Archiv für Juli 22nd, 2019

Die Radwegkosten neu erfinden

Da kann die Haselmaus noch so süß gucken — in “Bild” gab’s am vergangenen Freitag mal wieder was zum Blutdruckerhöhen:

Ausriss Bild-Zeitung - Radweg kostet zehn Millionen Euro pro Kilometer

Seit 13 Jahren wird er gebaut, fertig ist er noch lange nicht. Aber vor allem ist der neue Radweg am Rhein, der Lorchhausen und Rüdesheim (Hessen) verbinden soll, der wohl teuerste Radweg aller Zeiten: 10 Mio. Euro pro Kilometer!

11,3 Kilometer soll dieser Radweg an der Bundesstraße 42 lang sein, wenn er einmal fertig ist, und laut “Bild” 115 Millionen Euro kosten. Daraus errechnet die Redaktion die durchschnittlichen Kosten pro Kilometer, die sie auch schon auf der Titelseite nennt:

Ausriss Bild-Titelseite - Zehn Millionen Euro pro Kilometer - Regierung baut teuersten Radweg aller Zeiten

Aber ob nun auf Seite 1, in der Überschrift im Blatt oder im Artikel: Die Aussage stimmt so nicht. Denn die Gesamtkosten von 115 Millionen Euro beziehen sich auch auf den Bau des Rad- und Fußwegs, aber nicht nur. Das steht auch gewissermaßen im “Bild”-Text:

Laut Hessischem Verkehrsministerium entstehen die Kosten “nicht allein durch den Radweg, sondern durch die Gesamtmaßnahme.”

Allerdings endete die zitierte Aussage eines Sprechers des hessischen Verkehrsministeriums, die dieser den “Bild”-Autoren per E-Mail geschickt hatte, gar nicht mit einem Punkt hinter “Gesamtmaßnahme” — sie geht noch weiter, wie uns dieser Sprecher auf Nachfrage mitteilte. Er habe der “Bild”-Redaktion geschrieben:

Die Kosten entstehen nicht allein durch den Radweg, sondern durch die Gesamtmaßnahme: Sie umfasst die Verbreiterung der Bundesstraße, die bessere Kurvenführung und den Radweg.

In den 115 Millionen Euro stecken also auch Kosten für den Ausbau und die Erneuerung der Bundesstraße, die gar nicht von den Radfahrern und Fußgängern genutzt wird, sondern von Autofahrern. So steht es auch in einer Pressemitteilung des Ministeriums zur Fertigstellung des zweiten von insgesamt drei Bauabschnitten auf der Strecke.

Dennoch haben es die vermeintlichen Kosten von 10 Millionen Euro pro Kilometer Radweg auch in den Kommentar des stellvertretenden “Bild”-Chefredakteurs Mario Barth Timo Lokoschat geschafft. Zwischen ein paar schlechten Wortspielen (“Rad ab!”, “Dieser Fall macht RADLOS.”) und viel Polemik (“Ist er [der Radweg] mit Blattgold beschichtet? Gibt es kostenlosen Pannenservice für die nächsten 100 Jahre? Stehen links und rechts Kellner und reichen mit Champagner gefüllte Trinkflaschen und Kaviarhäppchen?”) schreibt Lokoschat:

Viele Deutsche träumen von der MILLION. Was könnte man mit so viel Geld alles machen?

Die Bundesregierung hat eine Idee: 100 Meter Radweg bauen! […]

Pro Kilometer kostet das Projekt unfassbare zehn Millionen Euro. Der wohl teuerste Radweg aller Zeiten.

Dabei handele es sich doch um “einen normalen Radweg”, so Lokoschat, was ebenfalls maximal irreführend ist. Normal sei, dass der Fuß- und Radweg die Standardbreite von 2,5 Metern habe, sagt uns der Sprecher des hessischen Verkehrsministeriums: “Alles andere ist nicht normal.” Das beschrieb er auch in der bereits erwähnten Mail an die “Bild”-Autoren:

Die ausgesprochen schwierigen Verhältnisse — die Enge des Tals, das Nebeneinander von Straße und Bahnlinie, die Notwendigkeit des Hochwasserschutzes, der Schutz des UNESCO-Welterbes — machen den Straßenbau in diesem Abschnitt ungemein aufwendig und lassen keine billigere Lösung zu. Man hätte dann schon auf das Vorhaben verzichten müssen, aber um den Preis der Verkehrssicherheit, denn die Trennung von Auto- und Fahrradverkehr auf der zweispurigen B42 und die Verbreiterung der Fahrbahn bedeuten einen enormen Gewinn.

Hinzu komme, dass aufgrund der besonderen örtlichen Situation auf mehreren Kilometern eine sogenannte Kragarmkonstruktion, also eine Art Galerie, für den Fuß- und Radweg errichtet werden musste, was bei “einem normalen Radweg” natürlich auch nicht der Fall ist.

“Bild” hat dann auch noch beim Bund der Steuerzahler nachgefragt, was der denn von dem Bau und den Kosten halte, schließlich sei das ja alles “bitter für den Steuerzahler”.

Der Bund der Steuerzahler hält den Bau des Radwegs “an der touristisch attraktiven Straße” für “sinnvoll”.

Ein Sprecher zu BILD: “Natürlich entstehen dort enorme Kosten, doch wir kennen derzeit keine Alternative, wie Steuergelder gespart werden können.”

Das zeigt vermutlich am besten, wie absurd die “Bild”-Berichterstattung und der Kommentar von Timo Lokoschat sind: Selbst der Bund der Steuerzahler, der immer alles skandalös findet, kann keinen Skandal erkennen.

Mit Dank an Andreas G., Sebastian L., happy und @OlafStorbeck für die Hinweise!

Morddrohung, Operation Reißwolf, Untreueverdacht beim Ökoblatt

1. Morddrohung nach “Tagesthemen”-Kommentar zu AfD
(tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Der Redaktionsleiter der WDR-Sendung “Monitor” Georg Restle ist für seine kritische Haltung der AfD gegenüber bekannt. Deshalb haben AfD-Spitzenfunktionäre ihn anscheinend zum Lieblingsfeind erkoren und überschütten ihn auf Twitter mit den wüstesten Beschimpfungen (“totalitärer Schurke”, “abstoßender Feind der Demokratie”). Nach einem “Tagesthemen”-Kommentar ging bei Restle nun eine Morddrohung ein. Der WDR hat Strafanzeige gestellt.

2. Operation Reißwolf: Kurz-Mitarbeiter ließ inkognito Daten aus Kanzleramt vernichten
(kurier.at, Daniela Kittner & Raffaela Lindorfer)
Es ist ein Fall von ungeheurer Dreistigkeit und Dummheit: Ein Mitarbeiter des damaligen österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz wollte kurz nach der Ibiza-Affäre einen Datenträger aus dem Kanzleramt vernichten. Abweichend vom normalen Procedere brachte er die Festplatte zu einer Privatfirma und sah dort beim Schreddern zu. Den Auftrag erteilte er unter einem falschen Namen, die Rechnung bezahlte er nicht. Darauf schaltete die Firma die Polizei wegen Betrugs ein, worauf bei der “Soko Ibiza” die Alarmglocken geschrillt hätten.

3. Materialschlacht der Streamingportale
(sueddeutsche.de, Jürgen Schmieder)
Der Machtkampf der Streamingportale ist in vollem Gange. In den USA hat Netflix erstmals Abonnenten verloren. Und neue Wettbewerber wie HBO Max, Disney, Apple, WarnerMedia und NBCU werden den Druck auf den Streamingdienst weiter verstärken.

4. Die AfD-Gouvernante
(woz.ch, Daniela Janser)
Daniela Janser kritisiert die redaktionelle Ausrichtung der “Neuen Zürcher Zeitung” (“NZZ”): “Als AfD-Gouvernante beackert sie dieselben Themen wie die Rechtsaussenpartei und erörtert in zahlreichen Artikeln, wie die AfD sich normalisieren könnte: damit sie als seriöse Rechtspartei statt als wilder, teils rechtsextremer Haufen noch wählbarer wird.”

5. Untreueverdacht beim Ökoblatt
(taz.de, Christoph Schmidt-Lunau)
Das Magazin “Öko-Test” überprüft normalerweise Geldanlagen und Finanzierungsmodelle von anderen. Nun ist es selbst zum Prüffall geworden: Vergangene Woche gab es eine groß angelegte Razzia in den Geschäfts- und Privaträumen der Öko-Tester. Der Verdacht: Bei einer missglückten China-Expansion sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen.

6. Grit und Flori: Plötzlich Schloss mit lustig
(uebermedien.de, Mats Schönauer)
Yellow-Press-Experte Mats Schönauer bildet Dich zum/zur RegenbogenredakteurIn aus. Die Prüfungsaufgabe: Aus eher langweiligen Nachrichten musst Du knallige Meldungen dichten. Doch sei gewarnt: Du musst eine Menge Kreativität und Skrupellosigkeit besitzen, um Schönauers reale Beispiele aus der Regenbogenwelt zu toppen.