wir beide wissen, dass sich Ihre “Bild am Sonntag” im Vergleich zur werktäglichen “Bild” ja gemeinhin etwas wohlerzogener gibt: Statt “Wichsvorlage” will die “BamS” lieber “informativ, enthüllend und hintergründig” sein, “Anwalt des Bürgers und kritischer Beobachter” und “Service-Dienstleister für alle Lebenslagen”. Sogar eine “Korrektur”-Rubrik haben Sie im Blatt — eingeführt, lange bevor Ihr Chefredakteurs-Kollege und Herausgeber Kai Diekmann auf die Idee kam, ähnliches auch für “Bild” zu reanimieren.
Aber ich muss schon sagen: Sonderlich pfleglich scheint Ihre Zeitung mit dem zur Schau getragenen Sonntagsstaat nicht umzugehen. Schauen Sie sich, was etwa die erwähnten
“Korrekturen” anbelangt, doch mal an, was die “BamS” in diesem Jahr berichtigte: dass “Vichy-Homme Contrôle” nicht bei Schlecker, sondern “ausschließlich über Apotheken vertrieben” werde (4.3.2007), dass nicht Seelöwinnen, sondern Seemövinnen Eier legen (11.3.2007) und auf einem “Teppich in Holzoptik” keinen Mops, sondern eine Französische Bulldogge abgebildet gewesen sei (8.4.2007). Und seien wir ehrlich, Herr Strunz: Letzte Woche, diese “Berichtigung” zu einem mehr als zwei Monate alten Artikel, die haben Sie doch nicht freiwillig gedruckt, oder?
Andererseits erinnern Sie sich doch bestimmt noch, wie Sie unlängst bereits versäumt hatten, Ihre Leser nachträglich über einen weitaus peinlicheren, aber womöglich nicht einmal selbst verschuldeten Irrtum aufzuklären.
Und nun?
Nun stand vor acht Tagen schon wieder großer Quatsch im Blatt: Da hatte Ihre Zeitung das Opfer eines Gewaltverbrechens ausführlich zu Wort kommen lassen, doch sah sich im Nachhinein nicht nur das Opfer selbst sinnentstellend wiedergegeben. Nein, die ganze Geschichte war nach Polizeiangaben nichts weiter als eine Falschmeldung. Ich weiß das. Und Sie, Herr Strunz, als bekennender BILDblog-Leser, wissen das auch.
In der gestrigen “BamS” aber findet sich dazu kein Wort. Warum eigentlich nicht?
Herzlichst,
Ihre ClarissaPS: Sollte meine Frage nicht in Ihre Rubrik “Der Chefredakteur antwortet” passen, kann ich alternativ natürlich auch die folgende anbieten: “Wie schaffen Sie es eigentlich, Woche für Woche so eine wunderbare Zeitung zu machen?”
Suchergebnisse für ‘strunz’
Forderungen an Medienpolitik, Lehrreiches Gelaber, Euronews
1. Sechs Forderungen an die Medienpolitik
(netzwerkrecherche.org)
Das Netzwerk Recherche fordert die künftige Bundesregierung auf, nach der Wahl die Rahmenbedingungen für den Journalismus in Deutschland zu verbessern. Wichtige Reformen seien zuletzt auf der Strecke geblieben. In einem Positionspapier stellt der Verein sechs zentrale Forderungen auf, darunter die Stärkung der Pressefreiheit, ein eigenes Bundespressegesetz für einen besseren Zugang zu Informationen und die Förderung des gemeinnützigen Journalismus.
2. Lehrreiches Gelaber
(taz.de, Jannik Grimmbacher)
Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF setzen im Wahlkampfendspurt auf neue Talkformate, in denen das Publikum stärker einbezogen wird – mit unterschiedlichem Erfolg, wie Jannik Grimmbacher kommentiert. Er hat sich die verschiedenen Sendungen angeschaut und aufgeschrieben, was aus seiner Sicht gut und was weniger gut funktioniert hat.
3. Gegen SLAPP-Klagen und Big-Tech-Intransparenz
(verdi.de, Günter Herkel)
Für das Verdi-Medienmagazin “M” hat sich Günter Herkel angeschaut, wie die Parteien zu Themen wie Big-Tech-Transparenz, Pressefreiheit und dem Schutz von Medienschaffenden stehen. Während die SPD und Die Linke strengere Offenlegungspflichten für Algorithmen fordern würden, warne die FDP vor übermäßiger Regulierung und Eingriffen in die Meinungsfreiheit.
4. Euronews schreibt erstmals seit zehn Jahren schwarze Zahlen
(dwdl.de, Alexander Krei)
Der europäische Nachrichtensender Euronews habe nach einer tiefgreifenden Umstrukturierung und massiven Einsparungen erstmals seit zehn Jahren wieder schwarze Zahlen geschrieben. Der vom ehemaligen “Bild”-Chefredakteur Claus Strunz geleitete Sender betreibe nun eine zentrale Redaktion in Brüssel, plane die Eröffnung neuer Büros und den Start mehrerer Franchise-Kanäle in Europa. Auch das Angebot in Deutschland solle ausgebaut werden.
5. Mutmaßliches im Journalismus und Youtube-Geburtstag
(wdr.de, Steffi Orbach, Audio: 41:15 Minuten)
Das WDR5-Medienmagazin “Töne, Texte, Bilder” behandelt verschiedene Medienthemen, darunter die Auswirkungen des USAID-Stopps auf Exil-Medien und die Verwendung des Begriffs “mutmaßlich” in der Berichterstattung. Außerdem geht es um die Entwicklung der Wahlkampf-Talkformate im Fernsehen sowie um das 20-jährige Bestehen von YouTube. Zum Schluss wird satirisch diskutiert, ob Kalifornien dänisch werden könnte, und der Wahlkampf mit einer Winter-WM verglichen.
6. X legt EU-Kommission neue Beweise zu geändertem Algorithmus vor
(zeit.de)
X (ehemals Twitter) habe der Europäischen Kommission nach Aufforderung neue Beweise für Änderungen an seinem Algorithmus vorgelegt. Die EU untersuche, ob X gegen den Digital Services Act verstoßen hat, insbesondere in Bezug auf die Eindämmung von Hassrede und Desinformation. Sollten Verstöße festgestellt werden, könnten der Plattform hohe Geldstrafen bis hin zu täglichen Bußgeldern drohen.
Wechsel bei “Bild”, Geschwisterzoff wg. Wendler-Doku, SLAPP-Richtlinie
1. Axel Springer wirft komplette »Bild«-Führung raus
(spiegel.de, Anton Rainer)
Wie der Axel-Springer-Verlag gestern überraschend mitteilte, trennt man sich von allen drei Führungskräften der bisherigen “Bild”-Chefredaktion. Johannes Boie, Alexandra Würzbach und Claus Strunz scheiden demnach aus ihren “bisherigen Rollen” aus. Über “mögliche künftige Aufgaben” im Hause Springer werde man zu einem späteren Zeitpunkt informieren. Mit den zwei “Bild”-Rückkehrern Marion Horn und Robert Schneider steht die Nachfolge bereits fest.
2. Neuer Anlauf für ein Hinweisgeberschutzgesetz
(whistleblower-net.de)
Am heutigen 17. März wollen die Regierungsfraktionen einen neuen Anlauf zur überfälligen Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie unternehmen und gleich zwei neue Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen. Das Whistleblower-Netzwerk befürchtet eine “Verschlimmbesserung statt Mängelbeseitigung”. Es sei bedauerlich, dass die Ampelfraktionen den neuen Anlauf nicht dazu genutzt hätten, “zwei offensichtliche Mängel des vorherigen Gesetzesbeschlusses zu beheben”.
3. SLAPP-Richtlinie in Gefahr
(verdi.de)
“SLAPP” ist die englische Abkürzung für “Strategic Lawsuits Against Public Participation”. Derartige Klagen sollen Medienschaffende sowie Aktivistinnen und Aktivisten einschüchtern und von ihrer Arbeit abhalten. Die EU will solche missbräuchlichen Verfahren verhindern und hat eine entsprechende Richtlinie vorgelegt. Nun befürchtet ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Gewerkschaften, Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen einen faulen Kompromiss.
4. Mehr Kontrolle bei ARD und ZDF
(tagesspiegel.de)
Die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder haben sich auf einen vierten Medienänderungsstaatsvertrag und einheitliche Regeln zur Stärkung von Transparenz und Kontrolle bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geeinigt. Ausschlaggebend für die Reformdiskussion sei die RBB-Affäre um Verschwendung und Vetternwirtschaft gewesen.
5. Medienkritik professionalisieren: Medienwatchblog Kobuk sammelt Geld
(derstandard.at, Oliver Mark)
Das österreichische Medienwatchblog “Kobuk”, das wir auch gern hier in den “6 vor 9” verlinken, will sich professionalisieren und setzt künftig auf ein Mitglieder- und Spendenmodell, das von 3 bis 35 Euro im Monat reicht. Die Artikel sollen aber nicht hinter einer Bezahlschranke verschwinden. Mit den Einnahmen sollen Honorare für Autorinnen und Autoren sowie neue Inhalte finanziert werden.
6. RTL gegen RTL 2: Geschwisterzoff wegen Wendler-Doku
(rnd.de, Matthias Schwarzer)
Nachdem RTLzwei die (mittlerweile abgesagte) Dokusoap mit dem umstrittenen Ex-Schlagersänger und Verschwörungsideologen Michael Wendler angekündigt hatte, meldete sich RTL zu Wort. Die Staffel werde weder vor noch nach der TV-Ausstrahlung auf dem Portal RTL+ verfügbar sein. Matthias Schwarzer erklärt, warum es mit der von “Respekt und Wertschätzung” getragenen “vertrauensvollen Zusammenarbeit” der Sender nicht so weit her ist.
Die Uber Files, Depressionen, Die Rückkehr des Dieter B.
1. Wie Uber deutsche Medien umwarb
(tagesschau.de, Petra Blum & Andreas Braun & Catharina Felke & Benedikt Strunz)
Eine anonyme Quelle hat dem “Guardian” mehr als 124.000 vertrauliche Dokumente aus dem inneren Kreis des Fahrtenvermittlers Uber zugespielt. Die Auswertung der Daten wurde durch das Internationale Konsortium Investigativer Journalistinnen und Journalisten (ICIJ) durchgeführt. Ein Ergebnis: Bei seiner Lobby-Arbeit habe Uber in Deutschland auf den Springer-Konzern gesetzt und sich dabei vor allem für den damaligen “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann interessiert. Der Springer-Konzern habe nicht nur Hilfe angeboten, sondern auch in in das Start-up investiert.
Weitere Lesehinweise: Die “Süddeutsche Zeitung” fasst zusammen: Was man über die Uber Files wissen muss. Und auch der “Spiegel” bietet eine Zusammenstellung der wichtigsten Fragen und Antworten. Die “FAZ” könnte Betroffene der Uber-Lobbyarbeit sein. Dort hatte der Ökonom Justus Haucap einen Gastbeitrag verfasst. Nur wenige Tage später hatte Haucap einen Vertrag mit Uber geschlossen – unter anderem über das Verfassen eines Presseartikels. Haucap könne “heute nicht mehr rekonstruieren, um welchen Beitrag es sich dabei gehandelt haben soll.”
2. In eigener Sache: Ich habe Depressionen
(uebermedien.de, Larena Klöckner)
“Ich habe Depressionen. Und bin der Meinung, dass darüber im Journalismus mehr gesprochen werden muss. Nicht etwa, weil ich mir anmaße, zu sagen, dass es eine depressive Person im Journalismus schwerer als in anderen Berufen hat. Darum soll es nicht gehen. Vielmehr darum, die täglichen Herausforderungen in einer Branche zu zeigen, die Auszeiten nicht vorsieht und Überarbeitung etwa in Form von möglichst vielen und oft unbezahlten Praktika quasi voraussetzt.” In einem sehr persönlichen Text hat Larena Klöckner aufgeschrieben, wie sie als Journalistin mit Depressionen arbeitet und lebt: “Es geht um Druck, Versagensängste und Hilflosigkeit.”
(Solltest Du Depressionen oder gar Suizidgedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.)
3. Elon Musk will Twitter nicht mehr übernehmen: Was wird jetzt aus der Plattform? – Interview mit Simon Hurtz
(deutschlandfunk.de, Mirjam Kid, Audio: 6:48 Minuten)
Wie gestern in den “6 vor 9” berichtet, hat Tech-Milliardär Elon Musk seine Vereinbarung zum Kauf von Twitter für aufgelöst erklärt. Der Deutschlandfunk hat Simon Hurtz vom “Social Media Watchblog” angerufen und um seine Einordnung gebeten. Hurtz erklärt die möglichen Szenarien, gibt eine Einschätzung ab, weist aber auch auf die Unsicherheitsfaktoren hin.
Weiterer Lesehinweis: Twitter rüstet sich für Gerichtsschlacht mit Musk (spiegel.de).
4. Weitere Schikanen gegen Medien
(djv.de, Hendrik Zörner)
Der Deutsche Journalisten-Verband protestiert gegen die Sperrung des Nachrichtenportals Welt.de durch die russischen Zensurbehörden sowie gegen die geplante Liquidierung des russischen Journalistenverbands. Die Sperrung der digitalen “Welt” sei ein Akt der Verzweiflung: “Diktator Putin schlägt panisch gegen alles, was seine Propaganda Lügen straft.”
5. RTL holt Bohlen zurück zu “Deutschland sucht den Superstar”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
“Im Frühjahr 2021 war es für den neuen RTL-Chef Henning Tewes eine Frage der Haltung, sich von Dieter Bohlen zu trennen. Aus Mangel an Erfolg bei ‘DSDS’ fliegt die Haltung über Bord – und Bohlen ist zurück.” “DWDL”-Chef Thomas Lückerath kommentiert die Rolle rückwärts: “Weil Neuausrichtung des Senders und Unternehmens bei RTL Deutschland im vergangenen Jahr Hand in Hand gingen, wird man sich auch im Haus fragen: Welche ehrbaren Worte bzw. welche Haltung, die man im vergangenen Jahr bedeutungsschwanger vorgetragen hat, wird als nächstes kassiert?”
6. Satirischer Wochenrückblick: Ich muss mich bei Bild TV entschuldigen
(web.de, Marie von den Benken)
In einem satirischen Text lobt Marie von den Benken “Bild TV” für die, nun ja, Erfolge und entschuldigt sich bei dem Sender: “Im Prinzip ist Bild TV ein personifiziertes ‘Das wird man ja wohl noch sagen dürfen’ und erkämpft sich damit langsam, aber wacker und kontinuierlich Quoten-Promille um Quoten-Promille aus dem inzwischen reich bestückten deutschen Selbstdenker-Lager, in dem konsequent intellektuelle Nebensaison herrscht.”
Wer nichts zu verbergen hat
Es dürfte sich herumgesprochen haben: Julian Reichelt ist nicht mehr “Bild”-Chefredakteur. Und es dürfte sich auch herumgesprochen haben, warum: “Nach neuen Erkenntnissen” zum Machtmissbrauch durch Reichelt hat der Springer-Verlag ihn von seinen Aufgaben entbunden:
Die Axel Springer SE hat BILD-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden. Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.
… steht in einer Pressemitteilung, die Springer gestern veröffentlicht hat. Es geht dabei um Affären, die Reichelt mit Mitarbeiterinnen hatte, darunter deutlich jüngere Berufsanfängerinnen. Eine Affäre soll es auch nach Abschluss des im Frühjahr durchgeführten Compliance-Verfahrens gegeben haben. Das ist offenbar die “neue Erkenntnis”, die zu Reichelts Aus geführt hat.
Die “Bild”-Redaktion wirbt mit Slogans wie “Wir zeigen, was ist” und “Wir zeigen die Wahrheit” für ihre eigene Arbeit. Wer sich bei seiner täglichen Informationsbeschaffung auf diese Versprechen verlässt und nur auf “Bild” und/oder Bild.de zurückgreift, hat von den Gründen für Julian Reichelts Ausscheiden keinen blassen Schimmer. Auch mehr als 24 Stunden nach Verkündung des Reichelt-Aus findet man weder in “Bild” noch bei Bild.de eine genaue Angabe dazu. Lediglich zwei wortgleiche Artikel sind erschienen, gestern Abend bei Bild.de und heute in der gedruckten “Bild”:
Das ist alles. Es war sicherlich nicht damit zu rechnen, dass die “Bild”-Redaktion heute im Blatt eine Doppelseite mit einer gnadenlosen Abrechnung in eigener Sache bringt. Aber wirklich nicht mehr als ein vages “als Folge von Presserecherchen”?
Es gibt einen ulkig gemeinten “Bild”-Werbeclip, in dem Julian Reichelt eine Art Stromberg spielt. Er sagt darin in einer Redaktionskonferenz: “Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.” Großes Gelächter in der Runde. Besser wäre vielleicht: Wer nichts zu verbergen hat, sollte die eigene Leserschaft nicht dumm halten.
KW 41: Hör- und Gucktipps zum Wochenende
Hurra, endlich Wochenende – und damit mehr Zeit zum Hören und Sehen! In unserer Samstagsausgabe präsentieren wir Euch eine Auswahl empfehlenswerter Filme und Podcasts mit Medienbezug. Viel Spaß bei Erkenntnisgewinn und Unterhaltung!
***
1. Shitstorms für Jugendsünden
(wdr.de, Sebastian Sonntag, Audio: 9:31 Minuten)
Die heute 20-jährige Sarah-Lee Heinrich ist seit Kurzem Bundessprecherin der Grünen Jugend und steht wegen Posts, die sie als 14-Jährige bei Twitter verfasst hat, im Zentrum eines Shitstorms. Wie Medien und Betroffene mit derartigen Situationen umgehen sollten, erklärt Martin Fehrensen vom “Social Media Watchblog” im WDR5-Medienmagazin. Die komplette Sendung mit weiteren Medienthemen gibt es hier (40:03 Minuten).
Weitere Lesehinweise: Kampagnen wie die gegen Heinrich zielen auf Unsichtbarmachung und Verdrängung, schreibt Carolina Schwarz in der “taz”: “Wir brauchen die Debatte, welches Verhalten wir als Gesellschaft entschuldbar finden. Und es wird Zeit, dass wir Strategien entwickeln, um das Spiel der Rechten nicht mehr mitzuspielen.” Und bei “Zeit Online” ist ein Interview mit Sarah-Lee Heinrich erschienen, in dem “Zeit”-Redakteur Robert Pausch mit ihr über den Shitstorm spricht.
2. ZDF Magazin Royale vom 15. Oktober 2021
(zdf.de, Video: 31:28 Minuten)
Das Genre True Crime, in dem reale Kriminalfälle nacherzählt werden, scheint seit einigen Jahren zu boomen. Das machen sich selbsternannte “Profiler” und “Profilerinnen” zunutze, die mit viel Selbstbewusstsein und wenig Sachkenntnis durch Medien tingeln und ganze Veranstaltungshallen füllen. Jan Böhmermann und sein Team haben sich drei der erfolgreichsten True-Crime-Expertinnen und -Experten herausgegriffen und zeigen, wie erschütternd wenig übrigbleibt, wenn man genauer auf Lebenslauf und Referenzen schaut.
Weitere Lesehinweise: Bei einer der drei angesprochenen Personen handelt es sich um eine besonders schillernde Figur, die bereits vielfach Gegenstand der Berichterstattung war:
- Eine zweifelhafte Expertin fürs “Charakter-Profiling” (übermedien,de)
- Grieger-Langer: Profilerin mit Hang zur Lüge (mba-journal.de)
- Grieger-Langer und die gefakte Kundenliste (haufe.de)
- Eine fragwürdige “Profilerin” (faz.net)
3. Journalismus in Belarus: Tricks gegen Zensur
(ndr.de, Video: 16:02 Minuten)
Bei “Zapp” geht es um die besorgniserregenden Zustände im von Alexander Lukaschenko autoritär geführten Belarus: “Mit brutaler Gewalt werden in Belarus alle unabhängigen Medien zerschlagen, sogar der belarussische Journalistenverband. Viele Journalistinnen und Journalisten müssen Hals über Kopf das Land verlassen. Doch die kritische Berichterstattung geht weiter: Mutige Belarussen überlegen sich Tricks, wie sie die Zensur umgehen können.”
4. Meteorologe Özden Terli – Jung & Naiv: Folge 536
(youtube.com, Tilo Jung, Video: 2:23:55 Stunden)
Özden Terli arbeitet als Meteorologe und Wettermoderator beim ZDF. Im Gespräch mit Tilo Jung erzählt er von seinem Werdegang, den Zusammenhängen und Unterschieden von Wetter und Klima, Wettervorhersagen und Klimawandel-Fakten im Wetterbericht.
5. Kampf gegen das Urheberrecht
(deutschlandfunknova.de, Sibylle Salewski, Audio: 42:35 Minuten)
Im Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Annette Gilbert geht es um das “Manifest zum Urheberrecht” des russischen Dichters und Musikers Kirill Medwedew. Für Gilbert ist Medwedews Manifest “eine Fortführung des Widerstands russischer Autoren gegen ein staatlich reguliertes Verlagswesen”.
6. So gefährlich ist BILD TV wirklich
(youtube.com, Philipp Walulis, Video: 15:02 Minuten)
Philipp Walulis widmet sich in seiner neuesten “Story”-Folge dem Sender “Bild TV”. Ist Springers neuer Fernrsehkanal das deutsche Fox News, das mit rechter Propaganda so überaus erfolgreich ist? “Wie gefährlich es wirklich ist, dass Julian Reichelt und Claus Strunz jetzt bei genau denen abschreiben – das ist unsere Story!”
Weiterer Lesehinweis: Auf Twitter gibt ProSieben die aktuellen Einschaltquoten von Mitbewerber “Bild TV” bekannt: “Der TV-Sender BILD hatte am Donnerstag einen Marktanteil von 0,0 Prozent Marktanteil (14-49). In der PrimeTime (20-23 Uhr) kam BILDTV ebenfalls auf einen Marktanteil von 0,0 Prozent (14-49).”
“Bild”, das große gewollte Missverständnis
Wie sehr kann man etwas missverstehen wollen? Und wie stark kann man sich dann auf Grundlage dieses gewollten Missverständnisses empören? Die “Bild”-Redaktion versucht momentan, genau das auszuloten.
CDU-Politikerin Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und Teil von Armin Laschets “Zukunftsteam”, schrieb gestern bei Twitter:
Mit dem “Handy-Alarm” greift Prien einen “Bild”-Begriff auf. Seit einigen Tagen blendet die Redaktion im “Bild-TV”-Programm ein großes “Handy-Alarm” ein, wenn auf dem Smartphone des stellvertretenden Chefredakteurs Paul Ronzheimer wieder frische Interna aus den Sitzungen der kürzlich gewählten Bundestagsfraktionen eingetroffen sind:
In den meisten Fällen handelt es sich dabei derzeit um Aussagen aus Priens CDU. Bei diesen Sitzungen ist unter den Teilnehmern eigentlich eine Vertraulichkeit vereinbart. Aber manch einer füttert Ronzheimer (und auch andere Journalisten) mit den internen Infos, die dann umgehend als “Handy-Alarm” bei “Bild TV” landen. Auf nichts ist die “Bild”-Redaktion derzeit stolzer als auf Paul Ronzheimers Handy.
In Karin Priens Tweet stecken zweifelsohne große Worte und schwere Vorwürfe. Aber in welche Richtung zielen sie? Wer sind in Priens Augen die “Totengräber”? Wer verübt einen “Anschlag auf unsere Demokratie”?
Man kann es bereits aus ihrem Tweet recht problemlos herauslesen, wenn man denn will. Schließlich verortet Prien das Problem der durchgestochenen Interna bei den “Totengräbern jedweder vertrauensvollen Zusammenarbeit”. Sie kann damit nur die ursprünglich als vertrauensvoll gedachte Zusammenarbeit in den Gremien der Union meinen und mit den “Totengräbern” die CDU-Maulwürfe, die Ronzheimer die Infos stecken. Sie kann damit nicht die Arbeit von Medien meinen und mit den “Totengräbern” die “Bild”-Redaktion, auch wenn sie den von “Bild” geprägten Begriff “Handy-Alarm” aufgreift. Und damit sieht sie auch nicht in der Berichterstattung einen “Anschlag auf die Demokratie”, sondern im Weiterreichen eigentlich vertraulicher Aussagen.
Deutlich wird das auch durch einen Tweet, den Karin Prien einen Tag zuvor zum selben Thema verfasst hat:
Und auch nach ihrem “Totengräber”-Tweet machte Prien noch einmal deutlich, dass ihr Vorwurf nicht der “Bild”-Redaktion galt.
Doch die interessiert das alles nicht. Sie will sich hier als Opfer eines “Frontalangriffs” und als notwendige Verteidigerin einer (in diesem Fall gar nicht attackierten) Pressefreiheit sehen:
“Bild”-Reporter fordern eine Entschuldigung von Karin Prien:
“Bild”-Redakteure erklären Priens Aussage zum “Anschlag auf die Demokratie”:
Bei “Bild TV”, der Heimat des “Handy-Alarms”, ist die Empörung besonders groß. Paul Ronzheimer spricht von “einem wirklichen Skandal”, Prien habe offenbar ein “höchst zweifelhaftes Verständnis von Pressefreiheit”. “Bild-TV”-Moderator Thomas Kausch sagt, dass Prien sich “dermaßen im Ton vergriffen” habe. “Bild”-“Show-Expertin” Özlem Evans hält das alles für eine “Frechheit”. “Eine absolute Frechheit”, findet auch Ronzheimer. Und auch er will Priens Tweet noch einmal missverstehen:
Ich verstehe das ja, dass man sich als Politikerin ärgert darüber, dass wir darüber informieren.
In einer anderen “Bild-TV”-Sendung regt sich “Bild”-Meinungschef Filipp Piatov goldenehimbeereverdächtig auf: “Also ich bin wirklich fassungslos, wenn ich das lese.” Und: “Wirklich, ich bin sprachlos.”
Den bisherigen Empörungshöhepunkt gab es gestern Abend in der Empörungssendung “Viertel nach Acht”. “Bild-TV”-Programmchef Claus Strunz erklärt Karin Prien zu seiner “absoluten Negativfigur des Tages” – “die hat sich heute nämlich wahnsinnig erregt über den ‘Handy-Alarm’ bei ‘Bild live’.” Man könnte, so Strunz, “fast sagen, sie ist durchgeknallt”:
“Ein Anschlag auf unsere Demokratie”? Also lassen Sie mich mal kurz nachdenken. Es ist doch Journalismus, es ist Informationsbeschaffung, es ist Pressefreiheit. Wer das als “Anschlag auf die Demokratie” sieht oder wertet, der will Pressefreiheit relativieren, vielleicht sogar abschaffen, das will ich nicht unterstellen. Auf jeden Fall hat der- oder diejenige große Probleme mit der Pressefreiheit.
Einen kurzen Lichtblick gibt es in der Sendung dann aber doch. “Welt”-Redakteur Constantin van Lijnden, der ebenfalls in der “Viertel-nach-Acht”-Runde sitzt, sagt über Karin Priens Aussage:
Die wohlwollendere Lesart ihres Tweets ist ja noch die, dass er sich nicht an die Journalisten richtet, weil das wäre nun wirklich unsinnig, denen irgendwie das Recht abzusprechen, solche Dinge zu veröffentlichen, sondern dass er sich nur in Anführungsstrichen an diejenigen Politiker, Parteikollegen richtet, die Dinge durchstechen.
Claus Strunz und die anderen Mitdiskutanten aus der “Bild”-Redaktion sind an diesem Gedanken aber nicht weiter interessiert.
“Bild” enthüllt öffentlich-rechtliche Verschwörung gegen die deutschen Wahlurnen
Die “Bild”-Redaktion hat sich derart in ihren Kampf gegen die TV-Konkurrenz von ARD und ZDF hineingesteigert und versucht so krampfhaft, alles links von FDP und CDU/CSU zu diskreditieren, dass sie inzwischen behauptet (und vielleicht sogar glaubt), dass die Öffentlich-Rechtlichen drei Tage vor der Bundestagswahl noch versuchen, das Wahlrecht in einer Form ändern zu lassen, dass Olaf Scholz und dessen SPD am Sonntag als sichere Sieger aus der Bundestagswahl hervorgehen.
Gestern erschien bei Bild.de dieser Artikel:
Gleich zu Beginn heißt es:
Jetzt sollen sogar Kinder und Ausländer an die deutschen Wahlurnen, damit es für den Scholz-Sieg reicht …
Zumindest wenn es nach den Öffentlich-Rechtlichen geht.
“Bild” meint nämlich beobachtet zu haben, dass ARD und ZDF “in den Tagen vor der Bundestagswahl immer wieder Stimmung für eine Änderung des Wahlrechts” machen und “problematisieren, Menschen würden angeblich ausgeschlossen, weil sie zu jung oder keine Staatsbürger sind.”
Das “angeblich” ist in dieser Aussage natürlich völlig überflüssig, denn tatsächlich ist es so, dass sowohl Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind, als auch Menschen, die keinen deutschen Pass haben, von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind. Das gibt unter anderem das Grundgesetz so vor.
Genau diesen Umstand haben in den vergangenen Tagen also verschiedene Sendungen und Social-Media-Kanäle der öffentlich-rechtlichen Sender thematisiert. “Bild” listet sechs Beispiele auf, darunter etwa ein Instagram-Post des WDR-Politmagazins “Monitor”:
Eigentlich darf man in Deutschland bei der Bundestagswahl wählen, wenn man 18 ist und mindestens schon drei Monate einen festen Wohnsitz im Land hat. Aber man braucht auch einen deutschen Pass. Und den haben fast 9 Millionen Erwachsene, die hier leben, nicht. Obwohl sie teilweise arbeiten und Steuern zahlen.
Und ein Instagram-Post des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Deutschlandfunk Kultur:
Das ist Franziska Wessel. Sie ist 17 Jahre alt und darf bei dieser Bundestagswahl nicht wählen. Ihr Vater wird ihr deshalb seine Stimme schenken.
In keinem der von “Bild” genannten Beispiele fordert eine der Redaktionen eine Gesetzesänderung. Sie informieren lediglich darüber, dass bestimmte Personen am Sonntag nicht wählen dürfen. Ist das reine Benennen eines Fakts also tatsächlich schon Stimmungsmache “für eine Änderung des Wahlrechts”, wie “Bild” behauptet?
Dass es in der Vergangenheit durchaus Änderungen des Wahlrechts gab, gerade beim Wahlalter, erwähnt “Bild” nicht. Dafür hat die Redaktion aber mehrere Meinungen zum Verhalten der Öffentlich-Rechtlichen eingeholt: Ein FDP-Politiker sagt, dass es befremdlich sei, “dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Debatten konstruiert, die unser Wahlrecht untergraben.” Ein CDU-Politiker sagt, dass “ein linkes Milieu” sich “offenbar mit diesem Vorstoß einen Stimmenzuwachs” erhoffe. Und dann zitiert “Bild” noch einen Wissenschaftler:
Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter (79, Uni Passau) zu BILD: “Es ist legitim und sinnvoll, dass das Wahlrecht an Staatsbürgerschaft und Volljährigkeit gebunden ist. Es ist grotesk, dass die Öffentlich-Rechtlichen einen anderen Eindruck erwecken. (…)” Und weiter: “Es ist eine alte linke Forderung, das Wahlalter abzusenken, weil man sich erhofft, dass junge Menschen eher links wählen.”
Leider hat die “Bild”-Redaktion an dieser Stelle vergessen zu erwähnen, dass Heinrich Oberreuter nicht nur Politikwissenschaftler ist, sondern auch CSU-Mitglied.
Aus der Kombination von einem halben Dutzend öffentlich-rechtlichen Beispielen und Aussagen der SPD-Konkurrenz konstruiert “Bild” also, dass ARD, ZDF und Deutschlandradio sich dazu verschworen haben, “Kinder und Ausländer an die deutschen Wahlurnen” zu instagrammen, “damit es für den Scholz-Sieg reicht”. Das war selbst der “Bild”-Redaktion dann offenbar etwas zu irre. Sie änderte nach einigen Stunden den Artikeleinstieg heimlich. Er lautet nun:
Sollen künftig auch Kinder und Ausländer an die Wahlurnen, damit erhoffte Mehrheiten zustande kommen?
Zumindest, wenn es nach den Öffentlich-Rechtlichen geht.
Das ist zwar weniger konkret, aber nicht weniger verschwörerisch.
Nachtrag, 21:17 Uhr: Dass “Bild” in diesem Zusammenhang einen FDP-Politiker zitiert, ist interessant. Und dass dieser den Öffentlich-Rechtlichen ein Untergraben des Wahlrechts vorwirft, ist etwas kurios. Denn im Wahlprogramm der FDP (PDF, Seite 40) steht:
Wir Freie Demokraten fordern eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und Europäischen Parlament.
Die Opfer von “Bild” (9)
Bei “Bild” konnte man in den vergangenen Tagen eine interessante Doppelwendung beobachten. Denn eigentlich war die Redaktion vor zwei Wochen gerade lauthals damit beschäftigt, Angst vor Migranten aus Afghanistan zu schüren: “Viele Täter stammen aus Afghanistan”, warnte sie etwa unter der Überschrift “Neue Zahlen der Schande – FAST JEDE WOCHE EIN ‘EHRENMORD'”.
(Unkenntlichmachungen von uns.)
In düsteren Kommentaren forderten “Bild”-Autoren einen “Aufschrei” der Gesellschaft – und von der Politik, dass sie konsequenter Maßnahmen ergreifen müsse, genauer: “Maßnahmen wie Abschiebung”.
Anlass für diese Kampagne war ein Mordfall aus Berlin (BILDblog berichtete), bei dem zwei Brüder aus Afghanistan unter dem Verdacht stehen, ihre Schwester getötet zu haben, weil sie sich laut Haftbefehl “gekränkt gefühlt haben, weil das Leben ihrer geschiedenen Schwester nicht ihren Moralvorstellungen entsprochen hatte”.
Fazit von “Bild”: Die deutsche Migrationspolitik sei “gescheitert”. Und:
Und viele Bundesbürger fragen sich: Werden wir afghanische Schwerverbrecher, die ausreisepflichtig sind, nun gar nicht mehr los?
Auch Polizeigewerkschafter und Ausländerangstverbreiter Rainer Wendt ließ “Bild” zu Wort kommen und finstere Szenarien zeichnen. Und einige Politiker – die selbstverständlich vor allem eines verlangten: härtere Abschiebungen.
Die Chefin des Bundestags-Innenausschusses, Andrea Lindholz (50, CSU) dringt auf sofortige Abschiebung der Täter.
Innenexperte Michael Kuffer (49, CSU) verlangt: “Wer als Afghane in Deutschland seine Schwester aus islamischer Verblendung ermordet, der gehört lebenslang hinter Gitter und ins Heimatland abgeschoben – und zwar unabhängig davon, welche Lage dort herrscht.”
Wenige Tage später überrannten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul. Bilder der Verzweiflung gingen um die Welt: Afghanen, die versuchen, sich an Flugzeugen festzuhalten; die ihre Babys über Stacheldraht in die Hände der US-Soldaten heben, um sie vor den Taliban zu retten. Auch “Bild” berichtete fortan immer wieder groß aus der “Hölle von Kabul” und darüber, dass die Lage im Land “immer dramatischer” werde.
Und offenbar erschien es dann selbst den Leuten von “Bild” irgendwie unpassend, inmitten solcher Nachrichten weiterhin Stimmung gegen afghanische Migranten zu machen, und so fand die Kampagne zum herbeigesehnten Abschiebe-Aufschrei mit einem Mal ein Ende: Während in der Vorwoche nahezu täglich über kriminelle Afghanen, über “Ehrenmorde” und das angebliche Versagen der Politik berichtet worden war, verschwand das Thema plötzlich komplett aus der “Bild”-Berichterstattung.
Inzwischen geht es aber langsam wieder los, insbesondere bei “Bild TV”. Allein gestern hieß es dort unter anderem:
“Man tischt uns wieder ein Märchen auf darüber, wer jetzt zu uns kommt”, meint BILD-Chef @jreichelt bei #BILDLive. Es müsse geklärt werden, welche Menschen aus #Afghanistan zu uns kommen.
“Liebe Regierung, klärt so schnell wie möglich auf, wer diese Menschen im Flugzeug sind!”, fordert @ClausStrunz bei #BILDLive. Womöglich waren Menschen dabei, die wir in Deutschland nicht haben wollen wie Verbrecher. #Afghanistan
“Die Menschen haben Angst, dass Menschen kommen, die kriminell sind” – Julian Reichelt bei BILDLive.
***
Aber das nur als Beobachtung am Rande, denn eigentlich geht es in dieser Rubrik ja um etwas anderes: die Bebilderung. Und die bestand – vor dem plötzlichen Aufschrei-Ende und -Wiederanfang – konsequent aus privaten Fotos der ermordeten Frau:
(Alle Unkenntlichmachungen von uns. Die Verdächtigen haben von “Bild” einen schwarzen Augenbalken bekommen, die ermordete Frau bekommt keinerlei Verpixelung.)
Woher die Fotos der Frau stammen, verrät “Bild” weiterhin nicht. Als Quelle steht dort bloß: “privat”.
***
Insgesamt veröffentlichten die “Bild”-Medien in jener Woche (9. bis 15. August) mindestens 31 Mal Fotos von Menschen, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind, davon viermal Kinder.
In zwei Fällen waren die Gesichter verpixelt, in einem Fall die Augen. In 28 Fällen verzichtete “Bild” auf jede Unkenntlichmachung.
***
Veröffentlicht wurde zum Beispiel das Gesicht eines Priesters, der in Frankreich ermordet wurde:
Fotoquelle: “Twitter.com”.
Und das Gesicht eines jungen Mannes, der nach einem Autounfall gestorben ist:
Fotoquelle: “Privat”.
Und das Gesicht einer Frau, die in den Pyrenäen verunglückte (und das Gesicht ihres Lebensgefährten):
Fotoquelle: “Privat”.
Und das Gesicht einer Frau, die versehentlich von ihrem Kind erschossen wurde:
Fotoquelle: “privat”.
Und das Gesicht eines Mannes, der bei der Explosion im Chempark Leverkusen ums Leben kam (und das Gesicht seiner Frau; immerhin das Gesicht des Kindes ist verpixelt):
Fotoquelle: “Privat”.
Und – sowohl online als gedruckt – das Gesicht eines ehemaligen Richters, der in seiner Villa ermordet wurde:
Fotoquelle: “privat”.
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Nach einem Verbrechen oder Unglück in Social-Media-Profilen zu wühlen und daraus Fotos der Opfer zu veröffentlichen, ist redaktioneller Alltag bei “Bild”. Häufig erscheinen solche Fotos ohne jede Verpixelung und ohne Zustimmung der Angehörigen oder Hinterbliebenen.
In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar von Reportern bedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.
“Bild” begründet die Veröffentlichung solcher Bilder damit, dass “nur so” die Tragik “deutlich und fassbar” werde.
Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:
Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.
Pressekodex Richtlinie 8.2
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:
Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.
Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.
Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.
KW 34: Hör- und Gucktipps zum Wochenende
Hurra, endlich Wochenende – und damit mehr Zeit zum Hören und Sehen! In unserer Samstagsausgabe präsentieren wir Euch eine Auswahl empfehlenswerter Filme und Podcasts mit Medienbezug. Viel Spaß bei Erkenntnisgewinn und Unterhaltung!
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1. Journalismus in Afghanistan
(inforadio.de, Jörg Wagner, Audio: 15:40 Minuten)
Im “Medienmagazin Spezial Afghanistan” des rbb geht es um die Rolle der in- und ausländischen Medien in den vergangenen rund 20 Jahren. Jörg Wagner hat dazu mit Willi Steul gesprochen, der zeitgleich mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 ARD-Sonderkorrespondent in Afghanistan geworden war.
Weitere Hörtipps: Im Schweizer “Republik”-Podcast analysiert “Republik”-Autor Emran Feroz die dramatische Lage in Afghanistan: “Es gibt international keinen anderen Weg mehr, als mit den Taliban zu reden” (republik.ch, Marguerite Meyer, Audio: 36:20 Minuten). Und auch beim WDR5-Medienmagazin geht es in einem Beitrag um das Thema Afghanistan: Bangen um afghanische Ortskräfte; Schwieriges Berichten aus Kabul (wdr.de, Anja Backhaus, Audio: 41:21 Minuten). Außerdem interessant: Frauen in Afghanistan: Wie kann man Journalistinnen, Filmemacherinnen, Bloggerinnen schützen? (br.de, Audio: 28:00 Minuten). Und beim Deutschlandfunk kommt Saad Mohseni zu Wort, Chef der Moby Group, dem größten privaten Medien- und Nachrichtenunternehmen in Afghanistan: “Wir haben viele Mitarbeitende verloren” (deutschlandfunk.de, Katja Bigalke & Martin Böttcher, Audio: 17:27 Minuten).
2. Diskurs zur Wahl
(play.acast.com, Audio)
In der Podcastreihe “Diskurs zur Wahl” geht es um die Frage, ob und wie der Wahlkampf 2021 von Online-Hass und Falschinformationen beeinflusst wird. Dazu spricht Gilda Sahebi mit Expertinnen und Experten aus Medien, Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft. Mittlerweile stehen sechs Folgen zur Verfügung, weitere vier sollen noch erscheinen.
3. BILD TV: Wie Julian Reichelt mit Emotionen Fernsehen macht
(ndr.de, Daniel Bouhs, Video: 16:26 Minuten)
“Bild” hat einen eigenen Fernsehsender gestartet. Daniel Bouhs hat für das Medienmagazin “Zapp” hinter die Kulissen geschaut und mit “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt sowie “Bild-TV”-Programmchef Claus Strunz darüber geredet, mit welcher Strategie der neue Kanal andere Sender angreift. Bei dem früheren “Bild”-Journalisten Georg Streiter und dem ehemalige n-tv-Geschäftsführer Hans Demmel hält sich die Begeisterung über “Bild TV” in Grenzen. Streiter sieht ein großes Problem: “Es ist ein Verdienst der ‘Bild’-Zeitung, dass sie AfD-Politiker nie groß rausbringt, aber sie sprechen die Sprache der AfD.”
4. “Kulturzeit extra: Gefahr aus dem Netz – Wege, die Macht von Facebook, Twitter und Co. zu brechen”
(3sat.de, Vivian Perkovic, Video: 38:04 Minuten)
Facebook, Twitter und Co. machen Daten zu ihrem Geschäft. Was wäre alles zu erreichen, wenn die Bürgerinnen und Bürger die Hoheit über ihre Daten wieder übernähmen? Ein “Kulturzeit extra” berichtet über erfolgreiche Alternativen. Mit im Studio dabei: Michael Seemann, Kulturwissenschaftler, Sachbuchautor und Journalist.
5. Wie habt ihr Krautreporter neu erfunden, Leon Fryszer?
(wasmitmedien.de, Daniel Fiene & Sebastian Pähler, Audio: 50:35 Minuten)
Das Online-Magazin “Krautreporter” hat in den vergangenen Jahren Höhen und Tiefen erlebt. Leon Fryszer ist seit 2020 “Krautreporter”-Vorstand und verrät bei “Was mit Medien”, wie sich die “Krautreporter” neu erfunden haben, was er über durch Mitgliedschaften finanzierte Medienangebote gelernt hat, und was die “Krautreporter” für die Zukunft planen.
6. Die Zerstörung der ARD Mediathek
(youtube.com, Walulis Story, Philip Walulis, Video: 15:16 Minuten)
Schlechte Suchmöglichkeiten, abbrechende Streams, keine Livefunktion, ein fehlender Abo-Button, Ausweispflicht für FSK16-Inhalte … “Wir finden, es ist Zeit, mal en Detail zu klären, warum die ARD-Mediathek so scheiße ist. Und wir wollen wissen, wer ist schuld. Wer hat dieses Desaster zu verantworten?” Philipp Walulis und sein Team klären die Sache mit einem Beitrag, der Anklage und Verteidigung in einem ist.