Tollstes Onlinemedium schreibt beste Überschrift

Bei “Bild” brauchen sie Superlative. Und was ist besser als ein Superlativ? Richtig: zwei Superlative.

Screenshot Bild.de - Sensations-Transfer - Größter NFL-Star geht zu schlechtestem Team

Es geht um Footballer Odell Beckham Jr., der sein bisheriges Team, die New York Giants, verlässt und zu den Cleveland Browns wechselt.

Superlativ Nummer 1 — OBJ als “größter NFL-Star” — ist schon ziemlich gewagt. Man denke zum Beispiel an Tom Brady, den Quarterback der New England Patriots, der von vielen als der “GOAT”, der “Greatest of all Time”, bezeichnet wird (wobei Brady es gar nicht mag, so genannt zu werden). Oder an Patrick Mahomes, den Quarterback der Kansas City Chiefs, der in der abgelaufenen Saison als MVP, also als sportlich wertvollster Spieler der Liga, ausgezeichnet wurde. Odell Beckham Jr. hat weder den einen noch den anderen Titel. Er mag ein Superstar der NFL sein — aber der größte? Am Ende des Bild.de-Artikels ist er dann auch nur noch der “schillerndste Star der Liga”, was es eher treffen mag.

Schlagzeilen-Superlativ Nummer 2 — die Cleveland Browns als “schlechtestes Team” — ist schlicht falsch. Das steht sogar im Bild.de-Artikel:

Die Browns hatten zwar in der letzten Saison die Playoffs nur knapp verpasst — die Spielzeiten vorher waren sie jedoch das schlechteste Team der NFL.

Jaja, die Bild.de-Redaktion kommt mit ihrer Überschrift nur ein Jahr zu spät. Tatsächlich hatten in der vergangene NFL-Saison etliche Teams eine schlechtere Bilanz als die Cleveland Browns. In den zwei Jahren zuvor waren die Browns in der Tat das schlechteste Team der Liga. 2015 teilten sie sich diesen Platz mit den Tennessee Titans. In den Jahren davor waren die Browns hingegen nie das schlechteste Team.

Statt “Größter NFL-Star geht zu schlechtestem Team” hätte Bild.de auch schreiben können: “Tollstes Onlinemedium schreibt beste Überschrift” — das wäre dann genauso falsch gewesen.

Mit Dank an Christian P., Patrick und @VM_83 für die Hinweise!

Die Unfug-Sprachwächter, Rechtes Netzwerk visualisiert, Lobbyarbeit

1. Der Schwachpunkt der selbsternannten Sprachwächter
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Till Raether)
Medienkritiker Stefan Niggemeier hat den “Verein Deutsche Sprache” (“VDS”) einmal als “eine Art Sprach-Pegida” bezeichnet. Aktuell fordert der VDS in einem Manifest “Schluss mit dem Gender-Unfug”. Ein Manifest, das nicht nur entsetzlich schlecht geschrieben sei, sondern auch zahlreiche Argumentationsmängel aufweise, wie Till Raether ausführt: “Der Versuch, Sprache davor zu schützen, dass sie sich verändert, entspringt nicht der Liebe zur Sprache, wie ihre Vereinsmeier*innen glauben machen wollen, sondern der Liebe zum Hergebrachten, zum Immer-so-Gewesenen.”
Weiterer Lesetipp: Bei “Spiegel Online” setzt sich Margarete Stokowski ebenfalls mit den Argumenten gegen eine gendergerechte Sprache auseinander. Bezugnehmend auf eine Passage in einem aktuellen “Welt”-Text von Sibylle Lewitscharoff schreibt sie: “Ich weiß nicht, ob es je ein größeres Missverständnis über den Feminismus gab als die Idee, irgendwer würde Untenrumuntersuchungen durch Sibylle Lewitscharoff fordern, aber man sollte sich davon nicht abschrecken lassen, denn ihr Text ist so voller Perlen der Widersprüchlichkeit, dass es lohnt, ihn ganz zu lesen.”
Lohnenswert ist auch Mit Genderstern in den Weltuntergang (belltower.news, Stefan Lauer). Dort hat man sich den Unterstützerkreis der Petition angeschaut und wirft einen Blick auf die teilweise problematischen Verbindungen zur Rechtspopulismus-, Antifeminismus- und Männerrechteszene.

2. Das Netzwerk der neuen Rechten
(neuerechte.org, Christian Fuchs & Paul Middelhoff)
Als “patriotische Parallelgesellschaft” bezeichnen die Journalisten Christian Fuchs und Paul Middelhoff das von ihnen identifizierte und analysierte neurechte Netzwerk aus über 150 Stiftungen, Vereinen, Medien und Kampagnen. Eine Deutschlandkarte zeigt alle Standorte und Verbindungen und liefert auf Mausklick weitere Informationen.

3. Was wir aus dem Fall Relotius für den Journalismus lernen können
(journalist-magazin.de, Georg Löwisch)
Der Betrugsfall Relotius sei eine Chance für den Journalismus, so “taz”-Chefredakteur Georg Löwisch. In seinem “Handwerksmerkzettel” geht es um sechs Punkte: 1) Quellen nennen, 2) Recherchewege zeigen, 3) Zitieren, 4) Anonymisieren, 5) Rekonstruieren und 6) Zweifeln.
Weiterer Lesehinweis: So arbeiten wir mit anonymen Quellen aus dem “Welt”-Reportage-und-Investigativ-Ressort (investigativ.welt.de, Manuel Bewarder).

4. Die sieben Anti-EU-Kampagnen der Krone des Jahres 2018
(kobuk.at, Ida Woltran)
Ida Woltran hat sich die sieben Ant-EU-Kampagnen der österreichischen “Krone” angesehen und analysiert: “Vor allem im Zusammenhang mit neuen Regulierungsvorhaben ist es laut Krone meist die EU, die uns etwas wegnehmen, verbieten oder streichen will. Eine Differenzierung, wer eigentlich die EU ist, unterbleibt meist. Die Krone framed die EU negativ und geht kaum auf konkreten Vorgänge in den EU-Organen ein. Die jeweilige Gegenseite kommt nicht zu Wort.”

5. Lobbyarbeit pur: 228 Kreativ-Verbände für EU-Urheberrechtsreform
(tarnkappe.info, Lars Sobiraj)
228 europäische Kreativ-Verbände haben in einem gemeinsamen Schreiben (PDF) dazu aufgerufen, den umstrittenen geplanten Änderungen des EU-Urheberrechts zuzustimmen. Auch der Deutsche Journalisten-Verband befürwortet die Regelung, was Lars Sobiraj zu der Frage führt: “Warum fordert der DJV den Untergang der eigenen Branche?”
Weiterer Lesehinweis: Bei “Infosperber” kommentiert Matthias Zender den Kampf der Schweizer Verleger um ein Leistungsschutzrecht mit den Worten: “Das wäre, wie wenn die Landwirtschaft zur Käseunion zurückkehren würde.”
Und einen Hörtipp gibt es auch noch: Beim “Deutschlandfunk” besprechen Experten das Für und Wider von Uploadfiltern. Die Technik weise deutliche Grenzen auf: Warum Kritiker Angst vor Zensur haben (deutschlandfunk.de, Audio: 9:15 Minuten).

6. Nachdenkliche Töne zum Geburtstag
(tagesschau.de, Marcus Schuler)
Vor 30 Jahren legte der Physiker Tim Berners-Lee den Grundstein für das World Wide Web. Der damals 34-Jährige entwickelte HTML, programmierte einen Webserver und einen Browser — die Grundlagen für unser heutiges Web. 30 Jahre nach seiner Erfindung warnt Berners-Lee vor Datenmissbrauch, Desinformation, Hassreden und Zensur. Seine Forderung: “Unternehmen müssen mehr tun, um sicherzustellen, dass ihr Gewinnstreben nicht auf Kosten von Menschenrechten, Demokratie, wissenschaftlichen Fakten und öffentlicher Sicherheit geht.”

Es gibt kein Modern-Talking-Comeback

Die — je nach Musikgeschmack — gute beziehungsweise schlechte Nachricht vorweg: Es wird kein Modern-Talking-Comeback geben. Auch wenn viele Medien das heute behaupten:

Screenshot bz-berlin.de - Live-Konzert im August - Dieter Bohlen feiert Modern-Talking-Comeback in Berlin
(bz-berlin.de)
Screenshot derstandard.at - Dieter Bohlen verkündet via Bild Modern-Talking-Comeback
(derstandard.at)
Screenshot Stern.de - Comeback - Modern Talking kehrt zurück - diesmal ohne Thomas Anders - Ende August wird You're My Heart, You're My Soul wieder in Deutschland auf der Bühne zu hören sein: Modern Talking startet ein Comeback. Das kündigte Dieter Bohlen an. Auf Thomas Anders will er dieses Mal aber verzichten.
(Stern.de)
Screenshot Volksstimme.de - Modern-Talking-Comeback mit Dieter Bohlen
(Volksstimme.de)

Was es gibt: Einen geschickten PR-Schachzug von Dieter Bohlen und “Bild”, und zahlreiche Redaktionen, die mal wieder blind hinterherlaufen.

Tatsächlich kündigt “Bild” heute exklusiv an, dass Dieter Bohlen nach langer Zeit mal wieder in Deutschland auftreten wird. In der Titelzeile auch das Wort “Comeback”:

Ausriss Bild-Zeitung - Nach 16 Jahren! Dieter Bohlen - Comeback als Modern Talking

Gestern Abend bereits gab es die Meldung bei Bild.de, allerdings ohne das Wort “Comeback”:

Screenshot Bild.de - Das erste Konzert nach 16 Jahren - Warum Dieter Bohlen wieder Modern Talking singt und keine Lust mehr auf Thomas Anders hat

Dass “Bohlen wieder Modern Talking singt” trifft es deutlich besser als das Gerede vom Modern-Talking-Comeback. Denn: Bohlen wird bei seinem Auftritt im August auch Modern-Talking-Songs spielen. Auch. Genauso werde es aber Songs von “Blue System” zu hören geben oder welche von “Deutschland sucht den Superstar”. Das steht so auf dem Plakat, das den Bohlen-Auftritt ankündigt. Und Dieter Bohlen erzählt es auch im Interview mit Bild.de:

Auf was dürfen sich die Fans freuen?

Bohlen: “Ich habe 21 Nummer-1-Hits — und die wollen die Fans ja hören. Ich habe die Bands früher immer gehasst, wenn sie ihre alten Hits nicht gespielt haben, sondern den aktuellen Mist, den sie selber gerade gut finden. Am Ende kam dann der Hit. Das ist Mist. Daher spiele ich Modern Talking, Blue System aber auch ‘We have a dream’ von DSDS oder ‘Midnight Lady’ von Chris Norman. Ein Abend mit den Meilensteinen meiner Karriere.”

“Ein Abend mit den Meilensteinen” aus Dieter Bohlens Karriere wird zum Modern-Talking-Comeback. Man stelle sich vor, Paul McCartney singt bei “Carpool Karaoke” Beatles-Songs. Das wäre dann auch kein Beatles-Comeback. Oder Thomas Anders, Bohlens früherer Partner, spielt auf Konzerten die alten Modern-Talking-Sachen. Genau das macht er auch seit Jahren. Und niemand spricht oder schreibt von einem Modern-Talking-Comeback.

Dass bei vielen Medien nun doch von einem solchen Comeback die Rede ist, und dass das Hashtag #ModernTalking bei Twitter trendet, ist vor allem ein Erfolg für Dieter Bohlen und “Bild”. Denn beide wollen an der Sache verdienen. Bohlen, klar, indem er Tickets verkauft. Und die “Bild”-Redaktion ebenfalls, indem sie Tickets (und Abos) verkauft. Denn die gibt es exklusiv bei Bild.de und nur mit einem “Bild plus”-Abo:

Screenshot Bild.de - Diesen Artikel lesen Sie nur mit Bild Plus - Endlich wieder die Songs von Modern Talking live - Hier gibt es die Tickets für Bohlens Mega-Comeback - Mittwoch, 10 Uhr, startet in diesem Artikel der exklusive Vorverkauf für das erste Deutschland-Konzert von Dieter Bohlen seit 2003!

Türkischer Rausschmiss, Krone gegen Windräder, Rechte Geburtstagsparty

1. Rausschmiss deutscher Korrespondenten
(reporter-ohne-grenzen.de)
“Reporter ohne Grenzen” (“ROG”) fordert die Türkei dazu auf, die willkürliche Ausweisung von Auslandskorrespondenten zu stoppen. Hintergrund: Die türkischen Behörden haben den beiden deutschen Journalisten Jörg Brase und Thomas Seibert die Arbeitserlaubnis entzogen. “So lange Brase und Seibert nicht ihre Akkreditierung zurückbekommen, darf die Bundesregierung sich keinen Illusionen hingeben und zu normalen Beziehungen mit der Türkei übergehen, so wie sie es in den vergangenen Monaten durch zahlreiche Besuche in Istanbul und Ankara versucht hat”, so “ROG”-Geschäftsführer Christian Mihr.
Weiterer Lesehinweis: Im “Tagesspiegel” berichtet der nunmehr ehemalige Türkei-Korrespondent Thomas Seibert, wie es sich anfühlt, nach 22 Jahren aus dem Land rausgeschmissen zu werden, mit dem er sich äußerst verbunden fühlt. Und er schreibt über Ankaras unmoralisches Angebot an seinen Arbeitgeber, ihn durch einen anderen Korrespondenten zu ersetzen.

2. Entspannt Euch, Leute! Zehn Fragen, mit denen Sie sich vor überhitzten medialen Erregungsblasen schützen
(meedia.de, Daniel Bröckerhoff)
Daniel Bröckerhoff, Journalist und ZDF-Moderator bei “heute+”, hat selbst erlebt, wie leicht einen die Twitter-Empörung mitreißen kann. Nun hat sich Bröckerhoff Gedanken gemacht, wie man den “überhitzten medialen Erregungsblasen die Luft rauslassen” kann, und dazu einen Zehn-Punkte-Fragenkatalog entworfen.

3. Politik im Direktversand
(sueddeutsche.de, Jens Schneider)
Jens Schneider berichtet von den Social-Media-Aktivitäten der Bundestagsfraktionen. Die größte Zahl an Facebook-Abonnenten mit mehr als 125.000 hat die Linksfraktion. Zum Vergleich: Die AfD-Fraktion hat 82.000. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei den Partei-Facebookseiten deutlich anders aussieht: Dort haben die Linken 264.000 Abonnenten, die AfD hat 464.000. Der Bundestag ist weder auf Facebook noch auf Instagram zugegen, obwohl durchaus Interesse an der Arbeit des Parlaments besteht: Die Internet-Seite des Bundestags sei im vergangenen Jahr 70,7 Millionen Mal aufgerufen worden, doppelt so oft wie im Jahr zuvor.

4. Die Privatkampagne des Chefs der Salzburg-Krone gegen Windräder
(kobuk.at, Gabriele Scherndl)
In unzähligen Artikeln schrieb die “Salzburger Krone” gegen einen geplanten Windpark an. Mit einseitigen Informationen, verzerrten Fakten und Verunglimpfungen der Gegenseite, wie Gabriele Scherndl im medienkritischen Watchblog “Kobuk” anmerkt. Handelte es sich um eine Privatkampagne des “Krone”-Chefs? Auf diese Idee könnte man kommen, denn die massive Kampagne endete mit dem Rückzug des “Krone”-Chefs ins Pensionärs-Leben: “Seitdem erschien keine Titel- oder Doppelseite, kein Kommentar, kein Artikel oder Leserbrief mehr zu dem Thema. Der letzte Text dazu war, wie sollte es anders sein: Ein Leserbrief, in dem Hans Peter Hasenöhrls Einsatz gegen die Windräder gelobt wird.”

5. Eine Party als neurechtes Netzwerk
(belltower.news, Simone Rafael)
Matthias Matussek, ehemals angesehener Journalist bei u.a. “Spiegel”, “Stern” und “Welt”, hat seinen 65. Geburtstag öffentlichkeitswirksam inszeniert, indem er Teile der Gästeliste und viele Fotos veröffentlichte. Es war eine Art Rechtsaußen-Klassentreffen von Politik und schreibender Zunft. Und mit einem Reinhold Beckmann, der sich (durch sein Gitarrenständchen im wahrsten Sinne des Wortes) instrumentalisieren ließ und dafür auf Facebook mühsam um eine Art Rechtfertigung ringt.

6. Disney+ hat größeres Potenzial als Netflix
(wuv.de, Franz Scheele)
Vieles deutet daraufhin, dass der Unterhaltungskonzern Disney bald einen eigenen Videostreamingdienst an den Start bringt. Disney sitzt auf einem unglaublich wertvollen cineastischen Schatz: Neben der Filmbibliothek der Walt Disney Studios gehören zu Disney auch die Pixar Animation Studios, die Marvel Studios sowie das gesamte “Star Wars”-Imperium. Dementsprechend gut sind die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten: Die amerikanische Investmentbank J.P. Morgan habe in ihrer Prognose von 160 Millionen möglichen Abonnenten gesprochen. Zum Vergleich: Netflix hat derzeit rund 140 Millionen zahlende Kunden.

Bild.de-“Chor der Oberflächlichen” findet Oberflächlichkeit jetzt schlimm

Manchmal stehen bei Bild.de ja auch Sachen, die richtig sind:

Screenshot Bild.de - Kommentar - Was bei der Kritik an Philipp Amthor falsch läuft

“Bild-Redakteur Timo Lokoschat kommentiert ganz treffend zu den mitunter heftigen Äußerungen zum CDU-Bundestagsabgeordneten Amthor:

Eingedroschen wird aber nicht nur auf seine Positionen, sondern fast immer auch auf sein Äußeres.

Diese Haare! Diese Brille! Dieses Gesicht! Ein Großteil der Tweets und Posts, die in den sozialen Netzwerken zu Amthor abgesetzt werden, beschäftigen sich mit seiner Optik und greifen zu üblen Vergleichen oder sogar Beschimpfungen.

Es geht also um Lookism:

Lookism, vom Englischen “to look” (aussehen) — das bedeutet die Diskriminierung und Stereotypisierung eines Menschen aufgrund seines Aussehens. (…)

Natürlich: Man kann Amthors Habitus thematisieren, sein Auftreten, das auf viele Menschen altmodisch und inszeniert wirkt. Wer Trachtenjancker mit Tierhornverschlüssen und Deutschlandflagge am Revers trägt, der setzt damit ein Statement und muss in Kauf nehmen, dass das aufgegriffen wird. Damit begnügen sich die meisten Kritiker jedoch nicht — es wird persönlich, es wird diffamierend.

Moment, da fällt uns doch was ein:

Screenshot Bild.de - SPD-Sterit um Groko - Dieses Milchgesicht will Merkel stürzen

… titelte Bild.de über Juso-Chef Kevin Kühnert. Die Redaktion macht sich auch gern mal über Sängerinnen lustig, die “SPECKtakulär” im “Neoprall-Anzug” “dick auftragen”: “Zehn knackige Presswurst-Outfits von Mariah Carey”. Und auch Menschen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, zieht Bild.de wegen ihres Aussehens und Gewichts ins Lächerliche.

Timo Lokoschat schreibt zur “Kritik an Philipp Amthor”:

Sogar Journalisten stimmen auf Twitter in den Chor der Oberflächlichen ein.

… oder sie schreiben in den “Bild”-Medien.

Mit Dank an Marco S. für den Hinweis!

Durchgestochen, Wikipedias Protest-Abschaltung, Gewalt-Verharmloser

1. “Ein faires Strafverfahren steht auf dem Spiel”
(rbb24.de, Martin Krebbers)
Im Fall der vermissten, 15-jährigen Rebecca aus Berlin wurden zahlreiche Details über erste Ermittlungsergebnisse und die Familie sowie Fotos des Tatverdächtigen veröffentlicht. Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger hat mit der Form von Echtzeit-Berichterstattung ein Problem. Ihr Vorsitzender Stefan Conen erklärt im Interview: “Das ist ja nicht nur ein Problem, was ich habe, sondern auch der Gesetzgeber. Informationen aus Ermittlungskreisen durchzustechen — und das wird hier vornehmlich die Polizei sein, die Staatsanwälte kenne ich, von denen glaube ich das nicht — das ist eine Straftat.”

2. Gibt es noch gute Nachrichten, Herr Wickert?
(zeit.de, Jochen Wegner & Christoph Amend, Audio: 12:18 Minuten)
Im “Zeit”-Podcast “Alles gesagt” wird so lange gesprochen, bis der Gast befindet, dass es nun gut sei. Das kann schon mal fünf Stunden dauern wie beim Gespräch der “Zeit Online”- beziehungsweise “Zeit Magazin”-Chefs Wegner und Amend mit dem Musiker Herbert Grönemeyer. Beim Interview mit dem Journalisten und Bestsellerautor Ulrich Wickert lief alles anders: Kaum hatte das unterhaltsame Gespräch mit dem langjährigen “Tagesthemen”-Moderator begonnen, war es auch schon wieder zu Ende. Wickert hatte (versehentlich?) sein Stopp-Wort gesagt. Die gut zwölf Minuten lohnen sich trotzdem. Außerdem bleibt die Hoffnung, dass es sich nur um einen Cliffhanger für eine längere Folge handelt.
Weiterer Tipp: Bei ARD-Alpha gibt es ein Gespräch mit Wickert zu sehen, das immerhin 45 Minuten dauert.

3. Protest gegen Artikel 13: Wikipedia schaltet sich ab
(heise.de, Torsten Kleinz)
Als Protest gegen die EU-Urheberrechtsreform soll am 21. März die deutschsprachige Wikipedia komplett abgeschaltet werden. So haben es die Wikipedia-Autoren bei einer Abstimmung beschlossen. Die Wikipedia-Community befürchtet die Errichtung einer Zensur-Infrastruktur und sieht die Gefahr, dass der freie Fluss von Informationen eingeschränkt werde.

4. So wird Gewalt an Frauen verharmlost
(orf.at, Romana Beer)
In Österreich wurden vergangenes Jahr über 40 Frauen von Männern ermordet. Derlei Gewalttaten werden in den Medien immer wieder verharmlost, den Opfern wird eine Mitschuld zugeschrieben. Morde werden unter anderem als “Ehedrama”, “Beziehungsdrama” und “Familiendrama” bezeichnet und auf diese Weise als familiäre Zwiste kleingeschrieben. Brutale Angriffe auf Frauen werden als “missglückter Flirt” bezeichnet und Vergewaltigungen sprachlich in die Nähe von (einvernehmlichem) Sex gerückt. Romana Beer hält eine angemessene und sprachlich sensible Berichterstattung für einen Teil der Prävention: “Indem sie ihre Wortwahl kritisch hinterfragen, können Redaktionen einen Teil dazu beitragen, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt an Frauen nicht verharmlost wird.” Weiterer Lesetipp: Wie der Boulevard sexuelle Gewalt verharmlost (kobuk.at, Philipp Pramer).

5. “Ich war eine Alibifrau”
(taz.de, Simone Schmollack)
Marlies Hesse wurde 1968 Pressechefin des “Deutschlandfunks” und war dort die erste Frau in einer Führungsposition. Eine “Alibifrau”, wie man ihr gegenüber später zugab. Die “taz” hat sich mit Hesse unterhalten, die für die Gleichberechtigung von Frauen im Journalismus eintritt und den nach ihr benannten Preis für Nachwuchsjournalistinnen gestiftet hat.

6. “Achillesfersen finden, nutzen und schauen was passiert”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Miguel Robitzky war gerade mal 16 Jahre alt, als er sich mit seinen Karikaturen beim Medienportal “DWDL” bewarb. Das ist nun fünf Jahre und über 250 Karikaturen her und Anlass, sich mit dem jungen Zeichner über seine Arbeit zu unterhalten. Robitzky auf die Frage, wie er mit Kritik umgeht: “(…) ich reagiere auf Kritik wie ich auf alles reagiere: mit Masturbation.”

Fakten ignorieren für die Hetzschlagzeile (2)

Wenn es um das Eingestehen von Fehlern geht und das Korrigieren dieser, ist “Bild”-Chef Julian Reichelt 1A-Superspitzenklasse — laut Julian Reichelt:

Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.

… und auch laut Springer-Chef Mathias Döpfner:

Und was ich toll finde: Dass Julian Reichelt, wenn er Fehler macht, sich dafür entschuldigt und sofort Transparenz herstellt.

Wie das in der Praxis aussieht, kann man heute in “Bild” beobachten.

Zur Erinnerung: Gestern titelte die Redaktion auf Seite 1:

Ausriss Bild-Titelseite - Justiz ignorierte Tausende Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen

Wie wir bereits gestern geschrieben haben, ist sowohl das “ignorierte” als auch das “unter Flüchtlingen” falsch. Und das war nicht nur bei uns Thema, sondern auch bei Süddeutsche.de, bei Tagesschau.de, im “Deutschlandfunk”, im “heute journal” (ab Minute 9:20) und so weiter.

In “Bild” und bei Bild.de, wo es dem Chef “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben”, ist der eigene Fehler kein Thema. Im Gegenteil:

Ausriss Bild-Zeitung - Seehofer verspricht Aufklärung in Kriegs-Verbrecher-Skandal

Kamen in der Flüchtlingskrise massenhaft Kriegsverbrecher nach Deutschland, ohne dass die Sicherheitsbehörden Hinweisen nachgingen?

Nachdem BILD gestern darüber berichtete hatte, verspricht Bundesinnenminister Horst Seehofer (69, CSU, Foto) Antworten: “Wenn es etwas aufzuarbeiten gibt, wird dies geschehen”, sagte er am Rande eines EU-Innenministertreffens in Brüssel.

Seehofer, selbst massiver Kritiker der damaligen Flüchtlingspolitik, der Bundesregierung, weiter: “Ich lege Wert darauf, dass ich schriftlich einen Bericht bekomme, damit die Öffentlichkeit informiert werden kann, was mit diesen Meldungen geschehen ist.”

Die “Bild”-Redaktion und “Bild”-Chefreporter Peter Tiede tun heute so, als hätten sie die Aufklärung zur Verwirrung um die Hinweise auf Kriegsverbrecher angeschoben, dabei waren sie es, die gestern mit ihrer falschen Seite-1-Überschrift überhaupt erst für die Verwirrung gesorgt haben. Das ist die Transparenz unter Julian Reichelt, über die Mathias Döpfner so jubelt: Das Weglassen eines weiteren Seehofer-Zitats, in dem der Innenminister “Bild” und Tiede widerspricht, wenn er sagt, die Hinweise seien “nicht einfach von den Sicherheitsbehörden abgelegt worden, sondern natürlich geprüft worden”.

Peter Tiede wiederholt heute noch einmal seine falsche Behauptung, es handele sich um “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”:

BILD hatte unter Berufung auf eine Anfrage der FDP-Innenexpertin Linda Teuteberg (37) berichtet, dass beim Bundeskriminalamt seit 2014 zwar mehr als 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen eingegangen sind — daraus aber nur 129 konkrete Ermittlungen erfolgten.

Wir wiederholen das auch gern noch einmal: Tatsächlich geht es um 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher von Flüchtlingen, die diese in ihren Asylverfahren gegeben haben. Es sind nicht “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”. Es können sich mehrere Hinweise auf dieselbe Person beziehen, genauso kann sich ein Hinweis auf eine Personengruppe beziehen. Manche dieser Hinweise sind sehr konkret, mit Namen eines oder mehrerer Beschuldigten. Manche sind aber auch sehr vage, ohne mögliche Ermittlungsansätze für die zuständigen Behörden. Viele der Personen, die in diesen Hinweisen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden, befinden sich im Ausland, etwa in Syrien oder dem Irak, und nicht in Deutschland. Das heißt allerdings nicht, dass keine möglichen Kriegsverbrecher als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.

Es bleibt dabei, auch wenn “Bild” nichts in Richtung Korrektur unternimmt: Die Seite-1-Überschrift von gestern war Alarmismus und falsch. Lustigerweise fragt die Redaktion heute im Blatt, direkt neben ihrem Kriegsverbrecher-Weiterdreh:

Ausriss Bild-Zeitung - Ständig Alarm, wo eigentlich keiner ist - Wo ist das Problem?

Wo das Problem sitzt, das dazu führt, dass ständig Alarm herrscht, wo eigentlich keiner ist? Unter anderem im Axel-Springer-Hochhaus.

Hollywood-Interviews, RWEs “Sorry”, VDS-Wutbürger und -Witzfiguren

1. Hollywood-Interviews aus der Kopierfabrik?
(uebermedien.de, Mats Schönauer)
Mehr als 100 hochkarätige Hollywood-Stars will Edmund Brettschneider interviewt haben, viele davon sogar mehrfach wie Pierce Brosnan, George Clooney, Dustin Hoffmann, Jennifer Lopez, Brad Pitt usw. usf. Die meisten der Interviews erschienen in Regenbogen-Postillen des Bauer Verlags, in “Das neue Blatt”, in “Woche Heute”, “Alles für die Frau”, “Das Neue” und in der “TV Movie” und. Medienkritiker und Boulevardspezialist Mats Schönauer (“Topf voll Gold”) hat sich für eine überaus spannende Recherche die Gespräche näher angeschaut. Es drängt sich die Frage auf, ob die Interviews wie beschrieben stattgefunden beziehungsweise ob sie überhaupt stattgefunden haben.
Im Medienmagazin “journalist” äußert sich Bauer-Verlagsleiter Ingo Klinge zu umstrittenen Schlagzeilen, zum Beispiel über Michael Schumacher, und den teils erdichteten Bauer-Geschichten: “Bei uns wird nicht gelogen, sondern allenfalls emotionalisiert und überzeichnet”.
Anmerkung des “6 vor 9”-Kurators: Klinge hat übrigens in seinem Haus alle Spiegel abgehängt, weil er seinen eigenen Anblick nicht erträgt. (Nach Klinge keine Lüge, sondern “allenfalls emotionalisiert und überzeichnet”.)

2. Wie haben vom Presserat “verurteilte” Medien 2018 reagiert?
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Die “Presserat” genannte freiwillige Selbstkontrolle der österreichischen Printmedien stellt heute ihren Jahresrückblick vor. Für das Medienwatchblog “Kobuk” ein guter Anlass, nach den Auswirkungen der Presserat-Entscheidungen zu schauen. Sind die kritisierten Medien der Aufforderung des Presserats gefolgt? Gab es überhaupt eine Reaktion oder wurde der Presserat mehr oder weniger ignoriert?

3. Die Fotografen haben Grönemeyer in eine Falle gelockt
(faz.net)
Das Kölner Landgericht hat zwei Pressefotografen (passender wäre “Paparazzi”) zu einjährigen Bewährungsstrafen verurteilt. Die beiden Männer hatten den Sänger Herbert Grönemeyer bei einer Begegnung am Flughafen Köln/Bonn in eine Falle gelockt. “Es war von vornherein ihr Ziel, ihn zu provozieren und dann seine wütende Reaktion zu filmen”, so der Richter des LG Köln. Die Behauptung der Fotografen, von Grönemeyer verletzt worden zu sein, ließe sich nicht belegen. Schlimmer noch: “Die Angeklagten haben sich diese Verletzungen selbst zugefügt oder sich zufügen lassen.”

4. Rechercheanfrage veröffentlicht: RWE entschuldigt sich bei der “taz”
(handelsblatt.com)
Der Energiekonzern RWE hat eine Rechercheanfrage der “taz” veröffentlicht und ist dafür vielfach kritisiert worden. Nun hat sich die Pressestelle des Unternehmens bei der “taz” entschuldigt. “Es steht jedem Unternehmen völlig frei, sich jederzeit in eigener Sache zu äußern”, so die stellvertretende “taz”-Chefredakteurin Barbara Junge: “Dass RWE dazu Journalisten vorführt, E-Mail-Korrespondenz veröffentlicht und damit Rechercheprozesse unterminiert, ist ein Novum. Es ist schlechter Stil und offenbart ein fragwürdiges Verständnis der Rolle von Medien. RWE hat sich bei unserem Autoren mittlerweile entschuldigt. Das ist auch angemessen.”

5. Der Kampf der deutschen Verlage gegen die Presse- und Meinungsfreiheit im Wandel der Zeit
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Das Jammern der Verlage über den Medienwandel hat anscheinend eine lange historische Tradition: Bereits 1850 hätten deutsche Presseverleger ein Urheberrecht auf Nachrichten durchsetzen wollen, weil angeblich das Telegramm ihr Geschäftsmodell ruiniere. Die ehemalige isländische Parlamentsabgeordnete Asta Helgadottir hat in einem Twitter-Thread zusammengetragen, welche Argumente über die folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte noch bemüht wurden. Medienexperte Thomas Knüwer empfiehlt: “Wenn also das nächste Mal ein Chefredakteur oder Verlagsgeschäftsführer vom bösen Internet jammert oder über Urheberrechtsverletzungen klagt (die im Fall von Nachrichten übrigens vor allem in der Fantasie dieser Personen vorkommen), dann zeigen Sie ihm diesen Thread.”

6. Oh, fuck off
(taz.de, Daniel Kretschmar)
Der Verein Deutsche Sprache hat einen teilweise hölzern klingenden, auf seltsamen Annahmen basierenden und populistischen Aufruf gegen gendergerechte Sprache veröffentlicht (“Schluss mit dem Gender-Unfug”). Unterzeichnet wurde er von “lauter Witzfiguren und Wutbürger”, wie “taz”-Chef-vom-Dienst Daniel Kretschmar es ausdrückt: “Zu den mutigen Mahner*innen zählen solche bezahlten Witzfiguren wie Nuhr und Hallervorden, deren Wutbürgertum aus offensichtlichen Gründen gerade noch vor Invektiven wie “Staatsfunk” haltmacht. Dazu so nervtötend besserwisserische Gestalten wie Bastian Sick, der sein Geld seit Jahren damit verdient, Sprache zum Regelvollzug zu machen: ewiger Linguaknast ohne Freigang, aber dafür mit Genitiv-S. Kai Diekmann und ein paar Profen obendrauf und fertig ist der ideelle Gesamtkartoffelauflauf.”

Fakten ignorieren für die Hetzschlagzeile

Heute mal wieder große Panik auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Justiz ignorierte Tausende Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen

In der Flüchtlingskrise sind Tausende Hinweise auf mögliche Kriegsverbrecher unter den Asylsuchenden unbearbeitet liegen geblieben!

… schreibt “Bild”-Chefreporter Peter Tiede: Es seien allein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) etwa 5000 solcher Hinweise an die ignorierende Justiz, ans ignorierende Bundeskriminalamt, an den ignorierenden Generalbundesanwalt gegangen. Doch …

Doch nur in 129 Fällen wurden Ermittlungen begonnen! Das geht aus der Antwort des Innenministeriums auf eine FDP-Anfrage hervor (liegt BILD vor).

Die Zahlen mögen so stimmen. Was Tiede und “Bild” daraus machen, ist aber eine mittlere Katastrophe. Fangen wir mit dem kleinsten Fehler an, den Tiede in seinem Text untergebracht hat. Er schreibt:

Von 2014 bis Anfang 2019 gab das Bundesamt für Migration (BAMF) demnach etwa 5000 Hinweise auf “Straftaten nach dem Völkerrecht” an Bundeskriminalamt und Generalbundesanwalt weiter. Von anderen Stellen kamen 2000 Hinweise.

Tatsächlich sind es nicht 2000 Hinweise von anderen Stellen, sondern, so steht es in der Antwort des Innenministeriums, auf das sich Tiede bezieht, 200. Gut, die eine Null. Bei Bild.de haben sie diesen Fehler inzwischen immerhin korrigiert.

Deutlich schwerwiegender ist das Wort “ignorierte” in der Schlagzeile. Tiedes Rechnung dazu — Tausende Hinweise minus 129 Fälle mit Ermittlung gleich Behördenversagen — ist schlicht zu simpel. Man kann diese zwei Größen nicht einfach gegeneinanderrechnen. Denn erstens bedeutet die Differenz zwischen den zwei Zahlen nicht automatisch, dass etwas “ignoriert” wurde oder “liegen geblieben” ist: Nicht jeder Hinweis taugt zwingend für eine Ermittlung. Schließlich sind, zweitens, die Hinweise, die Asylsuchende bei der Befragung in ihrem Asylverfahren geben können, qualitativ extrem unterschiedlich. Ronen Steinke erklärt das gut bei Süddeutsche.de:

Es gilt, folgende Frage zu beantworten, wenn ein Mensch aus Syrien oder dem Irak kommt: “Waren Sie selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder andere Misshandlungen) von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung; Hinrichtungen bzw. Massengräbern oder Einsätzen von Chemiewaffen?” Wird dies mit Ja beantwortet, zählt das als “Hinweis”. Auch wenn es kein Geständnis eigener Schuld ist. Sondern oft nur eine Angabe als Zeuge oder Opfer. Das Bamf unterteilt diese vielen “Hinweise” in fünf Kategorien. Kategorie 1 ist aus Sicht der Strafverfolgung das beste. In diese Kategorie fallen “namentliche Hinweise auf in Europa oder Deutschland befindliche Täter von Kriegsverbrechen”. (…)

Meist fallen die Bamf-Hinweise eher in die Kategorie 2: Der Flüchtling hat Namen genannt, aber keine konkreten Vorwürfe, nach denen sich ermitteln ließe. Oder Kategorie 3: Konkrete Vorwürfe, aber keine Namen. Einen großen Anteil, so heißt es unter Strafverfolgern, mache Kategorie 5 aus: Jemand berichtet als Zeuge von einer Gräueltat in Syrien oder dem Irak — ohne dass es aber einen Bezug zu Personen gäbe, die sich derzeit in Deutschland aufhalten. Mit vielen der 5000 Bamf-Hinweise konnten die Ermittler daher nicht weit kommen.

Diese Definition, was beim Bamf als “Hinweis” gilt, macht dann auch gleich den zweiten gravierenden Fehler in der “Bild”-Überschrift deutlich: Es handelt sich nicht um “Tausende Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”, sondern um Tausende Hinweise auf Kriegsverbrecher von Flüchtlingen.

Aber mit solchen Feinheiten machen sie bei “Bild” eben genau das, was sie anderen so gerne vorwerfen: ignorieren.

Nachtrag, 8. März: Noch ein, zwei Gedanken zu den “Hinweisen auf Kriegsverbrecher”: 5000 Hinweise bedeuten nicht automatisch, dass es sich um 5000 Kriegsverbrecher handelt (und schon gar nicht um 5000 in Deutschland untergetauchte Kriegsverbrecher). Die Zahl sagt erstmal nur, dass es 5000 Hinweise gab. Es können sich mehrere Hinweise auf dieselbe Person beziehen, genauso kann sich ein Hinweis auf eine Personengruppe beziehen. Bei manchen Hinweisen ist, siehe oben, auch gar nicht klar, auf wen sie sich beziehen.

Natürlich ist es gut möglich, dass sich unter den Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, Kriegsverbrecher befinden. Darüber sagt die Zahl, die “Bild” auf der Titelseite in Spiel gebracht hat, aber nichts aus. Der Großteil der möglichen Kriegsverbrecher soll sich im Ausland aufhalten, meist noch dort, wo das Kriegsverbrechen stattfand (siehe das “heute journal” von gestern, ab Minute 9:20).

Und noch zum Vorwurf, die Justiz ignoriere die Hinweise: Bundesinnenminister Horst Seehofer widersprach “Bild” und sagte, die Hinweise seien “nicht einfach von den Sicherheitsbehörden abgelegt worden, sondern natürlich geprüft worden”.

Nachtrag 2, 8. März: “Bild” berichtet heute noch einmal über die “Hinweise auf Kriegsverbrecher”. Doch nicht etwa in einer Korrektur — Chefreporter Peter Tiede wiederholt den Unsinn einfach noch mal.

RWEs Infokrieg, Margots Badesalz, “Präzisierungen” bei Martenstein

1. Das ist nicht offen & transparent, sondern ein unzulässiger Eingriff in die Freiheit des Journalisten und außerdem schlechter Stil.
(twitter.com, Martin Kaul)
Die “taz” hat zur Vorbereitung eines Artikels über mögliche Hass-Postings von RWE-Mitarbeitern beim Energieversorger angefragt. Darauf hat die Presseabteilung des Konzerns die Rechercheanfrage in einer Art von vorauseilendem Gegenangriff auf Twitter veröffentlicht. “taz”-Reporter Martin Kaul hält dies nicht nur für schlechten Stil, sondern auch für einen unzulässigen Eingriff in die Freiheit des Journalisten: “Zu einer ganz wesentlichen redaktionellen Freiheit gehört die Freiheit der Auswahl und die Freiheit des Veröffentlichungszeitraumes, auch die Freiheit, sich zu entscheiden, über etwas nicht zu berichten. Dem greift @RWE_Presse hier einfach vor — und veröffentlicht die Mail eines Journalisten und die eigene Antwort, noch ehe überhaupt ein Text erschienen ist. Damit möchte also ein Unternehmen die Oberhand über die Berichterstattung gewinnen und Redaktionsfreiheiten und -abläufe unterminieren. Wenn das gängiger Stil wäre, gäbe es keine Pressefreiheit, sondern Informationskrieg.”
Weiterer Lesetipp: Braunkohle-Protest gegen RWE — diese Bilder hat die Polizei beschlagnahmt (bento.de, Steffen Lüdke).

2. “Das Radio ist nicht der Richter, der über Künstler zu urteilen hat”
(jetzt.de, Christina Waechter)
In den USA sorgt eine Doku für eine erneute Diskussion über die Missbrauchsvorwürfe gegenüber dem vor zehn Jahren verstorbenen Popstar Michael Jackson. In der Folge haben Radiosender in Kanada, Neuseeland, Norwegen und auch die BBC bekanntgegeben, sämtliche Songs von Michael Jackson aus dem Programm zu nehmen. Ina Tenz, Chefin von “Antenne Bayern”, dem größten privaten Radiosender Deutschlands, hält nichts von einem derartigen Boykott: “In der Dokumentation äußern sich die Opfer viele Jahre später, Michael Jackson kann sich dazu nicht mehr äußern. Zudem gab es zwei Prozesse zu dem Thema, die beide nicht zu einer Verurteilung Jacksons geführt haben. Der Film bringt keine neuen Beweise und Michael Jacksons Familie dementiert alle Vorwürfe. Ich glaube generell, dass diese Boykotte nichts zur Aufklärung der Sache beitragen. Sie bringen nur den Radiosendern Aufmerksamkeit.”
Weiterer Lesetipp: Warum ich Michael Jackson nicht mehr höre (sz-magazin.sueddeutsche.de, Julian Dörr).

3. Evangelisches Badesalz
(deutschlandfunk.de, Arno Orzessek)
Promi-Zeitschriften scheinen gerade mächtig en vogue zu sein, ob “Barbara” (Schöneberger), “Daniela” (Katzenberger), Doktor von Hirschhausens “Gesund Leben” oder Joko Winterscheidts “JWD”. Ab April bringt nun auch die evangelische Theologin Margot Käßmann eine eigene Zeitschrift heraus. Aber keine Sorge, das Magazin wird nicht “Margot” heißen, sondern “Mitten im Leben”.

4. Meinen ist nicht behaupten
(taz.de, Finn Holitzka)
Die Geschichte um Harald Martensteins wahrheitsferne Kolumne über späte Abtreibungen geht weiter. Nach allerhand Gegenwind auf Twitter und nachdem der ARD-“Faktenfinder” die verschiedenen von Martenstein grob vereinfacht bis falsch dargestellten und aus dem Kontext gerissenen Debatten auseinandergedröselt hat, sah sich die “Zeit” anscheinend zu einem “Hinweis der Redaktion” (dort unten angehängt) gezwungen. Einige Passagen der Kolumne seien nachträglich “präzisiert” worden … Finn Holitzka stellt in der “taz” noch einmal fest: “Auch für Kolumnen und Meinungsbeiträge gilt die journalistische Sorgfaltspflicht. Meinen kann Martenstein alles, was seinen Kritiker*innen die Nerven raubt. Behaupten sollte auch der Berufsprovokateur nur faktisch Richtiges.”

5. EU-Copyrightreform: Zivilgesellschaft und Verbände fordern Moratorium
(heise.de, Stefan Krempl)
14 Institutionen aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft fordern in einem offenen Brief (PDF), die Abstimmung über die Copyright-Novelle und Upload-Filter auf die Zeit nach der Europa-Wahl zu verschieben: “Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier brauchen gerade jetzt Zeit, um das Für und Wider abzuwägen.”

6. Aufruf zum Meinungsfasten
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Alena Schröder)
Du hast eine Meinung? Dann lass diese doch mal ein paar Wochen ruhen. Es gibt schließlich wichtigere Dinge, auf die wir bis Ostern verzichten sollten als Bier und Schokolade, wie Alena Schröder in ihrem Aufruf zum Meinungsfasten findet.

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