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Das Drogengeständnis der eingeweihten Kreise (2)

Der Artikel, den Reinhard Breidenbach am Montag über den unter Drogenverdacht stehenden SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Hartmann geschrieben hat, ist nicht mehr online. Die Mainzer “Allgemeine Zeitung”, deren Politikchef Breidenbach ist, hat ihn durch einen anderen Artikel zum selben Thema ersetzt. Die “Allgemeine Zeitung” hat nicht kenntlich gemacht, dass sie den Text komplett überarbeitet und an entscheidenden Stellen verändert hat. Sie hat das auch nicht erklärt. Sie hat einfach die erste Version klammheimlich verschwinden lassen (BILDblog berichtete)

Das ist an sich schon schlechter Stil. Nun aber tut die “Allgemeine Zeitung” auch noch so, als hätte es die erste Version nie gegeben.

Sie tut, als hätte sie von Anfang an geschrieben, dass bloß irgendjemand aus dem Umfeld des Politikers ihr gegenüber gesagt hat, Hartmann habe “geringe Mengen Crystal Meth” genommen, und nicht Hartmann selbst. Hartmann hat den Drogenkonsum am Mittwoch über seine Anwälte öffentlich zugegeben. Aber den Eindruck, dass er sich schon am Montag gegenüber der “Allgemeinen Zeitung” offenbarte, den ließ er sofort dementieren.

Den Ablauf schilderte Breidenbach in der “Allgemeinen Zeitung” gestern wie folgt:

Seit dem 2. Juli: Warten auf eine Erklärung Hartmanns. Am 7. Juli sagt jemand aus Hartmanns engstem Umfeld gegenüber dieser Zeitung dies: Es sei davon auszugehen, dass Hartmann eine sehr geringe Menge Crystal Meth konsumiert, dann aber die Finger davon gelassen habe. Hartmann dementiert sofort, was nie behauptet worden war: dass er persönlich gegenüber irgendeinem Medium eine Erklärung abgegeben habe; er rede zuerst mit der Staatsanwaltschaft. Das ist nun geschehen. Der wichtigste Satz seiner Erklärung: Er bedauert und bereut.

Hartmann dementierte, “was nie behauptet worden war”?

Wie sonst hätte man etwa Breidenbachs Formulierung verstehen sollen: “Hartmann wies gegenüber unserer Zeitung auch Gerüchte zurück, …” ? Oder Halbsätze wie: “Hartmann ließ gegenüber unserer Zeitung auf Anfrage erklären” oder: “Hartmann trat auch Spekulationen entgegen”? Oder die Überschrift seines Artikels, die mit Doppelpunkt und Anführungszeichen keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um ein wörtliches Zitat Hartmanns handelte?

Die “Allgemeine Zeitung” hat am Montag den falschen Eindruck erweckt, der SPD-Politiker habe ihr gegenüber eine Art Geständnis abgelegt. Nun erweckt sie auch noch den Eindruck, sie hätte nie diesen falschen Eindruck erweckt.

Mit Dank an Boris R.!

Stern.de, Digg, Eric Weber

1. “EU’s right to be forgotten: Guardian articles have been hidden by Google”
(theguardian.com, James Ball, englisch)
James Ball stellt sechs Guardian-Artikel vor, die aufgrund des Rechts auf Vergessenwerden vom Google-Suchindex verschwinden: “Publishers can and should do more to fight back. One route may be legal action. Others may be looking for search tools and engines outside the EU. Quicker than that is a direct innovation: how about any time a news outlet gets a notification, it tweets a link to the article that’s just been disappeared. Would you follow @GdnVanished?” Siehe dazu auch “Why has Google cast me into oblivion?” (bbc.com, Robert Peston).

2. “Wozu gibt es eigentlich STERN.de?”
(jensrehlaender.tumblr.com)
Wer Stern.de aufrufe, dem offenbare sich “in schonungsloser Härte, wie Reichweitenoptimierung eine Medienseite bis zur Unkenntlichkeit” ruiniere, schreibt Jens Rehländer. “Liebe Leute von stern.de, ich bin sicher, ihr würdet euren Dienst anders machen, wenn man euch ließe. (…) Denn angesichts dieses Allerwelts-Klimbim frage mich ernsthaft, was fehlen würde, wenn es stern.de morgen nicht mehr gäbe?”

3. “Gegenentwurf zu Facebook: Wie Digg zur Startseite des Internets werden will”
(spiegel.de, Ole Reißmann)
Ole Reißmann schaut sich Digg an, wo man neu auf redaktionell ausgewählte Links setzt. “Was es auf Digg nicht gibt: Clickbait, reißerische Überschriften zu oft belanglosem Entertainment, wie es Seiten wie Heftig oder Upworthy vormachen.”

4. “Deutsche Talkshows sind Russland-lastig”
(ostpol.de, Sonja Volkmann-Schluck)
Fabian Burkhardt analysiert in der Arbeit “Die Ukraine-Krise in den deutschen Talkshows” die Gäste von Talkshows zum Thema Russland und Ukraine.

5. “A leap forward in quarterly earnings stories”
(blog.ap.org, Paul Colford, englisch)
Die Nachrichtenagentur AP will neu in automatisierter Form Bericht erstatten: “The Associated Press announced in an advisory to customers today that the majority of U.S. corporate earnings stories for our business news report will eventually be produced using automation technology.”

6. “Eric Weber, der Bürgerschreck”
(bazonline.ch, Aaron Agnolazza)
Aaron Agnolazza stellt Eric Weber vor, Ex-“Bild”-Mitarbeiter und gewählter Parlamentarier im Kanton Basel-Stadt: “Mittlerweile deckt der Grossrat die Regierung beinahe täglich mit Interpellationen und schriftlichen Anfragen ein. ‘Ich schreibe so viele Anfragen, um den angestauten Frust abzubauen’, erklärt sich Weber. ‘Meine Anfragen kosten die Regierung pro Monat 20 000 Franken’, behauptet er beinahe triumphierend.”

Die wahre traurige Geschichte hinter Cristiano Ronaldos neuer Frisur

Inzwischen ist es ja normal, dass deutsche Journalisten total am Rad drehen, sobald irgendein Fußballer (oder Trainer) irgendwas mit seinen Haaren anstellt. Diesmal ist es aber besonders extrem. Nicht nur, weil es um Superstar Cristiano Ronaldo geht, der beim letzten WM-Spiel mit einem ins Haupthaar einrasierten Zickzack-Muster auflief, sondern weil sich hinter dieser Frisur eine “ergreifende” bzw. “rührende” bzw. “traurige” bzw. “dramatische” Geschichte verbirgt.

Im März wurde nämlich bekannt, dass Ronaldo eine Familie finanziell unterstützen will, deren kleiner Sohn Erik an einer Hirnerkrankung leidet und eine teure Operation benötigt.

Was das mit der Frisur zu tun hat? Nun, der “Blitz” sei in Wirklichkeit kein Blitz, schreiben die Medien, sondern er zeichne die OP-Narbe des kleinen Jungen nach, der Ende letzter Woche operiert worden sei. Ein Zeichen der Verbundenheit also. Hach!

Erzählt wurde diese ergreifende Geschichte bislang unter anderem von “RP Online”, “Focus Online”, Stern.de, Bild.de, DerWesten.de, Blick.ch, HNA.de, Heute.at, dem “Sport-Informations-Dienst” (auf dem einige der anderen Artikel beruhen), den Online-Auftritten von “Handelsblatt”, NDR, “Weser Kurier”, “Bunte”, “intouch”, “Sportbild”, “Berliner Zeitung”, “Augsburger Allgemeine”, “tz”, “Hamburger Abendblatt”, “Münchner Abendzeitung”, “Mopo”, N24, “Berliner Morgenpost”, außerdem vom “Express”, der “Süddeutschen Zeitung”, der “Nürnberger Zeitung”, der “FAZ”, der “Welt” und vielen mehr.

Eine Quelle geben viele Medien dabei allerdings nicht an. Und das ist der Haken an der Sache.

Wahrscheinlich beruht die Geschichte ursprünglich auf diesem Tweet:


Sieht zwar recht seriös aus, ist aber, wie sich nach anderthalbsekündiger Recherche zeigt, ein Fake-Account (“Not affifilated with the FIFA World Cup”). Und der wiederum hat die Story offenbar von diesem hier:

Auch hier hält sich die Seriosität eher in Grenzen. Andere Tweets des Nutzers lauten zum Beispiel:

Oder:

Davon abgesehen leidet der kleine Junge nicht, wie in den Tweets (und in ihren zahlreichen Varianten) behauptet wird, an einem Tumor, sondern an kortikaler Dysplasie. Einen Beleg dafür, dass Ronaldos Frisur irgendwas mit der OP-Geschichte zu tun hat, liefern die Tweets ohnehin nicht. Spätestens hier hätten die Journalisten — so sie denn recherchiert hätten — also stutzig werden müssen. Und allerspätestens am Montagabend. Da schrieb die Mutter des kleinen Jungen auf ihrer Facebookseite nämlich:

Ich habe gesehen, dass in den sozialen Netzwerken das Gerücht verbreitet wird, Cristiano Ronaldo hätte sich einen Haarschnitt zu Ehren von Eriks Operation machen lassen, aber ich möchte klarstellen, dass das nicht der Fall ist. Mein Sohn wurde noch gar nicht operiert. Cristiano Ronaldo hat zugesagt, einen Teil der Kosten für die Operation zu übernehmen, wenn mein Sohn sich dieser unterziehen muss, aber dieser Tag ist zum Glück noch nicht gekommen.

(Übersetzung von uns.)

Inzwischen sind auch einige Medien wieder halbwegs zurückgerudert. “Bild” und “Sportbild” beispielsweise haben ihre Artikel um den Hinweis ergänzt, dass es keine offizielle Bestätigung für die Frisurengeschichte gebe. Das “Handelsblatt” hat den Online-Artikel kurzerhand gelöscht. Und Stern.de hat zwar die Sache mit der Operation korrigiert (“Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass Erik Ortiz Cruz bereits operiert worden sei. Das ist nicht der Fall”), findet aber immer noch, dass die Frisur einen tieferen Sinn habe:

Ronaldo wollte nicht symbolisieren, dass er (blitz-)schnell ist. Die einrasierte Stelle steht für eine Narbe am Kopf. Und damit für eine bewegende Botschaft: Der einjährige Erik Ortiz Cruz leidet an einer schweren Hirnerkrankung, er muss operiert werden, auch sein Kopf wird einmal über eine solche Narbe verfügen.

Offenbar findet Stern.de die Geschichte dann doch zu schön, um sie ganz aufzugeben.

Mit Dank an Claudia und pre.

Der falsche Täter und andere Rügen

Die Beschwerdeausschüsse des Presserats haben in ihren jüngsten Sitzungen sechs Rügen, 20 Missbilligungen und 16 Hinweise ausgesprochen. Die Hälfte der Rügen ging an die “Bild”-Gruppe.

Etwa hierfür:

(Unkenntlichmachungen von uns.)

So hatten die Kölner “Bild”-Ausgabe und Bild.de Anfang des Jahres über ein Verbrechen in einem Dorf in Nordrhein-Westfalen berichtet. Die Redaktionen nannten den Vornamen, den abgekürzten Nachnamen sowie persönliche Details des Patensohns und zeigten ein Foto von ihm, das lediglich mit einem kleinen Alibi-Balken versehen war. Kurz darauf erwies sich der Mann jedoch als unschuldig (BILDblog berichtete).

Nach Ansicht des Presserats ist die Berichterstattung vorverurteilend und identifizierend und verstößt damit gegen Ziffer 13 (Unschuldsvermutung) des Pressekodex. “In Anbetracht des Ermittlungsstandes hätte über ihn nicht identifizierend berichtet werden dürfen”, befand der Ausschuss und sprach gegen “Bild” und Bild.de eine Rüge aus. Bei Bild.de ist der Artikel übrigens immer noch unverändert online.

Eine weitere Rüge erhielt Bild.de für die Berichterstattung über den Mord an einem zwölfjährigen Mädchen. Das Portal hatte den Artikel mit einem Foto des Kindes bebildert, obwohl Opfer von Verbrechen — insbesondere Minderjährige — laut Pressekodex besonderen Schutz genießen (Richtlinien 8.2 und 8.3). Die Redaktion argumentierte später, die Familie habe in der Lokalzeitung selbst eine Todesanzeige mit Foto veröffentlicht. Dieses Argument ließ der Presserat jedoch nicht gelten:

Aus einer Todesanzeige in einem anderen Medium, die sich an einen kleineren Personenkreis richtet, lässt sich nicht auf eine grundsätzliche Einwilligung zu einer identifizierenden Abbildung schließen. Zudem war in der Todesanzeige nicht die Rede von einem Gewaltverbrechen. Diesen Zusammenhang stellte erst BILD Online in der Berichterstattung her. Besonders schwer wog aus Sicht des Gremiums zudem, dass das Mädchen unmittelbar neben seinem Mörder abgebildet wurde. Dies verletzt die Gefühle der Angehörigen.

Die Nürnberger “Bild”-Redaktion wurde gerügt, weil sie über ein laufendes Strafverfahren wegen eines Drogendelikts berichtet und dabei viele Details zu dem Betroffenen genannt hatte. Der Presserat erkannte darin einen schweren Verstoß gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit). Ein überwiegendes öffentliches Informationsinteresse an der identifizierenden Berichterstattung habe nicht bestanden. Dass sich die Redaktion auf die Beschwerde hin zwar bei dem Betroffenen, nicht aber bei den Lesern entschuldigt hatte, sei keine “ausreichende Wiedergutmachung im Sinne des Pressekodex”.

Doppelt gerügt wurde die Berichterstattung von Welt.de über den Suizid einer Nachwuchssportlerin. Die Redaktion hatte in zwei Artikeln (darum auch zwei Rügen) ausführlich über persönliche Details der jungen Frau geschrieben — etwa über ihre psychischen Probleme und die Beziehung zu ihrem Freund — und damit “tiefgreifend” in ihre Privatsphäre eingegriffen, wie der Presserat befand. “Zudem spekulierte die Redaktion über die Beziehung zwischen Eltern und Tochter und stellte hierdurch indirekt Schuldzuweisungen für den Suizid in den Raum.” Die Berichterstattung verstoße gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) und insbesondere Richtlinie 8.7 (Selbsttötung), nach der die Berichterstattung über Suizide Zurückhaltung gebietet — vor allem mit Blick auf mögliche Nachahmer.

Übrigens hatten auch andere Medien detailliert über den Suizid berichtet und über die Hintergründe spekuliert. Beim Presserat gingen aber nur Beschwerden über Welt.de ein.

“Focus Online” schließlich wurde mit einer Rüge belegt, weil das Portal “unangemessen sensationell” über einen Überfall in Ecuador berichtet hatte. Auf einem Video war unter anderem ein blutüberströmtes Opfer zu sehen, das aus einem Bus stürzte. Aus Sicht des Presserats verstößt die Darstellung der sterbenden Menschen gegen Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung) des Pressekodex. “Focus Online” argumentierte zwar, das Video sei zu Fahndungszwecken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, doch das ließ der Beschwerdeausschuss nicht gelten. Die Täter seien zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits gefasst, der Fahndungszweck also nicht mehr gegeben gewesen.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Von den 20 Artikeln, die missbilligt wurden, erschienen sieben in “Bild” bzw. bei Bild.de.

Ein Brief von Franz Josef Wagner wurde missbilligt, weil er darin den Ex-Präsidenten der Ukraine als “egoistisches, luxuriöses Schwein” bezeichnet hatte. Diese Herabwertung verstoße gegen Ziffer 1 (Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde), entschied der Beschwerdeausschuss.

Missbilligt wurden außerdem das Foto von einer privaten Trauerfeier, das Foto eines flüchtenden Ladendiebes und der Screenshot eines Facebook-Profils, auf dem persönliche Details zu Täter und Opfer einer Straftat zu erkennen waren (alles bei Bild.de erschienen; jeweils Verstöße gegen Ziffer 8).

Außerdem zeigte Bild.de ein Foto, auf dem ein Feuerwehrmann ein lebloses Kind in den Armen hält. Zwar war der Körper des Jungen einigermaßen verpixelt worden, dennoch wertete der Presserat die Darstellung als unangemessen sensationell (Ziffer 11), vor allem auch, weil die Bildunterschrift suggerierte, dass es sich um ein totes bzw. sterbendes Kind handele.

Gleich zwei Missbilligungen gab es für die Berichterstattung über einen mutmaßlichen Piraten aus Somalia, der von Bild.de vorverurteilt (Ziffer 13) und von der gedruckten “Bild” ohne Unkenntlichmachung gezeigt wurde (Ziffer 8).

Weitere Missbilligungen gingen an “Bunte” und Bunte.de (für die Weight-Watchers-PR-Geschichte mit Julia Klöckner), “Playboy”, “Fränkischer Tag Online”, taz.de, “Buxtehuder/Stader Tageblatt”, Derwesten.de, “Hundeleben”, “Express”, Ruhrbarone.de und Tagesspiegel.de.

Shitstorm, Stalin, Livejournalismus

1. “Mein erster Shitstorm”
(tagesspiegel.de, Sebastian Leber)
Sebastian Leber wertet Reaktionen auf einen Artikel von ihm aus: “Der Sturm dauerte etwa 36 Stunden, und was ich nicht für möglich gehalten hätte: Er flaute genau so schnell ab, wie er gekommen war. Mir völlig unbekannte Menschen, die gestern noch geschworen hatten, mich fertig zu machen, bis ich nicht mehr Piep sagen könne, waren plötzlich verstummt.”

2. “‘Heute’ gibt Blondine die Schuld an Amoklauf”
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Hans Kirchmeyr befasst sich mit der “Heute”-Schlagzeile “Amoklauf: Weil ihm diese Blondine das Herz brach?”.

3. “Geschichte für Trottel”
(faz.net, Jörg Baberowski)
Geschichtsprofessor Jörg Baberowski schaut eine TV-Doku über Josef Stalin: “Fast alles, was über Ereignisse und Personen in dieser Dokumentation gesagt wird, ist falsch. Aus Stalins Geheimdienstchef Nikolai Jeschow wird ‘Nikolai Leschow’, aus Generalfeldmarschall Paulus – General von Paulus, aus Stalins Sekretär Poskrjobyschew – Poskrebischew. Unablässig spricht der Kommentator von Russland und den Russen. Der Zweite Weltkrieg sei ein Krieg der Russen gewesen. Haben die Dokumentarfilmer jemals davon gehört, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerreich, Stalin ein Georgier, Trotzki ein Jude und Mikojan ein Armenier war?” Siehe dazu auch “Fernsehdokumentationen” (schmalenstroer.net).

4. “Ein Plädoyer für den Livejournalismus und gegen die Beleidigungen der Krautreporter”
(christoph-herwartz.blogspot.de)
“Der Livejournalismus ist angemessen, er wird gebraucht”, findet Onlinejournalist Christoph Herwartz, der seine Arbeit vom Projekt Krautreporter.de “ins Lächerliche” gezogen sieht: “Schnelligkeit ist anstrengend und hat ihren Preis. Jeder meiner Texte könnte besser sein, wenn ich die Zeit hätte, länger über die These nachzudenken und mehr Aspekte zu recherchieren. Dass ich schnell sein muss, hängt auch damit zusammen, dass wir mit wenigen Redakteuren viele Texte schreiben. Aber es liegt vor allem daran, dass die Aufmerksamkeit für aktuelle Themen exponentiell abfällt.”

5. “Das Recht auf private Suchmaschinenzensur am Beispiel von Bettina Wulff”
(blog.alvar-freude.de)
Alvar Freude schreibt über das vom EuGH zementierte Recht auf Vergessenwerden: “Wenn tatsächlich ein relevanter Anteil der Menschen in Deutschland Inhalte aus Suchmaschinen entfernt haben will, dann wird die Meinungs- und Informationsfreiheit deutlich eingeschränkt werden. Denn es geht ja explizit nicht um rechtswidrige Inhalte, die nicht mehr gefunden werden sollen, sondern um rechtmäßige, von denen aber die betroffene Person sich nicht richtig dargestellt sieht. Statt zu einem Ort der Meinungsfreiheit, der innerhalb des geltenden Rechts auch kritische und verrückteste Meinungen duldet, könnte das Internet im Extremfall ein Stückchen mehr zum unkritischen, lobhudelnden Konsummedium für das Klickvieh werden.”

6. “Woher die Leser der Nachrichten- und Click-Bait-Sites kommen”
(netzoekonom.de, Holger Schmidt)

EuGH, Gabriele Pauli, Homosexuelle

1. “Über die Kraft einer positiven Sogwirkung und wie verfrühte Kritik sie verhindert”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Martin Weigert beobachtet, wie unterschiedlich neue Projekte in Schweden und in Deutschland aufgenommen werden: “Für Deutsche ist ein frühzeitiges Diskutieren aller Vor- und Nachteile ein Muss. Wird ein neues, herausforderndes Vorhaben angeschoben, dann müssen sich die Initiatoren darauf einstellen, dass selbst womöglich vorhandene ehrenwerte Ziele und ein eventuelles allgemeines öffentliches Interesse an der Verwirklichung nicht vor ausgedehnten, mit negativer Tonalität untermalten Analysen schützen.” Siehe dazu auch “kritik-kritiker kritik” (wirres.net, felix schwenzel).

2. “Zensur bei der taz?”
(blogs.taz.de/hausblog, tazkommune)
Die “tazkommune” antwortet auf den Beitrag “Warum ich nicht mehr für die TAZ schreibe” von Schriftsteller Raul Zelik: “Die allgemeinen Vorwürfe von Zelik gegen die taz können wir nicht nachvollziehen. Wir verstehen bereits nicht, wie man die Ablehnung eines Textes durch eine Redaktion als ‘Zensur’ bezeichnen kann.”

3. “Bild darf Ex-Landrätin Pauli nicht als ‘durchgeknallte Frau’ bezeichnen”
(juraforum.de)
Ein Rechtsstreit zwischen “Bild” und Gabriele Pauli vor dem Oberlandesgericht München behandelt einen Text von Franz Josef Wagner.

4. “EU Wants a ‘Right to Be Forgotten,’ But the Internet Never Forgets”
(mashable.com, Lance Ulanoff, englisch)
Lance Ulanoff kommentiert ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das Suchmaschinen dazu verpflichtet, personenbezogene Daten von Privatpersonen auf Anfrage aus ihren Ergebnissen zu streichen: “You’ve got it all wrong, EU. I say this not as someone who enjoys a level of popularity on the web, but as a regular person who managed to anger a powerful few (at least online).” Siehe dazu auch “Wer gegen Netzsperren ist, muss auch das EuGH-Urteil zu Löschpflichten von Google ablehnen” (internet-law.de, Thomas Stadler) und “EuGH: Suchmaschinen und Datenschutz” (telemedicus.info, Adrian Schneider).

5. “10 Tipps auf dem Weg zur Normalität”
(journalist.de, Jennifer Stange)
Jennifer Stange gibt Tipps, wie man beim Schreiben über Homosexuelle “jenseits von übereuphorischen Riesenschlagzeilen, Klischees und peinlicher Verschwiegenheit die Dinge beim Namen nennt”.

6. “Wie man eine Geschichte schnell erhitzt”
(faz.net, Michael Hanfeld)
Als PR-Mann von McDonald’s, wie ihn den “Spiegel” darstellt, tauge Günter Wallraff nicht, schreibt Michael Hanfeld: “Günter Wallraff ist nämlich nicht nur Enthüllungsjournalist, sondern auch so etwas wie ein Mediator: Er verfolgt Geschichten weiter, selbst wenn sie keine Schlagzeilen mehr machen, und schaltet sich in Fällen ein, die nicht groß genug für eine Story sind. Nur zum PR-Mann von McDonald’s, als der er im ‘Spiegel’ mehr oder weniger erscheint, taugt er nicht.”

Ein schönes, falsches Bild von Google

Wenn Digitalthemen Schlagzeilen machen, ist es ein Alptraum für Bildredakteure. Denn das Internet ist nicht fotogen. An Hackern in Skimasken, Snowden-Fotos und abfotografierten Bildschirmen hat sich das Publikum schon lange sattgesehen.

Nicht ganz so schlimm war es, als der Europäische Gerichtshof am Dienstagmorgen eine überraschende Entscheidung verkündete: Der Suchmaschinenkonzern Google wurde verpflichtet, bestimmte Artikel über den spanischen Kläger nicht mehr zu verlinken. Es war kein Problem, denn die dpa hatte das perfekte Bild im Angebot: Eine Google-Angestellte, die einsam zwischen den riesigen Serverschränken an einem Laptop sitzt und Wartungsarbeiten vornimmt. Das Foto ist so perfekt, dass es bei vielen Online-Portalen verwendet wurde.

Auf sueddeutsche.de, …

Screenshot: Sueddeutsche.de

… auf spiegel.de ,…

googlefoto-spon

welt.de

googlefoto-welt

… bei der Frankfurter Rundschau, beim Handelsblatt und vielen anderen.

Das Problem an dem Bild: Es ist eine Fälschung. Oder eine künstlerische Neuinterpretation des Google-Rechenzentrums in Oregon.

Es stammt aus der Hochglanzproduktion “Where the Internet lives“, mit dem sich Google 2012 von seiner besten Seite präsentieren wollte. Die Fotografin Connie Zhou hatte, wie Google nach herber Kritik schließlich einräumte, aus ästhetischer Gründen Korrekturen an den Originalbildern vorgenommen. Mal wurden die Kontraste bereinigt, mal ein störender Lichtfleck ausgeblendet, mal die Perspektive des Bildes digital verändert. Bei dem heute so prominenten Bild baute sie jedoch gleich das Gebäude um: Der breite Gang neben der Google-Mitarbeiterin — hier die Originalaufnahme — wurde kurzerhand in der Nachbearbeitung mit einem Serverschrank überdeckt, sodass sie komplett von Computern eingeschlossen scheint. Sehr symbolisch, aber eben auch falsch.

Die prominente Bildverfälschung, die zum Beispiel vor zwei Jahren von Zeit Online aufgegriffen worden war, war der Bildredaktion der dpa entgangen. Auf unsere Nachfrage hat ein Sprecher der Nachrichtenagentur nun Konsequenzen versprochen: “Wir ziehen das Bild jetzt aus dem Dienst zurück, denn Bildmanipulationen jeglicher Art sind mit den dpa-Standards nicht vereinbar.”

Nachtrag, 13:02 Uhr: Süddeutsche.de hat das Bild inzwischen transparent ersetzt.

Etihad liegt die “Welt” zu Füßen

Sie wollen wissen, wie supertoll und megaluxuriös das “fliegende Hotelzimmer” wird, das die Fluggesellschaft Etihad Airways plant? Nun, dann können Sie sich entweder das 90-sekündige Werbevideo des Unternehmens anschauen, oder Sie investieren ein bisschen mehr Zeit und lesen diesen Artikel beim Onlineauftritt der “Welt”:

Das Werbevideo können Sie sich danach immer noch anschauen — die “Welt” hat es am Ende des Textes freundlicherweise gleich eingebettet, für alle Fälle.

Aber das ist eigentlich nicht nötig, denn nach der Lektüre des 5.000 Zeichen langen Textes werden Sie ohnehin schon längst überzeugt sein von der unschlagbaren Grandiosität der Etihad-Luxus-Suite. Die “Welt” gibt sich jedenfalls größte Mühe, kein einziges der vielen fantastischen Details zu vernachlässigen.

Schon die ersten beiden Sätze machen die Marschrichtung klar.

Wer dachte, mit der First Class sei der ultimative Luxus im Linienflugzeug bereits erreicht, muss sich von der arabischen Etihad Airways eines Besseren belehren lassen. Denn der neue Wohnraum “The Residence” fängt dort an, wo die First aufhört.

(Im Original liegt hinter “‘The Residence'” ein Link zur Unternehmensseite.)

Der “Gipfel des Genusses”, meint die “Welt”, werde

eine immerhin fast zwölf Quadratmeter große Wohnfläche sein, die ein Maß an Luxus und Privatsphäre bieten wird, wie es sonst nur in Privatjets vorgefunden wird.

“Das Wohnzimmer” sei

unter anderem mit einem 1,50 Meter breiten Zweisitzersofa (ausklappbar zu einem Liegesofa), ausklappbaren Ottomanen, Intarsien-Esstisch, gekühlter Minibar und 32-Zoll-TV-Bildschirm ausgestattet.

“Im Schlafbereich” stehe

ein 205 mal 120 Zentimeter großes Doppelbett mit Leselampen und Stimmungslicht, ein Nachtschrank, Kleiderschrank, hinterleuchtete holzgeschnitzte Wände und ein 27-Zoll-Fernseher.

Und das “private Duschbad” ermögliche

eine vier Minuten währende Dusche sowie Toilette, Waschtisch mit Kosmetikspiegel und Föhn.

Wir erfahren, dass jedem Gast “ein persönlicher Butler zur Verfügung” steht und dass diese “qualifizierten Servicekräfte” an der “Londoner Savoy Butler Academy speziell geschult” werden.

Wir erfahren, dass ein “‘Fünfsterne-Verpflegung'” dazugehört und der Chefkoch “auf Wunsch eine persönliche Menüplanung berücksichtigt”. Dass der Fluggast “mit luxuriöser Bettwäsche, Schlafanzug” und anderem Schnickschnack “umsorgt” wird. Dass sich “ein spezielles VIP-Reise-Concierge-Team um die Top-Gäste” kümmert und “dafür sorgt, dass jedes Reisedetail, einschließlich Bodentransport, Küche und Annehmlichkeiten, optimal auf die Anforderungen des Gastes zugeschnitten sind.”

Dann folgen Angaben zum Preis, zu den geplanten Strecken, den kooperierenden Flughäfen, den angepeilten Terminen und den Platzkapazitäten des Flugzeugs.

Anschließend darf der Etihad-Chef noch persönlich erklären, dass diese “neuartigen Wohnräume” die “Erwartungen von Flugreisenden in Bezug auf Bordkomfort und Luxus nachhaltig verändern [werden]”. Und die Konkurrenz darf er auch noch niedermachen erwähnen:

Mit Blick auf Mitbewerber um begehrte First-Class-Passagiere wie die Golf-Rivalen Emirates und Quatar Airways, aber auch Singapore Airline und British Airways habe man sich entschlossen, die größten “First Class Suites” anzubieten.

Aber auch das ist noch lange nicht alles.

Und so plant der Carrier neben dem Top-Produkt “The Residence by Etihad” auch noch eine Vielzahl weiterer Service-Veränderungen.

Die kürzen wir aber jetzt mal ab.

… “First Apartments” (neun Stück in einer 1-1-Anordnung also mit nur einem Gang) … 1,60 Meter hohen Schiebetür … Liegesessel … Ottomane … Full-Flat-Bett mit einer Länge von 2,03 Metern … gekühlte Minibar … persönlicher Waschtisch … schwenkbarer TV-Monitor zur Nutzung vom Sitz oder vom Bett aus … 74 Prozent größere Grundfläche als die aktuellen, preisgekrönten First Class Suites … verbesserte “First Suite” … acht Suiten (in 1-2-1-Anordnung) … großen Sitz … Ottomane … Full-Flat-Bett von 2,05 Metern Länge … lassen sich die Armlehnen zurückschieben … können zwei Suiten in eine Einheit mit Doppelbett umgewandelt werden … gekühlte Minibar … 24-Zoll-TV-Monitor … 20 Prozent mehr persönlichen Platz bieten … direkten Zutritt zum Gang … Full-Flat-Bett mit einer Länge von 2,05 Metern …

… und so weiter.

Der Artikel ist (inklusive Etihad-PR-Video und zehnteiliger Klickstrecke) vergangenen Montag erschienen, im redaktionellen Bereich des Online-Ablegers der “Welt”.

In der Print-Ausgabe, zumindest in der “Welt kompakt”, suchte man ihn vergeblich. Dort wurde stattdessen auf die klassische Weise für “The Residence” geworben — per Anzeige über drei ganze Seiten.

Bei den Fluggesellschaften gebe es einen “Kampf um die zahlungskräftige Klientel”, schreibt die “Welt” noch. Gut für die, die ihre Verbündeten schon gefunden haben.

Mit großem Dank an Micky M. und Sébastien Z.

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik

Alfred Draxler, der ehemalige Vize-Chefredakteur und Ober-Sportchef der “Bild”-Zeitung, hat am Sonntag bei “Günther Jauch” mal e­rzählt, wie Journalismus funktioniert. Also nicht dieser Schweinepressejournalismus, sondern der richtige. Der verantwortungsvolle, penible, juristisch, moralisch und ethisch einwandfreie Journalismus. Der Journalismus also, den “Bild” pflegt — laut Alfred Draxler.

Leider hat er bei seinen Ausführungen die Beispiele ganz vergessen. Aber kein Problem, liefern wir sie eben jetzt nach. Beginnen wir mit …

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 1

Das Interesse der Menschen [am Fall Schumacher] ist riesengroß. Als Journalist hat man dann halt die Aufgabe, zu filtern und zu entscheiden: Was kann man machen, was kann man nicht machen.

Ein Beispiel. Gerade in der ersten Zeit nach dem Unfall wurden die Angehörigen von Michael Schumacher jedes Mal von etlichen lauernden Fotografen umzingelt, sobald sie die Klinik betraten oder verließen. Schumachers Managerin Sabine Kehm berichtete bei “Günther Jauch”, dass die Familie sogar Sicherheitskräfte engagierte und alternative Zugangswege auskundschaftete, um sich nicht immer wieder durch den Pulk von Kameraleuten und Fotografen quälen zu müssen – ohne Erfolg.

Die Redaktionen bekamen täglich Dutzende solcher Fotos geliefert und mussten entscheiden: Kann man oder kann man nicht machen?

“Bild” meinte: Kann man.

11.03 Uhr - Corinna Schumacher kommt an Klinik an - Schumis Ehefrau Corinna ist um 9.49 Uhr wieder an der Uni-Klinik in Grenoble angekommen, wird ihrem Mann auch heute beistehen.15.23 Uhr - Papa Rolf bringt Pizza - Schumis Vater Rolf kümmert sich um die Familie: Um 15.04 Uhr bringt er neun Pizzas zu den Wartenden in die Klinik. 18.50 Uhr - Corinna verlässt die Klinik - Corinna Schumacher verlässt um 18.18 Uhr die Klinik in Grenoble. Auch heute war sie wieder bei ihrem Michael.

Die Kliniktür-Klickstrecken endeten erst, nachdem ein Absperrgitter zum Schutz der Angehörigen aufgebaut worden war. Heißt: Zum “verantwortungsvollen” Journalismus der “Bild”-Zeitung gehört auch die Veröffentlichung solcher Fotos. Solange sie nicht massivst daran gehindert wird.

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 2

[Im Fall Schumacher] strömen auf die Redaktionen unglaublich viele Informationen ein – angebliche Informationen. Sei es der Kollege Alesi von Schumacher, seien es Ärzte, die eine Ferndiagnose machen. Und es ist unsere Aufgabe, damit verantwortungsvoll umzugehen, und ich glaube, das gelingt uns.

Sabine Kehm hatte zuvor erzählt, dass es jedes Mal eine Belastung für die Familie sei, wenn Äußerungen wie die von Alesi oder Ferndiagnosen unbeteiligter Ärzte von den Medien verbreitet würden.

Und so “verantwortungsvoll” ist “Bild” mit den Äußerungen von Alesi umgegangen:

Und so “verantwortungsvoll” ist “Bild” mit den Ferndiagnosen von Ärzten umgegangen:

“Verantwortungsvoll umgehen” heißt also: konsequent veröffentlichen.

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 3

Ich kann da nur für “Bild” und “Sport Bild” und andere Springer-Medien sprechen: Wir prüfen das wirklich – sowohl juristisch als auch moralisch als auch ethisch –, ob wir das überhaupt bringen können. Also: Wir nehmen nicht jede Information und stellen sie ungeprüft in die Öffentlichkeit, sondern das wird schon sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüft.

Und erst wenn “Bild” eine Information sowohl juristisch als auch moralisch als auch ethisch als auch sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüft hat, wird sie zu einer solchen Titelgeschichte verarbeitet:

Neue Sorge um Schumi - Lungen-Entzündung im Koma!

“Bild” schrie:

JETZT MÜSSEN SICH DIE FANS NEUE SORGEN MACHEN: Bei Schumi wurde nach BILD-Informationen in der vergangenen Woche eine Lungenentzündung diagnostiziert! Die Folgen sind noch nicht absehbar.

Die Meldung wurde sofort von anderen Medien aufgegriffen — und auch wenn einige der Abschreiber durchaus Zweifel hegten und Schumachers Managerin Sabine Kehm die Meldung nicht hatte kommentieren wollen: die “Neue Sorge um Schumi” war in der Welt.

Die Reporter bezogen erneut Stellung vorm Krankenhaus, die internationale Presse bombardierte Kehm erneut mit Anfragen, die “Experten” ferndiagnostizierten erneut drauf los, die Fans machten sich erneut Sorgen, die Freunde und Angehörigen wurden erneut aufgeschreckt.

Dabei stimmten die “BILD-Informationen” gar nicht. Zwei Tage später schrieb das Blatt im vorletzten Absatz eines weiteren Schumi-Artikels:

BILD hatte berichtet, dass in der vergangenen Woche eine Lungenentzündung diagnostiziert worden war. Die Erkrankung liegt aber schon weiter zurück und stellte in dieser Woche nach neuesten Erkenntnissen keine akute Gefahr mehr da.

So viel zum Punkt juristisch als auch moralisch als auch ethisch als auch sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüfte Informationen.

Die ganze unnötige Panik wäre nicht ausgelöst worden, wenn “Bild” sich an den Wunsch von Schumachers Managerin gehalten hätte, die immer und immer wieder ausdrücklich und nachdrücklich darum gebeten hat,

das Arztgeheimnis zu respektieren und sich ausschließlich an die Informationen des zuständigen Ärzte-Teams oder Managements zu halten, die die einzigen gültigen Informationen sind.

Aber “Bild” ignorierte diese Bitte.

Die Medien wollen so viele Details wie möglich. Schumachers Familie will aber so wenige wie möglich rausgeben. Die Lücke wird geschlossen mit Spekulationen, Ferndiagnosen, Übertreibungen und Wiederholungen. Oder mit Berichten darüber, dass es nichts zu berichten gibt.

Und damit zu …

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 4

Jauch: “Was machen Sie denn, wenn Sie so ein riesiges Interesse feststellen und müssen sagen: ‘Es gibt nichts Neues, wir haben nichts’?”

Draxler: “Dann machen wir’s auch nicht.”

Nun ja …

Bild.de, 4. Januar:

Zu seinem aktuellen Zustand gibt es keine Neuigkeiten.

Bild.de, 16. März:

Weiterhin keine Neuigkeiten bei Schumi!

Bild.de, 10. April:

Unterdessen gibt es zu Schumis gesundheitlichen Zustand keine Neuigkeiten.

Bild.de, 2. Januar:

Aber es gibt ja auch noch genug anderen Quatsch, mit dem “Bild” die Seiten füllen kann:

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So hat “Bild” seit dem Unfall bereits über 40 Artikel veröffentlicht. Viele davon bestehen aus nicht viel mehr als Gerüchten, Fragen, Wiedergekäutem und Geschwafel.

Am 4. April schien es dann aber, als hätte Bild.de tatsächlich etwas Neues zu berichten. Auf der Startseite jubelte das Portal riesengroß:

Schumi geht es besser! - Seine managerin zu BILD: "Es gibt Anzeichen, die uns Hoffnung machen"

Grund für die “neue Hoffnung” war eine Aussage von Schumachers Managerin Kehm gegenüber “Bild”:

Managerin Sabine Kehm gegenüber BILD: “Ich kann nur noch einmal sagen: Es gibt Anzeichen, die uns Mut machen.”

“Nur noch einmal sagen”?

Ach ja:

Schumi-Managerin macht Hoffnung - "Immer wieder kleine Anzeichen, die uns Mut machen"

Dieser Artikel war ziemlich genau drei Wochen zuvor bei Bild.de erschienen. Er bezog sich auf eine Pressemitteilung von Sabine Kehm, in der es hieß:

Es gibt immer wieder kleine Anzeichen, die uns Mut machen.

Genau das, was sie per Pressemitteilung allen gesagt hatte, hat sie drei Wochen später der “Bild”-Zeitung also noch einmal gesagt. Und die bastelt daraus eine große Neuigkeit.

Andere Medien (und zwar viele, viele, viele, viele, viele, viele, viele, viele andere Medien) rannten erwartungsgemäß blind hinterher und verkündeten, Schumacher gehe es “besser”, obwohl einige von ihnen sogar selbst feststellten, dass Kehm genau das Gleiche schon in ihrem letzten Statement gesagt hatte.

“Bild” hatte den alten Stand kurzerhand als neuen verkauft (und alle anderen nahmen es ihr ab). Wenn Alfred Draxler also sagt: “Machen wir nicht”, meint er “nicht” im Sinne von: “doch”.

Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 5

Da ist kein Journalismus, das ist Schweinepresse!

Die womöglich zutreffendste Aussage Draxlers in der gesamten Sendung. Er meinte die billigen, bunten Klatschblätter. Mit denen will er unter keinen Umständen auf eine Stufe gestellt werden. Schon am Anfang der Sendung hatte er darauf bestanden, dass man “sehr differenzieren” müsse, “was die Art der Medien anbelangt”, denn da gebe es durchaus “Abstufungen”.

Es kommt ihm freilich sehr entgegen, dass es da noch einen Bereich in der Presselandschaft gibt, der noch mieser, noch krawalliger und noch skrupelloser zur Sache geht als die “Bild”-Zeitung. Gegen die Regenbogenpresse wirkt sein Ex-Blatt ja auch in der Tat nicht mehr ganz so schlimm. Zumindest auf der ersten Blick.

Rein inhaltlich haben “Bild” und die Regenbogenblätter in den vergangenen Wochen aber durchaus Parallelen gezeigt. Natürlich: Im Wahrheit-Verzerren sind die Klatschblätter ungeschlagen. Aus einer banalen Kleinigkeit wird auf derm Cover schnell mal eine riesige Schocktränentragödie. Oder aber ein “Zeichen der Hoffnung”, wie in diesem Fall:

Endlich! Michael Schumacher - Das erste Zeichen der Hoffnung!

Das Blatt suggeriert, Schumachers Zustand habe sich gebessert — dabei steckt hinter der Schlagzeile lediglich das Gerücht, dass Schumachers Glücksarmband angeblich wiedergefunden wurde.

Die “Bild”-Zeitung hatte bei der Überschrift allerdings eine ganz ähnliche Idee…

Glücksarmband im Schnee gefunden - Hoffnungs-Zeichen für Schumi?

… ließ ihre Leser aber immerhin nicht im Unklaren über den Kern der, äh, “Nachricht”:

21 Tage nach Horror-Unfall - Schumis Glücksbringer im Schnee gefunden!

Einige Journalisten scheinen fest davon überzeugt zu sein, sie hätten Anspruch auf eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung mit neuen Einzelheiten; manche drehen sogar dermaßen am Rad, wenn Schumachers Managerin “nichts zu berichten” hat, dass man ihnen am liebsten die Tastatur wegnehmen möchte.

Und so werden die Zeitungs- und Internetseiten — und zwar sowohl in den Boulevard- als auch den Regenbogen- als auch den seriösen Medien — mit Nachrichten gefüllt, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient haben und statt dem Informationsinteresse nur einer Sache dienen: der Gier der Leute, irgendetwas über Michael Schumacher zu lesen. Dass die “Bild”-Zeitung sich dabei nicht ganz so weit aus dem Fenster lehnt wie die Regenbogenpresse, ist klar. Und es kam ihr sehr zugute, dass diese Unterscheidung auch bei Jauch so stark betont wurde, vor allem von Draxler selbst. Guck mal, was die da machen, dagegen sind wir ja nun wirklich nicht schlimm.

Ohnehin profitierte “Bild” in Jauchs Runde enorm von den Vergleichen mit anderen Medien. Auch Schumachers Managerin Kehm sagte, dass sich das Blatt “im Großen und Ganzen fair” verhalten habe und dass sie andere Boulevardmedien als “sehr viel grenzwertiger” empfunden habe. Und natürlich wirkt “Bild” im direkten Vergleich nicht ganz so schlimm wie etwa der unsägliche “News”-Ticker von “Focus Online” oder die Knallblätter der deutschen oder englischen Regenbogenpresse. Aber nur weil die “Bild”-Zeitung noch genug Restskrupel hat, auf der Titelseite nicht einfach zu lügen, Schumacher sei “aufgewacht” oder es gebe ein “Wunder”, und nur weil sie nicht jedes Gerücht aufgreift, sondern auch mal eins auslässt, heißt das ja nicht automatisch, dass sie guten Journalismus macht. Es ist lediglich das kleinere Übel.

Es gibt darüber hinaus noch einen bedeutenden Unterschied zwischen “Bild” und der Regenbogenpresse, der bei solchen Vergleichen schnell unter den Tisch fällt. Dieser Unterschied wird gerade am Beispiel der rumgereichten “Bild”-Panikmache wegen der angeblichen Lungenentzündung deutlich.

Wenn die “Bild”-Zeitung etwas schreibt, dauert es nämlich nicht lange, bis andere, auch seriöse und internationale Medien aufspringen, so groß deren Zweifel auch sein mögen. Die Spekulationen der “Freizeit X” werden dagegen allenfalls von der “Freizeit Y” und der “Z für die Frau” aufgegriffen, sie verbleiben im Paralleluniversum der Regenbogenwelt und dringen nur selten ans Licht der breiten Öffentlichkeit. Auch wenn die Auflagenzahlen in diesem Segment riesig sind, erreicht ein Gerücht der Regenbogenpresse nur selten so viele Meinungsmacher wie eines, das von der “Bild”-Zeitung in die Welt gesetzt wurde.

So zieht jede große “Bild”-Schlagzeile ein riesiges Echo nach sich, das selbst dann noch hallt, wenn die ursprüngliche Meldung längst korrigiert oder widerlegt wurde.

Im Fall Schumacher klang dieses Echo unter anderem so:

Michael Schumacher - Jetzt liegt alles in Gottes Hand! - Die schwere Lungen-Entzündung - Die letzten Stunden im Krankenhaus

Dahinter steckt nichts anderes als die Falschmeldung der “Bild”-Zeitung. “die aktuelle” schreibt:

Der Feind in seinem Körper — er macht alles kaputt. Die schreckliche Schock-Nachricht aus Grenoble: Schwere Lungenentzündung. Ausgerechnet jetzt! Das Leben von Michael Schumacher, 45, steht auf Messers Schneide. Sein Schicksal liegt nun allein in Gottes Hand. Dabei hatte es doch schon so gut ausgesehen …

Diesen Artikel hätte es ohne “Bild” nicht gegeben. Viele andere Schumi-Artikel in den Regenbogenbogenblättern auch nicht. Klar: Die Redaktionen hätten sicherlich auch andere Quellen für ihre Schock-Wunder-Dramen gefunden. Aber in vielen Fällen lieferte die “Bild”-Zeitung schon genug Futter für die “Schweinepresse”.

All das erwähnte Alfred Draxler in seiner Lehrstunde über verantwortungsvollen Journalismus natürlich mit keinem einzigen Wort.

Glenn Greenwald, Marc Walder, Loni Nest

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Es geht nur um die Macht”
(faz.net, Harald Staun)
Glenn Greenwald hat von Edward Snowden geleakte Dokumente veröffentlicht. Zur Frage seiner journalistischen Unabhängigkeit sagt er: “Fast jedes Medienunternehmen wird von sehr reichen Menschen finanziert und kontrolliert. Und die Interessen dieser Leute kollidieren grundsätzlich immer mit der Arbeit der Journalisten. Ich verstehe die Skepsis, ich weiß nur nicht, was an meinem Fall so besonders ist. Im Endeffekt hängt journalistische Glaubwürdigkeit immer davon ab, dass man sie auch demonstriert.”

2. “Der gefälschte Tod eines echten Stummfilmstars”
(welt.de, Hanns-Georg Rodek)
“Loni Nest, die wahre, einzige Loni Nest, starb 75-jährig am 2. Oktober 1990 in Nizza”, schreibt Hanns-Georg Rodek, und doch stehe in vielen Quellen im Internet aufgrund “einer unverfrorenen Fälschung” etwas anderes. “Binnen zweier Wochen hatten die relevanten Online-Datenbanken Loni Nest ‘aktualisiert’, im Zuge des großen Abschreibens, das in allen Medien an Stelle der eigenen Recherche getreten ist.”

3. “‘Tempo ist alles, die Amerikaner haben recht'”
(bazonline.ch, Jean-Martin Büttner und Christian Lüscher)
Der CEO des Ringier-Verlags, Marc Walder, glaubt, dass die Schweizer “vielleicht etwas gar brav” mit ihren Prominenten umgehen: “Die Deutschen machen das besser. Eine intelligente, durchaus auch kritische Auseinandersetzung mit unseren Prominenten ist keine journalistische Stärke in der Schweiz.”

4. “Gratis-Mentalität im Web: Werbung muss endlich fair bezahlt werden”
(lousypennies.de, Stephan Goldmann)
Online-Werbung ist zu kostengünstig, findet Stephan Goldmann. “Ein kleiner Trend immerhin macht Mut: Auch viele Firmen haben mittlerweile keine Lust mehr in einem Anzeigenumfeld zu agieren, das sie wahllos neben Single-Börsen und Sanitärbedarf platziert. Viele suchen verlässliche Sponsorenpartner in Nischenseiten, die sie exklusiv oder in einem überschaubaren Konkurrenzrahmen anzeigt.”

5. “Mein Vater, ein Werwolf”
(spiegel.de, Cordt Schnibben)
Cordt Schnibben schreibt im “Spiegel” über die Verbrechen seiner Eltern: “Gehört das in die Öffentlichkeit? Ja, denn je länger ich ihre Geschichte recherchierte, desto öfter traf ich auf Leute, die auch dabei waren, ihre Eltern zu durchleuchten. Da schlummern viele Geschichten, die den ganz gewöhnlichen Faschismus und seine Helfer erhellen.”

6. “24h Jerusalem 06h-07h”
(arte.tv, Video, insgesamt 24 Stunden)
“24h Jerusalem”, ein “dokumentarisches Projekt einer geteilten Stadt. Unter der Projektregie von Volker Heise haben 70 Filmteams einen Tag lang 90 Bewohner Jerusalems in ihrem Alltag begleitet – Menschen jeden Alters, jeder Couleur und verschiedener Religionen.”

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