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Sonne, Mond und Untergang des Abendlandes

Heute ist Martinstag. Mancherorts wird dieser Gedenktag schon etwas früher begangen, zum Beispiel in Hessen, genauer: in Bad Homburg. Dort sind die Kinder und Eltern einer Kita schon am Donnerstag mit ihren Laternen durch die Straßen gezogen. Dabei war im Grunde alles so wie immer. Bis auf die Tatsache, dass der Umzug diesmal von vielen Medien begleitet wurde — und von Polizisten.

Denn im Vorfeld des Umzuges hatte es eine heftige Diskussion und sogar Drohungen gegenüber den Kita-Mitarbeitern gegeben. Auslöser der Aufregung war ein Bericht in der “Taunus Zeitung”, dem Lokalteil der “Frankfurter Neuen Presse”.

Der verkündete am 30. Oktober:Mond und Sterne statt St. Martin - Homburger Kita benennt das Martinsfest um - Aus Rücksicht auf Mitglieder anderer Kulturkreise wird in der städtischen Kita Leimenkaut nicht mehr St. Martin, sondern das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" gefeiert. Dafür haben nicht alle Eltern Verständnis.
Der Autor beruft sich darin auf “etliche Eltern”, von denen aber nur ein Vater und eine Mutter zu Wort kommen, beide anonym. Der Vater sagt, es sei “irgendwie eine Durchmischung von Festen”. Und die Mutter behauptet, ihr sei gesagt worden, die Bezeichnung “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sei “politisch korrekter”.

Zwar wird auch der Stadtsprecher zitiert, der sagt, es gebe keinerlei religiöse Hintergründe für diese Bezeichnung, doch dem wurde offenbar keine große Bedeutung beigemessen. Nicht von der “Taunus Zeitung” — und erst recht nicht vom islamfeindlichen Hetzblog “Politically Incorrect”, das noch am selben Tag schrieb:
Bad Homburg: Kita benennt Martinsfest umOffenbar sind unsere Kultur und unser Brauchtum wirklich etwas Anstößiges, zumindest für alle Rechtgläubigen. Aber anstatt unsere Werte, unsere Feste und Sitten zu verteidigen und hochzuhalten, wird sich weggeduckt und in vorauseilendem Gehorsam alles aufgegeben, was bisher zu unserem Leben gehörte. Nun hat auch eine Kita in Bad Homburg ihren Beitrag zur Abschaffung Deutschlands geleistet.
Von “empörten Eltern” ist dann die Rede und von “Speichelleckerei auf Kosten unserer Traditionen und Werte” und davon, dass “nichts Christliches mehr stattfindet in unseren Kindertagesstätten, Schulen oder auch auf öffentlichen Plätzen”. Der Text endet mit den Kontaktdaten der Kita.

Unter dem Artikel brach innerhalb weniger Minuten ein Sturm der Entrüstung los. Über 150 Kommentatoren warnten vor der “Islamisierung” Deutschlands, forderten den “Widerstand der deutschen Eltern und Bürger” und warfen der Kita-Leitung (im Ernst!) Rassismus vor.

Einen Tag später griff “T-Online” den Fall auf:
"Politisch korrekter" - Kita benennt Sankt-Martin-Fest umIn der Bad Homburger Kita Leimenkaut (Hochtaunuskreis) wird nicht mehr St. Martin, sondern das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" gefeiert. Wie die Frankfurter Neue Presse (FNP) berichtet, geschieht das offenbar aus Rücksicht auf nicht-christliche Kulturkreise.
Die Kommentarfunktion wurde kurz darauf “wegen zahlreicher menschenverachtender Kommentare” geschlossen.

Was der “T-Online”-Bericht allerdings nicht erwähnt: Die Stadt hatte der Darstellung der “Taunus Zeitung” noch am Abend zuvor vehement widersprochen:
Stadt: Kita Leimenkaut feiert St. Martin - Bad Homburg v.d.Höhe. Die städtische Kindertagesstätte Leimenkaut feiert durchaus St. Martin. Darauf weist die Stadt in einer Pressemitteilung hin.
Darin heißt es, der Name des Festes sei, anders als von der Zeitung behauptet, “niemals offiziell geändert worden, auch wenn von Eltern und Beschäftigten umgangssprachlich ein anderer Name verwendet wird.” Dies gehe “auf ein vergangenes Martinsfest” zurück, “bei dem eine Suppe mit Sonnen, Monden und Sternen als Einlage ausgegeben worden war.”

Die Bezeichnung habe sich dann verselbstständigt und sei intern noch heute gebräuchlich:

Die Kindertagesstätte selbst kündigt den Termin intern unterschiedlich an, in einigen Jahren als St.-Martins-Fest, in diesem Jahr zum Beispiel als Sonne-Mond-und-Sterne-Fest in Verbindung mit einem Martinsfeuer.

Die Stadt teilt mit, weder die Kita-Leitung noch die Verwaltung habe gegenüber Eltern weltanschauliche Gründe für die Bezeichnung geltend gemacht. Es sind von keiner dieser Stellen Aussagen über eine “politisch korrekte” Namenswahl gemacht worden.

Schließlich hält die Stadt fest:

Die Kindertagesstätte Leimenkaut wird auch weiter St. Martin feiern – und wenn jemand das als “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” bezeichnen möchte, darf er das auch weiterhin tun.

Klingt nach einem versöhnlichen Ende, mit dem eigentlich alle zufrieden sein könnten. Aber nein — jetzt ging’s erst richtig los.

“Politically Incorrect” schoss nochmal nach und zeigte sich “in keinster Weise” überzeugt von den Argumenten der “rückgratlosen Gutmenschen”. Erneut stimmten die Kommentatoren wutschnaubend zu. Und erneut endete der Text mit der E-Mail-Adresse eines Stadt-Mitarbeiters — eine Masche, die genau das bewirkte, was sie bewirken sollte: Kita-Leitung und Stadt erhielten Hunderte von anonymen Mails, in denen die Verantwortlichen beleidigt und bedroht wurden: “Wir werden Eure Hütte verbrennen. Wir werden Euch niederschlagen”, zitierte der Sozialdezernent später daraus.

Inzwischen hatten auch andere Medien Wind von der Sache bekommen. Und obwohl viele von ihnen auch auf die Stellungnahme der Stadt eingingen, wurde in den meisten Überschriften und Anreißern trotzdem suggeriert, die Kita hätte das Fest offiziell umbenannt oder gar abgeschafft:

“Focus Online”:
"Sonne, Mond und Sterne"-Fest - Kita benennt Sankt-Martins-Fest um - In Bad Homburg heißt das Sankt-Martins-Fest nicht mehr wie früher. Eine städtische Kita feiert lieber das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest". Angeblich sollte sich niemand diskriminiert fühlen.

“Junge Freiheit”:
Bad Homburger Kita benennt Sankt-Martin-Fest um

“Berliner Kurier” und “Hamburger Morgenpost”:

Deutsche Kita schafft Sankt Martin ab

Handelsblatt.com:Kuriose Umbenennung - Aus Sankt Martin mache Sonne-Mond-und-Sterne-Fest

“Express”:

Kita schafft Sankt Martin ab

FAZ.net:
Bad Homburg - Kindergarten wegen Umbenennung des Martins-Fest bedroht - Weil in einem Kindergarten in Bad Homburg vor Jahren zum Martinsfest Sonne-, Mond- und Sterne-Nudeln gereicht wurden, soll das traditionelle Fest nun anders heißen. Den Kita-Mitarbeiter wird seitdem Gewalt angedroht.

Bild.de:
WEIL ES ANGEBLICH DISKRIMINIEREND IST - Kita will St. Martin abschaffen

Ksta.de:
MARTINS-FEST UMBENANNT - Kita-Mitarbeiter mit Gewalt bedroht - Ein städtischer Kindergarten im hessischen Bad Homburg hat das Sankt-Martins-Fest in Sonne-Mond-und-Sterne-Fest umbenannt. Jetzt werden Kita-Mitarbeiter mit Gewalt bedroht, nachdem ein rechter Blog das Thema aufgegriffen hatte.

Jene Leute, die beim Streifzug durch die Medien nur die Überschriften und Teaser lesen (und das sind erfahrungsgemäß nicht gerade wenige), mussten also davon ausgehen, dass die Kita das Fest tatsächlich offiziell umbenannt hat. Darunter auch einige Journalisten, die selbst mehrere Tage nach der Stellungnahme der Stadt in ihren Artikeln ohne jede Einschränkung behaupteten, die Kita feiere aus Gründen der politischen Korrektheit “statt Sankt Martin ein ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest'”.

Die Folge: Auch von den Lesern der seriösen Medien wurde die Kita in unzähligen Kommentaren und Leserbriefen attackiert — oder aber in Stellungnahmen von Politikern, die plötzlich überall auftauchten. So bezeichnete ein CDU-Politiker es als “absoluten Unsinn”, dass die Kita den St. Martinsumzug “nur noch ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest’ nennen” wolle. Das sei “mehr als eine Farce” und eine “hirnrissige Idee” und so weiter. Ein weiterer CDU-Mann warf der Stadt vor, den Vorfall “herunterzuspielen” und bescheinigte den “Wortschöpfern” ein “zerrüttetes Verhältnis zu Glaube und christlicher Tradition”.

Die “Taunus Zeitung” beharrte weiter auf ihrer ursprünglichen Darstellung und schrieb von einem “fragwürdigen Auftritt” des Stadtrats Dieter Kraft (Grüne), der bei einer “emotionalen Ansprache” einen “Journalisten der Taunus Zeitung öffentlich an den Pranger” gestellt habe. Die Suppen-Geschichte wollen die Journalisten der “Taunus Zeitung” der Stadt einfach nicht glauben — auch nicht die Alternativversion, wonach der Name “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sich auf das bekannte Kinderlied “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne” beziehe. Andererseits bleibt der einzige Beleg für die Theorie, dass die Kita dem Fest aus politischer Korrektheit einen neuen Namen geben wollte, weiterhin nur die anonyme Behauptung einer einzelnen Mutter.

Wessen Version nun stimmt, lässt sich wohl nicht abschließend klären. Der Laternen-Umzug der Kita hat jedenfalls vor ein paar Tagen wie geplant stattgefunden — inklusive Medienrummel und Polizeischutz. Zum Glück blieb alles friedlich.

Dieser Fall erinnert ein wenig an die Geschichte, in der es vor zwei Monaten hieß, Berlin-Kreuzberg wolle Weihnachten verbieten: Damals erzählten die Zeitungen nur die halbe Wahrheit, die Politiker polterten gleich los, und die rechte Ecke hatte genug Stoff, um “Christenhasser!” zu schreien und Stimmung gegen Ausländer zu machen.

Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, täten Journalisten, Politiker, Kirchenvertreter und Leser also gut daran, sich bei solchen Debatten in Zukunft gründlich zu informieren — und vielleicht einfach mal ein bisschen entspannt zu bleiben. So wie die Eltern, deren Leserbrief die “Taunus Zeitung” einen Tag vor dem Laternen-Umzug der Bad Homburger Kita abgedruckt hat:

Wir feiern in dieser Woche mit der Kita Leimenkaut und hoffentlich allen Kindern wie geplant – und nebenbei wie in jedem Jahr seit unsere Kinder die Einrichtung besuchen – Sankt Martin mit den dazugehörigen Liedern, Laternenumzug, Martinsfeuer, aber ohne Pferd, denn das erlaubt die Versicherung nicht. Welchen Titel die Veranstaltung dabei trägt, spielt keine Rolle und ändert am Inhalt nichts. Und am Abend essen wir eine gute selbstgemachte Suppe, vielleicht sogar mit Nudeln in Form von Sonnen, Monden und Sternen, denn das mögen unsere Kinder gerne.

Mit Dank auch an Thomas, Kevin S., Erik G. und Johnny K.

Schildbürger unter sich

Fast jeder kennt die Geschichten über die Schildbürger, die in ihrem Übereifer immer wieder ambitionierte Projekte beginnen und dann doch an den simpelsten Grundlagen scheitern. Zum Beispiel die Geschichte, als sie ein Rathaus ohne Fenster bauten und anschließend versuchten, das fehlende Licht mit Eimern und Fässern in das Gebäude zu schaffen.

Das ist wahrscheinlich ein Grund, warum die Geschichte von dem spanischen Hochhaus ohne Fahrstuhl in der Deutschen Presse so viel Aufmerksamkeit erntete. Zum Beispiel in Bild.de:

Hochhaus gebaut – aber Aufzug fehlt Architekt vergaß den Fahrstuhl-Schacht +++ Bauarbeiter müssen schleppen +++ Mieter müssen laufen

Stern.de beschrieb detailreich:

Mit 210 Metern soll es das höchste Wohnhaus Europas werden. Ein Aushängeschild der Superlative, so war der Plan. 3,7 Millionen Euro kostete zu Baubeginn eine Maisonettewohnung im

Und Welt.de wusste auch den Grund dafür:

Der Aufzug wurde nur für die ersten 20 Stockwerke konzipiert, beim Weiterbau vergaß man den Aufzugschacht bis zu Spitze.

Auch Spiegel Online, die Neue Zürcher Zeitung, die Hamburger Morgenpost und viele andere verbreiteten die Mär vom fehlenden Aufzug.

Alleine: Der Artikel in der Zeitung El País (englische Fassung), auf den sich die Artikel direkt oder indirekt berufen, hat zwar allerhand zum Thema Fahrstühle zu berichten: Es gab einen Unfall mit dem Lastenaufzug, der ohnehin zu spät gebaut worden war. Dass allerdings die Fahrstuhlschächte ab dem 20. Stockwerk fehlen — das stand nirgends. Die entscheidene Textstelle lautet (Übersetzung von uns):

Im Januar 2012 gab es eine neue Überraschung: Bei den Planungen war der Aufzugschacht nicht beachtet worden, wie die öffentlichen Pläne klar zeigen. “Der Platz wurde nur für ein 20stöckiges Gebäude berechnet”, sagten die gleichen Quellen.

Das kann natürlich vieles heißen: dass die Fahrstuhlschächte unterdimensioniert sind, dass der Platz für den Antrieb falsch berechnet war, dass zu wenige Fahrstühle für die erhöhte Einwohnerzahl zur Verfügung standen. Für die Extrem-Interpretation, dass die Fahrstuhlschächte gleich ganz fehlten, fehlte jedoch jeder Hinweis. Und wie zu erwarten war, stimmte dies auch nicht. Wie zum Beispiel das Blog Barcepundit auflistet, hat der Wolkenkratzer sogar ganze 10 Aufzüge — und die Schächte reichen bis in den 47. Stock. Treppen steigen muss also niemand.

Doch statt ihre Falschmeldungen einfach zu löschen oder zu korrigieren — wie es zum Beispiel Spiegel Online sehr halbherzig tat — versuchten einige Redaktionen ihre durch Fakten verpfuschte Geschichte noch zu retten. So erklärte die Welt kurzerhand das Fehlen des Schildbürgerstreiches selbst zur Posse:

Screenshot: Welt.de

Doch wie spanische Medien kolportieren, sei beim Bau ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Die Tageszeitung “El País” will anhand der Baupläne herausgefunden haben, dass der Aufzugsschacht für ein Hochhaus von nur zwanzig Stockwerken und damit zu eng konzipiert war. Für ein doppelt so großes Hochhaus wie das Intempo braucht man stärkere Motoren und andere Zugsysteme. Erst im Januar habe man den Fehler bemerkt und die drei Aufzugsschächte erweitert, was die Arbeiten erheblich verzögerte, heißt es beim spanischen Nachrichtensender “La Sexta”. Viele spanische Online-Portale juxen derweil munter weiter über das Hochhaus mit dem fehlenden Aufzug.

Dass die Redaktion das eigene Rechercheversagen überspielt und “spanischen Online-Portalen” in die Schuhe schiebt, ist dreist, aber kaum bemerkenswert. Dass es die Redaktion aber schafft, trotz der Nachfrage beim Architekten die Falschmeldung vom “offenbar vergessenen” Fahrstuhl noch in die Überschrift zu packen hingegen zeigt eine stolze Ignoranz, die eins deutlich macht: Deutsche Journalisten müssen sich offenbar nicht hinter Schildbürgern verstecken.

Mit Dank an Greta H., hvd69, Patrick R. und Mathias S.

Ein Foto, das für Empörung sorgt

Am vergangenen Dienstag berichtete die “Hamburger Morgenpost” über die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten in der Türkei. Auf Seite 3 druckte die “Mopo” dieses große Foto:

[Bildunterschrift:] Ein Foto, das für Empörung sorgt: Ein Polizist tritt einer Demonstrantin, deren Hände auf den Rücken gefesselt sind, gegen den Kopf.

In der Bildunterschrift steht:

Ein Foto, das für Empörung sorgt: Ein Polizist tritt einer Demonstrantin, deren Hände auf den Rücken gefesselt sind, gegen den Kopf.

Und im Text heißt es:

Das brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen die Demonstranten sorgt für immer mehr Empörung. Ein Foto zeigt, wie ein Polizist einer jungen Frau, die offenbar zuvor festgenommen und gefesselt wurde, gegen den Kopf tritt.

Allerdings wurde das Foto nicht vor kurzem aufgenommen, sondern vor vier Jahren. Und zwar nicht in der Türkei, sondern in den USA.

Via Migazin.
Mit Dank an Marty C., Sejfuddin, Steffen E. und Zafe.

Mittendrin statt nur dabei

Während viele Medien immer noch darüber nachdenken, wie sie im Internet Geld verdienen können, war das “Hamburger Abendblatt” vergangene Woche schon einen Schritt weiter:

Polizei schießt auf Bewaffneten auf dem Kiez – hier im Video. Jetzt weiterlesen ... Mit einem Online-Abonnement des Hamburger Abendblatts haben Sie vollen Zugang zum ePaper, zu allen Artikeln und zum Online-Archiv.

Gut, wer die mindestens 1,20 Euro bezahlt hat, um zu sehen, wie die Polizei auf den “Bewaffneten auf dem Kiez” schießt, wurde enttäuscht: An der entscheidenden Stelle bleibt der Bildschirm schwarz, weil die Bilder “zu brutal sind, um sie hier zu zeigen”. Aber immerhin kann man die Schüsse hören, während die Musik einer Gaststätte im Hintergrund läuft.

Der monotone Off-Kommentar ist auch nicht mit den reißerischen Ansagen aus dem US-Fernsehen zu vergleichen, eher mit einem Vortrag über das Element Caesium im “Telekolleg”. Aber ansonsten bekommt der Leser/Zuschauer für sein Geld schon ordentlich was geboten: Den Teil der Videoaufnahmen, den die Redaktion von abendblatt.de offenbar nicht für “zu brutal” hielt.

Also etwa den (womöglich psychisch kranken) Mann, der sich – notdürftig unscharf gemacht – eine Waffe an den Kopf hält, einen Schwenk auf die Polizisten, die nach den Schüssen auf seine Beine um ihn herumstehen, und Rettungssanitäter, die den Mann wegbringen, sowie umstehende Polizisten und Fotografen.

Dazu heißt es aus dem Off:

Schießerei auf dem Kiez: Die Besucher eines Restaurants an der Seilerstraße haben am Mittwoch mit einem Handy diese Bilder aufgenommen. Darauf ist zu sehen, wie sich ein 48-jähriger Mann eine Pistole an den Kopf hält. Als der Mann später mit durchgeladener Waffe auf die Polizeibeamten zugeht, eröffnen diese das Feuer. Bilder, die zu brutal sind, um sie hier zu zeigen. Sie treffen den Mann zweimal: Eine Kugel trifft den 48-Jährigen am Oberschenkel, eine zweite Kugel verletzt ihn am Unterschenkel. Kurz nach der Schießerei bringt ein Krankenwagen den Mann ins Krankenhaus. Das Motiv des 48-Jährigen ist bislang noch unklar.

Auch bei Bild.de gibt es ein Video des Vorfalls: “Ex-Touché-Sänger Karim Mattaoui (38), in den 90ern ein Boygroup-Star und Teenie-Idol” hatte für Sekundenbruchteile einen unscharfen Blick auf den Mann werfen können und das wacklige Videodokument auf Facebook hochgeladen.

Nach den Schüssen hatte sich übrigens herausgestellt, dass der “Amokläufer”, wie “Bild” und “Hamburger Morgenpost” den Mann nennen, eine Gaspistole bei sich trug.

Mit Dank an Stefanie.

Sie sehen tote Menschen

Bei großen Gerichtsprozessen zeigt sich in besonderer Weise, auf welch unglaubliche Ideen die Medien in ihrer Sensationsgier kommen können.

Besonders schlimm wird es oft, wenn die Hektik des Auftaktes verflogen ist und sich der Prozess von seiner unspektakulär-bürokratischen Seite zeigt. Es gibt Verhandlungstage, an denen keine grausamen Protokolle vorgelesen und keine tränenreichen Geständnisse abgelegt werden, und an denen auch sonst nichts passiert, was man zu einer knackigen Schlagzeile verarbeiten könnte.

Dann muss man als Boulevardjournalist kreativ sein. So wie die Leute beim Online-Auftritt der “Hamburger Morgenpost”:Neonazi-Prozess - Zschäpe-Bewacherin ähnelt NSU-Opfer Kiesewetter [Bildunterschrift:] Die Polizistin, die die Hauptangeklagte Beate Zschäpe in den Gerichtssaal begleitet, hat Ähnlichkeit mit der in Heilbronn ermordeten Polizistin Michéle Kiesewetter.

(Unkenntlichmachung von uns.)

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Nachtrag, 17. Mai: mopo.de hat den Artikel heimlich geändert. Überschrift und Foto wurden ausgetauscht, die Textpassagen gelöscht.

Der Kita-Krieg und die Ökofaschisten

Das Online-Gästebuch des Delingsdorfer Kindergartens war lange Zeit ein Ort des Friedens. Da bedankte sich “Miss Schmidt” herzlich für das “tolle Laternenfest”, und “Henrys Mama” zeigte sich “beeindruckt” von der großartigen “Cats-Aufführung”. Wie gesagt: ein Ort des Friedens. Doch dann kam der 26. März. Und mit ihm der “Kita-Krieg”.

Seitdem füllt sich das Gästebuch des Kindergartens plötzlich mit Einträgen, in denen Begriffe wie “Öko-Diktatur” vorkommen und “Kinderfeindlichkeit”, in denen von den “verschrobenen Vorstellungen” einiger “Gutmenschinnen” die Rede ist, von “Körperverletzung”, “dusseligem Ökogefasel” und “linksextremem Ökoterror”. Auch in vielen anderen Ecken des Internets wird auf das Kita-Personal eingedroschen. Die Erzieherinnen werden als “Ökofaschisten” beschimpft, als “hartherzige”, “kalte”, “machtgeile” und “hirnkranke” Frauen.

Ins Rollen gebracht wurde diese Empörungswelle von einem Artikel, der am Dienstag in der “Welt”, dem “Hamburger Abendblatt” und der “Berliner Morgenpost” erschienen ist. Darin berichten die Eltern eines vierjährigen Jungen aus Delingsdorf bei Hamburg, dass man ihnen den Kita-Platz gekündigt habe. Vorausgegangen war ein Streit mit der Kita-Leitung und dem Bürgermeister, weil die Eltern ihrem Sohn statt Butterbroten ein paar Kekse mit in die Kita gegeben hatten. Die Kita hatte dem Sohn die Kekse wieder mit nach Hause gegeben – versehen mit einem Zettel, auf dem stand: “Bitte denken Sie daran, dass wir ein zuckerarmer Kindergarten sind.” Die Eltern beschwerten sich beim Bürgermeister, es entwickelte sich ein Streit, und am Ende stand die Kündigung des Kita-Vertrages. So weit die etwas verkürzte Darstellung der Ereignisse.

Das “Hamburger Abendblatt” drückte es so aus:

Kita wirft Vierjährigen nach Streit um Kekse raus

Während in der Überschrift lediglich ein zeitlicher Zusammenhang festgestellt wird, klingt das im Artikel schon deutlich anders. Und in “Bild” erst recht:
Kita wird Kind (4) raus - Weil es Kekse in der Brotdose hatte

Dies ist die unglaubliche Geschichte über einen kleinen Jungen, seine Kita – und einen Butterkeks!

Thore (4) aus Delingsdorf bei Hamburg darf nicht mehr in den Kindergarten, weil seine Eltern das falsche Essen in die Brotdose packten! Die Gemeinde kündigte jetzt den Kita-Vertrag mit Thores Eltern. Aus wichtigem Grund, heißt es. Der wichtige Grund: Butterkekse!

Nun ist aus dem zeitlichen Zusammenhang also endgültig ein kausaler geworden. Auch im “Express” heißt es, der Junge müsse “alleine zu Hause spielen, weil seine Eltern Süßigkeiten in die Frühstücksdose gepackt hatten”. Laut “Hamburger Morgenpost” wurde er rausgeworfen, “nur weil er Süßigkeiten dabei hatte”.

Und schon ist es so weit:

Ganz Deutschland diskutiert über die unglaubliche Geschichte des kleinen Thore (4) aus Delingsdorf bei Hamburg.

“Ganz Deutschland” heißt bekanntlich: “Bild” und Bild.de. Und konkret sieht das so aus:

Der Irra Kita-Keks-Streit - Das sagen die BILD.de-Leser - "ist das ein Kindergarten oder eine Sekte?"

Bild.de, 27. März:Rausschmiss wegen Keksen in der Brotdose - "Erzieherinnen entlassen" oder "Fehlverhalten der Eltern"? - Die große Kita-Diskussion: Das sagen BILD.de-Leser

Bild.de, 27. März:Rechte in Kindertagesstätte -- Keks in der Kita - kann mein Kind dafür fliegen?

Bild.de, 28. März:Eltern oder Erzieher - Wer bestimmt, was Kinder in der Kita essen?

Bild.de, 28. März:6

Bild.de, 29. März:BILD.de fragt bei Eltern nach - Was halten SIE vom irren Kita-Keks-Streit?

“Bild”-Titelseite, 28. März:

Kita-Krieg! Eltern gegen Erzieher, Erzieher gegen Eltern - und die Leidtragenden sind die Kinder

Weil sich ihre Eltern beschwert hatten, dürfen Oda (3) und Thore (4) nicht mer in ihre Kitas. Was ist nur los in deutschen Kindergärten? Eltern und Erzieher berichten über den täglichen Kita-Krieg. Der große BILD-Report.

Das andere Beispiel, das “Bild” hier rausgekramt hat, betrifft übrigens einen Fall, der aus dem November 2012 stammt. Schon damals hatte “Bild” darüber berichtet. Und schon damals hatte der Trägerverein die Vorwürfe zurückgewiesen.

Was die “unglaubliche Geschichte des kleinen Thore” angeht, behauptet “Bild” auch in diesem Artikel, die Kita habe ihn rausgeworfen, weil er die Kekse dabeihatte. Auf shz.de, dem Internetauftritt des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags, kann man derweil eine ganz andere Version der Geschichte lesen. Dort heißt es:

Differenzen zwischen der Gemeinde und den Eltern von Thore gibt es bereits seit längerer Zeit. Karola und Christian [P.], beide berufstätig, prangern seit zwei Jahren vermeintliche Mängel in der Kindertagesstätte “Lütte Lüüd” an.

(…) Am 25. Januar kommt es dann zum Keks-Konflikt.

(…) Der Streit eskaliert. Schließlich nimmt sich der Jugend-, Sport- und Kulturausschuss des Themas an. “Um die Persönlichkeitsrechte der Eltern zu schützen, war die Sitzung zu diesem Punkt natürlich nicht öffentlich”, erklärt der Bürgermeister. Das habe er Karola und Christian [P.] verdeutlicht. Die Eltern empfinden den Hinweis als Rauswurf. “Wir wurden als Querulanten dargestellt und gingen”, sagt Christian [P.]. Er kritisiert das Vorgehen des Bürgermeisters, der lautstark und aggressiv agiert habe. Darüber habe er sich bei der Kommunalaufsicht beschwert.

Fünf Tage später liegt die Kündigung des Kindergartenplatzes zum 25. März auf dem Tisch, “aus wichtigem Grund”. Das Vertrauensverhältnis sei nachhaltig gestört, begründet das Amt Bargteheide-Land. Die Eltern sollten sich eine andere Einrichtung suchen.

Nach dem Aufschrei der Medien nahm der Bürgermeister auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz Stellung zur Entscheidung der Gemeinde:

“Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, Experten der Kreisverwaltung hinzugezogen”, sagt Bürgermeister Knudsen. Ihr Fazit sei gewesen, dass es dem Kindeswohl dienlicher sei, wenn Thore den Kindergarten verlasse. Der Bürgermeister: “Das Kind spürt den Konflikt, zumindest unter bewusst. Es spürt, dass seine Eltern diesen Kindergarten, in den es gehen soll, eigentlich ablehnen. Das schadet ihm mehr als ein Wechsel.”

Die Eltern legten Widerspruch gegen die Kündigung ein, doch der wurde zurückgewiesen. Schließlich suchten sie den Weg in die Medien.

In dieser Version der Geschichte ist also nicht der Keks der Grund für den Rausschmiss, sondern die Auseinandersetzung darüber – ein kleiner, aber bedeutender Unterschied. Denn in dieser Version geht der Konflikt von zwei Parteien aus. In der “Bild”-Version nur von einer.

Der Bürgermeister erklärte daher schon am Donnerstag, die Schlagzeilen der Boulevardmedien träfen nicht “den Kern der Wahrheit”. Auf shz.de heißt es:

[Bürgermeister Knudsen:] “Der Keks war nicht der Grund für die Kündigung.” Allerdings ist er sich nicht sicher, ob das noch irgendjemand hören möchte. Längst hat der Fall eine gewaltige Eigendynamik entwickelt. “Die Mitarbeiter des Kindergartens werden mittlerweile bedroht und als Öko-Faschisten bepöbelt.”

Das “Abendblatt” ruderte Mitte der Woche immerhin zurück und widmete dem “Machtwort” des Bürgermeisters einen eigenen Artikel. Für “Bild” hingegen sind diese Aussagen nicht der Rede wert. Ebenso wie die Stellungnahme der Elternvertreter, die mittlerweile herausgegeben wurde. Darin schreiben sie, sie seien “überrascht über die aktuelle Berichterstattung unseres Kindergartens”:

Wir sind sprachlos und auch ohnmächtig, da wir nicht wissen, wie wir auf diese Medienberichte reagieren sollen.

Fakt ist: Nein, hier wurde niemandem wegen einem Butterkeks gekündigt. Seit 2 Jahren gibt es Differenzen zwischen der Familie und dem Kindergarten.

(…) Auf die weiteren Vorwürfe können wir leider nicht eingehen. Das laufende Verfahren wird hier hoffentlich bald auch der Gegendarstellung Gehör verschaffen. Wir bitten Euch, die Medien sorgfältig zu prüfen. (…) Wir bedauern den Medienrummel, der auf den Kindergarten, den Erziehern und vor allem auf den kleinen Thore und seiner Familie hereinprasselt.

Die Eltern des Jungen haben sich unterdessen selbst mit einem Brief gemeldet. Laut shz.de heißt es darin:

Wir wurden von zwei Elternvertretern in Kenntnis gesetzt, dass nach dieser gewaltigen Presse-Lawine bezüglich der Kündigung des Betreuungsverhältnisses in der Kindertagesstätte Delingsdorf über die Betreuung unseres Sohnes Thore eine Welle von Hass auf die Gemeinde, die Kindertagesstätte und den Bürgermeister einschlägt. Wir distanzieren uns von diesem Hass und den Drohungen.

“Kein Bürger der Gemeinde” dürfe “darunter leiden oder bedroht werden”, zitiert shz.de die Eltern. “Zerstören Sie nicht den Dorffrieden und das Miteinander innerhalb der Gemeinde durch Androhungen und Hass.”

Doch “Bild” befindet sich immer noch im “Kita-Krieg” (der offenbar so etwas ist wie der inoffizielle Nachfolger des “Schnitzel-Krieges”). In einem Artikel über den “täglichen Kita-Ärger” empören sich in der heutigen Ausgabe erneut Eltern über die “Unverschämtheiten” in den deutschen Kindergärten. Und von “Thore (4) aus der Nähe von Hamburg” behauptet “Bild” immer noch, er sei “aus seiner ‘zuckerfreien’ Kita geworfen [worden], weil er Butterkekse in der Brotdose hatte”. Munition für die Kämpfer gegen den Ökoterror.

Der neueste Eintrag im Online-Gästebuch des Kindergartens (Stand heute Morgen) stammt übrigens von “Mama aus Delingsdorf”. Sie schreibt:

(…) Glaubt der Rest der Republik wirklich, dass ein ganzes Dorf seine Kinder in diesen Kindergarten geben würde, wenn die Umstände so wären, wie ihn manche Zeitungen beschreiben? Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man einer ganzen Gemeinde unterstellt, sich nicht für das Wohl seiner Kinder zu interessieren und bei der Kindergartenwahl keine Sorgfalt walten zu lassen. (…) Ich nehme das beinahe persönlich.

(…) Unser Sohn geht gern in diesen Kindergarten. Die Menschen dort haben Lob und Anerkennung verdient und nicht Schimpf und Schande!

Liebe Kommentatoren: Es ist nicht immer alles so, WIE es in der Zeitung steht, nur WEIL es in der Zeitung steht.

Mit Dank an Robert G. und Martin.

Nachtrag, 1. April: Zwei Stunden nach Erscheinen unseres Eintrags sind auch die Leute von Bild.de zurückgerudert – oder sagen wir: Sie haben die Richtung gewechselt. Unter der Überschrift “Jetzt rollt eine Wutwelle durch das Dorf” heißt es:

Auf der Homepage des Kindergartens ist ein heftiger Streit entbrannt. Eltern wettern gegen Eltern, Unbekannte gegen Dorfbewohner, von “Öko-Terror” und Machtdemonstration ist die Rede. “Einem kleinen Kind den Keks zu verweigern, ist widerlich”, schreibt jemand.

Dass diese “Wutwelle” erst aufgrund der Springer-Medien losgerollt ist, erwähnt Bild.de natürlich nicht. Und natürlich zitieren sie auch keine jener Beschimpfungen, die nur deshalb geschrieben wurden, weil deren Verfasser im Glauben standen, der alleinige Kündigungsgrund sei der Keks gewesen.

Immerhin rückt Bild.de jetzt von dieser falschen Darstellung ab — und stellt statt eines kausalen nur noch einen zeitlichen Zusammenhang fest:

Thore hatte Butterkekse in seiner Brotdose, die Kita legt aber Wert auf die “zuckerarme” Ernährung im Haus. In der Folge gab es Streit und die Gemeinde kündigte den Vertrag mit Thores Eltern.

Auf der Internetseite des Kindergartens ist derweil folgender Hinweis veröffentlicht worden:

Leider haben sich in den letzten Tagen viele Menschen dazu berufen gefühlt, dieses Gästebuch für Beleidigungen und Bedrohungen zu missbrauchen.

Da sich hieraus auch polizeiliche Ermittlungen ergeben haben, sehen wir uns leider gezwungen, das Gästebuch vorübergehend zu schliessen.

Habemus tumultum

Als der weiße Rauch am gestrigen Abend, kurz nach 19 Uhr, den Schornstein der Sixtinischen Kapelle verließ, war klar: Die Katholische Kirche hat einen neuen Papst. Rund eine Stunde spekulierten die Kommentatoren der Fernsehanstalten darüber, wen die Wahl getroffen haben könnte, dann trat Kardinalprotodiakon Jean-Louis Tauran auf den Balkon des Petersdoms und sprach folgende Worte:

Annuntio vobis gaudium magnum; habemus Papam:

Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Georgium Marium Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Bergoglio qui sibi nomen imposuit Franciscum

Nicht gesagt hat Tauran “Franciscum primum”, was “Franziskus der Erste” gewesen wäre. Der neue Papst trägt also – anders als Johannes Paul I., der sich als erster Papst überhaupt direkt für die Ordnungszahl in seinem Papstnamen entschieden hatte – “nur” den Namen Franziskus. Und das bist zu dem Tag, an dem vielleicht irgendwann einmal ein Papst Franziskus II. gewählt werden sollte, wie Vatikan-Sprecher Federico Lombardi noch einmal klarstellte.

Und das war offenbar auch bitter nötig:


(“Süddeutsche Zeitung”)


(“Frankfurter Allgemeine Zeitung”)


(“Die Welt”)


(“Handelsblatt”)


(“Berliner Zeitung”)


(“Hamburger Abendblatt”)


(“Hamburger Morgenpost”)


(“Express”)

Aber gut: Das kann im Eifer des Gefechts schon mal passieren. Die letzte Wahl eines Papstes ohne Ordnungszahl liegt 1100 Jahre zurück, da waren die Zeitungspressen noch nicht erfunden.

Noch etwas länger liegt das 8. Jahrhundert zurück, in das die Pontifikate von Johannes V., Sisinnius, Konstantin und Gregor III. fallen. Sie alle stammten aus Syrien, was insofern entscheidend ist, weil Syrien nicht zu Europa gehört und der Agentinier Jorge Mario Bergoglio damit nicht mehr der “erste nicht-europäische Papst” sein kann.

Außer in den Medien, natürlich:

  • Zum ersten Mal ein Papst, der nicht aus Europa stammt!
    (“Die Welt”)
  • Ein historischer Moment: Zum ersten Mal ist ein Nichteuropäer zum Papst gewählt worden.
    (“Hamburger Abendblatt”)
  • Die katholische Kirche beschreitet mit Franziskus I. – dem argentinischen Kardinal Jorge Bergoglio – neue Wege. Unter 265 Nachfolgern des Heiligen Petrus ist er der erste Nicht-Europäer.
    (“Stuttgarter Nachrichten”)
  • Und er ist der erste Papst, der nicht aus Europa kommt, ihn wollten die Kardinäle[.]
    (“Süddeutsche Zeitung”)
  • Der erste Papst in der Geschichte der katholischen Kirche, der nicht aus Europa kommt, ist auch der erste, der sich nach dem Heiligen Franz von Assisi benannt hat, dem Heiligen der Armen.
    (“Frankfurter Rundschau”)
  • Zum ersten Mal in der Geschichte haben die Katholiken einen Papst, der nicht aus Europa stammt. Jorge Mario Bergoglio, Erzbischof von Buenos Aires, wurde zum 266. Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt.
    (“Frankfurter Rundschau”)
  • Der neue Papst ist nicht nur der erste Nicht-Europäer auf dem Heiligen Stuhl – er wählte auch einen Papstnamen, den keiner seiner Vorgänger trug. Der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio heißt künftig Franziskus I.
    (AFP)
  • Historische Entscheidung im Vatikan: Der Argentinier Jorge Mario Bergoglio ist am Mittwoch zum neuen Papst Franziskus I. gewählt worden. Damit steht erstmals in der Geschichte ein Nicht-Europäer an der Spitze der römisch-katholischen Kirche.
    (AFP)
  • Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) erwartet neue Impulse durch das erste nicht-europäische Oberhaupt der Kirche.
    (hr-online.de)
  • Er ist der erste Nicht-Europäer auf dem Stuhl Petri.
    (n-tv.de)
  • Es ist das erste Mal, dass der Papst nicht aus Europa kommt.
    (AFP, Bild.de, abendblatt.de, mdr.de, derwesten.de, stern.de, …)

Wobei sich auch die katholischen Würdenträger offenbar nicht ganz in der Frühgeschichte ihrer Kirche auszukennen scheinen:

  • Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, erklärte: “Der lateinamerikanische Kontinent darf stolz sein, erstmals in der Geschichte der Kirche einen Nichteuropäer als Papst zu stellen.”
    (Evangelischer Pressedienst)
  • [Der Münchner Kardinal] Marx sagte, dass der bisherige Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, ein Papst der “vielen ersten Male” sei: der erste Jesuit, der erste Nicht-Europäer und der erste Franziskus.
    (Evangelischer Pressedienst)

Die Katholische Nachrichtenagentur KNA, der man bei diesem Thema wohl eine gewisse Kompetenz unterstellen darf, verbreitete heute extra eine eigene Meldung:

Papst Franziskus ist der erste Nichteuropäer auf dem Stuhle Petri seit 1.272 Jahren. Damals war mit Gregor III. (731- 741) ein aus Syrien stammender Papst Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche.

Die KNA erwähnt unter anderem noch die Päpste Victor I. und Miltiades, die aus Afrika stammten, und zählt zusammen:

So gab es bis Mitte des 8. Jahrhunderts acht in Asien und zwei in Afrika geborene Päpste. Mit Petrus und Evaristus waren zwei Päpste Juden. Fünf – und noch dazu ein Gegenpapst – stammten aus Syrien.

Mit Dank an Jonathan K., Fuchs, Marcus H., Matthias M. und Laszlo J.

Die Jagd nach der nackten Wahrheit

Als die Österreicherin Natascha Kampusch im Sommer 2006 nach achtjähriger Gefangenschaft plötzlich wieder auftauchte, begann im deutschsprachigen Journalismus eine Jagd. Eine völlig groteske Jagd, die nur ein einziges Ziel hat: Die Antwort auf die Frage, ob Natascha Kampusch Sex mit ihrem Entführer hatte.

Die Jagd beginnt im Jahr 2006. Am 23. August erfährt die Welt, dass das Mädchen wieder aufgetaucht ist. Acht Jahre lang war sie verschwunden, gefangengehalten von Wolfgang Priklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben nimmt. Jetzt ist sie frei und wohlauf, es ist eine Sensation. Überall auf der Welt berichten Medien über den spektakulären Fall aus Österreich. Und bereits zwei Tage später wird deutlich, was einige daran am allermeisten interessiert:

(…) Vielleicht hat er das Mädchen zu seiner Sex-Sklavin gemacht, vermuten österreichische Medien.

“Bild”, 25.08.2006

***

(…) HAT DER KIDNAPPER SEIN OPFER SEXUELL MISSBRAUCHT?

“Aus meiner Sicht, ja”, meint die Polizistin. “Aber Natascha ist das noch nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht.”

“Bild”, 25.08.2006

***

(…) Die Beamtin geht auch davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden ist – “doch das ist ihr nicht bewusst, sie ist der Meinung, es freiwillig gemacht zu haben”. Natascha schilderte auch den Tagesablauf in Gefangenschaft: Sie frühstückte mit der Sex-Bestie, musste im Haushalt helfen.

***

Seine Sklavin – Sie musste für ihn putzen. Er forderte auch Sex von ihr

(…) Was spielte sich im Keller ab? Eine Polizistin sagt, sie glaube, dass Priklopil Natascha zum Sex zwang: “Aber sie sagt, sie habe das immer freiwillig gemacht.”

“Express”, 26.08.2006

***

Zum Sex gezwungen? Natascha und ihr Entführer hatten intime Kontakte

Die mehr als acht Jahre gefangen gehaltene Österreicherin Natascha Kampusch hatte der Polizei zufolge sexuellen Kontakt zu ihrem Entführer.

“Nürnberger Nachrichten”, 28.08.2006

Nun, bis hierher unterscheidet sich dieser Fall nicht wesentlich von anderen, in denen entführte Kinder wieder aufgetaucht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier über den “sexuellen Kontakt” zwischen Opfer und Entführer spekuliert wird, ist im heutigen BoulevardJournalismus nichts Ungewöhnliches und zum Teil sicherlich unserem eigenen Voyeurismus geschuldet. Detaillierte Schilderungen der durchlebten Qualen sind zum Pflichtprogramm in der Berichterstattung geworden; wer über ein entführtes Kind berichtet, berichtet im selben Atemzug auch über das, was es durchmachen musste. Es scheint, als gehöre das dazu.

Und wenn heutzutage deutsche Journalisten – so wie im Fall von Stephanie R. vor ein paar Jahren geschehen – in einer großen Magazingeschichte die Leiden eines 13-jährigen Mädchens nachzeichnen, das “mehr als 100-mal” missbraucht wurde, gehört es offenbar auch dazu, dass geschildert wird, wo und wann und wie der Entführer das Mädchen vergewaltigt hat – und woran es dachte, “während er in ihr” war. Der “Spiegel” jedenfalls hatte 2006 kein Problem damit, solche Details zu veröffentlichen.

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Der GEZ-Spuk der Friedhofsbagger

Seit ein paar Tagen geistern Friedhofsbagger durch die Berichterstattung über die neue Rundfunkabgabe. Auslöser war ein Bericht des “Kölner Stadt-Anzeiger” Ende Januar, wonach die Stadt Köln die Zahlung der Rundfunkgebühren vorerst verweigere. Sie sah sich nicht im Stande, Fragen zu beantworten wie die, ob sie “jetzt auch für unsere Friedhofsbagger Gebühren zahlen müssen”.

Die “Süddeutsche Zeitung” griff diese Frage auf, ohne sie zu beantworten (und titelte sogar: “Ein Bagger sieht fern”); “taz” und “Tagesspiegel” hielten es ebenso. Das “Handelsblatt” nannte die “absurde” Frage als Beispiel dafür, dass die Einführung des neuen Rundfunkbeitrags “nicht so simpel” sei, “wie uns die Anstalten weismachen wollen”.

Dabei findet sich die Antwort auf die Frage dort, wo man sie vermuten würde: auf der offiziellen Seite des Rundfunk-Beitragsservice unter “Kraftfahrzeuge”:

Sind Bagger, Kehrfahrzeuge oder Gabelstapler beitragspflichtige Kraftfahrzeuge?

Kraftfahrzeuge, die nach der Verordnung über die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr (FZV) keiner Zulassung bedürfen, sind nicht beitragspflichtig (siehe § 3 FZV). Dazu zählen u.a. selbstfahrende Arbeitsmaschinen (z. B. Bagger und Kehrfahrzeuge) sowie Stapler (z. B. Gabelstapler).

Doch die Geschichte mit den angeblich möglicherweise rundfunkbeitragspflichtigen Friedhofsbaggern wurde nicht begraben, im Gegenteil. Sie tauchte gestern als Untoter an prominenter Stelle wieder auf: in einer dpa-Meldung über eine Pressekonferenz der ARD. Die Agentur berichtete um 16.01 Uhr:

Hamburg (dpa) – Der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor hat “in einzelnen Fällen” Nachbesserungen beim Rundfunkbeitrag in Aussicht gestellt. “Bei einer solchen Neuregelung kann es einzelne Fälle geben, wo es Nachbesserungsbedarf gibt”, sagte Marmor am Dienstag in Hamburg. Als Beispiele nannte er Beitragsrechnungen an Kommunen für Bagger und Friedhöfe. (…)

Erst um 18.48 Uhr korrigierte dpa sich, wies nun explizit darauf hin, dass “Friedhöfe und Bagger nicht beitragspflichtig sind” und änderte den Anfang der Meldung so:

Hamburg (dpa) – Der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor hat “in einzelnen Fällen” Nachbesserungen beim Rundfunkbeitrag in Aussicht gestellt. “Bei einer solchen Neuregelung kann es einzelne Fälle geben, wo es Nachbesserungsbedarf gibt”, sagte Marmor am Dienstag in Hamburg. Zum Beispiel müssten demente Patienten in Pflegeheimen keine Beitrage zahlen. Es werde zur Zeit viel geschrieben über Gebührenrechnungen zum Beispiel für Friedhöfe und Bagger. Diese seien jedoch in Wahrheit nicht beitragspflichtig.

Das hätten Journalisten auch vor der Korrektur wissen können, aber selbst die Korrektur half nur wenig.

Die “Hamburger Morgenpost” behauptet:

Firmen, Städte und Gemeinden leisten den Beitrag bislang nach Betriebsstätten und Fahrzeugen. Bei Fällen wie Beitragsrechnungen an Kommunen für Bagger und Friedhöfe könnte es jetzt allerdings Entlastungen geben.

Bei der vermeintlichen Fachzeitschrift “w&v” steht die Falschmeldung online sogar noch in der Überschrift:

Rundfunkbeitrag für Bagger und Friedhöfe? ARD will nachbessern

In der gedruckten “Badischen Zeitung” steht der Fehler heute ebenso wie auf den Internetseiten von “Stern” und “Schleswig-Holsteinischem Zeitungsverlag”.

“Spiegel Online” — wo die Meldung die steile Überschrift trägt: “ARD verspricht Änderungen bei GEZ-Beitrag” — hat den ursprünglichen Vorspann unauffällig und ohne Hinweis geändert. Ursprünglich lautete er:

Rundfunkbeitrag für Bagger oder Friedhöfe? Dass dies absurd ist, scheint auch den Öffentlich-Rechtlichen klar zu werden.

Wann es auch den Berichterstattern klar wird, ist noch offen.

Nachtrag, 13.00 Uhr. Auch die gedruckten Ausgaben von “Bild” und “Kölner Stadt-Anzeiger” berichten heute entsprechend falsch.

Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid.

Obwohl die Lage auch Tage nach dem Amoklauf an einer Grundschule in Connecticut immer noch unübersichtlich ist, scheinen die Medien zu jedem beliebigen Zeitpunkt und vorübergehenden Nachrichtenstand schon zu wissen, was das alles zu bedeuten hat.

Als “aus Ermittlerkreisen verlautete” (“Hamburger Morgenpost”), der Täter habe das Asperger-Syndrom, war für Bild.de schon alles klar:

Der irre Amok-Killer von Newtown: Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid. BILD.de erklärt das Asperger-Syndrom.

Die mediale Ferndiagnose läuft dabei so ab:

Ehemalige Mitschüler erinnern sich an einen nervösen, unsicheren Jungen. Wenn er angeschaut wurde, blickte er weg. Wenn man ihn ansprach, würgte er die Worte hervor.

Dieses Verhalten deutet auf eine bestimmte Krankheit hin: das “Asperger-Syndrom”, eine autistische Störung. Immer öfter, auch aus Ermittlerkreisen, fällt dieser Begriff, wenn es um den psychischen Zustand [des Täters] geht.

Der letzte Satz ist natürlich eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn dieser Begriff fällt in Medien von Bild.de über die “Hamburger Morgenpost” bis zu “Spiegel Online”.

Dass Bild.de das Asperger-Syndrom letztlich einigermaßen fundiert und unaufgeregt erklärt, dürfte an den Quellen liegen, mit denen die Seite gearbeitet hat. Das Porzellan ist da freilich schon zerschlagen: “Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid.” Und das, ohne dass bisher überhaupt klar wäre, ob der Täter wirklich das Asperger-Syndrom hatte.

Der Blogger Querdenker, selbst Autist, hat sich in zwei Texten damit auseinandergesetzt, wie die Medien dieser Tage mit dem Thema umgehen.

* * *

Einige hatten ihn vielleicht schon vermisst, heute ist er endlich da: Kriminologe Christian Pfeiffer, Hans Dampf in allen Gossen, beantwortet auf Bild.de die wichtigsten Fragen (“Kann man Amokläufer erkennen?”, “Ist so ein Massaker auch in Deutschland möglich?”):

BILD.de: War das ein untypischer Amoklauf?

Kriminologe Dr. Christian Pfeiffer: “Das war ein sehr untypischer Amoklauf. Der Täter hat eine unglaubliche Wut auf seine Mutter. Deshalb hat er sie auch erschossen. Doch das hat ihm anscheinend nicht gereicht, deshalb ist er in die Schule gefahren, an der die Mutter unterrichtete. Er suchte gezielt die Räume auf, in denen die Mutter lehrte und wütete weiter.”

Der Zeitstempel des Artikels ist von Montagabend, 23.55 Uhr. Seit Samstagabend deutscher Zeit ist klar, dass – vorsichtig ausgedrückt – erhebliche Zweifel daran bestehen, dass die Mutter des Täters Lehrerin oder auch nur Aushilfslehrerin war.

cnn.com schrieb:

Entgegen früherer anderslautender Berichte war [die Mutter] keine Lehrerin an der Schule, wo die Morde stattfanden, sagte Janet Vollmer, eine Vorschullehrerin an der Sandy Hook Elementary School.

(Übersetzung von uns.)

Und das “Metropolis”-Blog des “Wall Street Journals” berichtete:

Eine ehemalige Vertreterin der Schulbehörde von Newton widersprach früheren Berichten, wonach es eine Verbindung [der Mutter] zur Sandy Hook Elementary School gegeben habe, möglicherweise als Teil des Lehrkörpers.

“Niemand hat von ihr gehört”, sagt Lillian Bittman, die bis 2011 in der lokalen Schulbehörde arbeitete. “Lehrer kennen sie nicht.”

(Übersetzung von uns.)

Tatsächlich fehlt der Name der Frau auf der Mitarbeiter-Seite der offiziellen Website der Schule.

Aber wer hätte schon auf die Idee kommen können, dort nachzusehen? Journalisten etwa? Die zitieren lieber Experten, die wissen, dass der Täter “gezielt” die Räume aufgesucht habe, “in denen die Mutter lehrte”.

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

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