Die “New York Times” berichtete vor eineinhalb Wochen über ein “Obscure German Soccer Team”, das es zum “Brooklyn Cult” geschafft hat. Dass sich in einer Kneipe neben der Williamsburg Bridge, der East River Bar, seit Jahren Fußballfans zum gemeinsamen Gucken treffen, sei vor allem ein “Anti-Fascist Thing”, steht in der Überschrift. In dem Artikel geht es um den FC St. Pauli und seine New Yorker Anhänger, die East River Pirates.
Bild.de fand die Geschichte wohl ganz gut und wollte auch über den Fanklub berichten. Aber der wollte nicht. Und machte das “Bild”-Autor Herbert Bauernebel in einer Antwort auf dessen Anfrage mit ziemlich deutlichen Worten klar:
“YNWA”, You’ll Never Walk Alone, dachte sich offenbar auch Bauernebel, schnappte sich einen Fotografen und suchte am Samstag die East River Bar auf, während das Spiel zwischen dem FC St. Pauli und Erzgebirge Aue gezeigt wurde. Der “Bild”-Reporter führte Interviews, der Fotograf fotografierte — bis die East River Pirates es mitbekommen haben. Dann kam es laut Statement des Fanklubs zu einem hitzigen Streit:
Bild.de brachte die Geschichte gestern, allerdings ohne Hinweis zu all dem Trubel. Im Gegenteil: Man sei “zu Gast bei den St. Pauli-Fans aus der Brooklyn-Bar” gewesen:
Die Info aus dem Statement der East River Pirates, dass Herbert Bauernebel und der Fotograf die Bar während der zweiten Halbzeit verlassen haben sollen, ist übrigens ganz interessant. Am Ende des Bild.de-Artikels steht:
Der FC St. Pauli hat unterdessen die frühe Führung vergeigt und geht beim Abpfiff als Verlierer mit 1:2 vom Platz. Ein paar enttäuschte Gesichter gibt es schon, aber dann geht der Barbetrieb gleich heiter weiter. Das Sportliche ist dann doch eher nebensächlich …
Woher der Autor das bloß weiß, wenn er die East River Bar früher verlassen haben sollte?
Linksextreme die Autoabgase einsammeln, um sie zu einer Messstation zu tragen — was wie Satire klingt, war tatsächlich Gegenstand einer Anleitung, die kürzlich auf einer Internetseite von sogenannten Linksautonomen veröffentlicht wurde.
“schlechter Scherz” — das ist Geschmackssache. Satire — auf jeden Fall! Denn die “Titanic” schreibt zu den linksautonomen Abgassammlern: Wir waren’s!
Die “Titanic”-Redakteure Leonard Riegel und Moritz Hürtgen haben “Focus Online” reingelegt. Sie haben sich unter dem Namen Michael Leitmayr — ein Münchner, “der als Hobby ‘linke Aktivitäten überwacht'” — bei dem Portal mit einem selbst zusammengefrickelten Video gemeldet, das vermeintlich auf der Plattform “Indymedia” veröffentlicht und dort wieder gelöscht wurde:
Wer die “Focus online”-App auf seinem Smartphone installiert hat, weiß, dass die Münchner Vollgasjournalisten jeden Tag zwischen fünf und hundert Push-Mitteilungen zum Thema Pkw ausgeben. Müsste das Faktenmagazin nicht zwingend berichten, wenn das Autohasser-Filmchen z.B. beim linksextremen Portal “Indymedia” auftaucht? Na klar, es müsste!
Das “Filmchen” mit dem Titel “TUTORIAL FEINSTAUBMESSSTATIONEN MANIPULIEREN” zeigt Hürtgen und Riegel mit Sturmhauben, wie sie mit einer Fußpumpe erst Abgase an einem Autoauspuff sammeln und diese dann an einer Frankfurter Messstation verteilen. Dazu die Slogans “Autokonzerne bekämpfen” und “Diesellobby zerschlagen”. Bei “Focus Online” haben sie einen Artikel draus gemacht:
Auf einer Internetseite wurde eine Anleitung verbreitet, wie man Feinstaub- und Stickoxid-Messstationen manipulieren könnte. Das Video liegt FOCUS Online vor.
Und ja, es hätte einen relativ leichten Weg gegeben, die Sache vor Veröffentlichung zu überprüfen: Die “Titanic” (beziehungsweise Michael Leitmayr) hat nach eigener Angabe mit einem Mitarbeiter von “Focus Online” telefoniert und ihm erzählt, über Twitter auf den Link zur inzwischen gelöschten “Indymedia”-Seite gestoßen zu sein. Man könne sich aber nicht mehr erinnern, welcher Twitter-Account das genau gewesen ist, so die Notlüge der “Titanic”-Mitarbeiter. Nach diesem Link, der “Focus Online” durch einen Screenshot bekannt war, hätte man bei Twitter suchen können — und nichts gefunden. Dafür hätte man natürlich gewillt sein müssen, auf eine klickträchtige Story zu verzichten.
Alle Hintergrundinfos und ein Protokoll zur Aktion gibt’s bei der “Titanic”:
Die “Bild”-Redaktion musste heute die zweite Gegendarstellung innerhalb weniger Tage abdrucken:
Und da die Flip-Flop-Sturz-Krankenhaus-Geschichte auch bei Bild.de erschienen (und dort auch immer noch zu finden) ist, gibt es auch bei Bild.de eine entsprechende Gegendarstellung von Moderatoren-Manager Daniel Navarro.
Dieter Köhler ist so etwas wie der Posterboy der Medien, die gegen den “Grenzwert-Irrsinn” (Bild.de), die “Gaga-Vorschläge” (auch Bild.de) der “Diesel-Hasser” (ebenfalls Bild.de) und die drohenden Diesel-Fahrverbote anschreiben. Der Lungenarzt im Ruhestand lieferte ihnen mit einem Positionspapier zu Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxiden eine vermeintliche wissenschaftliche Grundlage. Es kümmerte die Redaktionen nicht, dass Köhler noch nie zu dem Thema publiziert hatte, und auch nicht, dass die etwa 100 weiteren Ärzte, die das Positionspapier unterzeichneten, nur einen Bruchteil der rund 3800 von Köhler angeschriebenen Ärzte ausmachten. Alles egal, Dieter Köhlers Thesen drehten die ganz große mediale Runde. Nun zeigt eine Recherche von “taz”-Redakteur Malte Kreutzfeldt, dass Köhler sich mehrfacht verrechnet hat, teils so gravierend, dass seine Aussagen sich ins Gegenteil verkehren, wenn man korrekt rechnet.
Am selben Tag brachte “Bild” die Geschichte mit größtmöglichem Knall:
Im Blatt ähnlich laut:
Bild.de machte natürlich mit, und schon bald gab es so gut wie keine Nachrichtenseite in Deutschland mehr, die nicht über Köhlers Positionspapier berichtete. Manche von ihnen holten schon früh Gegenstimmen ein oder äußerten etwas später Zweifel. Andere übernahmen einfach die Aussagen aus dem Papier. Köhler, der bereits zuvor immer mal wieder von Redaktionen als Experte auf dem Feld präsentiert wurde, saß bei “Anne Will”, “Hart aber fair”, “SternTV”. FDP-Chef Christian Lindner hing sich in “Bild” an die “aktuelle Intervention führender Lungenfachärzte” ran und forderte “ein Moratorium bei den Stickoxid-Grenzwerten”. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dessen Sprecher seit knapp einem Jahr der frühere “Bild”-Mann Wolfgang Ainetter ist, schrieb einen “BRAND-BRIEF AN DIE EU-KOMMISSION” (“Bild”) und bezog sich dabei auf deutsche Lungenärzte.
Dieter Köhler bekam in der folgenden Berichterstattung immer wieder Platz in den “Bild”-Medien:
Dann dürfte sich Köhler ziemlich über sich selbst ärgern.
Denn Malte Kreutzfeldt zeigt heute in seiner “taz”-Titelgeschichte, was für einen Blödsinn der pensionierte Lungenarzt verbreitet. Ein Beispiel, auf das “auch die taz erst durch einen externen Hinweis aufmerksam wurde”: Köhler behauptet in seinem Positionspapier (PDF):
Dabei erreichen Raucher (eine Packung/Tag angenommen) in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher im Leben einatmen würde. Beim NOx [Stickoxide] sind die Unterschiede ähnlich, wenn auch etwas geringer.
Köhler bringt dabei allerdings Zahlen durcheinander und rechnet mit falschen Werten. Tatsächlich, so Kreutzfeldt, sind es nicht wenige Raucher-Monate, sondern zwischen 6,4 und 32 Raucher-Jahre (je nach angenommenen Stickstoffdioxid-Anteil am Stickoxid). Köhler sagt nämlich, dass man durch eine Zigarette rund 500 Mikrogramm Stickstoffdioxod in 10 Litern Atemluft aufnehme. Das rechnet er korrekt auf 50.000 µg/m³ hoch. Allerdings multipliziert er dann, um auf den Wert für eine Zigarettenschachtel zu kommen, nicht die 500 µg/10 Liter (die er pro Zigarette angibt) mit 20 Zigaretten, sondern fälschlicherweise die 50.000 µg/m³ (was letztlich bedeuten würde, dass die Person in dem Beispiel nicht 20, sondern 2000 Zigaretten am Tag raucht). Köhler kommt so auf 1 Million Mikrogramm Stickstoffdioxid, die ein Raucher am Tag zu sich nimmt. Richtig wären hingegen 10.000 Mikrogramm.
Wobei das auch nicht wirklich stimmt. Denn Köhler macht an dieser Stelle noch einen weiteren Fehler, wie Kreutzfeldt schreibt:
Zusätzlich zu diesem Rechenfehler, der das Ergebnis um Faktor 100 verfälscht, stimmt auch hier der Ausgangswert nicht, mit dem Köhler rechnet. Der von ihm genannte Wert von 500 Mikrogramm pro Zigarette gilt nicht für Stickstoffdioxid (NO2), also jenes Gas, für das die Grenzwerte gelten und das für die Fahrverbote in deutschen Städten verantwortlich ist, sondern für Stickoxide generell (NOx).
Als Anteil von NO2 an NOx beim Zigarettenrauch nennt Köhler zunächst 10 Prozent — damit wäre das Ergebnis insgesamt um den Faktor 1.000 verkehrt. In einer späteren Mail revidierte der Lungenarzt die Angabe wieder, nannte nun — ohne klare Quellenangabe — einen Bereich von 10 bis 50 Prozent; das Ergebnis seiner Rechnung wäre dann entsprechend um den Faktor 200 bis 1.000 verkehrt.
Bei Bild.de fanden sie Köhlers Raucher-Rechnung besonders anschaulich:
Durch einen Klick auf die beiden letzten, blau hinterlegten Sätze können Bild.de-Leser den Artikel bei Facebook teilen. Die zwei Sätze mit Köhlers plakativem (falschem) Beispiel werden dann automatisch als Text für ihren Post übernommen.
Während Welt.de bereits einen recht langen Beitrag zu Köhlers Rechenfehlern veröffentlich hat (letztlich eine Abschrift von Malte Kreutzfeldts “taz”-Text in indirekter Rede), gibt es bei “Bild” nur: Schweigen. In der gedruckten Ausgabe von heute kein Wort (was eigentlich nicht am Redaktionsschluss liegen kann, schließlich schafft es das “Bild”-Team auch, Geschehen aus dem Dschungelcamp von kurz vor Mitternacht noch ins Blatt zu hieven, und Malte Kreutzfeldt twitterte gestern bereits um 18:35 Uhr einen Link zu den Ergebnissen seiner Recherche). Bei Bild.de erschien der letzte Artikel, in dem der Name Köhler fällt, vor vier Tagen — eine Vorabkritik des “Polizeiruf” im “Ersten”, in dem der Kommissar Dirk Köhler heißt. Die schlampige Rechnerei des Lungenarztes Köhler existiert im “Bild”-Kosmos nicht.
Vielleicht meldet sich morgen ja Franz Josef Wagner zu Wort und berichtet von seiner großen Enttäuschung. Dieter Köhler und die “Lieben Lungen-Ärzte” hatte der “Bild”-Briefchenschreiber neulich noch als “Helden im Diesel-Chaos” gefeiert:
Nachtrag, 21:04 Uhr: Nun hat auch die “Bild”-Redaktion gemerkt, dass alle größeren deutschen Nachrichtenseiten über Köhlers Rechenfehler berichten. Bei Bild.de schreiben Tom Drechsler und Florian Kain:
Jetzt kommt raus: Professor Köhler hat genau das getan, was er anderen vorwirft — sich verrechnet!
Sein Beispiel, ein Raucher würde in nur zwei Monaten die Feinstaubdosis inhalieren, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher in seinem ganzes Leben einatmen würde, stimmt nicht.
Und es passt bestens zu “Bild”, dass Drechsler und Kain es selbst hier noch schaffen, einen Fehler einzubauen: In der Recherche von “taz”-Redakteur Malte Kreutzfeldt geht es um Stickoxide beziehungsweise um Stickstoffdioxid und nicht um Feinstaub.
Mit Dank an Michael E., Korbinian P., Sven H. und @De215S für die Hinweise!
Mit zwei großen Ausrufezeichen, aber ohne erkennbaren Grund oder Zusammenhang richtet sich die “Bild”-Redaktion heute in ihrem Blatt “an alle BILD-Leser-Reporter”:
(Draufklicken für größere Version.)
Unter anderem auch mit diesem Absatz:
Wahren Sie die Persönlichkeitsrechte anderer Menschen, verletzen Sie niemals die Privatsphäre oder die Intimsphäre anderer Menschen.
Und diesem:
Senden Sie nur Fotos an BILD, die Sie selbst gemacht haben. Nur, wenn Sie die Urheberrechte an einem Foto besitzen, können Sie damit BILD-Leser-Reporter werden.
Was angeblich für “BILD-Leser-Reporter” gelten soll, scheint nicht für die “Bild”-Mitarbeiter selbst zu gelten. In dem noch jungen Jahr haben sie jedenfalls schon zahlreich diese Grundsätze missachtet. Nachdem zum Beispiel ein 7-Jähriger zu Tode gequält wurde, zeigte Bild.de ein unverpixeltes Foto auf der Startseite:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Nachdem zwei Jugendliche auf ein Bahngleis geschubst und von einer S-Bahn überfahren wurden, zeigte “Bild” auf der Titelseite unverpixelte Fotos der beiden:
Dass solche Schweinereien nicht in Ordnung sind, egal, ob “BILD-Leser-Reporter” oder bigotte “Bild”-Redakteure dafür verantwortlich sind, zeigt schon ein Blick in den Pressekodex. Dort steht:
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
Und speziell zu Kindern und Jugendlichen:
Insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle dürfen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein.
In der Dienstagsausgabe der “Bild”-Zeitung, auf Seite 2, ganz gut versteckt zwischen “Iran-Regime bleibt sich beim Amerika-Hass treu” und “‘Unser Deutschland gibt es nicht für lau!'” finden sich diese 39 Zeilen:
Nachtrag, 12. Februar: Kapitän Claus-Peter Reisch hat sich offenbar auch gegen dieselbe (falsche) Behauptung in einem Artikel von Bild.de gewehrt. Auch dort ist inzwischen eine Gegendarstellung erschienen:
Im US-Bundesstaat Maryland sind bei einem Autounfall fünf Kinder gestorben. Bild.de berichtet über den tragischen Vorfall und zeigt im Artikel als Aufmacherbild ein unverpixeltes Foto, auf dem zwei der Kinder, eine Fünf- und eine Achtjährige, zu sehen sind:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
In der dazugehörigen Bildunterschrift steht:
[…] (5, l.) und […] (8) starben, weil sie nicht angeschnallt waren
Die Redaktion nennt also auch die Vornamen der beiden verstorbenen Kinder und dazu im Text Vor- und Nachnamen der Mutter, die am Steuer des Autos saß und verletzt überlebte.
Als Quelle des Fotos, das die beiden Mädchen zeigt, gibt Bild.de an: “Foto: privat”.
Franz Josef Wagner macht es in “Bild” heute besonders schlimm. Sein Brief richtet sich an ein 11-jähriges Mädchen, das sich das Leben genommen hat. Es wurde in der Schule offenbar heftig gemobbt. Während die Überschrift erstmal nur pietätlos ist, und Wagner aus dem tragischen Fall das boulevardesk gekoppelte “Mobbing-Mädchen” kreiert …
… ist sein Brief gefährlich. Direkt zu Beginn schreibt er:
Du bist nun dort, wo es keine Schule gibt, keine Klassenkameraden/innen, die gemein sind, Dich ärgern. Du bist dort, wie ich hoffe, wo nur Engel sind.
Und am Ende:
Die Einsamkeit des 11-jährigen Mädchens rührt uns nach ihrem Tod. Sie hat die Welt des Bösen nicht ertragen. Lebe bei den Engeln glücklich!
Solltest Du Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.
Der Suizid als scheinbarer Weg zum Glück und zu den Engeln; als vermeintliche Erlösung von der Qual, von der “Welt des Bösen”. Das ist exakt die Art der Berichterstattung, vor der die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” und die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” warnen. Beide haben Leitfäden für Medien herausgegeben, in denen sie zeigen, wie Redaktionen über Suizide berichten sollten. Darin heißt es unter anderem:
In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, z.B. (…)
• den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe “in den Suizid getrieben”. (“Für ihn gab es keinen Ausweg”).
• den Suizid romantisierend oder idealisierend darzustellen (“Im Tod mit seiner Liebsten vereint”).
… so die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” (PDF). Die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” schreibt (PDF):
Nachahmung setzt Identifikation voraus. Diese Gefahr steigt, wenn: (…)
• der Suizid positiv bewertet, glorifiziert oder romantisiert wird
• der Suizid als nachvollziehbare Reaktion oder als einziger Ausweg bezeichnet wird
Die Nachahmungsgefahr sinke hingegen, wenn “der Suizid als Folge einer Erkrankung (z.B. Depression) dargestellt wird, die erfolgreich hätte behandelt werden können” und wenn “alternative Problemlösungen und Fälle von Krisenbewältigung aufgezeigt werden”.
Der gegenteilige Effekt entstehe, wenn eine Redaktion “einen Suizid auf der Titelseite oder als ‘TOP-News’ erscheinen” lasse und “die Begriffe Selbstmord, Suizid und Freitod in der Überschrift vorkommen”.
Ernst Elitz begegnet uns ja normalerweise als Ombudsmann, der bei und in “Bild” für Recht und Ordnung sorgen soll. Manchmal schreibt Elitz aber auch als Autor für “Bild” und Bild.de und stiftet dann selbst mit falschen Fakten Unordnung. So auch jetzt wieder.
Aufreger der Woche! Das Thema bei “Maybrit Illner”: “Fahrverbot und Tempolimit — muss Deutschland runter vom Gas?”
Jeder hat eine Meinung. Wer hat die schlagenden Argumente?
Für Elitz und Bild.de offenbar Verkehrsminister Andreas Scheuer:
Scheuer macht sich lustig: In Stuttgart steht eine Mess-Station “am Neckartor in der Gebäudenische neben der Mülltonne. In Wien ist die zentrale Mess-Station in einer Fussgängerzone.” Scheuer: “Wenn man sich selber kasteien will, muss man es machen wie in Stuttgart.”
Noch ein Mess-Stationen-Witz vom Verkehrsminister: In Oldenburg wurden die höchsten Werte während eines Marathonlaufs gemessen. Scheuer: “Wenn das nicht Gaga ist.” Scheuer will die Grenzwerte noch mal überprüfen lassen.
Erstmal sollte Andreas Scheuer aber vielleicht seine Fakten überprüfen lassen. Und das am besten nicht von Ernst Elitz, der Scheuers “Mess-Stationen-Witz” aus Oldenburg bereitwillig aufgreift und verbreitet.
Denn es stimmt schlicht nicht, was der Verkehrsminister und der “Bild”-Ombudsmann da erzählen.
Die vermeintlich hohen Messwerte während des Marathons in Oldenburg kursieren schon länger. Neulich erst tauchten sie zum Beispiel in der Doku “Das Diesel-Desaster” im “Ersten” auf. Und jetzt eben bei “Maybrit Illner” und Bild.de.
Der Marathonlauf in Oldenburg fand am 21. Oktober 2018 statt. Die gesperrte Strecke führte unter anderem an einer Messstation für Stickstoffdioxid vorbei. Diese meldete für den 21. Oktober den Tageshöchstwert von 54 µg/m³, also ein gutes Stück über dem Grenzwert von 40 µg/m³.
Wurden in Oldenburg also “die höchsten Werte während eines Marathonlaufs gemessen”, wie Ernst Elitz dem Verkehrsminister nachplappert? Nein. Die 54 µg/m³ wurden um 21 Uhr gemessen, als der Marathon längst vorbei war, und wieder Autos an der Messstation vorbeifuhren. Während des Laufs — um 16 Uhr wurden die letzten Straßensperrungen aufgehoben — lagen die offiziellen Messergebnisse unter dem Grenzwert:
Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Messstation am Heiligengeistwall wird auch häufig der Tag des Marathonlaufes in Oldenburg, 21. Oktober 2018, als Argument für die möglicherweise unzutreffenden Messwerte heran gezogen. Beim Marathonlauf gab es keine Autos in der Stadt, trotzdem hohe Messwerte. Wie lässt sich das erklären? (…)
Der Tagesmittelwert am 21. Oktober 2018 hat den üblichen Sonntagswert um 1,2 µg/m³ unterschritten.
Der Laufsonntag war auch für den Heiligengeistwall nicht verkehrsfrei. Lediglich im Zeitraum zwischen 9 und 14 Uhr sorgten Absperrungen für weniger Verkehr als sonst üblich. Während dieser Zeit konnten in Richtung Julius-Mosen-Platz etwa 670 Fahrzeuge den Bereich der Messstelle passieren. Im gesamten Zeitraum von 0 bis 24 Uhr befuhren etwa 2.500 PKW und rund 200 LKW/Busse die Strecke in diese Richtung.
Auf der Bild.de-Startseite wirbt Ernst Elitz so für seine Dienste als “Bild”-Ombudsmann:
Wir hätten da was, siehe oben.
Mit Dank an theo und @MichaelKreil für die Hinweise!
In Nürnberg sind am vergangenen Wochenende zwei Jugendliche von einer S-Bahn überfahren worden. Die beiden 16-Jährigen waren in einer Disco und warteten am Bahnsteig der Haltestelle Frankenstadion auf ihren Zug nach Hause. Sie wurden dann offenbar, das zeigen laut Polizei Überwachungsvideos, von anderen Jugendlichen auf die Gleise gestoßen. Eine einfahrende S-Bahn konnte nicht mehr rechtzeitig stoppen, die zwei Jugendlichen starben noch am Unfallort.
Die “Bild”-Zeitung berichtete am Dienstag über den Fall und zeigte auf ihrer Titelseite unverpixelte Fotos der beiden:
(Die Unkenntlichmachung stammt von uns.)
Im Innenteil waren diese Bilder noch einmal groß zu sehen.
Die Familien der Verstorbenen haben der “Bild”-Redaktion allerdings nicht erlaubt, die Fotos zu verwenden und die zwei Jugendlichen zu zeigen. Daher gehen sie nun gegen die Veröffentlichung vor, wie nordbayern.de berichtet. Und sie waren damit offenbar auch schon erfolgreich, denn die Titelseite im “Bild”-E-Paper sieht nun so aus:
Die Seite im Innenteil, auf der die Aufnahmen ebenfalls zu sehen waren, ist komplett aus dem E-Paper verschwunden. Genauso lief es neulich bei einem ganz ähnlichen Fall.
Dass sich die Familien wehren, ist aus unserer Sicht völlig richtig. Dass sie sich wehren müssen, ist schrecklich. Denn natürlich haben sie derzeit viele andere Sorgen, und dann kommt eben noch eine rücksichtslose “Bild”-Redaktion obendrauf, mit der man sich, neben der Trauer, rumschlagen muss.
Wir hatten bereits am Montagabend, als das E-Paper erschienen war, bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, ob die Familien der verstorbenen Jugendlichen der Redaktion erlaubt haben, die Fotos unverpixelt zu drucken, und wenn nicht: warum sie es dann dennoch macht. Trotz mehrerer Nachfragen und drei Tagen Zeit haben wir bis heute keine Antwort bekommen.
Ebenfalls nordbayern.de berichtet, dass die Menschen aus Heroldsberg, wo die Jugendlichen wohnten, entsetzt seien über das Verhalten der Medien vor Ort. Reporter hätten Jugendliche bis vor die Haustür verfolgt, Kamerateams hätten Trauernde beschimpft. Und einen “Bild”-Comic, der die Szene am Bahnsteig nachstellte, hätten Schülerinnen und Schülern als Lächerlichmachen der Opfer empfunden.