikunterricht nur summen). Wichtig dabei: möglichst wenig Interesse an Logik und einer Erklärung zeigen. Zum Beispiel so:
Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.
Vielleicht zieht es noch bei Drei- bis Sechsjährigen, ihnen zu erzählen, dass “nasse Haare auf dem Fahrrad” krank machen, um sie zum Föhnen nach dem Schwimmunterricht zu bewegen. Alle anderen solltenhingegenwissen: Niemand wird allein durch nasse Haare krank, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Viren und Bakterien sorgen für die Krankheiten, nicht nasse Haare und auch nicht die Kälte. Muss der Körper wegen nasser Haare gegen die Auskühlung des Kopfes ankämpfen, kann er anfälliger für Krankheiten sein. Allerdings passiert auch dann ohne Viren oder Bakterien nichts.
Bei “Bild” versuchen sie aber auch schon gar nicht mehr, irgendwas zu verstehen: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”, steht im Bild.de-Artikel. Und so gilt bei den Corona-Maßnahmen der Regierung nun das, was bisher vor allem beim Thema Asyl galt: Ohne “Irrsinn” geht es bei “Bild” nicht mehr.
Gestern beispielsweise:
Das, was man hinter der “Bild plus”-Paywall erfährt, klingt hingegen keineswegs nach “Irrsinn”, sondern nach Vernunft und nach Regeln, die transparent und für jeden nachvollziehbar sind:
In Düsseldorf durften die [Ehrlich-]Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.
Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die Ehrlich Brothers auftreten. In Köln nicht. Sich an das zu halten, was vorher vereinbart wurde, ist laut “Bild”-Redaktion also “Irrsinn”.
Und auch hier: Schaut man sich den “Corona-Irrsinn im deutschen Fußball” nur einen Tick genauer an, wirkt es alles gar nicht so irrsinnig, wie “Bild” glauben machen will. Dass zum Beispiel der FC Bayern München im Finale des Uefa-Supercups am kommenden Donnerstag in Budapest (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: über 110) vor mehr als 20.000 Menschen spielen wird, während der Klub am vergangenen Wochenende in München (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: 56,1) nur vor den Vereinsverantwortlichen auflaufen durfte, lässt sich damit erklären, dass Ungarn nicht Deutschland ist. Und dass damit andere Regeln gelten. Das kann man falsch finden. Aber um unerklärlichen “Irrsinn”, der nicht zu verstehen ist, handelt es sich nicht.
Genauso der von “Bild” erwähnte Vergleich Gelsenkirchen/Mönchengladbach:
Auch in Deutschland selbst gibt es weiter unterschiedliche Entwicklungen. Schalke droht zum Heim-Start gegen Werder ein Geister-Spiel, weil die 7-Tage-Inzidenz in Gelsenkirchen gestern bei 44,1 lag. 70 Kilometer entfernt, in Gladbach, dürfte gegen Union – Stand jetzt – vor Fans gespielt werden.
Im ersten Satz steckt schon die Erklärung: Auf “unterschiedliche Entwicklungen” wird unterschiedlich reagiert. Was wäre denn die Alternative, die auch aus “Bild”-Sicht nichts mit “Irrsinn” zu tun hätte? Etwa dass auch in Mönchengladbach nicht vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Gelsenkirchen der Wert so hoch ist? Oder dass in Gelsenkirchen vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Mönchengladbach der Wert niedrig ist? Dann wäre in den “Bild”-Medien aber was los.
Am deutlichsten aber …
Der Corona-Irrsinn im deutschen Fußball zeigt sich am deutlichsten bei den anstehenden Derbys.
Etwa bei dem Derby in Hamburg zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli Ende Oktober. Im Hygienekonzept der Deutschen Fußball-Liga ist festgelegt, dass zu Bundesligaspielen keine Fans der Gastmannschaften ins Stadion dürfen. Das soll Fan-Reisen durch die Republik verhindern. Für Derbys gibt es keine Ausnahmen, auch wenn die Gästefans aus derselben Region oder derselben Stadt kommen. Das mag für Fans des FC St. Pauli schade sein. “Irrsinn” ist aber auch hier nicht zu erkennen, sondern schlicht gleiche Vorgaben für alle.
Es soll aber alles noch viel schlimmer sein. In Deutschland herrscht dank der Bundesregierung, zumindest laut “Bild”, nicht nur der “Irrsinn”, das Land ist sogar im “Absage-Fieber”:
Und obendrein lahmgelegt:
Aber: Reicht die 7-Tage-Inzidenz allein dafür aus, wegen Corona-Alarm das Land lahmzulegen?
Das behauptet jedenfalls “Bild”-Redakteur Filipp Piatov. Er nennt die bereits bekannten Einschränkungen und Absagen: keine Fans im Stadion in München, keine Zaubershow der Ehrlich Brothers in Köln. Also: Deutschland ist lahmgelegt. Und das “trotz leerer Intensiv-Betten”:
Fakt ist: Als z. B. die Stadt München (rund 1,5 Millionen Einwohner) am Donnerstag wegen der gestiegenen Infektionszahlen das Fan-Verbot beschloss, lagen in der Landeshauptstadt 14 Corona-Kranke auf der Intensivstation.
Was aus seiner Beobachtung konkret folgen soll, schreibt Piatov leider nicht. Soll das alles heißen: Absagen braucht derzeit kein Mensch, weil ja noch genügend Intensivbetten frei sind, die wir füllen können? Soll es erst wieder Absagen geben, wenn alle Betten voll sind? Wie viele gefüllte Intensivbetten mögen wohl der Zielwert der “Bild”-Redaktion sein? Und kommt dort jemand mal auf die Idee, dass der Zweck von Absagen genau das ist: möglichst leere Intensivbetten?
Am Wochenende versuchte die “Bild”-Redaktion dann noch, Kinder ins Spiel zu bringen (wobei es wirklich ein kühner Zug von ihr ist, jetzt schon wieder Kinder für die eigene Kampagne einzuspannen):
In einem dazugehörigen Kommentar schreibt Christian Langbehn, dass die Corona-Regeln in Deutschland nur noch “absurd” seien:
Wenn Regeln absurd werden, wenn wir als Vorbilder unserer Kinder das eigene Verhalten nicht erklären können, dann läuft etwas schief.
Was so alles schieflaufen soll, das verpackt Langbehn in Fragen. In diese zum Beispiel:
Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?
Diese vermeintlich naive Frage zeigt, dass es Langbehn nur darum geht, Zweifel zu säen und Unmut zu verursachen. Er hat keinerlei Interesse an Antworten, denn wenn er Interesse hätte, hätte er ohne Probleme eine Antwort auf seine Frage finden können. In Schleswig-Holstein beispielsweise lautet sie “Kohortenprinzip”:
Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.
Übergeordnetes Ziel ist es, das Infektionsrisiko zu begrenzen und die Ansteckungsrate niedrig zu halten (“flatten the curve” bzw. “keep the curve flat”). Unter diesen Annahmen wird auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen innerhalb der Kohorten verzichtet.
Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich verschiedene Kohorten nicht gegenseitig infizieren.
Springer-Chef Mathias Döpfner sagte vor Kurzem in einer Rede, die er als Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger hielt:
Aktivismus ist das Gegenteil von Journalismus, auch wenn es um etwas Gutes geht.
Bei der “Bild”-Kampagne geht es nicht mal um etwas Gutes.
1. Warum Drosten die “Bild”-Zeitung so scharf angeht (tagesspiegel.de, Tilman Schröter & Gloria Geyer)
Der Chefvirologe der Berliner Charité Christian Drosten ärgert sich über eine Anfrage der “Bild”-Zeitung, die er als tendenziös und unfair empfand. Noch dazu hatte man ihm zur Beantwortung der komplexen Fragestellung lediglich eine Antwortzeit von einer Stunde eingeräumt. In der Anfrage, die eher einer Konfrontation glich, hatte sich “Bild” auf verschiedene Wissenschaftler bezogen, von denen sich mehrere sofort von dieser Art der Berichterstattung distanzierten.
Weiterer Lesehinweis: Wissenschaftler distanzieren sich im Streit um Drosten-Studie von “Bild” (turi2.de, Benjamin Horbelt). Lesenswert ist auch das Interview von Alexander Kühn mit dem vermeintlichen “Bild”-Kronzeugen, dem deutschen Ökonomen Jörg Stoye, der an der Cornell-Universität in Ithaca, USA, Statistik lehrt: “Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker. Als ich heute von dem ‘Bild’-Artikel erfahren habe, habe ich ihm gleich eine E-Mail geschrieben, wie unangenehm mir das ist.” (spiegel.de)
Und selbst altgedienten “Bild”-Recken wie Georg Streiter ist das Vorgehen seiner ehemaligen Kollegen unangenehm, wie auf Facebook zu lesen ist: “Selbst wenn man die nur als niederträchtig zu bezeichnenden ‘Recherche’-Methoden von Herrn Piatov ignoriert (darüber ist schon ausreichend geschrieben worden), bleibt festzustellen: Diese Schlagzeile ist durch NICHTS belegt.”
Außerdem aus unserem Archiv: Wie die “Bild”-Redaktion mit schmutzigen Tricks versucht, Christian Drosten zu zerlegen.
2. Ein Spotify für Journalismus? (message-online.com, Pauline Tillmann)
Medien erleben die Corona-Krise als eine höchst paradoxe Zeit: Einerseits sind sie als Informationslieferanten wertvoll wie noch nie und verzeichnen explodierende Online-Abrufe. Andererseits brechen die Anzeigeneinnahmen in dramatischer und existenzbedrohender Weise ein. Wie können Gegenstrategien aussehen? Könnten Spotify, Netflix und andere Streamingdienste Beispiele für neue Geschäftsmodelle sein? Was ist nötig, um die Zahlungsbereitschaft für digitalen Journalismus zu verbessern. Anhaltspunkte dafür können laut Pauline Tillmann Modelle wie die “Krautreporter”, das Schweizer Digitalmagazin “Republik” und der Abo-Abwickler Steady liefern (Offenlegung: Wir nutzen Steady als einen Weg, über den man uns unterstützen kann).
3. Jung & Live mit Bernhard Pörksen (youtube.com, Tilo Jung & Hans Jessen, Video: 2:04:00 Stunden)
Zwei kurzweilige Stunden ohne überfrachtetes Medien-Blabla, sondern mit dem spürbaren Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen: Bei “Jung & live” war der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zu Besuch. In dem Gespräch mit Tilo Jung und Hans Jessen geht es um die mediale Wahrnehmung der Corona-Pandemie, die Kunst des Miteinander-Redens, Filter-Bubbles und Filter-Clashs sowie die große Gereiztheit in unserer Gesellschaft. Schön ist auch die Anekdote, wie Pörksen bei einer Talkshow-Teilnahme von einem anderen Talkshow-Gast “bestohlen” wurde.
4. Netflix: Wer nicht glotzt, fliegt raus (wuv.de)
Normalerweise freuen sich Unternehmen darüber, wenn zahlende Kundinnen und Kunden die Dienste nicht in Anspruch nehmen (bei Fitnessstudios scheint dies gar zum Geschäftsprinzip zu gehören). Nicht so beim Video-Streaming-Dienst Netflix: Dort wolle man inaktiven Nutzerinnen und Nutzern (oder genauer: Nicht-Nutzerinnen und -Nutzern) das Konto künftig automatisch kündigen. Dies betreffe jene, die ihr Konto seit zwei Jahren nicht mehr genutzt haben oder die ein Jahr nach ihrer Anmeldung nicht in Erscheinung getreten sind. Die Zahl dieser Fälle sei höher als man erwartet: Die Rede ist von mehr als 900.000 Konten.
5. Böse Überraschungen (taz.de, Lotta Laoire)
Die Kamera-Assistentin Lea R. ist nach eigenen Angaben ein Opfer von Polizeigewalt geworden. Ein Polizist habe ihr am 1. Mai in Berlin mit voller Absicht ins Gesicht geschlagen, während ihr Team eine Festnahme aufgenommen habe. Die medizinischen Folgen für die 22-Jährige seien gravierend. Derzeit sei unklar, ob ihre abgebrochenen Schneidezähne überhaupt repariert werden können. Die Ermittlung des Täters in den Polizeireihen gestalte sich, wie oft bei derartigen Fällen, als schwierig bis unmöglich. Laut einer Studie komme es nur in rund zwei Prozent der Fälle von Polizeigewalt zu Gerichtsverfahren.
6. Pixel-Nacktbilder und SMS-Chats: Der Teletext wird 40 (rnd.de, Matthias Schwarzer)
Man mag es kaum glauben, aber Teletext wird auch 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung immer noch fleißig aufgerufen. Die Rede ist von mehr als zehn Millionen täglichen Nutzerinnen und Nutzern. Matthias Schwarzer lässt die vergangenen 40 Jahre Revue passieren und versucht die Frage zu beantworten, warum der Dienst bei vielen Menschen immer noch so beliebt ist — jenseits des nostalgischen Retrocharmes.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben es nicht leicht in diesen Tagen. Laien behaupten, es besser zu wissen, oder kokettieren sogar damit, keine Ahnung zu haben, und lassen sich als Querköpfe feiern. Und dann schaltet sich, wenn’s ganz schlecht läuft, auch noch die “Bild”-Redaktion ein.
Der “Faktencheck” der beiden “Bild”-Redakteure Timo Lokoschat und Filipp Piatov ist bereits rund zwei Wochen alt. Aber ein genauerer Blick lohnt sich noch immer, denn der Beitrag zeigt, mit welch unsauberen Methoden die “Bild”-Medien arbeiten, wenn sie eine Person, in diesem Fall Karl Lauterbach, abschießen wollen: Sie zitieren falsch, sie reißen Studien aus dem Zusammenhang, sie überbetonen bestimmte Aspekte, lassen andere komplett weg.
Ein Check zum “Faktencheck”.
1. “Lockdown”
“Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam”, behauptete Lauterbach im Talk bei Markus Lanz am Dienstag. Die Forscher der ETH Zürich widersprechen: In einer viel beachteten Studie schreiben sie, dass Ausgangssperren zu den “am wenigsten effektiven Maßnahmen” gehören. Auch den Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge sanken die Infektionszahlen bereits VOR dem Lockdown.
… schreibt “Bild”. Bereits in einem früheren Artikel (der auch aus anderen Gründen Unfug war) hat sich die Redaktion auf die Schweizer Studie berufen und sie, wie auch hier, falsch angewendet. In der Untersuchung der ETH Zürich (PDF) haben die Forscherinnen und Forscher genau definiert, was sie mit “Lockdown” meinen — nämlich nicht das, was in den meisten deutschen Bundesländern bis vor Kurzem galt. Die Definition der ETH:
Lockdown: Prohibition of movement without valid reason (e.g., restricting mobility except to/from work, local supermarkets, and pharmacies)
Nach dieser Definition gab es in Deutschland keinen flächendeckenden “Lockdown”. Klar, Karl Lauterbach nutzte den eigentlich unpassenden Begriff selbst, Lokoschat und Piatov griffen ihn letztlich nur auf. Aber die zwei “Bild”-Redakteure sind es, die ihn in den falschen Zusammenhang mit der Schweizer Studie bringen. Das, was dort unter “Lockdown” verstanden wird, die strikte Mobilitätseinschränkung, traf nur auf eine Handvoll Bundesländer zu, und das nicht mal die ganze Zeit. Die Maßnahmen, die hingegen tatsächlich bundesweit galten, unter anderem das Versammlungsverbot, Grenzschließungen, die Schließung von Kinos, Theatern und Konzertsälen sowie die Schließung von nicht systemrelevanten Betrieben, zählt die Studie zu den “effektivsten Maßnahmen”. Diese Maßnahmen dürfte Lauterbach auch mit “Lockdown” gemeint haben.
Die Behauptung von Lokoschat und Piatov, die Infektionszahlen seien laut RKI schon vor dem “Lockdown” gesunken, ist rein statistisch durchaus zutreffend. Aber erstens ist das kein Beweis dafür, dass die Maßnahmen nichts gebracht hätten. Und zweitens verkennen die “Bild”-Autoren einen wichtigen Punkt: Mit “Lockdown” müssten sie die am 22. März beschlossenen bundesweiten Kontaktbeschränkungen meinen, die am 23. März in Kraft traten. In den Zahlen des RKI erkennt man tatsächlich nach einem Höhepunkt am 16. März einen Rückgang der Erkrankungsfälle (allerdings nur einen leichten auf hohem Niveau), also eine Woche vor der Einführung der Kontaktbeschränkungen. Bloß: Auch schon vor dem 23. März gab es Maßnahmen, die später zum “Lockdown” gezählt wurden — etwa die Absage von Großveranstaltungen (9. März) oder das Schließen der meisten Schulen und Kitas (16. März). Auch die Mobilität der Menschen verringerte sich bereits vor den Kontaktbeschränkungen erheblich. All das hatte schon vor dem 23. März eine Wirkung, wie Ranga Yogeshwar in einem Video anschaulich erklärt.
2. Italienische Zustände
“80% unseres Erfolgs waren die Horrorbilder aus Italien!”, lobt Lauterbach die Vollalarm-Stimmung, die Deutschland im März in den Stillstand versetzte. Damit ist er nicht allein: Auch RKI-Chef Lothar Wieler (59) mahnte mehrmals, dass Deutschland “einfach nur 1–2 Wochen vor Italien” sei. Doch von italienischen Zuständen war in Deutschland glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt etwas zu sehen.
… schreibt “Bild”. Erstmal: Lokoschat und Piatov zitieren hier unsauber. Lauterbach sprach nicht von “Horrorbildern”, sondern von “bestürzenden Bildern”. Und er lobte damit auch nicht die “Vollalarm-Stimmung” in Deutschland, sondern versuchte, mit diesem Beispiel zu erklären, warum es aus seiner Sicht hier nicht so schlimm gekommen ist wie in anderen Ländern:
Wir haben diese Hotspots in Deutschland nicht gesehen. Haben wir ja nicht gesehen. Wir hatten Gangelt. Und wir hatten also Webasto in München. Aber wir haben zum Beispiel diese Hotspots in den Restaurants (…) nicht gesehen, haben bei uns keine Rolle gespielt. (…) Und zwar deshalb, weil wir zu dem Zeitpunkt, wo wir noch nicht viele Infektionen hatten, die Bilder aus Italien hatten. 80 Prozent unseres Erfolgs sind die Bilder, die bestürzenden Bilder aus Italien gewesen. Und dann haben wir sozusagen schon alles dicht gemacht, bevor viele infiziert waren.
Karl Lauterbach nennt als Grund dafür, dass die Situation in Deutschland nicht so dramatisch wurde wie in anderen Ländern, etwa in Italien, dass “wir” als Warnung “die Bilder aus Italien hatten.” Lokoschat und Piatov machen daraus: Was redet der Lauterbach denn von “Horrorbildern aus Italien”? Das war hier doch alles gar nicht so schlimm wie in Italien! Eigentlich stützen sie damit unfreiwillig Karl Lauterbachs These — sie liefern ein Beispiel für das Präventionsparadoxon: Greifen Maßnahmen und bleiben dadurch schlimme Folgen aus, entwickelt sich schnell eine Stimmung: Waren diese Maßnahmen, dieser “Vollalarm”, dieser “Stillstand” jetzt wirklich nötig? War doch alles gar nicht so schlimm!
Lauterbach beschreibt etwas später in der Lanz-Sendung genau das, was “Bild” mit seinem Zitat anstellt (inklusive dem oben bereits zitierten “Lockdown”-Zitat):
Das höre ich oft und das sage ich jetzt, weil Sie es gesagt haben, das höre ich aber auch bei anderen oft: “Das, was ihr gesagt habt, ist doch alles nicht eingetreten.” Die Epidemiologen, die Wissenschaftler werden da so ein bisschen diffamiert, so nach dem Motto: “Ihr hattet Unrecht, es ist doch gar nicht so dick gekommen.” (…) Wir haben nie gesagt, dass die Katastrophe kommt, wenn wir den Lockdown machen. Wir haben gesagt, die Katastrophe kommt nicht, wenn wir den Lockdown machen. Genau das ist passiert. Wir haben sozusagen das erreicht, was wir wollten. Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam. (…)
Daher darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Wissenschaftler etwas hier in Deutschland vorhergesagt hätten, was dann nicht gekommen ist. Es diffamiert die Arbeit, die wir gemacht haben. Das ist der Erfolg unserer Arbeit, dass das nicht gekommen ist. Es gibt diesen Spruch: Die Epidemiologie hat keine Helden. Weil ich den vermiedenen Tod nachher gratis nehme und nicht sehe, was sonst passiert wäre.
3. Schweden
“Völlig verantwortungslos”, urteilt Lauterbach über Schweden und wähnt sich damit in der Gesellschaft “aller Epidemiologen”. Hintergrund: Das Königreich verzichtete auf Ausgangsbeschränkungen, setzte auf Vernunft und Freiwilligkeit seiner Bürger. Ein Krankenhaus-Kollaps blieb in Schweden aus. Über die Bewertung der schwedischen Zahlen sind sich keineswegs “alle Epidemiologen” einig. Weltweit und mit unterschiedlichen Ergebnissen wird der Sonderweg des Landes auch von der Fachwelt debattiert.
… schreibt “Bild”. Und lässt hier mehrere Aspekte weg. Allen voran die hohen Todeszahlen in Schweden. So berichtete der “Tagesspiegel” am selben Tag, an dem auch der “Bild”-Artikel erschien:
Das Land [Schweden] verzeichnet pro eine Million Einwohner mit fast 289 Todesfällen deutlich mehr als beispielsweise die Nachbarländer Norwegen, Dänemark oder Finnland. Auch im Vergleich mit Deutschland (87,7) liegt die Sterberate mehr als dreimal so hoch.
Inzwischen liegt dieser Wert für Schweden bei über 360 Toten pro eine Million Einwohner (in Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien und Frankreich ist er noch höher – für Deutschland liegt er aktuell bei ungefähr 96). Würde man den schwedischen Wert auf Deutschlands Einwohnerzahl übertragen, hätten wir hier nicht, wie aktuell, etwa 8000 Tote, sondern fast 30.000.
Dass in Schweden die Zahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner um ein Vielfaches höher ist als in Deutschland, argumentiert auch Karl Lauterbach bei Markus Lanz, wenn er von “völlig verantwortungslos” spricht. Timo Lokoschat und Filipp Piatov lassen das aber einfach unter den Tisch fallen.
Auch das Scheitern des schwedischen Vorhabens, die Alten zu schützen, bleibt bei “Bild” unerwähnt: In Schweden starben besonders viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen, wie die “Süddeutsche Zeitung” vergangene Woche konstatierte.
Die Schweden-Affinität der “Bild”-Redaktion in der Corona-Krise ist auch drüben bei “Übermedien” Thema.
4. Aerosole
Teil von Lauterbachs bedrohlichen Szenarien in der Lanz-Sendung sind “Aerosole” — Corona-Wölkchen, die bis zu sieben Stunden in der Luft schweben und Infektionen auslösen würden, wie der SPD-Politiker erläutert. Das steht zumindest im Widerspruch zu dem, was das Robert-Koch-Institut schreibt: Eine Übertragung über Aerosole sei im normalen gesellschaftlichen Umgang “nicht wahrscheinlich”, urteilen die RKI-Experten Ende April mit Verweis auf bisherige wissenschaftliche Untersuchungen.
… schreibt “Bild”. So sicher, wie Lokoschat und Piatov hier tun, war sich das Robert-Koch-Institut zu dem Zeitpunkt aber gar nicht:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich erscheint, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass eine Übertragung von SARS-CoV-2 über Aerosole im normalen gesellschaftlichen Umgang nicht wahrscheinlich ist.
“Eine abschließende Bewertung” erscheine “zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich”. So eine Nuancierung ins Ungewisse mag unerheblich wirken, gerade in diesem Fall stellt sie sich im Nachhinein aber als relevant heraus. Denn das RKI änderte seine Einschätzung inzwischen gewissermaßen ins Gegenteil, auch wenn “eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt” immer noch “schwierig” sei. Mittlerweile heißt es:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt schwierig ist, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass SARS-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang in besonderen Situationen (s. o.) übertragen werden können.
Diese Neubewertung veröffentlichte das RKI am 7. Mai. Also genau an dem Tag, an dem der “Bild”-Artikel über Karl Lauterbach erschien (bei Bild.de wurde er am Abend vorher veröffentlicht). Lokoschat und Piatov konnten beim Schreiben ihres Textes davon freilich nichts wissen. Aber schon da war das RKI beim Thema Aerosole nur eine unter mehreren Quellen: Der Virologe Christian Drosten nahm in seinem Podcast bei NDR Info bereits am 6. April Bezug auf eine Studie, auf die sich unter anderem auch die erste Einschätzung des RKI stützte. Drosten war hier eher unschlüssig (PDF):
Genau. Wir wissen nicht, wie das speziell bei diesem Virus ist. Also es gibt eine Studie zum Beispiel im “New England Journal”, die ist vor ungefähr drei Wochen schon erschienen. Die sagt, im Aerosol ist dieses SARS-2-Virus ungefähr drei Stunden lang noch infektiös. Dazu muss man aber dann auch sagen, dass die Autoren, die das publiziert haben, ein künstliches Virusaerosol mit einer ganz hohen infektiösen Viruskonzentration hergestellt haben. Da kann sich niemand sicher sein, ob das wirklich dem entspricht, was ein infizierter Patient wirklich von sich gibt.
Karl Lauterbach erwähnt bei Markus Lanz eine weitere Studie, nach der in einem Restaurant im chinesischen Guangzhou eine Person Menschen angesteckt habe, die gar nicht mit ihr an einem Tisch saßen. Das sei durch die Luftverteilung durch eine Klimaanlage begünstigt worden. Beide Studien werden in dem “Bild”-Artikel nicht erwähnt. Auch ein Beitrag der “Washington Post” von Ende April thematisierte die unsichere Faktenlage in Bezug auf Aerosole. Es ist also nicht so, als hätten Timo Lokoschat und Filipp Piatov beim Schreiben ihres Artikels nicht genügend Informationen für eine differenziertere Darstellung der Sachlage zur Verfügung gehabt.
Virologe Drosten ist in seiner Einschätzung zur Bedeutung von Aerosolen im Übrigen mittlerweile deutlicher, auch weil es einen neuen Report der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften zum Thema gibt. In der Podcast-Folge vom 12. Mai sagte er, dass er die Ansicht Lauterbachs, was die Aerosol-Infektionen angeht, teile (PDF):
Und die Infektiosität kann tatsächlich für mehrere Stunden bleiben. Da hat also Herr Lauterbach vollkommen Recht.
Auch das ist natürlich nicht in Stein gemeißelt — neue Studien können neue Erkenntnisse bringen.
5. Restaurants
Für Lauterbach ist in der Sendung von Markus Lanz klar: Restaurants wären “Brandbeschleuniger der Pandemie”, würden die Ausbreitung des Corona-Virus stark vorantreiben. Zweifel an den eigenen Aussagen? Keine.
Dabei hatte Hendrik Streeck (42), Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, vor vier Wochen bei Lanz erklärt: “Wir sehen, wie die Infektionen stattgefunden haben. Das war nicht im Supermarkt oder im Restaurant oder beim Fleischer. Das war auf den Partys beim Aprés (sic) Ski in Ischgl, im Berliner Club ‘Trompete’, beim Karneval in Gangelt und bei den ausgelassenen Fußballspielen in Bergamo.”
… schreibt “Bild”. Während Timo Lokoschaft und Filipp Piatov es so wirken lassen, als wäre Lauterbach generell gegen die Öffnung von Restaurants (was auch wunderbar zu ihrem Einleitungssatz passt: “Wenn es nach Karl Lauterbach (57, SPD) geht, haben alle Fragen eine einzige Antwort: Lockdown.”), sagt dieser in der Sendung von Markus Lanz, dass er es bei Beachtung von Hygieneregeln “schon für denkbar” halte, “dass die Gastronomie wieder öffnen kann.” Das verschweigen die “Bild”-Autoren allerdings.
Genauso wie sie in ihrem Artikel übrigens kein einziges Mal erwähnen, dass Karl Lauterbach Epidemiologe ist, dazu noch einer, der in Harvard studiert hat. Dieses Detail würde aber auch nicht so gut in ihre irreführende, als “Faktencheck” gelabelte Meinungsmache passen.
Es geht um den Begriff “Ausgangsbeschränkungen”. Und wer jetzt befürchtet, es wird hier allzu wortklauberisch, der oder die sei beruhigt: Es geht um deutlich mehr. Es geht darum, wie die “Bild”-Redaktion ein Urteil eines Verfassungsgerichts falsch wiedergibt und so die eigene Agenda in der Corona-Krise vorantreibt.
“Bild”-Redakteur Filipp Piatov schrieb vergangene Woche über einen Beschluss des saarländischen Verfassungsgerichtshofs. Dieser hatte entschieden, dass die wegen der Corona-Pandemie im Saarland geltenden Ausgangsbeschränkungen außer Vollzug zu setzen seien:
Am Dienstag entschied der saarländische Verfassungsgerichtshof, dass die Landesregierung die strengen Ausgangsbeschränkungen sofort lockern muss. Die Entscheidung des saarländischen Verfassungsgerichtshofs hat Signalwirkung für die gesamte Republik.
Denn die Richter begründen ihre Entscheidung mit massiven Zweifeln an der Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen, wie sie überall in Deutschland — wenn auch in verschiedenen Ausprägungen — eingeführt wurden.
“Aus einem Vergleich der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung”, so die Richter, lasse sich “kein Rückschluss auf die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkung ziehen”.
Es herrscht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Piatovs eigener Behauptung zu den “Ausgangsbeschränkungen, wie sie überall in Deutschland — wenn auch in verschiedenen Ausprägungen — eingeführt wurden” und der einen Absatz später von Piatov zitierten Aussage des Gerichts zu “den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung”.
Was denn nun: Gibt es Ausgangsbeschränkungen “überall in Deutschland”? Oder gibt es in Deutschland “Bundesländer mit und ohne Ausgangsbeschränkung”?
Schaut man in den Beschluss des saarländischen Verfassungsgerichtshofs (PDF), erkennt man, dass das Gericht zwischen Ländern mit Ausgangsbeschränkungen und Ländern mit Kontaktverboten unterscheidet. Wie viele Bundesländer mit (den strengeren) Ausgangsbeschränkungen es neben dem Saarland aus Sicht des Gerichts noch gibt? Eins.
Mit Ausnahme von Bayern kennen andere Bundesländer gegenwärtig keine vergleichbare Ausgangsbeschränkung.
Eine ähnliche Entwicklung des Infektionsgeschehens hat sich in diesem Zeitraum in allen anderen Ländern vollzogen, wobei — bis auf den Freistaat Bayern — in keinem Land Ausgangsbeschränkungen, sondern lediglich Kontaktverbote auch außerhalb des öffentlichen Raums angeordnet worden waren.
Wenn die Richter aus dem Saarland also “ihre Entscheidung mit massiven Zweifeln an der Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen” begründen, dann hat das erstmal nur Auswirkungen für das Saarland und vielleicht noch eine “Signalwirkung” für Bayern. Mehr nicht. In allen anderen Bundesländern sieht das Gericht schließlich überhaupt keine vergleichbaren “Ausgangsbeschränkungen”.
Bis zu dem Beschluss galten im Saarland strengere Regeln als in anderen Ländern. Das Verlassen der Wohnung war nur aus “triftigen Gründen” gestattet. Darunter fielen unter anderen die berufliche Tätigkeit, Arztbesuche oder der Einkauf von Lebensmitteln. Diese Strenge sei inzwischen nicht mehr nachvollziehbar, so das Gericht, da bei der Entwicklung der Corona-Pandemie kein klarer Unterschied auszumachen sei zwischen Ländern mit Ausgangsbeschränkungen und Ländern mit Kontaktverboten:
Die Betrachtung der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkungen zeigt keine belastbaren Gründe für die Notwendigkeit der Fortdauer der saarländischen Regelung.
Es reichte der “Bild”-Redaktion aber nicht, eine Entscheidung von gerade mal regionaler Bedeutung zu einer mit möglichen Auswirkungen für ganz Deutschland aufzublasen. Obwohl es bei dem Gerichtsbeschluss nur um eine Maßnahme ging, zog sie in der Überschrift ihres Artikels gleich alle “Corona-Maßnahmen” in “Riesen-Zweifel”:
Auch das widerspricht dem Beschluss des saarländischen Gerichts. Zu den verschiedenen Maßnahmen im Saarland neben den Ausgangsbeschränkungen steht darin:
Die in der VO-CP enthaltenen vielfältigen Freiheitsbeschränkungen — die in ähnlicher Form in allen Bundesländern gelten — haben Wirkung gezeigt.
Außerdem werden die Maßnahmen als Möglichkeiten angeführt, die ein künftiges Infektionsrisiko vermindern könnten:
Es ist nicht auszuschließen, dass die Aussetzung der Ausgangsbeschränkungen mit einer allerdings geringen Wahrscheinlichkeit das Infektionsrisiko erhöhen kann. Dieses Risiko wird — dem System der infektionsschutzrechtlichen Regelungen entsprechend — vermindert, wenn durch Kontakt- und Abstandsgebote sowie durch eine im Saarland neuerdings geltende Maskentragungspflicht Übertragungswege und Übertragungsweiten verringert werden und durch Verbote von zahlenmäßig nicht beschränkten Zusammentreffen weiter bekämpft werden.
Aus dem teilweisen Außervollzugsetzen eines Absatzes eines Paragrafen einer Verordnung eines Bundeslandes versuchen Filipp Piatov und die “Bild”-Redaktion, eine Diskussion über alle “Corona-Maßnahmen” in der “gesamten Republik” zu kreieren. Seinen Artikel, in dem er so ziemlich alles falsch darstellt, was man falsch darstellen kann, beginnt Piatov übrigens mit dieser Frage:
War es ein Fehler, die Ausgangsbeschränkungen gegen die Corona-Pandemie einzuführen?
Auch darauf findet man eine Antwort in dem Gerichtsbeschluss, den der “Bild”-Redakteur eigentlich ins Feld führt, um gegen Corona-Maßnahmen zu argumentieren: Die Entscheidung der saarländischen Landesregierung sei zu dem damaligen Zeitpunkt “Teil einer mit Blick auf die betroffenen Grundrechte verantwortungsvollen Politik” gewesen.
Seit Wochen schon versucht die “Bild”-Redaktion, den Virologen der Berliner Charité Christian Drosten schlecht dastehen zu lassen. Sie bemüht sich, Drostens Autorität als Wissenschaftler zu untergraben, arbeitet genüsslich frühere Fehleinschätzungen heraus, stellt ihn als Einflüsterer dar, macht ihn zum Kollegenschwein. Damit dieses negative Bild irgendwie passt, reißt die Redaktion auch schon mal Aussagen aus dem Zusammenhang, verfälscht zeitliche Abläufe und erfindet Behauptungen. “Bild”-Methoden eben.
So auch am vergangenen Donnerstag bei der oben bereits erwähnten Merkel-motzt-Geschichte. Bild.de schreibt:
Heute so, morgen so.
Im kleinen Kreis der Ministerpräsidenten hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (65, CDU) nach BILD-Informationen erstmals deutliche Kritik an Deutschlands Virologen geäußert.
Vor allem auf den Top-Virologen Christian Drosten (Berliner Charité) bezog sich ihr Unmut in der Video-Schaltkonferenz.
Und:
Merkel kritisierte Drosten wegen seiner jüngsten Aussagen zur Ansteckungsgefahr der Kinder in der Pandemie. Drosten warnte zuletzt, Kinder seien vermutlich genauso ansteckend wie Erwachsene. Die Zahl der Viren, die sich in den Atemwegen nachweisen lässt, unterscheide sich bei verschiedenen Altersgruppen nicht, berichten Drosten und sein Forscher-Team in einer vorab veröffentlichten und noch nicht von unabhängigen Experten geprüften Studie.
Folge: Die Forscher warnen aufgrund ihrer Ergebnisse vor einer uneingeschränkten Öffnung von Schulen und Kindergärten in Deutschland. Dabei hatte Drosten zuvor im NDR unter Berufung auf eine “Science”-Studie davon gesprochen, dass Kinder offenbar ein kleineres Ansteckungsrisiko als Erwachsene hätten (“ein Drittel”).
Diese Anekdote aus der Schaltkonferenz ist etwas überraschend, weil sich Angela Merkel bei der anschließenden Pressekonferenz recht dankbar für die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigte und Verständnis für sich ändernde Einschätzungen äußerte (sowieso: Der Virologe änder nicht “ständig seine Meinung”, wie Bild.de in der Dachzeile schreibt, er ändert seine Erkenntnisse). Doch die “Bild”-Redaktion blieb bei ihrer Darstellung der verärgerten Kanzlerin. Am Samstag schrieb sie in der “Bild”-Zeitung:
Nach Worten von Regierungssprecher Steffen Seibert sei die Darstellung “falsch”, Merkel habe sich in der Konferenz mit den Ministerpräsidenten nicht anders geäußert als auf der anschließenden Pressekonferenz.
BILD wurde die Kritik der Kanzlerin aus mehreren Quellen unabhängig voneinander geschildert.
Ob Merkel nun wirklich über Drosten “gemotzt” hat oder nicht, ist letztlich gar nicht entscheidend. Interessanter ist, wie falsch die “Bild”-Redaktion den angeblichen Grund für das angebliche Gemotze darstellt.
Erstmal ist der zeitliche Ablauf, den die Redaktion herstellt, falsch. Bei Bild.de klingt es so, als hätte Christian Drosten erst über eine im Magazin “Science” erschienene Studie gesprochen (“zuvor im NDR unter Berufung auf eine ‘Science’-Studie”) und erst später (“Drosten warnte zuletzt”) die Studie seines Teams präsentiert (PDF). Daraus ergibt sich der Eindruck, dass er bereits gewusst hätte, “dass Kinder offenbar ein kleineres Ansteckungsrisiko als Erwachsene hätten”, bevor er und sein Team mit etwas vermeintlich Gegenteiligem rauskommen. Tatsächlich war es aber andersrum: Am vergangenen Mittwoch twitterte Drosten über die Studie seines Teams, erst einen Tag später, am Donnerstag, sprach er beim NDR über die in “Science” publizierte Studie (und twitterte auch über sie).
Noch gravierender ist, dass der Widerspruch von Drostens Darstellung der Studien, den Bild.de insinuiert, gar keiner ist. Die Ergebnisse beider Untersuchungen schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich sogar. Denn sie untersuchen unterschiedliche Phasen in Bezug auf Infektionen bei Kindern: Christian Drosten und dessen Team haben geschaut, wie viele Viren sich im Rachen infizierter Menschen (und damit auch im Rachen von infizierten Kindern) befinden. Sie haben bei Kindern eine Viruskonzentration gefunden, die sie statistisch nicht von der bei Erwachsenen unterscheiden konnten. Daraus schließen sie:
Children may be as infectious as adults.
Es könnte also gut sein, dass Kinder bei der Weitergabe des Virus genauso infektiös sind wie Erwachsene. Wichtig dabei: die Einschränkung “may be”.
Die Studie aus “Science” untersuchte hingegen nicht, wie gut Kinder das Virus abgeben, sondern wie empfängliche sie selbst für das Virus sind: Wie hoch ist das Risiko von Kindern, dass sie sich selbst anstecken? Laut der Studie soll es, stark vereinfacht, wie Christian Drosten sagt, nur bei einem Drittel des Risikos liegen, das Erwachsene haben.
Miteinander kombiniert sagen die beiden Studien, dass Kinder ein geringeres Risiko als Erwachsene haben könnten, sich anzustecken; aber wenn sie sich angesteckt haben, dann könnten sie genauso infektiös sein wie Erwachsene. Die “Bild”-Redaktion kreiert daraus einen Widerspruch, den es nicht gibt, über den die Bundeskanzlerin aber dennoch “gemotzt” haben soll.
Die “Bild”-Redakteure Filipp Piatov, Nikolaus Harbusch und Willi Haentjes schreiben über “das Hin und Her der deutschen Virologie”, als wäre es völlig unverständlich, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer so dynamischen Situation wie der aktuellen ihre Sichtweisen anpassen, wenn durch Studien neue Erkenntnisse vorliegen. Kein Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten.
Dafür aber ein Gespür für eine Übermacht der Virologen. Das “Bild”-Trio schreibt:
Ihr Wort war Gesetz: Seit Beginn der Corona-Krise gaben Virologen der Politik den Takt vor. Wenn sie warnten, horchten die Regierungen von Bund und Ländern auf. Was sie forderten, galt kurz darauf in der gesamten Republik.
… was ein merkwürdiger Widerspruch zur Dachzeile “DREI EXPERTEN, DREI MEINUNGEN” darstellt, denn es galten ja nicht “kurz darauf in der gesamten Republik” drei verschiedene Gesetze.
Aber eigentlich geht es in dem Artikel auch gar nicht so sehr um die angebliche Macht der “DREI EXPERTEN”, sondern um die von Christian Drosten. Der sei nämlich der “Corona-Flüsterer der Kanzlerin”. Der Journalist Yassin Musharbash kommentiert treffend, dass “Bild” Drosten damit “subtil in eine Rasputin-Ecke” schiebe.
Im selben Artikel wird Christian Drosten auch noch zum Kollegenschwein gemacht, der einem anderen Virologen die “gute wissenschaftliche Praxis” abspreche:
Nun hat sich Drosten auf [Armin] Laschets Berater eingeschossen, den Virologen Hendrik Streeck (42). Dessen Agieren habe “mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun”.
Dieses Zitat haben Piatov, Harbusch und Haentjes kräftig aus dem Kontext gerissen. Es ist in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” gefallen. In dem Gespräch geht es auch um die “Heinsberg-Studie”, bei der der Virologe Hendrik Streeck federführend ist und dieordentlichKritikabbekommenhat. Einer von mehreren Kritikpunkten: Die PR-Agentur “Storymachine”, gegründet von Ex-“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, Ex-Stern.de-Chefredakteur Philipp Jessen und Eventmanager Michael Mronz, hatte die Vermarktung der Studie übernommen. Das Magazin “Capital” enthüllte dazu Details. Darüber sprach auch Christian Drosten im “SZ”-Interview:
Die Heinsberg-Studie kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie wurde zudem schon im Vorfeld als richtungsweisend für die Politik gehandelt, es war sogar eine Social-Media-Agentur des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann involviert.
Ich finde das alles total unglücklich — und ich finde es noch schlimmer, wenn ich dann den Bericht im Wirtschaftsmagazin Capital darüber lese, dass diese PR-Firma Geld bei Industriepartnern eingesammelt hat, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Da geht es auch um ein internes Dokument, demzufolge Tweets und Aussagen des Studienleiters Hendrik Streeck in Talkshows schon wörtlich vorgefasst waren. Da weiß ich einfach nicht mehr, was ich noch denken soll. Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun. Und es zerstört viel von dem ursprünglichen Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft.
In Drostens Aussage geht es also vornehmlich um das Agieren der PR-Agentur des ehemaligen “Bild”-Chefs (was im “Bild”-Text, wenig überraschend, komplett wegfällt) und nicht so sehr um Streecks Agieren. Im selben Interview äußerst sich Christian Drosten eigentlich recht positiv über die Arbeit von Hendrik Streeck. Er sagt, er unterscheide bei der “Heinsberg-Studie” zwischen Wissenschaft und Kommunikation (“Diese Geschichte ist für mich zweilagig. Das eine ist die Kommunikation, und das andere ist die Wissenschaft.”). Auf die Frage, ob die Studie durch das Verhalten von “Storymachine” hinfällig ist, antwortet er:
Die Wissenschaft an sich ist erst mal nicht zu kritisieren auf der momentanen Basis.
Danach gefragt, ob Hendrik Streeck ihm “inzwischen Details über die Studie zukommen lassen” hat, sagt Drosten:
Wir haben telefoniert, und ich habe Auszüge der Daten bekommen — und die lassen erkennen, dass die Studie an sich seriös ist und gut werden könnte.
Daraus fabrizieren die “Bild”-Autoren einen stutenbissigen Christian Drosten. Es passt aber auch zu schön zum von den “Bild”-Medien bereits zuvorausgerufenen “Virologen-Clinch”:
Eigentlich brauchen sie bei “Bild” aber gar nicht mal sowas wie eine real existierende Behauptung, die sie verzerren können, um sich jemanden vorzuknöpfen — sie denken sich die Behauptungen auch gern einfach aus. “Bild”- und “B.Z.”-Kolumnist Gunnar Schupelius schrieb vor zwei Wochen über Christian Drosten:
Am Montag wurde der Chef des Instituts für Virologie der Charité, Christian Drosten, zum Helden erklärt. Er bekam einen “Sonderpreis für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der Covid19-Pandemie.” Der Preis wurde extra für diesen Zweck von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestiftet, die der Bundesregierung gehört, und ist mit 50 000 Euro dotiert.
Schupelius wolle Drosten zugestehen, “dass er den Job nach bestem Wissen und Gewissen machen wollte und machte”, aber:
Aber weshalb bekommt er dafür einen Preis? Die Aufgabe kam ihm seines Amtes wegen zu und er hat sie zu erfüllen, denn er arbeitet im öffentlichen Dienst. Auch wenn er seine Aufgabe besonders gut erfüllt hat, ist er deshalb noch kein Held.
Nun ist es bloß so, dass niemand Christian Drosten mit diesem Preis zu einem Helden erklärt hat. Die DFG erwähnt das Wort “Held” in ihrer Pressemitteilung kein einziges Mal. Nur einer behauptet, dass Drosten jetzt ein Held sei: Gunnar Schupelius. Und das auch nur, um dann sagen zu können: Sag mal, spinnt ihr alle?! Der Typ ist doch kein Held!
Krankenschwestern, Pfleger, Supermarktmitarbeiter und Ärztinnen seien übrigens auch keine Heldinnen und Helden, so Schupelius. Sie tun schließlich nur das, “was man von ihnen erwartet und wofür sie bezahlt werden.”
Wenn es darum geht, Virologen schlecht zu machen, ist natürlich auch der “Bild”-Chef mit von der Partie. Nicht konkret über Christian Drosten, sondern über “nahezu alle Experten”, schreibt Julian Reichelt in einem Kommentar:
Zweitens, nahezu alle Experten, denen wir uns in dieser Krise anvertrauen (müssen), lagen mit nahezu jeder Einschätzung so falsch, dass unser Glauben an sie sich nur noch mit Verzweiflung erklären lässt.
Was für ein sagenhafter Populismus. Und was für ein unglaublich gefährlicher Unsinn. Meint Julian Reichelt wirklich, dass “nahezu alle Experte (…) mit nahezu jeder Einschätzung” falsch lagen?
Diese These hält nicht mal stand, wenn man Reichelts Kommentar einen Absatz weiterliest. Er schreibt davon, dass “auf Krankenhausfluren gespenstische Ruhe” herrsche und es hier “weiterhin kaum Corona-Tote” gebe. Woran liegt es, dass Deutschland bisher so glimpflich davongekommen ist? Doch nicht etwa an den Experten, deren Wort laut “Bild”, siehe oben, stets Gesetz war und deren Forderungen “kurz darauf in der gesamten Republik” galten? Bei dem (Zwischen-)Ergebnis mit leeren Krankenhausfluren und “kaum Corona-Toten” dürften die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Einschätzungen ja nicht so sehr danebengelegen haben.
Reichelts Kommentar — der noch an vielen anderen Stellen sehr schrecklich ist — ist ein Paradebeispiel für das Präventionsparadoxon: Greifen Maßnahmen und bleiben dadurch schlimme Folgen aus, entwickelt sich schnell eine Stimmung: Waren diese Maßnahmen jetzt wirklich nötig? War doch alles gar nicht so schlimm! Wenn Reichelt schreibt: Die Experten “haben trotz aller Maßnahmen immer wieder vor dem unmittelbar bevorstehenden Kollaps unseres Gesundheitssystems gewarnt. Nun herrschen auf Krankenhausfluren gespenstische Ruhe und Angst vor Arbeitslosigkeit”, dann erkennt er offenbar nicht, dass er damit einen sehr erfolgreichen epidemiologisch Vorgang beschreibt (gegen die Angst vor Arbeitslosigkeit muss natürlich etwas getan werden). Der “Bild”-Chef hat in letzter Zeit offenbar nicht sehr intensiv Nachrichten aus Italien, Spanien oder den USA verfolgt.
Seine Aussage über die Experten, die angeblich so oft falsch lagen, passt auch zur sonstigen “Bild”-Berichterstattung. In einer Art Virologen-Quartett, in dem auch Christian Drosten vorkommt, geht es neben dem “Spezialgebiet” und dem Privatleben auch um den jeweils “größten Irrtum”. Um die größte Entdeckung oder die größte Leistung geht es nicht.
Am 15. April kramte die “Bild”-Redaktion auch noch eine gut elf Jahre alte Geschichte aus, um Christian Drostens Expertise in Zweifel zu ziehen:
Drosten sei:
Ein Profi seines Fachs, der ein ganzes Land durch die Krise führt, obwohl er mit seiner Einschätzung zur Schweinegrippe im Jahr 2009 daneben lag.
Ende Oktober 2009 steigt die Zahl der registrierten Schweinegrippe-Fälle auf 3000 pro Woche und insgesamt 30 000 registrierte Patienten in ganz Deutschland. Prof. Drosten, damals noch Leiter der Virologie am Uniklinikum Bonn, warnte vor dem Virus. (…)
Heute ist klar: Die Panik vor dem Ausbruch war unbegründet.
Mitte März klang der Blick der “Bild”-Redaktion auf Christian Drosten noch ganz anders. “Der Mann mit den dunklen Locken” sei einer der wichtigsten Experten der Bundesrepublik.” Auch international sei er gefragt.
Der Grund: Drosten hat als einer der Wenigen den Corona-Durchblick.
Der Virologe, der auf einem Bauernhof im Emsland aufwuchs, kennt viele Viren wie seine Westentasche. Er hat Erfahrung und Expertise!
Und noch etwas:
Und noch etwas macht Drosten besonders: Er ist nahbar!
Obwohl Drosten den Medienrummel nicht gewohnt sein dürfte, teilt er all seine Erkenntnisse permanent mit der Öffentlichkeit. In Interviews bleibt er besonnen und – wie man es von einem Forscher erwartet — sachlich.
Für den Virologen ist die Corona-Lage mehr als ein Fulltime-Job. Doch er bleibt gefasst und reflektiert.
Man muss ja nicht gleich in derartige Schwärmereien verfallen, wenn es um Christian Drosten geht. Auch er sollte das Recht haben, kritisch hinterfragt zu werden. Wenn man aber, wie die “Bild”-Redaktion, zeigen will, dass der Virologe eigentlich nur ein unsteter Nicht-Held ist, der reihenweise Fehler macht und Kollegen in die Pfanne haut, dann sollte wenigstens etwas sauberer arbeiten als die Fantasiefigur, die man da zu erschaffen versucht.
Die “Bild”-Redaktion versucht heute mal wieder, Religionen und deren Anhänger gegeneinander auszuspielen:
Die vier “Bild”-Autoren Ralf Schuler, Filipp Piatov, Nikolaus Harbusch und Tomas Kittan schreiben, dass sie aus Quellen rund um die “Schalte von Bundeskanzleramt und Länderchefs” erfahren hätten, dass die Furcht vor einem möglichen Chaos zum muslimischen Fastenmonat Ramadan dafür sorge, dass auch die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden weiter geschlossen bleiben müssen:
Bislang untersagte die Bundesregierung den Bürgern das gemeinsame Beten aus Angst vor Corona — jetzt ist es die Sorge wegen eines möglichen Chaos an Ramadan. (…)
Wahrer Hintergrund der Entscheidung [weiterhin keine Gottesdienste stattfinden zu lassen] nach BILD-Informationen: Anders als bei den großen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden sieht die Politik bei den Muslimen in Deutschland keine zentralen Ansprechpartner, die verlässlich Regeln (Abstand, Hygiene et cetera) in den Moscheen flächendeckend durchsetzen könnten. Deshalb sollen nun alle Gotteshäuser möglichst mindestens noch bis zum Ende des in der kommenden Woche beginnenden Fastenmonats Ramadan (23. April bis 23. Mai) geschlossen bleiben.
Warum es mit Blick auf die Corona-Pandemie jetzt weniger gefährlich sein soll als noch vor ein paar Tagen, wenn vorwiegend ältere Menschen in einem geschlossenen Raum dicht beieinander sitzen und christliche Lieder schmettern, wobei sicher auch das eine oder andere Speicheltröpfchen durch die Luft fliegen dürfte, erklärt “Bild” nicht. Stattdessen der Tenor: Die wilden Muslime, die in ihren Schmuddelmoscheen aufeinanderhocken und sich nicht mal richtig die Hände waschen, sind schuld, dass wir Christen nicht zum Gottesdienst in unsere Kirchen dürfen.
So treibt man einen Keil zwischen Menschen, die momentan eigentlich dieselbe für sie schwierige, ärgerliche Situation durchleben.
Bereits gestern Abend erschien der Beitrag auch bei Bild.de:
Natürlich hinter der “Bild plus”-Paywall, wodurch alle die spalterische Überschrift lesen, aber nur wenige die angeblichen Hintergründe erfahren konnten.
Die einschlägig islam- und muslimfeindlichen Kreise hat die “Bild”-Redaktion mit ihrem Artikel jedenfalls zielgenau erreicht:
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 15:12 Uhr: Mal abgesehen von der Stimmungsmache durch die “Bild”-Redaktion: Es stimmt auch nicht, dass die Kirchen alle “geschlossen” sind, wie etwa Bild.de teasert. Es gibt eine ganze Reihe von Kirchen, die fürsstilleGebetweiterhingeöffnetsind. Nur Gottesdienste dürfen nicht stattfinden.
Irgendwas mit Geflüchteten, irgendwas gegen die Grünen — das landet bei “Bild” und Bild.de selbstverständlich auf der Titel- und Startseite:
Über den “PLAN DER GRÜNEN” schreiben Filipp Piatov, Karina Mössbauer und Peter Tiede:
Kann jeder Klima-Flüchtling bald Deutscher werden?
Dieser Grünen-Plan hat es in sich: Ganze Bevölkerungsgruppen sollen wegen des Klimawandels umsiedeln dürfen. Und zwar AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt!
Es geht um sogenannte Klimapässe. Das “Bild”-Trio erklärt das folgendermaßen:
Klima-Flüchtlinge aus aller Welt sollen in Industrie-Länder auswandern dürfen. Auch nach Deutschland. Und bei Ankunft gleich den deutschen Pass bekommen. “Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein”, sagte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (64, Grüne) zum Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Natürlich verdrehen Piatov, Mössbauer und Tiede Claudia Roths “kann eine Option sein” direkt in “gleich den deutschen Pass bekommen”. Und sie verzichten darauf, einen ganz entscheidenden Satz Roths ebenfalls zu zitieren. Auf die Frage “Sollen die Betroffenen bei Ankunft in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten?” antwortete die Grünen-Politikerin im Interview mit dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland”:
Das internationale Recht fordert dazu auf, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Genau solche Fragen müssen wir also dringend international diskutieren. Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein.
(Hervorhebung durch uns.)
Es geht Claudia Roth bei ihrer Aussage zur Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land also nicht um “jeden Klima-Flüchtling”, wie “Bild” es ins Spiel bringt, sondern nur um die, bei denen eine Staatenlosigkeit droht. Ausführlicher wird das in einem Antrag der Bundestagsfraktion der Grünen (PDF) erklärt:
Auch muss sich die internationale Staatengemeinschaft darauf einigen, wie sie mit dem erwartbaren Verlust ganzer Staatsgebiete umzugehen gedenkt. Entsprechende Debatten und Verhandlungen bedürfen deutlich mehr Nachdruck. Wenn absehbar ist, dass beispielsweise Inselstaaten im Pazifik vollständig verschwinden, muss dringend festgelegt werden, welche völkerrechtlichen Folgen der Verlust des Territoriums für die Betroffenen, ihre Staatsangehörigkeit und ihren Schutzanspruch mit sich bringt. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Staatenlosigkeit de facto und de jure verhindert wird. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Lösungen international voranzutreiben — etwa die Idee eines Klimapasses, dessen individueller Ansatz den Betroffenen ermöglicht, selbstbestimmt und frühzeitig über ihre Migration zu entscheiden.
Roth spricht in diesem Zusammenhang zum Beispiel von “den Bürgerinnen und Bürgern pazifischer Inselstaaten wie Tuvalu oder Kiribati”, “deren Land vollständig im Meer zu verschwinden droht”.
Das Ziel des “Grünen-Plans” ist übrigens auch nicht primär, dass Personen “AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt”, etwa nach Deutschland, umsiedeln. Danach gefragt, ob es nicht erstmal darum gehen müsse, “dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können”, antwortete Claudia Roth:
Unbedingt, das muss oberste Priorität haben
Und auf die Frage, ob die Menschen, die wegen des Klimawandels bereits heute umsiedeln oder fliehen müssen, “herkommen dürfen” sollen:
Die wenigsten wollen das. Natürlich will die Kaffeebäuerin aus dem Benin nicht nach Bamberg ins Anker-Zentrum. Wenn sie schon umsiedeln muss, dann wenigstens regional. Es geht also primär darum, Mechanismen und Lösungsansätze vor Ort zu unterstützen — in der afrikanischen Tschad-Region zum Beispiel, wo große Dürre herrscht, oder in Bangladesch, wo ganze Landstriche vom Meer verschluckt werden.
Auch im Antrag der Grünen heißt es nicht etwa, dass bloß alle “Klima-Flüchtlinge” nach Deutschland kommen sollen, sondern: “den Betroffenen das Recht zu garantieren, innerhalb ihres Landes, in der Region und gegebenenfalls über die eigene Region hinaus umzusiedeln”.
Das “Redaktionsnetzwerk Deutschland” hat Claudia Roth noch gefragt, ob sie denn keine Sorge habe, mit ihren Forderungen “den migrationsfeindlichen Diskurs zu befeuern”. Roth sagte dazu:
Ich lasse mich in meiner Politik nicht von Angst leiten. Sonst hätten die Angstmacher längst gewonnen.
Der “Bild”-Artikel von heute zeigt, dass die Angstmacher es auf jeden Fall weiter versuchen.
Wir wünschen entspannte und besinnliche Feiertage und ein erfolgreiches, gesundes Jahr 2020.
So lautet der Spruch in der Grußkarte von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.”, die die Medienjournalistin Ulrike Simon heute bei “Horizont” präsentiert. Aber fehlt da nicht was? Wo steckt denn “das wichtige Wort: Weihnachten”? Will Julian Reichelt, der als Chef der Chefredakteure für alle drei Blätter verantwortlich ist, etwa eines der zentralen christlichen Feste abschaffen?
Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert, wenn es für die “Bild”-Medien vor ziemlich genau einem Jahr nicht der Rededer Aufregungder Kampagne wert gewesen wäre, dass in einer Weihnachtskarte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz das aus “Bild”-Sicht “wichtige Wort: Weihnachten” fehlte.
Mehrere Tage versuchten sie bei “Bild” und Bild.de, Widmann-Mauz fertigzumachen und aus dem Amt zu schreiben:
Filipp Piatov und Franz Solms-Laubach regten sich über die “peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt” auf. Solms-Laubach kommentierte zusätzlich: “Instinktloser Unsinn!” Briefonkel Franz Josef Wagner schrieb an die “Liebe Integrationsministerin”. Und die Redaktion ließ den selbst initiierten “Kritik-Sturm wegen beschämender Weihnachts-Karte” über Widmann-Mauz ziehen. Es war eine typische “Bild”-Kampagne, in der Julian Reichelt und sein Team aus purer Lust auf Krawall eine Kleinigkeit zum großen Skandal aufbliesen. Und für alle ganz Rechten, die das Abendland untergehen sehen, war es ein gefundenes Fressen für Hass und Hetze.
Ulrike Simon schreibt bei “Horizont”, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags das fehlende “Weihnachten” noch bemerkt haben sollen:
Glück gehabt, dass Bild den eigenen Faux-pas in diesem Jahr rechtzeitig erkannte. Pech, dass HORIZONT eine von mehreren tausend Karten vor dem Einstampfen retten konnte.
Am vergangenen Freitag ist in Berlin ein Mann über die Absperrung vor einer Synagoge gestiegen. Laut Polizeimeldung lief er mit einem Messer in der Hand auf die Wachleute zu und soll dabei etwas gemurmelt haben. Die Wachleute zogen sofort ihre Dienstwaffen, richteten sie auf den Mann und forderten ihn auf, das Messer fallen zu lassen. Der Mann blieb stehen und sprach mehrfach mit ruhiger Stimme und mutmaßlich auf Arabisch etwas vor sich hin. Die Wachleute setzten schließlich Pfefferspray ein, um den Mann zu überwältigen.
In einer ersten Befragung ließ sich das Motiv des Mannes nicht feststellen. Auch eine richterlich angeordnete Durchsuchung seiner Wohnung brachte keine Klärung. Da auch ein politisches Motiv in Frage kam, beschlagnahmte die Polizei mehrere Datenträger und Unterlagen, die zurzeit ausgewertet werden. Haftgründe gegen den Mann lagen nicht vor, weshalb er am darauffolgenden Morgen aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde.
So. Und dann kam “Bild”.
“Horror in Berlin-Mitte”, schrie die Zeitung am Montag: “Synagoge angegriffen”!
Der Mann sei Syrer und solle “Allahu Akbar” und “Fuck Israel” gerufen haben, schrieben die Autoren des Artikels. Ob das stimmt, ist unklar; in der Polizeimeldung steht es nicht, und andere Medien schreiben es nur mit Verweis auf die “Bild”-Zeitung.
Der eigentliche Skandal ist für “Bild” aber ohnehin etwas anderes.
DAS UNFASSBARE: MOHAMAD M. WIRD AM NÄCHSTEN TAG FREIGELASSEN.
“Wo er jetzt ist? Unbekannt.”, gruselte sich “Bild”-Redakteur Timo Lokoschat im dazugehörigen Kommentar:
Was bleibt, ist das bedrückende Gefühl, dass da draußen jemand herumläuft, der voller Hass ist und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.
Vielleicht ist es an der Zeit, diese Sache mit dem Laufenlassen nochmal zu erklären, “Bild” hatte da ja schonimmer gewisse Verständnisprobleme.
Der deutsche Rechtsstaat sieht vor, dass es gute Gründe braucht, jemanden ohne ein Urteil ins Gefängnis zu stecken. Die Untersuchungshaft sei “die ultima ratio”, erklärte uns Anfang des Jahres in einer ähnlichen Sache der Strafverteidiger Carsten Hoenig. Der Erlass eines Haftbefehls müsse sich “an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Unschuldsvermutung messen lassen”. Zur Untersuchungshaft komme es nur, “wenn gar nichts mehr anderes geht”.
Laut Strafprozessordnung muss zunächst einmal dringender Tatverdacht bestehen. Zudem gibt es bestimmte Haftgründe, etwa die Fluchtgefahr, die Wiederholungsgefahr oder die Gefahr, dass Beweismittel vernichtet werden (Verdunkelungsgefahr). Liegen solche Gründe aus Sicht der Behörden nicht vor, gibt es keinen Haftbefehl.
Man kann also nicht mal so eben jemanden einsperren, auch wenn der “Bild”-Chefredakteur es gerne hätte:
Natürlich ist es möglich, dass ein politisches/terroristisches Motiv dahintersteckte. Aber es ist auch möglich, dass es einen anderen Hintergrund gab. Sogar “Bild” selbst schrieb in einem der Artikel zu dem Fall:
Haben Objektschützer vor der Neuen Synagoge in Mitte ein Blutbad verhindert? Oder haben sie am Freitagabend einen geistig verwirrten Mann gestoppt, der in Selbstmordabsicht mit einem Messer auf die bewaffneten Wachmänner zulief?
Julian Reichelt und Timo Lokoschat aber erwecken den Eindruck, als gebe es nur einen einzigen zulässigen Schluss.
Und als würden die Berliner Behörden die Sache gezielt vertuschen. In seinem Kommentar schrieb Lokoschat:
Erst vergangene Woche hatte ein Mann in Paris vier Menschen mit einem Keramikmesser erstochen. Ein Islamist, wie die Behörden erst nach langem Herumdrucksen bestätigten.
Auch in Berlin formuliert die Polizei, dass das Motiv des überwältigten Syrers “unklar” sei. Wie bitte? Was will jemand, der laut Zeugen “Allahu akbar” und “Fuck Israel” gerufen hat, mit einem Messer in einer Synagoge? In Ruhe reden? Nein, er will Juden verletzen oder ermorden.
Wer den grassierenden Antisemitismus bekämpfen will, muss sich auch trauen, ihn beim Namen zu nennen.
Ein entscheidender Punkt in der Berichterstattung von “Bild” ist, dass sie nicht das zum zentralen Thema macht, was passiert ist — ein Mann klettert mit einem Messer über die Absperrung einer Synagoge und wird gestoppt –, sondern das, was der Fantasie der Redaktion nach hätte passieren können.
Nochmal zur Erinnerung: Es ist nicht erwiesen, dass der Mann “Juden verletzen oder ermorden” wollte. Es könnte — wie “Bild” selbst schrieb — auch ein “geistig verwirrter Mann” mit “Selbstmordabsicht” gewesen sein. Oder etwas anderes. Die Behörden werden sich bemühen, die Motive herauszufinden. Während die “Bild”-Leute so tun, als hätten sie selbst den Fall schon gelöst.
Gestern dann die nächste Eskalationsstufe: Titelseitenwut.
“Wie kann das sein?”, fragte “Bild” immer noch fassungslos — und warf sogar die Frage auf, ob der Staatsanwalt “für seine Entscheidung, einen offenbar gefährlichen Täter freizulassen” “belangt werden” könne.
“Bild”-Redakteur Filipp Piatov erklärte den “Skandal um den Messerangreifer” dann noch mal nachdrücklich zu einer “Schande” für die Berliner Regierung. Der Fall beweise: Das “Engagement des Regierenden Bürgermeisters gegen Antisemitismus” sei “eine Luftnummer”.
Nun ist [der Syrer] auf freiem Fuß, unauffindbar — und gewaltbereit. Denn was für jeden Bürger mit gesundem Menschenverstand nach einem versuchten antisemitischen Terrorangriff aussieht, ist für Berliner Behörden leider kein Haftgrund. Verrückt!
Anstatt den Mann in Gewahrsam zu nehmen und intensiv zu prüfen, ob er nicht in ein Flugzeug gen Heimat gehört, darf er durch Berlins Straßen laufen. Es ist amtlich: Die deutsche Hauptstadt drückt nicht nur bei Drogendealern, sondern auch bei antisemitischen Gewalttätern beide Augen zu.
Zunächst einmal stellte sie klar: “Die Voraussetzungen für einen Haftbefehl liegen nicht vor”: Es bestehe “kein dringender Tatverdacht einer Straftat, lediglich der Anfangsverdacht eines Hausfriedensbruchs.” Der Verdächtige sei “strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten”. Und: Derzeit lägen “keine Erkenntnisse zu einer möglichen islamistischen Motivlage vor”, die Ermittlungen dazu würden “mit Hochdruck fortgeführt”. “Durch Berlins Straßen”, wie die “Bild”-Kommentatoren geschrieben hatten, läuft der Mann auch nicht: Er befinde sich, so die Generalstaatsanwaltschaft, “derzeit in der Psychiatrie”.
Und wie reagierte der “Bild”-Chef? “Sorry, dass wir so viele voreilige Schlüsse gezogen haben?” Aber nicht doch.
Das muss man sich mal vorstellen: Wegen des Verzichts auf einen Haftbefehl aufgrund fehlender Voraussetzungen dafür unterstellt er jetzt den Berliner Behörden, aus ideologischen Gründen terroristische Straften bewusst zu ignorieren. Woanders würde man sowas Verschwörungstheorie nennen, bei “Bild” nennen sie es Journalismus.
Reichelt scheint fest entschlossen zu sein, aus dem Vorfall vor der Synagoge eine Kampagne gegen die Berliner Regierung und deren “Ideologie” zu machen.
Heute wird es persönlich. Groß auf Seite 2 der Bundesausgabe: ein Foto der Berliner Generalstaatsanwältin.
Im Artikel listet “Bild”-Redakteur Ralf Schuler mehrere islamistische Anschläge der vergangenen Jahre auf und — als gäbe es keinen Zweifel daran, dass es sich dabei ebenfalls um islamistischen Terror gehandelt hat — nennt dabei auch den Vorfall vor der Synagoge vom Wochenende. Es sei “IRRE”, dass der Mann wieder freigelassen wurde, schreibt auch Schuler nochmal. Und dann schreibt er, in bester AfD-Manier:
Die Politik drückt sich noch immer vor dem Eingeständnis, dass mit der Massenmigration seit 2015 auch Kriminelle nach Deutschland gekommen sind und spricht deshalb lieber über Einzelfälle als über das Terror-Problem.
Was haben wir also gelernt? Der Synagogen-“Messermann” ist hundertprozentig ein islamistischer Terrorist, denn während die Ermittlungsbehörden nur aufwendig rumermitteln, hat “Bild” einfach eins und eins zusammengezählt. Die Berliner Behörden stecken aber alle unter einer Decke und wollen das mit dem Terror geheimhalten. Und dass viele Flüchtlinge Terroristen sind, will die Politik ebenfalls vertuschen. Und von “Terror” sprechen sollte man sowieso nicht erst, wenn alle Beweise gesichtet, wenn die Datenträger ausgewertet und die Ermittlungen abgeschlossen sind, sondern gefälligst dann, wenn die “Bild”-Zeitung es verlangt.
… fragt die Redaktion des Wochenmagazins “Bild Politik” in ihrer aktuellen Ausgabe. Und gibt darauf gleich zwei Antworten: Filipp Piatov findet: “JA”, Anna Essers schreibt: “NEIN”. Aber ob nun Pro oder Contra — der Ton werde auf jeden Fall “radikaler”, so “Bild Politik” und Bild.de schon im Teaser:
Studentin Luisa Neubauer, 23 Jahre alt, Bachelor-Studentin an der Uni Göttingen, vertritt die Bewegung [Fridays For Future] in Deutschland. Auf Twitter schrieb sie zu den Rekord-Temperaturen: “Diese Hitze tötet.” Sie hält zivilen Ungehorsam für legitim und fordert ein Umsteuern in der Umweltpolitik mit “Worte und Taten”.
Im direkt anschließenden Absatz ist die Redaktion dann schon nicht mehr bei Fridays For Future (FFF), sondern bei der nächsten Klimabewegung, Extinction Rebellion (XR), angekommen. Wobei diese Gruppen laut “Bild Politik” und Bild.de ja sowieso eigentlich alle ganz eng zusammenhängen und voneinander abstammen:
Genau das propagiert auch der aus “Fridays for Future” hervorgegangene Arm der Bewegung, “Extinction Rebellion”, kurz “XR”. Aktivisten von “XR” fordern radikale Maßnahmen, unter anderem, um den Ausstoß an klimaschädlichem Kohlendioxid (CO2) binnen fünf Jahren auf null zu senken.
XR ist unabhängig von der Freitagsdemo-Bewegung im Oktober vergangenen Jahres in Großbritannien entstanden und hat sich dann schnell international ausgebreitet. Auch in Deutschland haben sich Protestgruppen gebildet. Mit Fridays For Future hat Extinction Rebellion nur insofern zu tun, als dass die Mitglieder ähnliche Ziele verfolgen, sich somit politisch nahestehen und immer wieder die Veranstaltungen der jeweils anderen Bewegung besuchen. Es handelt sich aber nicht um eine FFF-Splittergruppe.
Das haben sie bei Bild.de dann auch irgendwann gemerkt und den fraglichen Absatz zu XR einfach gestrichen — klammheimlich und ohne irgendeinen Hinweis auf den Fehler.
Filipp Piatov sitzt bei “Bild” in der Politikredaktion, und man muss das einmal aufschreiben, denn man würde sonst nicht auf die Idee kommen, dass er in einer Politikredaktion sitzt.
Niemand hat so dringende Sorgen wie die Grünen: Das Klima muss gerettet, die Welt vor dem Untergang bewahrt und der Jugend ihre Zukunft zurückgegeben werden.
Doch die Grünen sind wie ein Beifahrer, der über den Fahrstil meckert, aber bloß nicht selbst ans Steuer möchte. Warnen, mahnen und die Regierung kritisieren, das können sie — aber regieren wollen sie nicht. (…)
Wer so dringende Sorgen wie die Grünen hat, müsste das nutzen: Neuwahlen fordern, Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken! Und vor allem: keine Zeit verlieren.
Dass Piatov behauptet, die Grünen würden nicht regieren wollen, ist etwas überraschend, schließlich sitzt die Partei aktuell in neun Bundesländern in der Regierung: in Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. In Baden-Württemberg stellt sie mit Winfried Kretschmann sogar den Ministerpräsidenten. Und das seit mehr als acht Jahren, was dafür spricht, dass auch Filipp Piatov das mal mitbekommen haben könnte.
Aber offenbar hat er ja nicht mal die Sondierungsgespräche zu einer möglichen Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl 2017 mitbekommen. Denn die sind am Unwillen der FDP gescheitert und nicht am vermeintlichen Nicht-Regieren-Wollen der Grünen. Und nun ist es auch historisch gesehen nicht so, dass sich die Grünen noch nie an einer Regierungbeteiligt hätten.
Dass die Grünen entgegen seiner Aussage durchaus schon mal Neuwahlen ins Spiel gebracht haben, hätte Piatov mit einer recht einfachen Google-Suche (“Grüne Neuwahlen”) herausfinden können. FAZ.net berichtete beispielsweise vor gut einer Woche:
Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock sagte zu möglichen Neuwahlen:
Wenn diese Bundesregierung keine Kraft mehr hat, dann muss die Gesellschaft, dann müssen die Bürgerinnen dieses Landes neu entscheiden
Da steckt dann auch ein entscheidender Punkt drin: Die amtierende Regierung aus CDU/CSU und SPD müsste entscheiden, ob sie weitermachen will oder nicht. Und nicht die Grünen. Neuwahlen gibt es in Deutschland in der Regel nicht durch das Fordern von Neuwahlen durch eine Partei, die in aktuellen Umfragen bei ordentlich über 20 Prozent liegen mag, die im Bundestag allerdings nach wie vor mit den 8,9 Prozent aus der Wahl 2017 vertreten ist. Das ist, zum Glück, dann doch ein etwas komplexerer Vorgang. Es mag Piatov überraschen, aber nicht mal die Grünen in ihrem derzeitigen Höhenflug haben die Möglichkeit, den Bundestag im Alleingang aufzulösen.
Wenn man sich mal die Mühe macht und sich hinsetzt, um Filipp Piatov das alles einmal in Ruhe zu erklären, dann fängt er einfach wieder von vorne an.
Seit 28 Jahren wird in Deutschland das “Unwort des Jahres” gewählt — sehr zum Gefallen der “Bild”-Zeitung, die seit vielen Jahren gerne darüber berichtet, oft sogar auf der Titelseite.
Auch über die jüngste Wahl zum “Unwort des Jahres 2018” hat “Bild” vor ein paar Tagen wieder berichtet. Diesmal aber mit einer, nun ja, leichten Änderung im Ton. Die Zeitung schreibt:
Die Jury der sogenannten „Sprachkritischen Aktion“ aus Sprachwissenschaftlern hat die Formulierung „Anti-Abschiebe-Industrie“ von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt (48) zum „Unwort des Jahres 2018“ gekürt – und löst damit kritisches Nachfragen aus.
Und zwar in erster Linie bei den Autoren des “Bild”-Artikels, Filipp Piatov und Ralf Schuler, die empört fragen: “Wer ist die Sprachpolizei überhaupt?” “Was hat die Sprach-Jury auszusetzen?” Und vor allem: “Wer soll das noch verstehen?”
“Niemand hat diese Jury legitimiert”, zitieren sie einen Sprachprofessor. Die Jury stehe “immer auf der sicheren Seite der politischen Korrektheit”. Diese ganze Sache sei “eine Farce”.
Man dürfe, so das bittere Fazit der “Bild”-Autoren, in diesem Land eben nicht mehr öffentlich sagen, was man möchte:
Nach der Kritik von Sport-Star Stefan Kretzschmar (45) diskutiert Deutschland, ob man eigentlich noch öffentlich sagen kann, was man möchte. Erkenntnis seit gestern: Ja, darf man. Es sei denn, es passt der Sprachpolizei nicht…
Die Antwort dürfte den “Bild”-Lesern spätestens seit dem “Unwort”-Artikel klar sein. Stichwort: Political Correctness! Stichwort: Sprachpolizei!
Jahrelang hielt die “Bild”-Zeitung die Wahl zum “Unwort des Jahres” für eine berichtenswerte Nachricht, sie widmete ihr prominente Plätze auf der Titelseite, machte regelrecht Werbung dafür: Diese Begriffe stehen zur Auswahl!So können Sie Vorschläge einreichen!Das sind die Gewinner!
… und auf einmal ist sie das Werk der “Sprachpolizei”, die mit ihrer “politischen Korrektheit” die Meinungsfreiheit in diesem Land einschränken will.
Ganz neu sind diese Argumente und Begrifflichkeiten freilich nicht. 2017 schrieb die AfD zum Unwort des Jahres, hier schwinge sich “eine Gesellschaft zur Sprachpolizei” auf. 2018 schrieb “Compact”: “Das Unwort des Jahres 2017 steht fest. Na, toll – und jetzt? Was soll dieser Zirkus eigentlich? Will uns die Sprachpolizei hier rhetorisch einnorden? Alles frei nach Orwell: ‘Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken?'” Und “Tichy’s Einblick” erklärte vor ein paar Tagen, die Wahl zum “Unwort” diene “Linksintellektuellen” lediglich dazu, “Andersdenkende lächerlich zu machen und zu diffamieren”. Überschrift: “Jährlich meldet sich die linke Sprachpolizei”.
Wobei “Plötzlich” in diesem Fall bedeutet: Die “Bild”-Redaktion hat einen Fehler gemacht, und der große Mist, den sie verbreitet hat, fliegt den Mitarbeitern gerade um die Ohren. Dieses “Plötzlich” ist eine Art Korrektur im Gewand eines weiteren Vorwurfs.
Es geht um die Weihnachtskarte — oder besser: die Weihnachtskarten — von Annette Widmann-Mauz, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung. Am späten Dienstagabend schreiben Franz Solms-Laubach und Filipp Piatov bei Bild.de:
Das ganze Land wünscht zurzeit “Fröhliche Weihnachten” auf Karten, doch ausgerechnet die Integrationsbeauftragte kriegt das nicht hin.
Auf der Weihnachtskarte, die Integrationsministerin Annette Widmann-Mauz (52, CDU) mit ihrer Pressestelle verschickt, sind zwar Weihnachtsmann-Mützen, Baumschmuck und Engel mit Heiligenschein zu sehen, es fehlt aber das wichtige Wort: Weihnachten!
Stattdessen steht dort: “Egal woran Sie glauben … wir wünschen Ihnen eine besinnliche Zeit und einen guten Start ins neue Jahr.”
Am Mittwoch reicht die “Bild”-Zeitung ihren aussichtsreichen Beitrag zum Wettbewerb “Wer erschafft den größten Elefanten aus der kleinsten Mücke?” ein:
… schreibt die Redaktion auf der Titelseite. Und auf Seite 2:
Die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration soll also Weihnachten “abgeschafft”, sich “vor dem Wort Weihnachten” gedrückt, “unser christliches Fundament” verschwiegen haben. Blöd nur, dass eine weitere aktuelle Grußkarte von Annette Widmann-Mauz existiert. Und darin stehen Dinge wie “ein friedvolles Weihnachtsfest und ein gesegnetes Jahr 2019” oder “Öffnen wir unsere Herzen für das Geheimnis der Heiligen Nacht”. Dazu der Spruch des Theologen Angelus Silesius: “Das Licht der Herrlichkeit scheint mitten in der Nacht. Wer kann es sehen? Ein Herz, das Augen hat und wacht.” Alles sehr, sehr christlich.
Während die Karte, bei der Solms-Laubach und Piatov und “Bild” das Abendland untergehen sehen, in einer Auflage von 100 Exemplaren an Journalistinnen und Journalisten und Redaktionen gegangenen und von Widmann-Mauz’ Presseteam verschickt worden sein soll, soll die andere Karte in einer Auflage von 1000 Exemplaren an Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, Freunde in der CDU, Kirchen, Religionsgemeinschaften gegangen sein.
“Bild” lag also heftig daneben. Doch anstatt einfach zu sagen: “Wir lagen daneben”, schreibt die Redaktion, dass “plötzlich” eine “zweite Weihnachtskarte von Widmann-Mauz aufgetaucht” sei, und zündet die nächste Stufe. “Bild” gestern:
So macht man Menschen fertig.
Im Hauptartikel — dieses Mal interessanterweise ohne Autorennamen — geht es unter anderem um Widmann-Mauz’ Studienabbruch und ihr angebliches Versagen als Integrationspolitikerin. Die Redaktion wirft ihr vor, “dass sie es auch nach acht Monaten im Amt noch nicht geschafft habe, ein Freitagsgebet in einer Moschee zu besuchen.” Was wäre wohl in “Bild” los, wenn Annette Widmann-Mauz in diesen acht Monaten dreimal in der Moschee, aber nicht so oft im Gottesdienst gewesen wäre?
Der kleine Kasten unten rechts auf der Seite (“Die zweite Karte der Staatsministerin”) ist die Art, wie die “Bild”-Mitarbeiter zeigen, dass sie einen Fehler gemacht haben. Und dazu gehört auch, dass sie noch einmal auf Annette Widmann-Mauz einschlagen: “Parteiintern christlich, nach außen beliebig — ein bemerkenswerter Widerspruch.”
Vermutlich hätte aber auch eine größere Korrektur nicht mehr viel gebracht. Bei Bild.de durften die Leserinnen und Leser bereits über die berufliche Zukunft der Integrationsbeauftragten abstimmen. In den Sozialen Netzwerken haben die Hetzer, denen “Bild” das nächste Opfer zum Fraß vorgeworfen hat, Widmann-Mauz längst beleidigt und beschimpft. Die AfD, Erika Steinbach und all die anderen ganz Rechten konnten auf ein neues Thema aufspringen und taten das auch zahlreich. CDU-Politikerinnen und -Politiker haben sich von “Bild” zu kritischen Äußerungen bringen lassen. “Integrationsexperte” Ahmad Mansour durfte auch noch was sagen.
Und “Bild” hatte das nächste Kapitel in der traditionellenJahresend–Erzählung, dass in Deutschland Weihnachten abgeschafft werde.
Für die Fehler, die die Redaktion dabei gemacht hat, musste sie nicht mal um Entschuldigung bitten. Sie hat einfach noch einen draufgesetzt.
Georg Streiter, der früher selbst bei “Bild” gearbeitet hat und später stellvertretender Regierungssprecher war, hat bei Facebook einen sehr lesenswerten Beitrag zur “Bild”-Berichterstattung über Annette Widmann-Mauz veröffentlicht.* Er schreibt darin unter anderem:
Wer — wie ich — lange Jahre bei Boulevard-Zeitungen gearbeitet hat, kennt auch die Kniffe, mit denen man immer halbwegs überleben kann, auch wenn man gerade ins Klo gegriffen hat. Eine Rettungs-Regel z.B. lautet: wenn Du falsch berichtet hast, lass die Korrektur aussehen wie eine neue Enthüllung. Die veredelte Variante: zünde zusätzlich ein großes Feuerwerk, das ablenkt. Ein Musterbeispiel dafür ist die versuchte Hinrichtung der Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, Annette Widmann-Mauz (CDU), durch die “Bild”-Zeitung.
Er habe “arge Probleme”, so Streiter, “mit dem fanatischen Kurs, den der aktuelle Chefredakteur fährt.”
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
*Nachtrag, 27. Dezember: Der Facebook-Post von Georg Streiter ist inzwischen nicht mehr für jeden lesbar. Streiter hatte uns gegenüber bereits angekündigt, dass er seinen Text zu gegebener Zeit wieder auf “privat” stellen werde.
Es ist alles noch viel schlimmer und trauriger und lustiger.
Die vermeintlichen E-Mails von Kevin Kühnert, die die “Bild”-Redaktion vergangene Woche dazu veranlasst haben, eine große Titelgeschichte über eine “Neue Schmutz-Kampagne bei der SPD” zu veröffentlichen, stammen gar nicht von einem Russen namens “Juri”. Sie stammen auch nicht — wie wir vermutet haben — von einem Jugendlichen, der dank dreieinhalb Minuten Microsoft-Outlook-Gefummel “Bild” mit einer plumpen Fälschung reingelegt hat. Die E-Mails stammen von der “Titanic”-Redaktion:
Die “Bild”-Zeitung ist einem Fake der TITANIC aufgesessen. Am Freitag hatte “Bild” unter der Schlagzeile “Neue Schmutzkampagne bei der SPD” einen Mailverkehr veröffentlicht, der belegen soll, daß Juso-Chef Kevin Kühnert bei seiner NoGroKo-Initiative Hilfe eines russischen Internettrolls namens Juri in Erwägung gezogen hat. Dieser Schriftverkehr wurde aber u.a. von TITANIC-Internetredakteur Moritz Hürtgen an “Bild” lanciert: “Eine anonyme Mail, zwei, drei Anrufe – und ‘Bild’ druckt alles, was ihnen in die Agenda paßt.”
Stimmt das denn nun? Oder handelt es sich nach Jan Böhmermanns “Varoufake” um den nächsten Fake-Fake? Wir waren auch erst skeptisch. Inzwischen glauben wir der “Titanic” aber voll und ganz. Vor allem aus zwei Gründen:
1) Auf der “Titanic”-Seite kann man sich den angeblichen Mail-Verkehr zwischen Kühnert und “Juri” runterladen. Diese Unterhaltung enthält deutlich mehr Mails als von “Bild” bisher veröffentlicht. Soll heißen: Hätte sich die “Titanic”-Redaktion zusätzliche Mails zwischen dem falschen Kühnert und “Juri” erfunden, wäre es für die “Bild”-Redaktion ein Leichtes, die “Titanic”-Version zu widerlegen. Das hat sie bisher nicht getan.
2) Bereits am Freitag haben wir aus “Bild”-Kreisen erfahren, dass der “anonyme Informant” die “Bild”-Redaktion besuchen wird, um seine Geschichte weiter zu verifizieren. In einem Telefonat hat uns “Titanic”-Chefredakteur Tim Wolff heute erzählt, dass Moritz Hürtgen als Informant bei “Bild” zu Gast war — ohne dass Wolff wusste, dass wir von dem Besuch bereits wissen. Es wäre ein sehr großer Zufall, wenn Tim Wolff sich diesen Besuch nur ausgedacht und damit exakt unsere Informationen bestätigt hat.
Und dann gibt es noch einen dritten Punkt. Diesen Rechtfertigungsversuch bei Twitter von “Bild”-Oberchef Julian Reichelt:
Einmal zur Einordnung der @titanic Geschichte: Wir haben nie von einer Kampagne VON @KuehniKev geschrieben, dafür aber von einer Kampagne GEGEN ihn. Berichtet haben wir, NACHDEM die @spdde Strafanzeige geprüft/gestellt hat. Titanic wollte @BILD in mehreren Versuchen…
…in eine klare Festlegung treiben, dass @KuehniKev mit russischen Personen kooperiert. Das haben wir nie getan, sondern immer die Position der @spdde dargelegt und explizit geschrieben, dass diese plausibel ist. Der SPD haben wir stets alle gewünschten Infos…
…zur Verfügung gestellt. Alle Details werde ich gleich auf @BILD dokumentieren. Meine Meinung: Natürlich darf Satire so etwas, aber sie versucht sich hier zu profilieren, indem sie journalistische Arbeit bewusst zu diskreditieren versucht. Unser Kollege @fpiatov …
…hat in der Vergangenheit immer wieder großartige und wichtige Geschichten zum Thema Desinformation recherchiert und war aufgrund seiner Erfahrung von Beginn an skeptisch. Deswegen haben wir uns erst zu Berichterstattung entschieden, als die SPD Anzeige geprüft hat.
Das ist der Julian Reichelt, der von sich selbst gern behauptet, dass es ihm “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben.” Das ist der Julian Reichelt, der nach dem Flüchtlings-“Sex-Mob”-Reinfall in Aussicht gestellt hat, bei “Geschichten, die für ‘Fake News’ anfällig sind”, eine “Bild”-Spezialtruppe mit “noch mehr gestandenen Nachrichtenleuten” einzusetzen, damit es solche Reinfälle nicht wieder gibt. Das ist der Julian Reichelt, der in seinen Worten stets so groß ist und in seinen Taten stets so klein. Das ist der Julian Reichelt, dem man nichts glauben kann.
Was Reichelt offenbar nicht versteht: Die “Titanic”-Redaktion hat mit dieser Aktion nicht versucht, “journalistische Arbeit bewusst zu diskreditieren”. Sie hat es geschafft, das nicht-journalistische Arbeiten von “Bild” zu verdeutlichen. Denn es bleibt trotz der längeren Erklärung bei Bild.de, wie es “zu dieser Schlagzeile” kam, dabei: Die “Schmutz-Kampagne” wurde erst in dem Moment zur “Schmutz-Kampagne”, als die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands aus der ganzen Sache eine große Titelgeschichte gemacht hat. Die “Schmutz-Kampagne” ist bei “Bild” entstanden. Vorher war es lediglich ein Spinner (beziehungsweise “Titanic”-Redakteur Moritz Hürtgen) mit offensichtlich gefälschten E-Mails, für den sich niemand interessiert hätte. Es bleibt auch dabei, dass stets mehr gegen die Echtheit der Mails gesprochen hat als dafür. Warum greift “Bild” die Story überhaupt auf, wenn sie von Anfang an mindestens merkwürdig ist? Warum in dieser großen Aufmachung? Warum bringen “Bild” und Reichelt gerade diese Titelzeile, wenn sie doch die ganze Zeit so skeptisch waren? Warum “Schmutz-Kampagne bei der SPD” und nicht “Schmutz-Kampagne gegen die SPD”? Und natürlich bleibt bei dieser Schlagzeile, die “Bild” gewählt hat, bei vielen Leuten hängen: “Der Kühnert? Das war doch der, der mit den Russen gemeinsame Sache gemacht hat!” — auch wenn “Bild”-Autor Filipp Piatov ganz am Ende auflöst, dass es “für die Echtheit der E-Mails” “keinen Beweis” gebe. Das alles nun als die große Skepsis “von Beginn an” darzustellen, zeugt nur davon, was für ein schlechter Verlierer Julian Reichelt ist.
Und nur nebenbei: Dieser Tweet, den Piatov vorgestern noch gepostet hat, sieht nun nicht nach massivem Misstrauen aus:
Liebe Kritiker der #Kühnert-Titelgeschichte, es handelt sich bei den E-Mails nicht um eine „plumpe Fälschung“. @BILD bekam Zugang zur Mail des Informanten. Mehr im Artikel. https://t.co/6UWbp1yc7e
Nein, es war anscheinend keine “plumpe Fälschung”, auf die Piatov und “Bild” reingefallen sind und die sie zur Titelgeschichte aufgeplustert haben, sondern eine filigrane Fälschung.
Die “Titanic”-Aktion zeigt, dass man bei Julian Reichelt, Filipp Piatov und der gesamten “Bild”-Redaktion sehr gute Chancen hat, mit Desinformationen ins Blatt zu gelangen, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückt. Im aktuellen Fall hat die “Titanic”-Redaktion sehr geschickt eine Mischung aus SPD (bei “Bild” nicht sehr beliebt) und dem bösen Russen (bei “Bild” nicht sehr beliebt) gewählt.
Zum Schluss bleibt uns nur, uns vor Moritz Hürtgen, Dax Werner und der “Titanic”-Redaktion zu verneigen. Und alle BILDblog-Leser aufzufordern, sofort ein “Titanic”-Abo abzuschließen, um die Redaktion in ihrer wichtigen Aufklärungsarbeit zu Deutschlands größter Satire-Zeitung “Bild” und zu “Bild”-Oberwitz Julian Reichelt zu unterstützen.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 8. September: “Bild” hat für die falsche SPD-“Schmutz-Kampagne” bereits im März eine Rüge vom Presserat kassiert. Das Gremium sehe “einen schweren Verstoß gegen das Wahrhaftigkeitsgebot in Ziffer 1 des Pressekodex. Diese Irreführung der Leser beschädigt Ansehen und Glaubwürdigkeit der Presse”.
Heute ist die Redaktion ihrer Verpflichtung nachgekommen und hat die Rüge im Blatt versteckt veröffentlicht:
Ganz am Ende des Artikels fällt ein entscheidender Satz:
Für die Echtheit der E-Mails gibt es keinen Beweis.
Und es ist noch schlimmer: Es spricht einiges dafür, dass die E-Mails, auf denen die heutige “Bild”-Titelstory basiert, Fälschungen sind. Doch das hielt die Redaktion und “Bild”-Autor Filipp Piatov nicht davon ab, diese Geschichte zu bringen (bei Bild.de hinter der Bezahlschranke):
“Juso”-Chef Kevin Kühnert soll sich für seine #NoGroKo-Kampagne Hilfe von “einem Russen namens ‘Juri’ aus St. Petersburg” geholt haben — Social Bots, gefälschte Facebook-Accounts und Stimmungsmache inklusive. Wobei, das ist schon falsch. Der “angebliche Kühnert” soll das getan haben. So schreibt es Piatov. Der “Bild”-Autor scheint also zu wissen, dass da was nicht stimmt. Auch weil er bei Kühnerts Pressesprecher nachgefragt hat, und dieser Piatov erklärt hat, dass von der Mail-Adresse, von der die “brisanten Mails” stammen sollen, gar keine Nachrichten verschickt werden können:
Was sagt der Juso-Chef zu den Vorwürfen? “Wir würden niemals auf solche Methoden zurückgreifen”, so Kühnerts Sprecher. Der Schreibstil entspreche nicht dem des Juso-Chefs, sein Englisch sei “nicht besonders gut”. Zudem seien die E-Mails von kevin.kuehnert@jusos.de geschickt worden — laut den Jusos “technisch nicht möglich”. Als Absender-Adresse tauche bei Kühnert stets die SPD-Adresse kevin.kuehnert@spd.de auf.
Spätestens an diesem Punkt hätte die Recherche von “Bild”-Autor Piatov zu Ende sein können. Denn damit ist klar: Der “anonyme Informant”, der sich an die “Bild”-Redaktion gewendet hat, ist offenbar ein Hochstapler und dazu kein besonders guter. Doch statt diesem “Informanten” zu sagen, dass er Mist erzählt, haben “Bild” und Piatov das Material angenommen und eine große Titelgeschichte daraus gestrickt.
Wir haben auch noch mal nachgefragt bei Kühnerts Sprecher Benjamin Köster. Der bestätigt: Es gebe zwar die Adresse [email protected], allerdings verberge sich hinter ihr kein eigenes Postfach. Mails, die an diese Adresse geschickt werden, würden automatisch weitergeleitet. In Kühnerts Fall an dessen @spd.de-Adresse, bei anderen “Juso”-Mitgliedern teilweise an private Mail-Adressen. Da sich hinter ihr kein Mail-Postfach verberge, könne man von der @juso.de-Adresse auch keine Nachrichten verschicken, so Köster. Und wir haben nachgeschaut: Auch E-Mails von Kühnerts “Juso”-Chef-Vorgängerin Johanna Uekermann kamen stets von einer @spd.de-Adresse.
Da kommt also irgendein Hanswurst mit offensichtlich gefälschten Beweisen daher — und “Bild” macht daraus eine Geschichte? Eine Titelgeschichte? Wie einfach ist es bitte, mit seiner Desinformation auf die “Bild”-Titelseite zu gelangen?
Timo Lokoschat, seit Kurzem leitender Redakteur bei “Bild”, glaubt an eine “Intrige”* gegen Kühnert und dessen #NoGroKo-Vorhaben und findet den “Krimi” allein deshalb “unbedingt berichtenswert”. Eine “Intrige”? Wenn irgendein Wichtigtuer mit billig gefälschten E-Mail-Texten ankommt? Eine solche “Intrige” kann jeder Teenager mit Zugang zu Microsoft Outlook in dreieinhalb Minuten entwerfen. Und wird das alles nicht erst zur “Intrige” durch die Veröffentlichung auf der “Bild”-Titelseite? Macht nicht “Bild” das ganze erst zur “Schmutz-Kampagne”? “Bild” ist die “Schmutz-Kampagne”.
Jedenfalls: Wenn das eine “Intrige” sein soll, die es wert ist, groß auf einer Titelseite thematisiert zu werden, dann wären die Titelseiten aller deutschen Zeitungen nur noch voll mit derart dünnen Geschichten. Ständig melden sich irgendwelche Leute mit irgendwelchen vermeintlichen brisanten Dokumenten bei Redaktionen. Oft sogar bei allen auf einmal in großen Sammelmails. In fast allen Fällen ist der Verschwörungsschmu so schnell zu durchschauen wie die heutige “Bild”-Story. Diese Titelgeschichte ist nichts anderes als Nichts, ganz groß aufgepumpt.
Apropos, zum Abschluss hätten wir auch noch ein Angebot: Hallo “Bild”, hallo Filipp Piatov, hallo Timo Lokoschat, wir haben hier noch Screenshots mehrerer E-Mails von [email protected] rumliegen, in denen die Bundeskanzlerin den minutiös geplanten Austausch der deutschen Bevölkerung durch CDU-wählende Syrer bestätigt. Na, wäre das nicht was für euch?
*Nachtrag, 22:16 Uhr: Timo Lokoschat hat seinen Tweet inzwischen gelöscht.
Altkanzler Gerhard Schröder hat sich über “Bild” beschwert. Ein Bericht des Boulevardblatts zu seinem wohl bevorstehenden Engagement beim russischen Öl-Konzern Rosneft sei falsch. “Ich habe den Eindruck, das hat weniger mit meiner Tätigkeit zu tun als vielmehr mit dem Wahlkampf. Hier soll offenbar Frau Merkel geholfen werden”, sagte Schröder dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland” (“RND”). Das ist wiederum eine recht steile These. Was aber feststeht: “Bild” verbreitet ziemlichen Unsinn über Schröders möglichen Job bei Rosneft.
Gestern erschien in “Bild” und bei Bild.de ein Text über Gerhard Schröders Zukunft bei dem russischen Unternehmen, das zu großen Teilen dem russischen Staat gehört:
Autor Filipp Piatov schreibt dort:
Nun wird die Kritik am Altkanzler immer lauter — im Herbst soll er in den Vorstand des Öl-Giganten Rosneft berufen werden.
Seit 2005 steht Schröder bereits im Dienst von Gazprom, kümmert sich seit 2016 als Verwaltungsrat um das umstrittene Pipeline-Projekt Nord Stream 2. Doch der Aufstieg in den Rosneft-Vorstand ist keine einfache Beförderung. Es ist eine Adelung Schröders, seine Aufnahme in Putins innersten Kreis der Macht.
Die Überwindung moralischer Hindernisse lassen sich die Vorstände des Öl-Riesen fürstlich vergüten. Aus dem Geschäftsbericht von 2016 geht hervor, dass Rosneft seinen neun Vorstandsmitgliedern rund 52 Millionen Euro an Gehältern, Boni und Zuschüssen zahlte. Das sind fast sechs Millionen Euro pro Person.
Die in der “Bild”-Zeitung genannten Summen seien völlig absurd, sagt Schröder. Für die für ihn vorgesehene Rolle werde er weniger als ein Zehntel der von “Bild” genannten “sechs Millionen Euro” bekommen, vorausgesetzt er werde überhaupt in das Gremium gewählt.
Nun behaupten “Bild” und Piatov nirgendwo direkt, dass Gerhard Schröder sechs Millionen Euro pro Jahr bekommen solle. Der Dreischritt aus “in den Vorstand des Öl-Giganten Rosneft berufen werden”, “der Aufstieg in den Rosneft-Vorstand” und “dass Rosneft seinen neun Vorstandsmitgliedern rund 52 Millionen Euro an Gehältern, Boni und Zuschüssen zahlte” könnte bei der Leserschaft aber durchaus den Eindruck erwecken, dass Schröder eine derartige Summe bekommen könnte.
“Bild”-Chefchef Julian Reichelt sieht das naturgemäß anders. Nachdem Andreas Niesmann vom “RND” ihn bei Twitter auf die entsprechende Stelle in Piatovs Artikel hingewiesen hatte …
… twitterte Reichelt:
1) Wir haben große Zweifel, dass der durchschnittliche “Bild”-Leser, bei dem selbst die “Bild”-Redaktion es regelmäßig für notwendig hält, ihm eine Lesehilfe für das Wort “Bachelor” an die Hand zu geben, ohne Weiteres die feinen Unterschiede zwischen “Vorstand wird” und “in den Vorstand berufen wird” erkennt.
2) Im Text von Filipp Piatov steht tatsächlich nicht, dass Gerhard Schröder “Vorstand wird”. Drei Tage zuvor titelte Bild.de allerdings:
3) Es ist völlig egal, ob da nun steht, dass Gerhard Schröder “Vorstand wird” oder “in den Vorstand berufen wird” — beides ist falsch. Schröder steht für das Aufsichtsgremium von Rosneft zur Wahl, den sogenannten “Rat der Direktoren”. Bei einer deutschen Aktiengesellschaft wäre das Pendant wohl der Aufsichtsrat. Das mag Schröders Verhalten nicht weniger fragwürdig erscheinen lassen, es handelt sich aber um einen anderen Posten als von “Bild” behauptet.
Auf der Rosneft-Website sind das “Management board”, in etwa der Vorstand, und das “Board of Directors” aufgelistet. Schröder ist einer von mehreren Kandidaten für das “Board of Directors”. Im anglo-amerikanischen Raum vereint das “Board of Directors” laut “Wikipedia” zwar die Funktionen von Aufsichtsrat und Vorstand; im selben “Wikipedia”-Artikel steht aber auch, dass in Russland “statt des Vorstandes der Aufsichtsrat als ‘Rat der Direktoren'” bezeichnet werde.
Der frühere Bundeskanzler wird also kein Vorstandsgehalt bei dem russischen Öl-Konzern bekommen, sondern ein Aufsichtsratsgehalt. Im Rosneft-Jahresbericht für 2016 (PDF, Seite 202) steht, dass die Mitglieder des “Board of Directors” im vergangenen Jahr jeweils zwischen 550.000 und 580.000 US-Dollar erhalten haben. Den neun elf* Mitgliedern des “Management board” zahlte Rosneft 2016 insgesamt 3.726.609.809 Rubel (Seite 203), was, je nach Wechselkurs, den von Filipp Piatov erwähnten 52 Millionen Euro entspricht. Die Summe, die die Mitglieder des “Board of Directors” bekommen haben und die für die Berichterstattung über Gerhard Schröder relevant wäre, erwähnt Piatov nicht. Entweder kannte er sie nicht oder er wollte sie nicht kennen oder er dachte wirklich, dass Schröder ein Kandidat für den Rosneft-Vorstand ist.
*Nachtrag, 20. August: Bei dem “Bild”-Bericht ist noch mehr falsch als bisher gedacht. Anders als von Autor Filipp Piatov behauptet, besteht der Rosneft-Vorstand (“Management Board”) nicht aus neun, sondern aus elf Personen. So steht es im Rosneft-Jahresbericht für 2016 (PDF, Seite 193):
The number of members of the Company’s Management Board has not changed and totals 11 persons.
Somit verteilen sich die 3.726.609.809 Rubel (rund 52 Millionen Euro), die Rosneft im vergangenen Jahr ans gesamte “Management Board” zahlte, nicht auf neun, sondern auf elf Personen. Im Schnitt bekam also jeder etwa 4,7 Millionen Euro. Piatov hatte geschrieben, dass jedes Rosneft-Vorstandsmitglied im Schnitt “fast sechs Millionen Euro” bekommen hat.
Diese falsche Summe ist übrigens nicht im “Bild”-Kosmos geblieben — sie hat es auch zu FAZ.net geschafft. Eckart Lohse und Markus Wehner schreiben dort:
Die Tätigkeit der bisherigen neun Mitglieder des Aufsichtsrats waren zuletzt mit 52 Millionen Euro an Gehältern, Boni und Zuschüssen dotiert worden, fast sechs Millionen Euro je Person.
Auch wenn die beiden “FAZ”-Autoren es im Gegensatz zu Piatov hinbekommen, Altkanzler Gerhard Schröder mit dem Aufsichtsrat von Rosneft in Verbindung zu bringen und nicht mit dem Vorstand des Unternehmens, ist der Absatz falsch: Die neun Aufsichtsratsmitglieder bekamen 2016 nicht 52 Millionen Euro, sondern deutlich weniger (siehe oben). Offenbar haben Lohse und Wehner bei Piatov abgeschrieben — oder sie benutzen rein zufällig denselben Rubel-Euro-Wechselkurs wie der “Bild”-Autor und kommen rein zufällig auf dieselben falschen “sechs Millionen Euro je Person”.
Hatten Sie schon mal einen Gedanken, den vor Ihnen theoretisch auch Wladimir Putin gehabt haben könnte? Also zum Beispiel sowas wie “Hundewelpen, denen es nicht gutgeht, sollten zum Tierarzt gebracht werden”? Dann: Achtung! Sie könnten auf “Putins Fake-News-Kampagne” reingefallen sein.
Auf diesem argumentativen Niveau — zusammengefasst in etwa: wer etwas fordert, das auch die Russen fordern, hilft den Russen bei ihrer Propaganda — bewegt sich dieser Bild.de-Aufmacher (“Bild-plus”-Inhalt) von Donnerstag in weiten Teilen:
Am Freitag berichtete die Print-“Bild” ebenfalls, mit einer leicht abgewandelten Version des Artikels:
Mit “Deutschland” meinen die zwei Autoren Filipp Piatov und Julian Röpcke vornehmlich die Bundesregierung und die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. “Das Erste” und das ZDF kritisieren sie, weil diese den Publizisten Michael Lüders in mehrere Talkshows eingeladen haben und somit “den von Russland verbreiteten Fake News eine Bühne” geboten hätten. Lüders sei ein “überführter Fake News-Verbreiter”, schreiben Piatov und Röpcke und stützen sich bei diesem Urteil auch auf Aussagen des türkischen Journalisten Can Dündar. Inzwischen hat sich Dündar noch einmal zu Michael Lüders geäußert und plötzlich wirkt dessen kritisierte Aussage eher wie eine Ungenauigkeit und nicht mehr wie eine glatte Lüge.
Vor allem aber teilt das “Bild”-Autorenduo gegen die Bundesregierung aus. Deutsche Regierungspolitiker würden “den russischen Fake News Vorschub leisten bzw. die deutsche Position ihnen anpassen.” Zum Beispiel Sigmar Gabriel: Der Außenminister forderte zum jüngsten Giftgasangriff in Syrien eine “Untersuchung ohne Behinderungen”. Dass Russland zuvor ebenfalls “eine ‘unabhängige Untersuchung’ des Vorfalls” gefordert hat, reicht Piatov und Röpcke als Beweis, dass “Deutschland auf Putins Fake-News-Kampagne reinfällt”. Weil man auf dieselbe, nicht ganz abwegige Idee wie die Russen kommt, macht man sich in den Augen der beiden “Bild”-Schreiber der Russen-Propaganda verdächtig.
Und das sei nicht nur bei Sigmar Gabriel so. Auch beim früheren Außenminister Frank-Walter Steinmeier seien “russische Fake News auf fruchtbaren Boden” gefallen. Dieses Mal geht es zwar um einen anderen Fall, den Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 über der Ukraine, aber um dieselbe “Bild”-Logik: Russland hat damals eine unabhängige Untersuchung gefordert; auch Steinmeier war für eine unabhängige Untersuchung. Und schon sei laut Bild.de einmal mehr bewiesen, dass es eine “Anfälligkeit bestimmter Teile der Bundesregierung für russische Propaganda” gebe.
Piatov und Röpcke kommen nicht auf die Idee, dass es durchaus möglich ist, mit der gleichen Forderung völlig unterschiedliche Dinge bezwecken zu wollen. Dass es dem einen zum Beispiel um wirkliche Aufklärung geht, während der andere nur taktiert, Scheinversprechungen macht und damit hinhalten möchte. Und dass diese Forderungen unabhängig voneinander gestellt werden können. Denkt man die Argumentation der beiden Autoren weiter, könnte man nie mehr Dinge fordern, die Russland bereits gefordert hat, ohne damit zum Russland-Fake-News-Verbreiter zu werden — egal wie sinnvoll die jeweilige Forderung erscheint.
Stattdessen plädieren die zwei “Bild”-Mitarbeiter dafür, sich nach einem derartigen Angriff direkt auf eine Seite zu schlagen, ohne Zweifel und ohne unabhängige Untersuchungen.