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Die Opfer von “Bild” (9)

Bei “Bild” konnte man in den vergangenen Tagen eine interessante Doppelwendung beobachten. Denn eigentlich war die Redaktion vor zwei Wochen gerade lauthals damit beschäftigt, Angst vor Migranten aus Afghanistan zu schüren: “Viele Täter stammen aus Afghanistan”, warnte sie etwa unter der Überschrift “Neue Zahlen der Schande – FAST JEDE WOCHE EIN ‘EHRENMORD'”.

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "FAST JEDE WOCHE EIN 'EHRENMORD'" - Neue Zahlen der Schande - Viele Täter stammen aus Afghanistan", dazu drei Porträtfotos von Opfern sogenannter Ehrenmorde sowie das Bild-Plus-Logo
(Unkenntlichmachungen von uns.)

In düsteren Kommentaren forderten “Bild”-Autoren einen “Aufschrei” der Gesellschaft – und von der Politik, dass sie konsequenter Maßnahmen ergreifen müsse, genauer: “Maßnahmen wie Abschiebung”.

Anlass für diese Kampagne war ein Mordfall aus Berlin (BILDblog berichtete), bei dem zwei Brüder aus Afghanistan unter dem Verdacht stehen, ihre Schwester getötet zu haben, weil sie sich laut Haftbefehl “gekränkt gefühlt haben, weil das Leben ihrer geschiedenen Schwester nicht ihren Moralvorstellungen entsprochen hatte”.

Fazit von “Bild”: Die deutsche Migrationspolitik sei “gescheitert”. Und:

Und viele Bundesbürger fragen sich: Werden wir afghanische Schwerverbrecher, die ausreisepflichtig sind, nun gar nicht mehr los?

Auch Polizeigewerkschafter und Ausländerangstverbreiter Rainer Wendt ließ “Bild” zu Wort kommen und finstere Szenarien zeichnen. Und einige Politiker – die selbstverständlich vor allem eines verlangten: härtere Abschiebungen.

Die Chefin des Bundestags-Innenausschusses, Andrea Lindholz (50, CSU) dringt auf sofortige Abschiebung der Täter.

Innenexperte Michael Kuffer (49, CSU) verlangt: “Wer als Afghane in Deutschland seine Schwester aus islamischer Verblendung ermordet, der gehört lebenslang hinter Gitter und ins Heimatland abgeschoben – und zwar unabhängig davon, welche Lage dort herrscht.”

Wenige Tage später überrannten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul. Bilder der Verzweiflung gingen um die Welt: Afghanen, die versuchen, sich an Flugzeugen festzuhalten; die ihre Babys über Stacheldraht in die Hände der US-Soldaten heben, um sie vor den Taliban zu retten. Auch “Bild” berichtete fortan immer wieder groß aus der “Hölle von Kabul” und darüber, dass die Lage im Land “immer dramatischer” werde.

Und offenbar erschien es dann selbst den Leuten von “Bild” irgendwie unpassend, inmitten solcher Nachrichten weiterhin Stimmung gegen afghanische Migranten zu machen, und so fand die Kampagne zum herbeigesehnten Abschiebe-Aufschrei mit einem Mal ein Ende: Während in der Vorwoche nahezu täglich über kriminelle Afghanen, über “Ehrenmorde” und das angebliche Versagen der Politik berichtet worden war, verschwand das Thema plötzlich komplett aus der “Bild”-Berichterstattung.

Inzwischen geht es aber langsam wieder los, insbesondere bei “Bild TV”. Allein gestern hieß es dort unter anderem:

“Man tischt uns wieder ein Märchen auf darüber, wer jetzt zu uns kommt”, meint BILD-Chef @jreichelt bei #BILDLive. Es müsse geklärt werden, welche Menschen aus #Afghanistan zu uns kommen.

“Liebe Regierung, klärt so schnell wie möglich auf, wer diese Menschen im Flugzeug sind!”, fordert @ClausStrunz bei #BILDLive. Womöglich waren Menschen dabei, die wir in Deutschland nicht haben wollen wie Verbrecher. #Afghanistan

“Die Menschen haben Angst, dass Menschen kommen, die kriminell sind” – Julian Reichelt bei BILDLive.

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Aber das nur als Beobachtung am Rande, denn eigentlich geht es in dieser Rubrik ja um etwas anderes: die Bebilderung. Und die bestand – vor dem plötzlichen Aufschrei-Ende und -Wiederanfang – konsequent aus privaten Fotos der ermordeten Frau:

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Afghanin (34) brutal ermordet - KOPFTUCH-KONTROLLE - So streng überwachten Brüder [...]", dazu ein Foto der Frau, das Bild-Plus-Logo und die Aufschrift "MIT VIDEO"
Screenshot von BILD.de: Ein Foto der ermordeten Frau, dazu die Bildunterschrift:"Selbstbewusst und ohne Kopftuch steht [...] vor der Kamera: Ihre Brüder sollen sie aus 'verletztem Ehrgefühl' heraus getötet haben. Foto: Privat"
Screenshot von BILD.de: Ein Foto der ermordeten Frau, dazu die Bildunterschrift: "[...] (34) wurde getötet, ihre Brüder sind dringend tatverdächtig - Foto: privat"
Screenshot von BILD.de: Ein Foto der ermordeten Frau, dazu die Bildunterschrift: "Auf dem Passfoto musste sie noch ein Kopftuch tragen - Foto: privat"
Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Mord an [...] (34) ++ Polizei veröffentlicht Foto - GESUCHT! Taxi-Fahrer, der Killer-Brüder zum Bahnhof fuhr", dazu ein Foto des gesuchten Taxis sowie ein Porträtfoto der Frau
Ausriss aus der BILD-Zeitung: "Ermittler stellen den 'Ehrenmord' an [...] (34) nach - So karrten die Brüder ihre tote Schwester durch Deutschland", dazu ein großes Foto der Frau sowie zwei Fotos der Brüder
Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Afghanen töten Schwester und verscharrten sie. Die unglaublichen Aussagen der Killer-Brüder im Polizeiverhör - 'Eine Frau ist wie eine Mitarbeiterin ...'", dazu ein großes Foto der Frau sowie zwei Fotos der Brüder
(Alle Unkenntlichmachungen von uns. Die Verdächtigen haben von “Bild” einen schwarzen Augenbalken bekommen, die ermordete Frau bekommt keinerlei Verpixelung.)

Woher die Fotos der Frau stammen, verrät “Bild” weiterhin nicht. Als Quelle steht dort bloß: “privat”.

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Insgesamt veröffentlichten die “Bild”-Medien in jener Woche (9. bis 15. August) mindestens 31 Mal Fotos von Menschen, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind, davon viermal Kinder.

In zwei Fällen waren die Gesichter verpixelt, in einem Fall die Augen. In 28 Fällen verzichtete “Bild” auf jede Unkenntlichmachung.

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Veröffentlicht wurde zum Beispiel das Gesicht eines Priesters, der in Frankreich ermordet wurde:

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Brandstifter von nantes tötet Geistlichen - Priester-Mord in Frankreich!", dazu ein Porträtfoto des Mannes

Fotoquelle: “Twitter.com”.

Und das Gesicht eines jungen Mannes, der nach einem Autounfall gestorben ist:

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Mercedes-SUV rast Pizza-Boten (23) tot - Er wollte gerade die nächste Bestellung ausliefern", dazu ein Foto des zerstörten Wagens, ein Porträtfoto des Mannes sowie das Bild-lus-Logo

Fotoquelle: “Privat”.

Und das Gesicht einer Frau, die in den Pyrenäen verunglückte (und das Gesicht ihres Lebensgefährten):

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Im November verunglückt - Freund findet Überreste von vermisster Britin", dazu ein großes Foto des Paares

Fotoquelle: “Privat”.

Und das Gesicht einer Frau, die versehentlich von ihrem Kind erschossen wurde:

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "Ein lauter Knall, dann fiel sie vom Stuhl - Kleinkind erschießt Mutter bei Zoom-Meeting", dazu ein großes Foto der Frau

Fotoquelle: “privat”.

Und das Gesicht eines Mannes, der bei der Explosion im Chempark Leverkusen ums Leben kam (und das Gesicht seiner Frau; immerhin das Gesicht des Kindes ist verpixelt):

Screenshot von der BILD.de-Startseite: "[...] starb bei Leverkusen-Explosion - Minuten vorher telefonierte er noch mit seiner Familie", dazu ein Foto der Explosion, ein Foto des Mannes, seiner Frau und ihres Kindes sowie das Bild-Plus-Logo

Fotoquelle: “Privat”.

Und – sowohl online als gedruckt – das Gesicht eines ehemaligen Richters, der in seiner Villa ermordet wurde:

Titelseite der BILD am SONNTAG: "Er saß abends vor dem Fernseher, als der Killer durchs Fenster kam - RICHTER IN SEINER VILLA ERMORDET - Ehefrau flüchtete ins Bad. Rätsel um Motiv", dazu ein Foto des Mannes sowie ein Foto seiner Villa

Fotoquelle: “privat”.

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Nach einem Verbrechen oder Unglück in Social-Media-Profilen zu wühlen und daraus Fotos der Opfer zu veröffentlichen, ist redaktioneller Alltag bei “Bild”. Häufig erscheinen solche Fotos ohne jede Verpixelung und ohne Zustimmung der Angehörigen oder Hinterbliebenen.

In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar von Reportern bedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.

“Bild” begründet die Veröffentlichung solcher Bilder damit, dass “nur so” die Tragik “deutlich und fassbar” werde.

Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:

Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.

Pressekodex Richtlinie 8.2

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:

Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.

Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.

Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.

Verschwundene Journalisten, “Bild” wirbt mit Laschet, Wortungetüme

1. RSF erinnert an verschwundene Journalisten
(reporter-ohne-grenzen.de)
Anlässlich des heutigen Internationalen Tages der Verschwundenen erinnert Reporter ohne Grenzen (RSF) an Medienschaffende, die zum Teil schon vor Jahrzehnten spurlos verschwunden sind. “Die Praxis des Verschwindenlassens soll Medienschaffende einschüchtern; es ist ein perfides Mittel, um kritische Journalistinnen und Journalisten mundtot zu machen”, so RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske: “Die meisten der seit Jahrzehnten zurückliegenden Fälle wurden bis heute nicht aufgeklärt.”

2. “Bild” wirbt mit Armin Laschet für neuen TV-Sender – Kritik in sozialen Medien
(rnd.de)
Die “Bild am Sonntag” veröffentlichte am Wochenende eine ganzseitige Werbeanzeige für den Fernsehsender “Bild TV”. Prominentes Testimonial: der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Dies wurde vor allem in den Sozialen Medien stark kritisiert. Auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur sagte ein CDU-Sprecher: “Es gab von ‘Bild am Sonntag’ weder eine Anfrage für das Motiv, noch ist die Werbeanzeige von der CDU freigegeben worden.” Auf Twitter kommentiert der “6-vor-9”-Kurator: “In passiv-aggressivem Tonfall kommentiert die CDU, die ‘Bild’-Werbung mit Laschet sei nicht genehmigt worden. Nur mal ne Frage, CDU: Wen habt Ihr für Laschets Imagepflege angeheuert? Ja, genau: Ex-‘Bild’-Chefin Tanit Koch. Also spart Euch die Krododilstränen und das Opfer-Getue.”

3. Wortungetüme und Bandwurmsätze – Wahlprogramme laut Studie unverständlich
(heise.de)
Die Wahlprogramm-Texte aus den Parteizentralen seien einer Studie (PDF) zufolge zwar so umfangreich wie nie zuvor – sie würden sich aber auch so schwer verstehen lassen wie kaum andere in der bundesdeutschen Geschichte. In den Programmen, so die Studienautoren der Universität Hohenheim, fanden sich Wortungetüme und Bandwurmsätze mit bis zu 79 Wörtern. Am formal verständlichsten sei laut “Hohenheimer Verständlichkeitsindex” das Wahlprogramm der Partei Die Linke, den letzten Platz belegen die Grünen.

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4. Historisches Fingerspitzengefühl
(taz.de, Sabine Seifert)
Engelbert Reineke war von 1966 bis 2004 als Fotograf im Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung tätig, davon 36 Jahre fest angestellt. “taz”-Redakteurin Sabine Seifert hat die berufliche Karriere Reinekes nachgezeichnet und ihn am Ende gefragt, wie er Angela Merkel fotografieren würde: “Erst mal gar nicht, sagt Reineke. Sie möge sich von ihren Pflichten erholen, den Ruhestand genießen. Fotografieren würde er sie dann nach ihrem 75. Geburtstag, das wäre im Jahr 2029. An der Ostsee bei schmuddeligem Wetter.”

5. Eine kleine Geschichtsstunde für Springer
(freitag.de, Karsten Krampitz)
Karsten Krampitz hat Texte von Sven Felix Kellerhoff, dem leitenden Redakteur Geschichte der “Welt”, gelesen und ist entsetzt. Bei der Springer-Tageszeitung wisse man nicht, wie Rosa Luxemburg aussah, und verbreite Falsches über einen verstorbenen SPD-Spitzenpolitiker: “Entweder hat der Kollege Kellerhoff völlig neue Quellen aufgetrieben – oder er verbreitet Lügen über einen toten SPD-Spitzenpolitiker, dessen Partei im Bundestagswahlkampf langsam aufholt.”

6. Tor, Tor, Tor: Fußball, Radio und viele Bilder im Kopf
(dwdl.de, Jochen Rausch)
Viele empfinden die Fußball-Live-Reportage als Königsdisziplin für Radio-Reporter und -Reporterinnen, vor allem wenn es über die volle Spiellänge geht. Jochen Rausch huldigt dem Genre, ist sich aber nicht sicher, wie es weitergeht: “Welche Rolle Audio in der digitalen Zukunft spielen wird, ist schwer einzuschätzen, es hängt unter anderem auch davon ab, wer die Verwertungsrechte hält, ob die Fans das Audioangebot in ausreichender Zahl wahrnehmen und sich Live-Events als digitale Audio-Produkte durchsetzen können, wie sich das Image des Profi-Fußballs generell entwickelt.”

Bild  

“Das ist schon sehr viel”, was bei “Bild TV” alles weggelassen wird

Bei “Bild TV” war am Mittwoch der Publizist und Verleger Wolfram Weimer zu Gast. Er kommentierte unter anderem einen Fall aus Leer, wo drei Asylbewerber eine 16-Jährige vergewaltigt haben sollen. Weimer sagte dazu:

Screenshot der Bild-TV-Sendung

Das Problem ist größer als öffentlich drüber geredet wird. Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, ich habe die mal mitgebracht, dann haben wir, die Zahlen sind ganz frisch, im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund. Das heißt, das sind jeden Tag 15. Wir haben jeden Tag 15 Fälle in Deutschland. Das ist schon sehr viel.

Und wenn man sich anguckt: Die Entwicklung, im Jahr 2016 waren das nur 3.400. Natürlich: Jeder Fall ist zu viel. Aber man sieht diesen dramatischen Anstieg. Wir haben einen Anstieg um 80 Prozent in wenigen Jahren. Aus einer ganz bestimmten Tätergruppe, man weiß, das sind die 18- bis 30-Jährigen eines ganz bestimmten Milieus. Und das Problem muss adressiert werden.

Mit den “Zahlen vom BKA” dürfte Wolfram Weimer das “Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2020” (PDF) des Bundeskriminalamts meinen, das im Juni veröffentlicht wurde. Darin geht es um Straftaten in unterschiedlichen Deliktsbereichen, darunter auch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Fokus dieser Sonderauswertung liegt auf Delikten, bei denen mindestens ein Zuwanderer oder eine Zuwanderin als tatverdächtig gelten. Das BKA schreibt dazu:

Analog den Festlegungen in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] gilt eine tatverdächtige Person in diesem Bundeslagebild als Zuwanderer/Zuwanderin, wenn sie mit dem Aufenthaltsanlass “Asylbewerber/-in”, “Schutzberechtigte/-r und Asylberechtigte/-r, Kontingentflüchtling”, “Duldung” oder “unerlaubter Aufenthalt” registriert wurde.

Bei den Angaben handelt es sich also nicht um verurteilte Täter, sondern um ermittelte Tatverdächtige (eine Unterscheidung, mit der die “Bild”-Redaktion häufiger Probleme hat, die aber ausgesprochen wichtig ist).

Wenn man sich dieses Lagebild tatsächlich “einmal anguckt”, wie Wolfram Weimer vorschlägt, erkennt man, dass seine Wiedergabe bei “Bild TV” teils so unvollständig, so einseitig oder schlicht so falsch ist, dass wir hier für eine umfassendere Darstellung ein paar Infos hinterherschicken wollen.

Vielleicht erstmal zu Weimers Rechenfähigkeiten. Bei einer Steigerung von 3.400 Fällen im Jahr 2016 (ganz genau sind es laut BKA 3.404) auf 5.719 Fälle im Jahr 2020, kommt er auf “einen Anstieg um 80 Prozent”. Richtig gerechnet sind das allerdings 68 Prozent. Die 80 Prozent, die Weimer nennt, sind aber ganz interessant, denn es gibt in der BKA-Statistik tatsächlich eine Steigerung von etwa 80 Prozent: Bei den aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt – also bei den Zahlen, die sich nicht nur auf tatverdächtige Zuwanderer beziehen, sondern auf alle Tatverdächtigen in Deutschland. 2016 waren es 37.442 Straftaten, 2020 67.656 – ein Plus von 80,7 Prozent. Das heißt also: Die Straftaten mit tatverdächtigen Zuwanderern sind im selben Zeitraum weniger stark gestiegen als die Straftaten aller Tatverdächtiger.

Eigentlich ist dieser Vergleich mit den Zahlen aus 2016 aber – ob nun bei den Zuwanderern oder insgesamt – sowieso nicht richtig sinnvoll. Denn es gab in der Zwischenzeit eine Gesetzesänderung, die die Statistik verzerrt. Da weist das BKA in seinem Bundeslagebild auch extra drauf hin:

Mit dem “50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung” vom 04.11.2016 wurden im Sexualstrafrecht Straftatbestände geändert und neue Straftatbestände eingeführt. Dies führt im Ergebnis dazu, dass im Bereich “Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall einschl. mit Todesfolge (§§ 177, 178 StGB)” ab dem Berichtsjahr 2017 ein Vergleich mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt möglich ist.

Wolfram Weimer macht es bei “Bild TV” trotzdem einfach. Hätte er ein anderes Jahr aus der Statistik genommen, hätte seine Erzählung auch nicht mehr so richtig gepasst: Für 2017 nennt das BKA 5.258 “Straftaten mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererin” – eine Steigerung bis 2020 von gerade mal noch 8,8 Prozent. 2018 sind es 6.046 Straftaten. Und seitdem sinkt der Wert: 2019 sind es 5.802 und 2020 die bereits erwähnten 5.719. So stellt das BKA in seinem Lagebild auch optisch extra groß heraus:

Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererinnen an Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung weiter rückläufig

Die Behörde schreibt dazu:

Während die Gesamtzahl der 2020 in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] registrierten aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Vergleich zum Vorjahr weiter angestiegen ist (+17,4 %; 2019: +12,7 %), sanken die Fallzahlen mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwanderin im Berichtsjahr um 1,4 %.

All das bleibt bei Weimers “Bild-TV”-Auftritt gänzlich unerwähnt. Genauso der Vergleich mit den 67.656 aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt in Deutschland im Jahr 2020. Dazu kein Wort von Weimer. Er nennt nur die Straftaten der tatverdächtigen Zuwanderer, liefert keinerlei Einordnung, lässt es so wirken, als wären Sexualstraftaten nur ein Zuwanderer-Problem, eine Sache “eines ganz bestimmten Milieus”. Stattdessen rechnet er 15 Fälle pro Tag aus und sagt: “Das ist schon sehr viel.” Insgesamt sind es noch viel mehr: 185 Fälle pro Tag.

Und dann noch zum Sprachlichen. Wenn Wolfram Weimer sagt: “Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, […] dann haben wir […] im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund”, dann ist das gleich doppelt irreführend. Einmal ist nicht endgültig juristisch geklärt, ob diese Personen wirklich die Täter sind. Und vor allem wirkt seine Aussage im Kontext der “Bild-TV”-Sendung so, als würde es sich bei den “5.719 sexuellen Übergriffen” um Delikte wie Vergewaltigungen handeln. Die 5.719 Fälle aus der BKA-Statistik decken aber das gesamte Feld der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ab – von exhibitionistischen Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses bis zu sexuellem Missbrauch. Darunter auch die Paragrafen 177 und 178 des Strafgesetzbuches, in denen es um “Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung” geht. Aber eben nicht nur.

Natürlich kann und soll man über Kriminalität von Zuwanderern berichten und diskutieren. Wir finden nur, dass man dann auch umfassend berichten sollte. Die einseitige Darstellung der BKA-Statistik durch Wolfram Weimer und “Bild TV” verfängt jedenfalls ganz wunderbar. In den Tausenden Kommentaren unter dem Youtube-Video sowie den Facebook- und Twitter-Posts von “Bild” gibt es reichlich Wut auf die Politik, auf “Mutti” Merkel, auf die Justiz, auf Zuwanderer. Und es gibt zahlreiche Danksagungen an die Redaktion, dass jetzt endlich mal jemand die Fakten auf den Tisch lege.

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Die Opfer von “Bild” (3)

In der vergangenen Woche haben die “Bild”-Medien mindestens 31 Mal Fotos von Menschen gezeigt, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind.

In drei Fällen waren die Gesichter verpixelt, in zwei Fällen die Augen. In 26 Fällen gab es keinerlei Verpixelung.

Nur in einem Fall haben Angehörige der Veröffentlichung laut “Bild”-Angabe zugestimmt (bei einem Mann, der in Tschechien bei einem Tornado ums Leben kam).

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Ohne erkennbare Zustimmung veröffentlichte die “Bild”-Zeitung (wie in der Woche zuvor auch schon in ihrer Onlineausgabe) Fotos einer Frau, die bei dem Messerangriff in Würzburg getötet wurde. Eines davon groß auf der Titelseite:

BILD-Titelseite: "Sie starb für ihre Tochter" - [...] warf sich schützend über ihr Kind als der Islamist bei Woolworth wütete", dazu ein großes Porträtfoto der Frau sowie ein kleineres Foto des Tatverdächtigen, der von der Polizei auf dem Boden festgehalten wird, dazu die Schlagzeilen "'Eklatanter Verdacht auf Terror'" und "Die Akte des Messer-Killers"
Doppelseite aus der BILD-Zeitung: Vier große Artikel zu den Messerangriffen: "DAS GROSSE SCHWEIGEN - Warum in Deutschland nicht offen über den Täter-Hintergrund geredet wird", außerdem "Bayerns Innenminister Herrmann stellt bei BILD Live klar: Es spricht einiges für 'islamistischen Terror'", außerdem "Politiker fordern Ehrung für die Helden von Würzburg", und: "Sterbend warf sich [...] auf ihr Kind", dazu ein großes Foto der Frau, die auf einer Wiese steht und in die Ferne schaut.
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag von uns.)

Woher die Fotos stammen, wird nicht ersichtlich. Eines sieht aus, als sei es durch eine Scheibe hindurch aufgenommen worden.

Bild.de zeigt auch das private Foto einer 16-Jährigen, die an einem Bahnübergang von einem Zug erfasst wurde und starb:

Screenshot von BILD.de: "[...] von Zug überfahren, weil Schranke offen war - Wärterin hätte gar nicht arbeiten dürfen", dazu ein Foto der 16-Jährigen und ein Foto der Unglückstelle

Und die Gesichter zweier Bergsteigerinnen, die in den Alpen ums Leben kamen:

Screenshot von BILD.de: "Rettungsdienst kam zu spät - Zwei Frauen in den Alpen erfroren", dazu ein Foto der beiden Frauen

“Bild am Sonntag” und Bild.de zeigen auch (erneut) Fotos von Menschen, die bei einem Gebäudeeinsturz in Miami starben:

Screenshot von BILD.de: "Hochhaus-Einsturz in Miami - Model telefonierte - dann hörte ihr Mann nur noch Schreie", dazu ein Porträtfoto der Frau und eine Luftaufnahme des eingestürzten Gebäudes
Screenshot von BILD.de: Ein Foto des lachenden Mädchens, dazu die Bilunterschrift "[...] (7),Tochter eines Feuerwehrmanns, wurde tot geborgen", darunter: "Foto: Quelle: Twiiter"

“Foto: Quelle: Twiiter” [sic!]

Veröffentlicht werden seit einigen Wochen auch immer wieder Bilder einer Frau, die in Griechenland getötet wurde, mutmaßlich von ihrem Ehemann (der ebenfalls immer wieder gezeigt wird):

Screenshot von BILD.de: "Bei ihren Eltern schnorrte der Killer Geld - für den Sarg!", dazu ein großes Foto der beiden, auf dem sie ihren Kopf auf seine Schulter legt
Screenshot von BILD.de: "[...] (20) vo den Augen ihrer Tochter getötet - Hat ihr Mann sie ermordet, weil er ein Dealer war?", dazu ein Foto des Mannes im Justizgewahrsam sowie ein Hochzeitsfoto des Paares

Am häufigsten zeigten die “Bild”-Medien in der vergangenen Woche – wie auch in der Woche davor – Fotos eines Paares, das auf dem Gardasee bei einer Kollision zweier Boote gestorben ist:

Screenshot von BILD.de: Foto einer Frau, die vor einer grünen Landschaft steht, Bildunterschrift: "[...] (25) wurde auf dem Grund des Gardasees entdeckt", "Foto: privat"
Screenshot von BILD.de: Foto eines Mannes, der vor einem See steht, Bildunterschrift: "Unternehmer [...] (37) lag tot in dem am Sonntag angespülen Holzboot", "Foto: privat"
Beerdigung von Gardasee-Opfer [...] - 'Wir werden ihr Lachen vermissen'", dazu ein Foto, auf dem ihr Sarg getragen wird sowie das Foto von ihr vor der grünen Landschaft
Screenshot von BILD.de: "Anwältin der Familie von toter [...] listet alle Vergehen auf - Die Schande der deutschen Totraser vom Gardasee", dazu ein großes Porträtfoto der Frau sowie das Bild-Plus-Logo
Ausriss aus der BILD-Zeitung: "Weiße Ballons für [...] (✝25) im Himmel, dazu Fotos der Beerdigung und ein großes Porträtfoto der Frau

Mindestens 18 Mal wurden ihre Gesichter bislang in “Bild”, “Bild am Sonntag” und bei Bild.de gezeigt.

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Nach einem Verbrechen oder Unglück in Social-Media-Profilen zu wühlen und daraus Fotos der Opfer zu veröffentlichen, ist redaktioneller Alltag bei “Bild”. Häufig erscheinen solche Fotos ohne jede Verpixelung und ohne Zustimmung der Angehörigen oder Hinterbliebenen.

In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar von Reportern bedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.

“Bild” begründet die Veröffentlichung solcher Bilder damit, dass “nur so” die Tragik “deutlich und fassbar” werde.

Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:

Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.

Pressekodex Richtlinie 8.2

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:

Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.

Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.

Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.

Wie “Bild” mit Kritik umgeht

Vergangene Woche hat der Deutsche Presserat mal wieder Rügen verteilt. Traditionell ganz vorne mit dabei: die “Bild”-Medien. Sieben der 17 ausgesprochenen Rügen gingen an “Bild”, Bild.de oder “Bild am Sonntag”, weil die jeweilige Redaktion …

  • … in einem Artikel über angebliche Alkoholprobleme einer Person berichtete, obwohl sich diese Person dazu nicht äußern wollte.
  • … in einem anderen Artikel private Sprachnachrichten derselben Person ohne deren ausdrückliche Einwilligung veröffentlichte.
  • … in einem Artikel unverpixelte Fotos des Täters und der Opfer eines Tötungsdelikts zeigte.
  • … in einem Artikel ein unverpixeltes Foto eines minderjährigen Opfers veröffentlichte, “offensichtlich ohne Einwilligung der Angehörigen”.
  • … in einem Artikel ein unverpixeltes Foto eines anderen minderjährigen Opfers zeigte.
  • … in einem Artikel ein Foto einer getöteten Frau veröffentlichte, das sie von deren Facebook-Seite genommen hatte, ohne Einwilligung der Angehörigen.

Auf die siebte Rüge wollen wir etwas detaillierter eingehen, weil der Vorgang dahinter wunderbar zeigt, wie die “Bild”-Redaktion und Chefredakteur Julian Reichelt mit Kritik umgehen. Und weil das problematische Verhältnis von “Bild” zur Wahrhaftigkeit deutlich wird.

In der März-Ausgabe der “Blätter für deutsche und internationale Politik” schrieb der Publizist Albrecht von Lucke eine lesenswerte ausführliche Analyse des TV-Projekts “Bild live”. Der Beitrag ist ausgesprochen kritisch. Schon im Teaser heißt es:

Die neueste Ideologieproduktion aus dem Hause »Springer«

Und im Text:

Kaum ein Politiker oder eine Politikerin, sieht man einmal von der Kanzlerin ab, der oder die sich den Anfragen von “Bild” entzöge; alle rennen – auch mangels anderer Live-Möglichkeiten im Corona- und Superwahljahr – dem neuen Sender förmlich das Studio ein. So etwa nach dem jüngsten Corona-Gipfel am 10. Februar, als sich Kanzleramtschef Helge Braun den Fragen von “Bild”-Vize Paul Ronzheimer stellte – im Laufband untertitelt nicht, wie sonst üblich, mit “Gespräch” oder “Interview”, sondern mit “Merkels wichtigster Mann im Verhör”. Ebenfalls kurz zuvor “im Bild-Verhör”: Gesundheitsminister Jens Spahn. Hier artikuliert sich die zugrundeliegende aggressive, fast schon inquisitorische Geisteshaltung – “Bild live” als die Stimme des Volkes gegen die Politikerkaste.

Die “Bild”-Redaktion griff Luckes Artikel auf, drehte dessen Aussage aber komplett um. Aus der scharfen Kritik an “Bild live” wurde am 27. Februar in “Bild” ein großes Lob für “Bild live”:

Ausriss Bild-Zeitung - Polit-Experte Albrecht von Lucke - Bild live ist die Stimme des Volkes

Er zählt zu den profiliertesten Politikexperten des Landes: Albrecht von Lucke (54), Autor zahlreicher Bücher (u.a. “Die gefährdete Republik”)!

Jetzt hat Lucke in einem Beitrag in “Blätter für deutsche und internationale Politik” den Erfolg des TV-Formats BILD live auf BILD.de gewürdigt. (…)

BILD Live sei “die Stimme des Volkes gegen die Politikerkaste”, konstatiert von Lucke.

Die von Lucke dargelegte “aggressive, fast schon inquisitorische Geisteshaltung” im “Bild”-TV-Studio lässt “Bild” lieber unerwähnt; das Selbstverständnis von “Bild live”, das Lucke der Redaktion zuschreibt, verdreht diese zu einer Bewertung von Lucke selbst. Und mal abgesehen davon, dass die “Bild”-Redaktion das alles gänzlich aus dem (kritischen) Zusammenhang reißt: Das wörtliche Zitat aus der Überschrift ist in dieser Form frei erfunden.

(Nur nebenbei bemerkt: Wie traurig und klein ist es eigentlich, dass die Redaktion der größten Zeitung Deutschlands es offenbar nötig hat, auf der eigenen Seite 2 einen Artikel darüber zu veröffentlichen, wie toll jemand anderes das eigene TV-Format vermeintlich findet?)

Für die Verfälschung des Zitats von Albrecht von Lucke gab es die bereits erwähnte Rüge vom Presserat. Der sah “einen gravierenden Verstoß gegen das Gebot zur wahrhaftigen Wiedergabe wörtlicher Zitate” und den “Bild”-Artikel generell als “Verstoß gegen das Gebot zur Wahrhaftigkeit nach Ziffer 1 des Pressekodex”.

Es handelt sich dabei nicht um einen einmaligen Ausrutscher. Dass sich die “Bild”-Redaktion aus Kritik ein Lob bastelt, oder dass sie Kritik an der eigenen Berichterstattung aus Zitaten streicht, kommt häufiger vor. Als sich beispielsweise Günter Wallraff mal anerkennend über eine “Bild”-Reportage äußerte, kürzte Bild.de die gleichzeitige “Bild”-Kritik aus dem wörtlichen Zitat Wallraffs einfach raus.


Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

In unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” geht es in einem ganzen Kapitel um den Umgang von “Bild” mit Kritik. Darin beschreiben wir das generelle Vorgehen der Redaktion und erwähnen unter anderem zwei weitere konkrete Beispiele. Hier ein Auszug:

Für die Macher der “Bild”-Medien ist das keine unbekannte Strategie, mit Kritik umzugehen: löschen, verschweigen, verstecken. Wenn sich zum Beispiel Prominente negativ über “Bild” äußern, gibt sich die Redaktion große Mühe, ihren Lesern diese Kritik vorzuenthalten. Als die Zeitung 2018 behauptet, Helene Fischer könne aufgrund eines Infekts womöglich “nie wieder singen” und habe einen “Wunderheiler aus den USA” einfliegen lassen, veröffentlicht die Sängerin einen langen Facebookpost über ihren Gesundheitszustand, in dem sie unter anderem schreibt, die Wunderheiler-Geschichte sei “totaler Quatsch”. Über diesen Beitrag berichtet auch “Bild”, druckt ihn in der Zeitung ab – setzt dabei eine Bildunterschrift jedoch exakt so, dass ausgerechnet die kritischen Worte von Helene Fischer verdeckt werden.

Ein ähnlicher Fall im Jahr darauf, als der TV-Moderator Walter Freiwald bekannt gibt, dass er unheilbar erkrankt ist. Bei Twitter schreibt er:

Bevor die @BILD oder @RTLde irgendwelche Unwahrheiten über meine Person verbreiten, will ich selbst mitteilen, dass ich unheilbar krank geworden bin und diese Krankheit nicht überleben werde.

“Bild” macht daraus kurzerhand:

“Bevor irgendwelche Unwahrheiten über meine Person verbreitet werden, will ich selbst mitteilen, dass ich unheilbar krank geworden bin und diese Krankheit nicht überleben werde.”

Für “Bild”-Kritik ist in “Bild” eben kaum Platz.

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Eriksen-Bilder nötig?, Festnahmen bei “Apple Daily”, Ronaldos Wasser

1. Medienethikerin zu Eriksen-Berichterstattung: “Bilder dienten der Sensationalisierung”
(rnd.de, Hannah Scheiwe)
Die Berichterstattung über den Zusammenbruch des Fußballers Christian Eriksen während eines EM-Spiels wirft Fragen nach der Verantwortung der Medien auf: Die einen kritisieren die Bilder als sensationslüstern, voyeuristisch und übergriffig, die anderen verteidigen das Zeigen der Aufnahmen mit dem Hinweis auf die Dokumentationspflicht. Die Medienethikerin Petra Grimm ordnet den Fall im Interview ein. Sie kritisiert das Vorgehen einiger Redaktionen, nimmt allerdings eine generelle Sensibilisierung in der Gesellschaft wahr: “Wir sind aber mittlerweile auch im Großen und Ganzen sensibler geworden bezüglich dessen, was als Tabu gilt oder nicht. Livebilder von Unfallsituationen werden weitgehend nicht mehr toleriert. Das ist eine positive Entwicklung.”
Weiterer Lesehinweis aus unserem BILDblog-Archiv: Bild.de zeigt kollabierten Christian Eriksen.

2. Trumpscher Wahlkampf
(kontextwochenzeitung.de, René Martens)
René Martens kommentiert die Anti-Grünen-Medienkampagne der Wirtschaftslobbyisten der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und führt ein interessantes, bislang wenig gehörtes Argument an: “Ein nicht unmaßgebliches Motiv für die Kampagne dürfte der Wunsch der Akteure gewesen sein, ihre Frauenfeindlichkeit ausleben zu können. Sie kommt unter anderem in der Verkindlichung der 40-jährigen Baerbock (‘Annalena und die zehn Verbote’) zum Ausdruck. Wäre Robert Habeck als Kanzlerkandidat angetreten – hätte die INSM dann die Formulierung ‘Robert und die zehn Verbote’ gewählt? Wohl kaum.”

3. 500 Polizisten gegen Hongkongs freie Stimme
(faz.net, Friederike Böge)
“Apple Daily”, die wichtigste Oppositionszeitung Hongkongs, war das Ziel einer Großrazzia: Etwa 500 Polizisten rückten an, nahmen mehrere Angestellte der Zeitung fest und beschlagnahmten Computer, Mobiltelefone und journalistische Aufzeichnungen. Außerdem sei die Anweisung ergangen, Vermögenswerte des Medienunternehmens im Wert von etwa zwei Millionen Euro einzufrieren. Der Gründer und Besitzer von “Apple Daily”, Jimmy Lai, sitze bereits seit Dezember 2020 im Gefängnis.
Weiterer Lesehinweis: Reporter ohne Grenzen fordert die sofortige Freilassung der festgenommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und des Verlegers und erklärt: “Die heutigen Festnahmen und die Durchsuchung zeigen, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um eines der letzten unabhängigen Medien und ein Symbol der Pressefreiheit in Hongkong zum Schweigen zu bringen.”

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4. Facebook drängt auf den Podcast-Markt
(spiegel.de)
Nach Informationen des Magazins “The Verge” wolle Facebook kommende Woche Podcasts auf seiner Plattform integrieren. Bereits diese Woche hat der Konzern den Testlauf eines Clubhouse-Klons gestartet. Auch Spotify will bei den Live-Formaten mitmischen. Dort wurde diese Woche die App Greenroom vorgestellt.

5. Krass: ZDF Sport hat seine Facebook-Seite (>500k Fans) geschlossen
(twitter.com, André Kroll)
Für André Kroll ist nicht nachvollziehbar, warum ZDF Sport seine über zwölf Jahre aufgebaute Facebook-Community mit mehr als 500.000 Followern einfach schließt und sich fortan nur noch auf andere Plattformen konzentrieren will: “Klar, macht Arbeit – aber die anderen Accounts auch. Und richtigen Sportjournalismus mit Diskussionen sehe ich bei TikTok bisher nicht. Sich nur auf die ganz Jungen zu fokussieren, halte ich auch für falsch. Nun ja.”

6. Ronaldo, Coke und der Journalismus, der nur schön sein muss – nicht wahr
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Habt ihr auch die Meldung gesehen, dass der Aktienkurs von Coca Cola eingebrochen sei, weil Portugals Fußball-Star Cristiano Ronaldo bei einer Pressekonferenz die Cola-Flaschen durch Wasser ausgetauscht hat? Dann seid ihr einer Falschinterpretation einiger Medien aufgesessen. Thomas Knüwer erklärt, wie es dazu kam.

Bild.de zeigt kollabierten Christian Eriksen

Beim Gruppenspiel der Fußball-Europameisterschaft zwischen Dänemark und Finnland ist der Däne Christian Eriksen auf dem Platz zusammengebrochen, lebensrettende Maßnahmen waren nötig. Laut Uefa ist Eriksen inzwischen wieder in einem stabilen Zustand, er befindet sich im Krankenhaus.

Während er auf dem Platz behandelt wurde, stellten sich Eriksens Mitspieler um ihn herum. Bild.de schreibt dazu in einer Bildunterschrift:

Schützend stehen die Dänen-Profis vor den medizinischen Maßnahmen an Eriksen

Als er vom Platz getragen wird, wird extra ein Sichtschutz aufgebaut. Bild.de:

Eriksen wird geschützt von Decken vom Platz getragen

Und obwohl sie weiß, dass alles mögliche dafür getan wurde, um den Spieler vor Blicken und Kameras zu schützen, zeigt die “Bild”-Redaktion online auf der Startseite ein großes Foto des gerade reanimierten Christian Eriksen auf der Trage:

Screenshot Bild.de - Nach Wiederbelebung auf dem Platz - Dänen-Star Eriksen stabil im Krankenhaus

Die Unkenntlichmachung stammt von uns, auf der Bild.de-Startseite, im Bild.de-Artikel und in einer “Bild-live”-Sondersendung ist Eriksens Gesicht unverpixelt zu sehen. t-online.de und n-tv.de verwenden die Aufnahme ebenfalls.

Zuvor hatte die “Bild”-Redaktion auch schon die ersten Momente nach Eriksens Zusammenbruch gezeigt: Auf einem Foto liegt der 29-Jährige regungslos auf dem Boden, seine Mitspieler sind zu ihm geeilt, einer von ihnen beugt sich runter und schaut nach, was mit Eriksen los ist. Die Aufnahme veröffentlichte die Redaktion in einem Artikel bei Bild.de und bei Twitter:

Screenshot eines Tweets der Bild-Redaktion - Grausame Bilder bei der EM: Dänemark-Star kämpft um sein Leben
(Diese Unkenntlichmachung ist ebenfalls von uns.)

Auch dieses Foto haben die “Bild”-Leute ohne jegliche Verpixelung veröffentlicht. Den Tweet haben sie inzwischen gelöscht, das Foto bei Bild.de ersetzt – durch jenes, das Christian Eriksen auf der Trage zeigt.

Nachtrag, 13. Juni: Noch als Ergänzung: Neben den oben genannten Aufnahmen veröffentlichte Bild.de auf der Startseite auch ein Foto auf dem aus etwas Entfernung die Reanimation zu sehen ist. Dazu die Überschrift: “Grausame Bilder bei der EM – Dänemark-Star kämpft um sein Leben”. “Der Westen” zeigt ein ähnliches Foto, auf dem auch Eriksens schockierte Mitspieler zu sehen sind, die sich als Sichtschutz vor ihren Teamkollegen positioniert haben, und schreibt dazu: “Spieler und Fans konnten nicht hinsehen, als Christian Eriksen wiederbelebt wurde.”

Ein Jahr Corona in “Bild”

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist ab heute überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Kein Thema hat die Berichterstattung der “Bild”-Medien in der jüngeren Vergangenheit so sehr bestimmt wie die Corona-Pandemie. Aber wie genau sah diese Berichterstattung aus? Wie hat sich die Redaktion positioniert? Was war gut und was schlecht? Schaut man sich an, wie “Bild” im Jahr 2020 über das Coronavirus berichtet hat, lassen sich neun Phasen erkennen. Diese sind nicht komplett trennscharf, sie überlappen sich teilweise oder laufen parallel.

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Die Kennenlernphase (Januar 2020)

Es ist nur eine kurze Meldung, gerade mal 18 Zeilen lang, unauffällig platziert auf Seite 10 neben einem Ratgeberbeitrag, der erklärt, wie die Vorsätze für das neue Jahr “wirklich zu schaffen sind”. Überschrift: “SARS in China ausgebrochen?”

In der chinesischen Großstadt Wuhan ist eine mysteriöse Lungenkrankheit ausgebrochen. Bislang seien 27 Erkrankte identifiziert worden. Laut Experten sei die Ursache der Erkrankung derzeit noch unklar. Das chinesische Parteiorgan “Volkszeitung” spricht von “schweren Lungenentzündungen”. Beobachter befürchten jedoch, das SARS-Virus könnte die Ursache für die Erkrankung sein.1

An diesem 2. Januar 2020 schreibt “Bild” erstmals über das, was sich zur weltweiten Pandemie entwickeln wird.

In den folgenden Tagen passiert erst mal: nichts. Fast drei Wochen dauert es, bis in “Bild” zum ersten Mal von “Corona” die Rede ist. Am 22. Januar erscheint ein Artikel über einen “Berliner Professor”, der das “Corona-Virus” entschlüssele. Gemeint ist der Virologe Christian Drosten. Zu diesem Zeitpunkt gebe es “schon 6 Tote in China”, schreibt die Redaktion auf Seite 6:

Das neue Corona-Lungenvirus breitet sich auf dem asiatischen Kontinent aus.

Die Zahl der Infizierten stieg in China auf 291. Dazu kommen Fälle in Thailand, Japan, Südkorea, Taiwan und sogar in den USA. Sechs Menschen starben bereits.

Noch wird das Risiko einer Ausbreitung auch in Deutschland als gering gewertet.2

“Bild” zitiert Drosten mit: “Wir müssen uns in Deutschland darauf vorbereiten, dass es zumindest in Einzelfällen auch zu Einschleppungen der Erkrankung kommt.”

Von nun an geht es ganz schnell, exponentiell sozusagen. Bereits einen Tag später fragt “Bild”: “CORONA-VIRUS – Panikmache oder echte Gefahr für die Welt?”3 Schon jetzt haben die Layouter den Artikel in das Gelb getunkt, das sie traditionell bei Seuchen verwenden4 und das die Berichterstattung des kommenden Jahres optisch prägen wird. Am 27. Januar sind laut “Bild” “Europas Flughäfen in Alarm-Bereitschaft”, denn: Das “Corona-Virus breitet sich rasant aus – viele weitere Fälle”.5 Zwei Tage später dann die erste Corona-Titelseite: “Bundeswehr rettet Deutsche aus der Seuchen-Zone +++ Sondermaschine startet heute nach China +++ Schon vier Corona-Fälle in Deutschland +++ Botschaft organisiert Krisentreffen +++ Ansturm auf Schutzmasken +++ Was Sie jetzt wissen müssen”. Ein “Bild”-Redakteur schreibt im Kommentar: “Keine Panik!”, schließlich gelte: “Fast so schlimm wie ein Virus ist die Angst davor.”6

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Die Angst- und Alarmphase (Januar bis März 2020)

Nur einen Tag nach diesem Versuch, die Leserschaft etwas zu beruhigen, titelt “Bild”: “Deutsche China-Rückkehrer auf Isolier-Station – Corona-Angst!”7 Auch einen Tag später: “Corona-Angst – China-Rückkehrer werden HIER isoliert!” Im Blatt schlägt die Redaktion “Corona-Alarm auf Kreuzfahrtschiff” und schreibt von der “Sorge um Weltwirtschaft”.8 Wiederum einen Tag später steht auf Seite 1: “CORONA-ALARM in Deutschland, Vater und Tochter (5) erkrankt – Hier holen sie die erste Familie ab”. Dazu zeigt “Bild” ein großes Foto einer (immerhin verpixelten) Familie, die von Menschen in Schutzanzügen in Rettungswagen gebracht wird.9 “Bild am Sonntag” bietet am Tag darauf eine Übersicht über die “Seuchen der Angst” der vergangenen Jahre.10

Auch auf der Bild.de-Startseite herrscht zu dieser Zeit vor allem Verunsicherung, Ungewissheit und Angst: “CORONAVIRUS KAM DIREKT AUS DER SEUCHENZONE”11, “VIRUS-ANGST IN DEUTSCHLAND! Apotheken gehen die Schutzmasken aus”12, “Schlangen sollen das Coronavirus auf uns übertragen haben”13, “Ist es gefährlich, Pakete aus China anzunehmen?”14

Nachdem ein erster Corona-Ausbruch in Bayern15 unter Kontrolle zu sein scheint, verschwindet das Virus fast vollständig wieder von der “Bild”-Titelseite. Andere Themen sind wichtiger: “AKK gegen Merkel – Bitterböser Machtkampf”16, “Nach AKK-Abgang – MERZ KÄMPFT UM DIE MACHT IN DER CDU”17, “Deutschlands schlimmste Rentner-Abzocker gefasst!”18 Die Corona-Meldungen, die es nach ganz vorne schaffen, klingen fast schon hoffnungsvoll: “CORONA-Rückkehrer aus Quarantäne entlassen!”19, steht am 17. Februar auf Seite 1.

Eine Woche später ist es mit der Hoffnung allerdings vorbei. Die Schlagzeilen der Woche lauten:

• CORONA-ALARM! Italien riegelt Städte ab
• Minister Spahn schlägt CORONA-ALARM – “Die Epidemie ist in Europa angekommen”
• CORONA-AUSBRUCH im Rentner-Paradies – Deutsche Touristen im Hotel auf Teneriffa gefangen
• CORONA – So schützen Sie sich JETZT!
• Regierung beruft Expertenrunde ein – Der Krisen-Plan gegen Corona
• Corona-Verdacht im Regierungs-Flieger
• Wochenende im Bann von CORONA – Weltgrößte Tourismus-Messe in Berlin abgesagt +++ Konzerte, Fußballspiele auf der Kippe +++ Schon 54 Infizierte +++ Dax rauscht ab +++ Autogramm-Verbot für Bayern-Spieler +++ ERSTER HUND positiv +++ WHO löst “höchste Alarmstufe” aus +++ BILD sagt, was Sie jetzt beachten müssen20

Bei Bild.de ist die Stimmung dieselbe. Obendrauf kommen Fotos von leeren Supermarktregalen und Anleitungen zu “Hamsterkäufen”: “FAMILIENVATER ZEIGT SEINEN VORRATSKELLER – Wegen Corona! Das habe ich für 420 Euro eingekauft”.21 “Hohe Verkaufszahlen bei Aldi und Lidl – Hamsterkäufe wegen Coronavirus!”22 Die “Bild”-Redaktion treibt ihre Leserschaft in die schon teilentleerten Supermärkte: “CORONA-ANGST IN DEUTSCHLAND – Diesen Vorrat brauchen Sie für zehn Tage Quarantäne!”23 Und damit es auch schmeckt, erzählt Koch Johann Lafer bei “Bild-TV”: “Das können Sie aus Ihren Corona-Vorräten kochen”.24 Nur eine Woche später meldet “Bild”: “TAFELN SCHLAGEN ALARM – Wegen Hamstereinkäufen! Weniger Essen für Bedürftige”.25

Die Redaktion macht (nicht nur) in dieser Zeit aus der Angst der Leser Geld. Sie eröffnet mit fragenden Überschriften teils ganz alltägliche Schreckensszenarien und gibt die Antworten nur hinter der “Bild-plus”-Paywall: “BILD fragte bei Hersteller Hakle nach – Kann Klopapier wirklich knapp werden?” (Antwort: Nein).26 Oder: “ITALIEN SCHLIESST ZAPFSÄULEN – Machen auch bei uns die Tankstellen dicht?” (Antwort: Nein).27 Und: “Fast 100 Milliarden Euro fehlen – GEHT DEUTSCHLAND PLEITE?” (Antwort: Nein, “Deutschland kann kaum pleite gehen”).28 Es scheint “Bild” nicht darum zu gehen, die Leserschaft ordentlich und gewissenhaft zu informieren, sondern um den Verkauf von Abos: In der “Amazon”-Doku “BILD.Macht.Deutschland?” sagt Julian Reichelt in einer Redaktionskonferenz mit Blick auf die Corona-Krise: “Es geht darum, dass wir in einer Zeit, in der unsere Auflage morgen um die Hälfte einbrechen kann, eine wirtschaftliche Perspektive haben.”29

Wie folgenreich die “Bild”-Berichterstattung in einer derart angespannten Situation sein kann, zeigt sich am 22. März. Im Corona-Liveticker bei Bild.de erscheint eine Meldung zum Ortenau-Klinikum in Offenburg. Überschrift: “Das Klinikum Offenburg sucht händeringend Helfer!”30 Im Text steht:

Das Klinikum Offenburg (Baden-Württemberg) ist am Limit – und richtet diesen Appell an die Öffentlichkeit: Dringender Appell an euch!

Wir benötigen im Klinikum Offenburg dringend helfende Hände. Ob mit oder ohne medizinische Erfahrung spielt keine Rolle. Es gibt Bedarf in der Küche, an der Pforte, Essen verteilen, Betten schieben. Und wer medizinische Kenntnisse hat im pflegerischen Bereich.

Wer jemand kennt, der jetzt zum Beispiel in Kurzarbeit ist, bitte melden. Per E-Mail: […] oder telefonisch […].31

Die “Bild”-Redaktion nennt eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer, die man anschreiben beziehungsweise anrufen soll, wenn man helfen möchte. Nur: Das Klinikum sucht gar nicht “händeringend Helfer”. “Bild” scheint blindlings aus einer kursierenden WhatsApp-Nachricht abgeschrieben zu haben. Die Redaktion von “Hitradio Ohr” fragt hingegen mal beim Klinikum nach:

Auf HITRADIO OHR-Anfrage hieß es heute (Sonntag) vom Ortenau Klinikum, das sei wohl Fake News.

Es gebe Überlegungen, ob das irgendwann nötig sei und intern gebe es beim Ortenau Klinikum die Überlegung, ob man sich – wenn sich die Situation verschlechtere – auch an die Öffentlichkeit wende. Das sei aber nur eine Idee und momentan KEIN Aufruf an die Bevölkerung. Beim Klinikum stehe wegen des “Fake-Aufrufs” das Telefon nicht mehr still.32

Nun ist es eine Sache, dass die Mitarbeiter des Klinikums auch dank “Bild” auf “rund 1000 Anfragen” reagieren müssen und damit nicht ihrem eigentlichen Job nachgehen können. Dazu kommt, dass die Meldung in dem Liveticker den Eindruck vermittelt, dass ein Krankenhaus die Situation nicht mehr im Griff hätte und bereits “am Limit” wäre. Das Ortenau Klinikum sieht sich genötigt, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Es veröffentlicht eine Stellungnahme und betont, dass man “bestens ausgestattet” sei.33

Erst nach mehreren Stunden löscht Bild.de die Falschmeldung und schreibt in einer späteren Liveticker-Meldung, dass ein gefälschter Appell des Klinikums Offenburg im Umlauf sei. Die eigene Rolle bei dieser Geschichte bleibt unerwähnt.

Von solchen Fehltritten abgesehen, macht die “Bild”-Redaktion in den ersten Monaten des Jahres 2020 aber gar keinen schlechten Job. Viele Artikel sind stark boulevardesk und emotional aufgeladen; die Berichterstattung ist rückblickend im Umfang und in ihrer Dringlichkeit der Bedrohung und der potenziellen Entwicklung allerdings durchaus angemessen. Selbst “Bild”-Chef Julian Reichelt klingt ungewohnt versöhnlich. Am 9. März kommentiert er:

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass es nicht auf jede Frage eine gute Antwort, nicht für jede Sorge sofortige Beruhigung gibt.

Aber eben auch, dass wir als Land in dieser Situation in bestmöglichen Händen sind: Unsere medizinische Versorgung ist überragend, unsere Ärzte sind pflichtbewusst und engagiert, deutsche Experten und Virologen genießen weltweit einen exzellenten Ruf und die Politik mit Gesundheitsminister Jens Spahn reagiert konsequent, aber besonnen.34

Bei einer Person scheinen sich Reichelt und “Bild” hingegen nicht “in bestmöglichen Händen” zu fühlen: bei Bundeskanzlerin Angela Merkel.

***

Die Anti-Merkel-Phase (ab Ende Februar 2020, seitdem andauernd)

Am 28. Februar schreibt Bild.de: “Nur Merkel kneift in Sachen Corona-Krise”. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, Italiens Premier Guiseppe Conte und US-Präsident Donald Trump mit Reden ihre Bürger beruhigen würden, sei von Angela Merkel nichts zu hören oder zu sehen: “Deutschland in der Corona-Krise. Und wo steckt die Kanzlerin?”35 Am 11. März, also zwei Tage nach Julian Reichelts Lobeshymne auf die “bestmöglichen Hände”, in denen sich Deutschland befinde, titelt “Bild” groß: “Kein Auftritt, keine Rede, keine Führung in der Krise – Die Kanzlerin und das CORONA-CHAOS”. Merkel sei kaum zu sehen und äußere sich zu Corona nur wenig, kommentiert der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer: “Sie lässt die Bevölkerung allein. Dabei müsste sie jetzt Führung zeigen!”36

Wie wichtig eine Stellungnahme der Kanzlerin in den entscheidenden Fragen für “Bild” ist, zeigt sich einen Tag später. Merkel sitzt mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher in einer Pressekonferenz, die anwesenden Journalisten können Fragen stellen. Als erster ist der Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros dran. Er fragt, welche Auswirkungen das alles jetzt “auf die Wiesn in Bayern” habe.37

Die TV-Ansprache, die Angela Merkel am 18. März hält38 und die viele Menschen bewegt39, reicht “Bild”-Chef Julian Reichelt nicht. In einem langen Kommentar schreibt zwar auch er, dass Merkel “den richtigen Ton getroffen” habe, “doch inmitten emotionaler Appelle zum Ernst der Lage blieb sie der Bevölkerung das Wichtigste schuldig: eine Erklärung, was SIE persönlich in ihrem Amt für die Menschen tun wird.” Reichelt feuert daraufhin eine lange Reihe von Vorwürfen ab, die als Fragen formuliert sind, in denen er die Kanzlerin attackiert und sich als Kämpfer für all jene inszeniert, “die seit Jahren die Steuerkassen füllen”. Auf dem Spiel stehe “alles, was wir uns seither aufgebaut und erarbeitet haben”. Merkel solle endlich sagen, wie sie den Menschen helfen wolle, “mit dem Geld, das wir alle erarbeitet haben”. Er schreibt Sachen wie:

Wo bleibt das Versprechen der Kanzlerin, dass deutsche Kernindustrien wie der Autobau und die Luftfahrt auch nach der Corona-Krise international wettbewerbsfähig bleiben werden? Wenn am Ende dieser Gesundheitskrise Massenarbeitslosigkeit steht, überlassen wir das Land mit Ansage den Extremisten.

Oder er fragt, wo das Versprechen der Kanzlerin bleibe, “dass China, das aus der selbst verschuldeten Epidemie nun Profit schlagen will, keine deutschen Unternehmen erwerben und keinen Zugang zu deutscher Infrastruktur bekommen wird”.40 Solche Dinge will er wissen, zu einem Zeitpunkt, an dem man noch nicht mal sicher sagen kann, ob die Wiesn nun stattfinden können oder nicht.

Einer macht es aus “Bild”-Sicht deutlich besser als Angela Merkel. Nachdem Österreichs Kanzler Sebastian Kurz laut “Bild” “CORONA-KLARTEXT” gesprochen hat, schreibt die Redaktion sehnsüchtig: “So einen brauchen wir auch!” Es seien “nur 520 Kilometer zwischen Berlin und Wien. Aber in der Corona-Krise fühlt sich Österreich an wie eine andere Welt”:

Während Kanzlerin Angela Merkel (65, CDU) angeschlagen wirkt, sich mit den Ministerpräsidenten auf keine gemeinsame Linie einigen kann, zeigt Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (33) Führungsstärke.

Fast täglich steht er kerzengerade vor den TV-Kameras, präsentiert eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen: Kaffeehäuser nur noch bis 15 Uhr geöffnet. Alle nicht dringend benötigten Läden sind geschlossen. Die Ski-Orte St. Anton und Ischgl abgeriegelt. Schulen sind längst dicht.

Kurz zeige: “SO geht der Shutdown eines ganzen Landes!”41

Die Idee, Deutschland herunterzufahren, findet bei “Bild” Unterstützung. In einem “DAS-MEINT-BILD”-Kommentar schreibt die Redaktion, dass “wir beweisen” müssten, “dass wir nicht nur 82 Millionen Einzelpersonen sind, sondern eine Gemeinschaft”:

Jetzt muss jeder von uns ein Vorbild sein!

Die Politik darf bei harten Maßnahmen gegen das Virus nicht zögern. Wenn Gesundheitsminister Jens Spahn und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vorübergehend Schulen schließen wollen, dann verdient das die Unterstützung der Bevölkerung. Dies dient unserem Schutz.42

Bei “Bild-TV” warnt ein Arzt: “Deutschland braucht den kompletten Shutdown!”43 Am 22. März beschließen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten tatsächlich umfangreiche Kontaktbeschränkungen.44 Und die “Bild”-Berichterstattung legt eine bemerkenswerte Kehrtwende hin.

***

Die Wieder-öffnen-Phase (März bis Mai 2020)

Bis hierhin hat “Bild” wiederholt und eindringlich klargemacht, welche “Angst” man vor dem Coronavirus haben müsse, wie schrecklich untätig Angela Merkel sei, wie sehr es “unserem Schutz” diene, wenn beispielsweise die Schulen geschlossen werden, und wie führungsstark Sebastian Kurz “eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen” präsentiere. Nun machen Merkel und ihre Regierung ziemlich genau das, was “Bild” fordert – und das ist nun auch wieder falsch.

Gerade mal vier Tage nach dem Beschluss zu den Kontaktbeschränkungen, am 26. März, lässt “Bild” “CORONA-SKEPTIKER FRAGEN: ,Sind Löscharbeiten verheerender als der Brand?‘”45 Am 28. März titelt “Bild” groß: “Riesen-Wirrwarr um Kampf gegen Corona – Maßnahmen lockern oder nicht?”. Im Blatt fragt die Redaktion ungeduldig: “Wann sollen die Corona-Regeln denn nun gelockert werden?”46 Wieder zwei Tage später fragt ein “Bild”-Kolumnist: “WIE LANGE HALTEN WIR DAS DURCH?” Einen Tag später schreibt er: “Wir hören zu viel auf Virologen!” Auf der Titelseite derselben Ausgabe ruft die Redaktion einen “nationalen Kraftakt gegen Corona” aus (als würden Politiker und viele andere Menschen nicht schon seit Wochen kraftakten): “BILD sagt, was SOFORT passieren muss”. Neben der Forderung, dass Kanzlerin Merkel “jeden Tag zum Volk sprechen” müsse, und dem genialen Einfall, dass ein “neues Wirtschafts-Wunder” doch ganz praktisch wäre, ist für “Bild” von besonderer Bedeutung, dass die Fußball-Bundesliga endlich wieder ihren Betrieb aufnehmen dürfen soll.47 Dieser Wunsch könnte nicht ganz uneigennützig sein: Die Sport-Berichterstattung, und dort speziell die Fußball-Bundesliga, ist für die “Bild”-Medien immens wichtig.

In Österreich rückt Kanzler Kurz von seinen “Knallhart-Maßnahmen” ab und beschließt, dass ab Mitte April einzelne Läden wieder aufmachen dürfen. Die “Bild”-Redaktion ist erneut hin und weg: “DER KURZ-PLAN – So was wollen wir auch!” Auf Seite 1 schreibt sie: “NEUSTART NACH CORONA – Ösis machen‘s uns vor – Erste Geschäft in Österreich ab 14. April wieder geöffnet – aber Merkel bleibt hart”.48

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass die “Bild”-Berichterstattung vor allem einem Grundsatz folgt: Hauptsache dagegen. Bis zu den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen am 6. Mai49 schreiben die “Bild”-Medien konsequent gegen die Einschränkungen an: “Kanzlerin, machen Sie unser Land wieder auf!”, fordert “Bild” am 15. April auf der Titelseite.50 Es geht um “Chaos um Corona-Regeln”51, die Redaktion lässt einen Chefarzt im Blatt fordern: “MACHT DIE KLINIKEN WIEDER AUF … und zwar FÜR ALLE!”52 Bild.de berichtet über “DIE WUT DER WIRTE”53 und schreibt zu möglichen “CORONA-LOCKERUNGEN”: “Merkel will nicht, aber muss!”54 Die “Bild am Sonntag” titelt am 12. April: “WIR WOLLEN ZU HAUSE BLEIBEN!” Was erstmal wie eine Forderung nach einer Lockdown-Verlängerung klingt, ist das Gegenteil: “Ein Aufruf von 28 Prominenten über 70”, die anbieten, zu Hause zu bleiben, “damit die Jungen eine Zukunft haben und die Wirtschaft nicht kollabiert”. Oder anders gesagt: Die Alten bleiben drin, damit alle anderen wieder raus und loslegen können. Keine dieser 28 Personen dürfte übrigens bei einer Umsetzung des Plans in einer winzigen Wohnung ohne Balkon festsitzen. Die Wir-wollen-zu-Hause-bleiben-Promis auf der “BamS”-Titelseite sind größtenteils Millionäre und Milliardäre wie Dietmar Hopp, Friede Springer und Hubert Burda.55

Personen, die sich nicht auf “Bild”-Linie befinden und sich nicht für Lockerungen, sondern eher für strengere Maßnahmen aussprechen, bekommen von der Redaktion Gegenwind. Auch und gerade Wissenschaftler.

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Die Anti-Drosten-Phase (April bis Mai 2020)

“Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht”, schreibt “Bild” am 26. Mai groß auf Seite 1. Im Blatt lautet die Überschrift: “Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch”. Es seien “FRAGWÜRDIGE METHODEN” zum Einsatz gekommen.56 Im Artikel liefert der Autor allerdings keinen einzigen Beleg für die auf der Titelseite hergestellte Kausalität zwischen Studie und geschlossenen Schulen und Kitas. Stattdessen versucht er, die bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorgesehenen kritischen Überprüfungen durch andere Wissenschaftler als eine Art Zoff zwischen Forschern darzustellen.

Die “Bild”-Geschichte wird stark kritisiert. Sogar von den Wissenschaftlern, die “Bild” im Beitrag als Kronzeugen gegen den Virologen Christian Drosten anführt. Sie alle distanzieren sich umgehend von dem Bericht. Einer schreibt bei Twitter, dass er “nicht Teil einer Anti-Drosten-Kampagne sein” wolle.57 Ein anderer stellt klar: “Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen auf das schärfste.”58

Bereits einen Tag zuvor veröffentlicht Christian Drosten bei Twitter einen Screenshot einer E-Mail des “Bild”-Autors. Dieser wollte, dass der Wissenschaftler Fragen zu seiner Studie beantwortet, und räumte dafür lediglich eine Stunde ein. Drosten schreibt bei Twitter, er habe “Besseres zu tun”. Anfangs ist in dem Screenshot auch die Handynummer des “Bild”-Mitarbeiters zu sehen. Nach Kritik löscht Drosten diesen Tweet wieder und postet die “Bild”-Anfrage noch einmal, diesmal ohne Handynummer.59

Das Verhalten von “Bild” sorgt für größeres Entsetzen – über die Schärfe des Angriffs, den aufgebauten Druck in der Anfrage, das Hochjazzen einer eigentlich vorsichtigen Formulierung des Virologen, das Unverständnis der Redaktion für wissenschaftliche Abläufe und Diskussionen, die falsche Verknüpfung zwischen Drostens Studie und Schulschließungen.60 Die Medienforscherin Johanna Haberer sagt zur Anti-Drosten-Kampagne von “Bild”: “Der Boulevard lebt von Angst und Unsicherheit. Und natürlich kann man einen Wissenschaftlerkonflikt zu einem persönlichen Kleinkrieg hochkochen. Beim Thema Gesundheit ist das allerdings fahrlässig.”61

Die “Bild”-Kampagne gegen Christian Drosten läuft zu diesem Zeitpunkt schon einige Wochen. In einer Reihe von Beiträgen wird Drostens Autorität als Wissenschaftler untergraben 62, die Redaktion arbeitet genüsslich frühere Fehleinschätzungen heraus63, stellt ihn als Einflüsterer dar, macht ihn zum Kollegenschwein64. Sie reißt Aussagen aus dem Zusammenhang, verfälscht zeitliche Abläufe und erfindet Behauptungen.65 Dazu inszeniert sie eine Art Seifenoper: Es gebe einen “Virologen-Clinch um CORONA-STUDIE”66 zwischen Hendrik Streeck und Christian Drosten, inklusive “zweiter Runde”67. Es ist eine Trivialisierung und Boulevardisierung von Wissenschaft. Die Bild.de-Leser können zum Beispiel abstimmen: “Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?”68 Das Ergebnis ist eine Mischung aus Ranking und Quartettspiel mit Angaben zum “Spezialgebiet”, dem Privatleben und dem jeweils “größten Irrtum”.69

Im Artikel “DREI EXPERTEN, DREI MEINUNGEN – Wie sehr kann man sich auf unsere Virologen verlassen?” erklärt “Bild” Drosten Ende April zum “Corona-Flüsterer der Kanzlerin” und gibt ihm damit etwas Rasputinhaftes.70 Im großen Vertrauen, das Angela Merkel dem Virologen entgegenbringt, und im daraus resultierenden Einfluss Drostens könnte sich der eigentliche Kern der massiven Kritik der “Bild”-Redaktion verstecken: Ihre Anti-Drosten-Kampagne ist im Grunde eine Verlängerung ihrer Anti-Merkel-Kampagne.71

Andere Personen, tatsächliche oder vermeintliche Experten, mit denen “Bild” einer Meinung ist, werden im Vergleich deutlich freundlicher behandelt.

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Die Klügste-Köpfe-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Am 8. Mai, nur zwei Tage nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten, den Lockdown zu beenden, hat “Bild” im Blatt “Deutschlands klügste Corona-SKEPTIKER” zusammengetrommelt.72 Sie “KRITISIEREN DIE HARTEN MASSNAHMEN”: Der “Lockdown war ein Riesen-Fehler”.73 Einer dieser sechs “honorigen Meister ihres Fachs” ist der Professor Stefan Homburg. Am Tag nach Veröffentlichung des “Bild”-Artikels steht Homburg in Stuttgart auf der Bühne einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen und behauptet, dass die Wissenschaftler, die die Bundesregierung zur Corona-Pandemie zurate zieht, “weitgehend korrumpiert” seien. Außerdem sagt er, dass er inzwischen besser verstehe, was 1933 bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten passiert sei.74 Später verschärft er diese Aussage bei Twitter: “Das hier IST 1933.”75 Schutzmasken hält Homburg für “Sklaven-Masken, mit denen die Bevölkerung psychisch niedergehalten werden soll”.76 Er schürt Ängste vor der Corona-Impfung, indem er twittert: “Selbst wenn nur einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt, macht das bei Durchimpfung der deutschen Bevölkerung rund 80.000 Impftote.”77 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass “einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt”. In der Phase-III-Studie des Impfstoffs von Pfizer und BioNTech beispielsweise gab es unter den rund 43.500 Probanden keinen einzigen Todesfall.78 Homburgs verschiedensten Behauptungen wurde in zahlreichen Faktenchecks widersprochen.79

Ein weiterer “honoriger” Experte ist Klaus-Dieter Zastrow, den die “Bild”-Medien meist als “Hygiene-Papst” präsentieren.80 Zastrow sagt, die Gefahr einer zweiten Infektionswelle sei “ein Hirngespinst”.81 Auf der “Bild”-Titelseite vom 6. Mai ist ein Foto von ihm zu sehen, dazu die Überschrift: “Hygiene-Papst sicher – Es wird KEINE zweite Welle geben”.82 Ein paar Monate später kommt die zweite Welle doch.83 Am 29. September knöpft sich Zastrow Angela Merkel vor. Die Kanzlerin hatte vorgerechnet, dass es in Deutschland bis Weihnachten 2020 bis zu 19.200 Neuinfektionen pro Tag geben könnte.84 Für Zastrow ist das “purer Alarmismus”, das habe “nichts mit der Realität zu tun.”85 Tatsächlich trat das Szenario der Kanzlerin noch viel früher ein als von ihr prognostiziert.86 Kaum ein anderer Experte kommt zu dieser Zeit in der Corona-Berichterstattung der “Bild”-Medien so häufig zu Wort wie Klaus-Dieter Zastrow.

Neben Homburg, Zastrow und drei weiteren Professoren gehört laut “Bild” auch eine “Journalistinnen-Legende” zu den sechs “klügsten Corona-SKEPTIKERN” des Landes: Patricia Riekel, früher Chefredakteurin des Peoplemagazins “Bunte”.87 “Sie wäre lieber dem schwedischen Weg der Mahnungen statt Verbote gefolgt”, schreibt “Bild” über Riekel. Es ist keine große Überraschung, dass die Redaktion sie dafür lobend erwähnt.

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Die Oh-wie-schön-ist-Schweden-Phase (Mai bis Dezember 2020)

Monatelang ist Schweden, wo die Corona-Maßnahmen lange Zeit auf Empfehlungen und Freiwilligkeit basieren88, für die “Bild”-Redaktion das Nonplusultra. “Mehr Schweden wagen!”, fordert ein “Bild”-Kommentator im Juli.89 Der Leiter des Ressorts “Meinung” schreibt im September über “Drei Schweden-Wahrheiten, die niemand hören will”90 und berichtet im Oktober: “Deutschland macht dicht, Schweden auf!”91 Bei “Bild-TV” läuft eine Doku über “SCHWEDENS SONDERWEG DURCH DIE CORONA-KRISE”: “,Wir leben hier unser normales Leben weiter‘”.92 In der “Bild”-Zeitung gibt es zeitweise sogar eine eigene tägliche Rubrik: “Und wie geht‘s SCHWEDEN?” Am 11. Mai ist dort beispielsweise zu lesen, dass Stars in der Hauptstadt Konzerte gäben, “trotz Corona”:

In Schweden finden wieder vermehrt Kultur-Veranstaltungen mit Publikum statt.

Im Mai werden u.a. Burlesque-Star Dita von Teese und Sänger Randy Newman Auftritte in Stockholm absolvieren.

Ein Künstler jedoch sticht besonders hervor: Black-Sabbath-Gründer Tony Iommi will trotz schwerer Krebserkankung am 15. Mai im “Lilla Cirkus” in Stockholm spielen.

Vor lauter Begeisterung für die kulturellen Angebote in Schweden scheint die Redaktion die Recherche93 vergessen zu haben. Dita von Teese gab bereits sechs Wochen zuvor bekannt, dass ihr Auftritt nicht stattfinden kann.94 Dass das Konzert von Randy Newman wegen der Beschlüsse der schwedischen Regierung abgesagt werden muss, teilte der Veranstalter am 27. April mit.95 Und dass Tony Iommi aus demselben Grund nicht auftreten kann, wird an dem Tag bekannt, an dem der “Bild”-Artikel erscheint.96

Zwischendurch werden bei Bild.de zwar auch die vielen Todesfälle in Schweden erwähnt97, in der “Bild”-Zeitung berichtet eine Reporterin, dass Schweden entspannt bleibe, “aber nicht verschont”98. Der Grundtenor aber ist: Die Schweden machen es besser.

Damit ist spätestens am 17. Dezember Schluss. Die “Bild”-Redaktion zitiert in einem Artikel Schwedens König Carl Gustav:

“Wir haben versagt. Eine große Anzahl von Mitmenschen ist gestorben und das ist fürchterlich. Wir leiden alle darunter. Ich finde es schrecklich angesichts all der verstorbenen Menschen. Und die Traurigkeit und die Frustration, die viele Menschen und Unternehmer plagen, die in den Knien liegen und sogar ihr Geschäft verloren haben. Es war ein schreckliches Jahr.”

Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven sehe die Schuld “bei den führenden Gesundheitsexperten des Landes”. Eine extra eingesetzte Corona-Kommission erklärt, dass man es nicht geschafft habe, ältere Menschen vor dem Virus zu schützen. Die “Bild”-Redaktion schreibt: “Auf die Bevölkerung heruntergerechnet hat das Land mit rund zehn Millionen Einwohnern damit deutlich mehr Infektionen und Todesfälle gehabt als Deutschland oder der Rest Skandinaviens.”99 Der Sehnsuchtsort Schweden verschwindet aus der Berichterstattung.

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Die China-soll-zahlen-Phase (ab April 2020, seitdem andauernd)

Ein anderes Land steht von Beginn an am entgegengesetzten Ende der “Bild”-Beliebtheitsskala: China. Schon früh schreiben die “Bild”-Medien vom “China-Virus”.100 Mitte April veröffentlicht “Bild” eine große Rechnung: “WAS CHINA UNS JETZT SCHON SCHULDET”. Allein für die deutsche Tourismusbranche veranschlagt die Redaktion “24 Mrd. Euro Umsatz-Minus” in zwei Monaten. Für den Einzelhandel schlägt sie “1,15 Mrd. Euro entgangene Umsätze pro Tag” obendrauf. Außerdem noch “55 Mrd. Euro für Pandemiebekämpfung”, “10 Mrd. Euro mindestens für Kurzarbeit” und so weiter. In der “Amazon”-Doku über “Bild” ist die Redaktionskonferenz zu sehen, in der diese Rechnung geplant wird. Einigen Mitarbeitern scheint die Aktion unangenehm zu sein.101

Noch am Tag der Veröffentlichung schreibt eine Sprecherin der chinesischen Botschaft in Berlin einen offenen Brief an Julian Reichelt: “Mit einigem Befremden habe ich heute Ihre Berichterstattung zur Corona-Pandemie im Allgemeinen und zu der vermeintlichen Schuld Chinas daran im Besonderen verfolgt.” Sie betrachte es als “ziemlich schlechten Stil”, ein Land für eine Pandemie verantwortlich zu machen, “unter der die ganze Welt zu leiden hat und dann auch noch eine explizite Rechnung angeblicher chinesischer Schulden an Deutschland zu präsentieren”.102 Reichelt antwortet prompt – mit einem offenen Brief an Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping.103 Er spricht sein Schreiben auch vor laufender “Bild-TV”-Kamera ein. Das Video erscheint mit chinesischen Untertiteln104 und auch auf Englisch.105 Die Resonanz ist riesig. In einer erneuten Redaktionskonferenz zeigt Reichelt per Beamer sichtlich stolz, dass auch Donald Trumps Sohn seinen Videokommentar bei Twitter verbreitet habe, und erzählt dazu sichtlich noch stolzer, dass das wiederum auch der Vater retweetet habe.106

Im September präsentiert Bild.de eine “chinesische Forscherin”, die angeblich das liefert, was es bräuchte, damit China womöglich wirklich zur Rechenschaft gezogen wird:

Ist das Coronavirus von Menschenhand gemacht? Dr. Li-Meng Yan sagt: Ja! “Es kommt aus dem Labor in Wuhan. Die Genomsequenz ist wie ein menschlicher Fingerabdruck.”

In der Überschrift zitiert die Redaktion die Chinesin: “,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”. Das habe die chinesische Führung aber erfolgreich vertuscht, sagt die Frau. Und:

In Hongkong habe außerdem jemand ihre Erkenntnisse von ihrem Computer gelöscht, sagte Dr. Li-Meng Yan der “Daily Mail”. Die Beweise bleibt sie bis heute schuldig. Sie wolle diese aber noch vorlegen, so Yan.107

Einen Tag später ist es schon so weit. Bild.de berichtet: “Forscherin zeigt ihr Beweismaterial”. Im Artikel steht:

“Das Virus kommt aus dem Labor.” Eine chinesische Virologin, die lange an der Uni Hongkong arbeitete und das neuartige Coronavirus eigenen Angaben zufolge seit Ende 2019 erforschte, bestätigt mit dieser Aussage, was viele Menschen schon lange glauben.

Jetzt hat Dr. Li-Meng Yan mit drei weiteren Forschern eine wissenschaftliche Arbeit (“Paper”) vorgelegt, die sogar zeigen soll, wie das Virus hergestellt wurde.

Die Redaktion ergänzt noch: “BILD übersetzt prägnante Aussagen ins Deutsche. Es liegt allerdings noch keine Prüfung von Dr. Li-Meng Yans Arbeit durch unabhängige Wissenschaftler vor.”108

Das US-Nachrichtenmagazin “Newsweek” hilft dabei. Es bittet mehrere Wissenschaftler, sich das Paper anzuschauen. Deren Urteil ist verheerend: Li-Meng Yan liefere keine neuen Informationen, sie stelle mehrere unbelegte Behauptungen auf, ihre wissenschaftliche Argumentation sei schwach. Dem Preprint-Bericht könne in dieser Form keinerlei Glaubwürdigkeit verliehen werden, sagt einer der Wissenschaftler.109

Die “Bild”-Redaktion reagiert auf den “Newsweek”-Text und ergänzt in ihrem Artikel: “Mehrere Wissenschaftler widersprechen der Forscherin, kritisieren die Aussagen als Verschwörungstheorien”.110 Der erste Artikel zum Thema (“,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”) ist unverändert online.

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Die Nicht-wieder-schließen-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Mit Blick auf die Situation in Deutschland haben sich die “Bild”-Medien inzwischen offenkundig auf eine Richtung festgelegt: Sie kämpfen gegen die Corona-Maßnahmen. Die Mittel scheinen dabei egal zu sein.

Dem Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery legt Bild.de im September ein erfundenes Zitat in den Mund: “Weltärzte-Chef Montgomery bei Anne Will – ,Grundrechtseinschränkung, eine Maske zu tragen!‘” Das hat der frühere Präsident der Bundesärztekammer bei seinem Fernsehauftritt jedoch nie gesagt. Tatsächlich spricht sich Montgomery dort für das Tragen von Masken aus. Er fragt: “Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen?” Und erklärt dann, dass selbst ein “feuchter Lappen vor dem Gesicht” zumindest “die anderen schützen kann”.111 Den Artikel hat die “Bild”-Redaktion später gelöscht.

Sie ist augenscheinlich bemüht, die Corona-Maßnahmen als willkürlich oder aberwitzig darzustellen. Bei Auftritten des Zaubererduos “Ehrlich Brothers” beispielsweise herrscht laut Bild.de-Schlagzeile der “Corona-Irrsinn”. Hinter der “Bild-plus”-Paywall klingt die Geschichte schon gar nicht mehr so irrsinnig: “In Düsseldorf durften die Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.”112 Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die “Ehrlich Brothers” auftreten. In Köln nicht.

Am 18. September titelt “Bild”: “Härtere Corona-Regeln in der Kirche als im Puff – Singen verboten, aber Sex ist erlaubt!” Die erkennbare Idee hinter dem Artikel: Dinge vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben, deren Kombination aber im Bestfall für Kopfschütteln und Unmut sorgt. Der Autor versucht es so:

Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.113

Es ist eigentlich allgemein bekannt114, dass niemand allein durch nasse Haare krank wird, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Durch Aerosole kann man hingegen durchaus krank werden. Überschrieben ist der Artikel mit: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”.115

Oder man will es nicht verstehen. Nur einen Tag später erscheint bei Bild.de ein Kommentar, der die Corona-Regeln als “absurd” bezeichnet. Es geht um Bilder und Situationen, die die Maßnahmen hervorrufen und “die wir unseren Kindern nicht erklären können.” Zum Beispiel:

Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?

Kein Kind, das vorher gelernt hat, wie wichtig Vernunft als Grundlage von Entscheidungen ist, kann das verstehen.116

Man könnte den Kindern die Überlegung hinter dieser Regelung erklären. In Schleswig-Holstein etwa ist es das sogenannte Kohortenprinzip:

Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.

Innerhalb der Kohorte verzichte man “auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen”.117 Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich die verschiedenen Kohorten nicht gegenseitig infizieren.

So geht es – nahtlos an die Kritik von “Deutschlands klügsten Corona-SKEPTIKERN” anknüpfend – monatelang gegen mögliche Einschränkungen und Schließungen: “Top-Virologe Streeck kritisiert Corona-Maßnahmen – Deutschland ist zu schnell in den Lockdown gegangen!”118 “Top-Lungenarzt fordert – Deutschland kann mehr Infektionen zulassen”.119 “WIE TÖDLICH IST DAS VIRUS WIRKLICH? Amtsarzt vergleicht Corona mit Grippe und Hitzewelle”.120 “STERBEN mehr Menschen am Lockdown als an Corona?”121 “EXPERTE WARNT – Mehr Tote durch Lockdown als durch Corona”.122 “So tödlich ist der Lockdown”.123 Im Dezember berichtet Bild.de auf der Startseite von “30 000 Neuinfektionen in Deutschland”. Das seien “NEUE HÖCHSTWERTE”.124 Direkt daneben ärgert sich die Redaktion über den “PSYCHO-KRIEG gegen Weihnachtseinkäufe”, weil Politiker “immer dramatischer” vor dem dicht gedrängten Geschenkeshopping warnen.125

Trotz aller Bemühungen der “Bild”-Redaktion beschließen Kanzlerin und Ministerpräsidenten im Oktober erst einen sogenannten Lockdown light126 und im Dezember einen harten Lockdown127. Am Ende des Jahres, am 31. Dezember, lautet die große Schlagzeile auf der “Bild”-Titelseite “Kanzlerin, so darf es 2021 NICHT weitergehen!”128 In der Berichterstattung der “Bild”-Medien geht es genau so weiter.

Demütigungs-Business, Bezirksamt vs. Livestream, Gedächtnis weg

1. Das Geschäft mit der Demütigung hat eine lange Tradition
(tagesspiegel.de, Inga Barthels)
Dass Frauen in der Öffentlichkeit immer wieder mit Hass, Häme und Misogynie überschüttet und öffentlich gedemütigt werden, habe seit der Antike Tradition, schreibt Inga Barthels beim “Tagesspiegel”. Mit dem Aufkommen des Internets habe das Problem jedoch eine neue Dimension angenommen. Barthels nennt einige prominente Beispiele wie Kasia Lenhardt, Monica Lewinsky und Britney Spears.
Weiterer Hinweis: Auf Twitter wirft Jasmina Kuhnke (Twitter-Name: @ebonyplusirony) dem “Tagesspiegel” vor, mit ihr ähnlich umgegangen zu sein: “Lieber Tagesspiegel, ihr seid Teil des Problems, denn ihr hattet auch keinerlei Bedenken, u.a. mich, eine ‘twitternde Vierfachmutter’, zu diffamieren und öffentlich zu demütigen!” Kuhnke bezieht sich damit auf einen Artikel von Fatina Keilani aus dem Januar, der mehrfachen Widerspruch (1, 2, 3) ausgelöst hatte.

2. Bezirksamt untersagt Live-Berichterstattung
(tagesschau.de, Andrej Reisin)
Gestern haben das Robert-Koch-Institut und das Bezirksamt Berlin-Mitte auf einer Pressekonferenz über eine Corona-Studie berichtet. Die “Tagesschau” wollte, wie übliche Praxis, die Pressekonferenz per Livestream übertragen. Dies wurde jedoch vom Bezirksamt untersagt. Dazu hätte man vorher eine Einverständniserklärung aller Teilnehmenden einholen müssen. Die ARD-Verantwortliche Juliane Leopold zeigt sich besorgt: “Wir finden einen Präzedenzfall gefährlich, Livestreaming einer Pressekonferenz zur Corona-Lage zu verhindern.”
Auf Twitter zieht Hendrik Wieduwilt einen Vergleich: “Man muss sich das mal reinzimmern: Die live-Information der Öffentlichkeit soll davon abhängen, dass *jeder* Beteiligte vorher einwilligt. Hoffentlich bricht in Berlin kein Krieg aus, da verliert man immer DSGVO-mäßig den Überblick und es kommt wieder nichts in der Tagesschau!”
Weiterer Gucktipp: Bei “Zapp” geht der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar der Frage nach: Corona – Hat der Journalismus versagt? (ndr.de, Video: 10:30 Minuten)

3. Verbannung dank halbnacktem Jesus
(sueddeutsche.de, Christiane Lutz)
Google hat die App des Satiremagazins “Titanic” aus dem hauseigenen Appstore (“Google Play Store”) geschmissen. Stein des Anstoßes ist unter anderem eine Jesus-Karikatur auf dem Cover der Dezemberausgabe der “Titanic”. Dabei handele es sich um eine Darstellung, die laut Google “nicht mit unseren Sexualitäts- und Obszönitätenrichtlinien vereinbar” sei. Das Angebot der “Titanic”, einen Balken über die heikle Stelle zu legen, habe Google abgelehnt und auf der kompletten Löschung des Covers bestanden. “Titanic”-Chefredakteur Moritz Hürtgen zeigt sich eher amüsiert als schockiert: “Wenn Google bei seiner Haltung bleibt, finden wir eben nicht im Playstore statt.”

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4. Weg mit dem Gedächtnis
(kontextwochenzeitung.de, Josef-Otto Freudenreich)
Das Stuttgarter Pressehaus, Teil der Südwestdeutschen Medien-Holding (SWMH), will im Zuge von Einsparmaßnahmen sein Archiv schließen. Sparen an der falschen Stelle, wie Josef-Otto Freudenreich findet: “Ökonomisch bewertet ist der Posten Archiv höchstens Portokasse für die SWMH. Der größte deutsche Tageszeitungskonzern weist einen Umsatz von knapp einer Milliarde Euro und eine Beschäftigtenzahl von mehr als 5.000 aus. Zum Vergleich: Im Möhringer Keller sind von ursprünglich elf MitarbeiterInnen noch vier übriggeblieben, die ihre Kosten zudem in Teilen wieder einspielen.” Freudenreichs Urteil: “Publizistisch gesehen ist die Schleifung des Archivs ein Kulturbruch, ein weiterer Offenbarungseid.”

5. Podcasts, öffentlich-rechtliches Radio und die Plattformen
(kuechenstud.io, Philip Banse & Sandro Schroeder, Audio: 2:03:27 Stunden)
Der Journalist Philip Banse podcastet bereits seit dem Jahr 2005 und ist einer der Köpfe des tagespolitischen Podcasts “Lage der Nation”. Sandro Schroeder ist beim Deutschlandradio für Konzeption und Präsentation von Podcasts zuständig und versendet regelmäßig einen Fach-Newsletter. In ihrem Podcastgespräch über Podcasts sprechen die beiden Experten unter anderem über die Schwierigkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit dem neuen Medium und die drohende Dominanz der Audio-Plattformen.

6. Clubhouse in Real Life
(youtube.com, Late Night Berlin, Video: 4:33 Minuten)
Keine Einladung für die Audio-Chat-App Clubhouse bekommen oder nicht im Besitz eines iPhones? Macht nichts, Klaas Heufer-Umlauf und sein Sidekick Jakob Lundt nehmen Euch mit ins analoge Clubhouse.

“Bild”-Experte Marcel Reif ist “kein großer Gewaltanhänger”, aber …

In der “Bild TV”-Sendung “Reif ist live”, in der zwischen zwei Gläsern Müllermilch auch über Fußball gesprochen wird, ging es gestern unter anderem um Breel Embolo. Der Stürmer von Bundesligist Borussia Mönchengladbach soll Gast einer (in Corona-Zeiten) illegalen Party mit 23 Personen gewesen sein. Embolo bestreitet das. Er habe sich lediglich in einer angrenzenden Wohnung eines Freundes aufgehalten, so der Fußballer. Die Polizei sagt hingegen, Embolo sei von der Party über ein Dach in diese Wohnung geflüchtet.

“Bild”-Experte Marcel Reif findet, Breel Embolo sollte für den Besuch der Party mal ordentlich verprügelt werden. In seiner “Bild”-Sendung sagt er zu Moderator Walter M. Straten:

Wissen Sie, was mir gefallen würde? Wenn die in der Kabine in Gladbach, und ich könnte mir gut vorstellen, dass das so ist, also zu meiner Zeit, als ich ein bisschen gekickt habe, war das noch so, es gab so eine bestimmte innere Hygiene, um es mal sehr vorsichtig und sehr freundlich auszudrücken, in der Kabine. Also nach dem Motto: Trainer, könnten Sie mal kurz rausgehen? Wir brauchen mal fünf Minuten. Und dann macht man ein bisschen die Musik laut. Und dann wurde demjenigen mitgeteilt mit relativ klaren, auch nonverbalen Mitteln, was geht und was nicht geht.

Und wie reagiert “Bild”-Sportchef Walter M. Straten? Ist er empört, dass Marcel Reif zu Gewalt in der Gladbacher Kabine aufruft? Wundert er sich wenigstens, was Reif da so vorschlägt? Nee. Straten findet’s “spannend”:

Hui, das klingt ja spannend. Nonverbale Mittel. Also Gladbach äh …

Reif unterbricht ihn:

Ja, Körpersprache.

Wieder Straten:

Klassenkeile hat man in der Schule gesagt.

Marcel Reif versucht anschließend noch, seine Aussage wieder etwas einzufangen. Auf einmal geht es nicht mehr um laute Musik in der Kabine und um “nonverbale Mittel”, sondern eher um eine lustige Schneeballschlacht. Ein “großer Gewaltanhänger” sei er ja sowieso nicht, sagt Reif:

Also das könnte ich mir gut vorstellen. Ehrlich gesagt, ich bin kein großer Gewaltanhänger und kein Gewalttäter im Inneren, aber so eine kleine Abreibung, draußen liegt Schnee, so mal richtig einseifen und sagen: “Sag mal, hallo? Hallo, wach? Wie wär’s?” Nicht verkehrt.

Mit Dank an @tobylix für den Hinweis!

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