Es war eine düstere Warnung, die am vergangenen Mittwoch Schlagzeilen machte. Eine Gruppe von 17 europäischen Ökonomen hatte am Tag zuvor in einem Gutachten gewarnt: “Europa steuert schlafwandelnd auf eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen zu.”
Die Agentur dpa berichtete über das Papier, das der Rat des “Institute for New Economic Thinking” veröffentlicht hatte, den ganzen Tag über in immer neuen Meldungen. Jedesmal schrieb sie dabei auch über die Position der Wissenschaftler:
Eine langfristige Transferunion lehnen sie dagegen ebenso ab wie Eurobonds.
Die Formulierung findet sich in minimalen Varianten in sieben dpa-Meldungen, die zwischen 3:15 Uhr morgens und 16:52 am späten Nachmittag veröffentlicht wurden. Das Problem ist nur: Die Aussage findet sich nicht in dem Papier, in dem sie angeblich stehen soll.
Dort heißt es:
“As far as the long-term vision is concerned, we do not believe that euro zone bonds, or a full fiscal union, are necessary to ensure a functioning economic and monetary union. (…) While many Council members believe that further fiscal and political integration In Europe is desirable, we do no[t] believe that they are necessary to make an economic system with a single currency viable.”
Es ist also keineswegs die Rede davon, dass die Unterzeichner eine langfristige Transferunion und Eurobonds “ablehnen”, sondern bloß, dass beides “nicht notwendig” sei, um das Funktionieren der Währungsunion zu gewährleisten.
Eine “Ablehnung” wäre von dem Rat auch nicht zu erwarten gewesen, denn zu seinen Mitgliedern gehören mehrere ausgesprochene Befürworter von Eurobonds wie der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Er bestätigt uns auf Anfrage, dass die Formulierung von dpa falsch ist. Unter den Autoren des Papiers herrsche keine Übereinstimmung darüber, ob die Einführung von Eurobonds wünschenswert sei; deshalb hätten sie sich auf die Kompromiss-Formulierung geeinigt, sie sei jedenfalls “nicht notwendig”. Das Papier weise ausdrücklich darauf hin, dass sich “einige Mitglieder” für dauerhafte Eurobonds aussprechen. Er zähle sich auch dazu. Außerdem spreche sich das Papier für eine temporäre Gemeinschaftshaftung in Form des Schuldentilgungspaktes aus.
Wenn in dem Text also nicht steht, dass die Wissenschaftler Eurobonds ablehnen, warum behauptet die dpa das? (Die Agentur betonte in ihren Meldungen, dass ihr das Papier vorliege; es war zu diesem Zeitpunkt eh längst im Internet veröffentlicht.)
Auf unsere Anfrage räumt dpa-Nachrichtenchefin Iris Mayer ein, dass es sich bei der Formulierung um “eine Interpretation unsererseits” handle. Die Darstellung sei “sprachlich verkürzt, inhaltlich finden wir sie aber durchaus angemessen”:
Durch das gesamte Gutachten der Ökonomen zieht sich als Grundtenor die Ablehnung einer langfristigen Transferunion, sie wird als nicht notwendig bezeichnet, im Begleitschreiben heißt es zusätzlich zur Begründung, sie würde falsche Anreize setzen.
(…) Da es sich bei dieser Position um die von Wissenschaftlern handelt, wäre es sicher besser gewesen, sprachlich neutral mit “halten für nicht notwendig” zu formulieren, anstatt dem politisch einordnenden Reflex “lehnen ab” zu unterliegen. Mit genau diesem Reflex hätten wir im übrigen eine Äußerung von Merkel “halte Eurobonds nicht für notwendig” sehr wahrscheinlich verkürzt mit “Merkel hat Eurobonds erneut abgelehnt” dargestellt.
Merkel ist aber auch bekanntermaßen eine Gegnerin von Eurobonds. Mehrere Autoren des Papiers konnten Eurobonds schon deshalb nicht “erneut” ablehnen, weil sie sie gar nicht ablehnen.
Wäre es also nur “besser gewesen”, wenn die Nachrichtenagentur den Inhalt des Gutachtens richtig wiedergegeben hätte? Oder schlicht notwendig — angesichts der Tatsache, dass sich bekannte und erklärte Befürworter von Eurobonds unter den Autoren befinden und ihr Papier, anders als dpa behauptet, eben keine klare Ablehnung von Eurobonds enthält?
Was die Nachrichtenagentur dpa meldet, wird schnell zur Tatsache. Ihre Meldungen mit der Aussage, die 17 Ökonomen “lehnen eine langfristige Transferunion ebenso ab wie Eurobonds” fanden sich u.a. in FAZ.net, “Zeit Online”, “Focus Online”, n-tv.de, stern.de, morgenpost.de, diepresse.com, “Handelsblatt”, ftd.de.
Die spezielle dpa-Behauptung übernahmen aber auch Medien in ihren (vermeintlich) eigenen Berichten, so etwa die “Rheinische Post”, “Frankfurter Neue Presse” und “Kölner Express”.
Selbst die renommierte und als Wirtschafts-Autorität geltende “Frankfurter Allgemeine Zeitung” machte sich offenbar nicht die Mühe, das Originaldokument zu lesen, verließ sich auf die dpa-Zusammenfassung und stolperte nicht darüber, dass eine “Ablehnung” angesichts der beteiligten Personen sehr überraschend gewesen wäre. In der FAZ erschien am Donnerstag ein Zeitungsartikel, der mit dem Kürzel eines Wirtschaftsredakteurs versehen war, und in dem es hieß:
Eine langfristige Transferunion lehnen die Ökonomen dagegen ebenso ab wie Eurobonds. Diese Positionen decken sich mit denen der deutschen Regierung.
Der zweite Satz zeigt, welche Kreise die dpa-Formulierung inzwischen gezogen hatte. Die Bundesregierung hatte nämlich zwischenzeitlich Stellung genommen zu dem Papier der 17 Ökonomen. Wiederum dpa gab die Aussagen des stellvertretenden Regierungssprechers Georg Streiter so wieder:
Streiter betonte, viele der Expertenpositionen deckten sich mit denen der Regierung, etwa die Ablehnung von Eurobonds oder einer langfristigen Transferunion.
Auf dem Umweg über die Antwort der Regierung fand die dpa-Interpretation sogar Einzug in den Dienst der Nachrichtenagentur Reuters, die am Mittwochmittag nun ebenfalls meldete:
Die Bundesregierung folgt zwar ausdrücklich die dramatischen Lagebeurteilung der Ökonomen nicht, sieht Übereinstimmung bei einigen Vorschlägen der Wissenschafter. Das gelte etwa in Hinblick auf die Ablehnung einer langfristigen Transferunion im Währungsraum und von Euro-Bonds.
Das war in der indirekten Rede womöglich noch korrekt, wenn auch irreführend. Anders als die Meldungen der Konkurrenz von AFP, die über die 17 Wissenschaftler und ihr Papier am Mittwochnachmittag dann ebenfalls schrieb:
Zugleich sprachen sie sich gegen eine Transferunion und gemeinsame Staatsanleihen aus.
Die dpa-“Interpretation” dieses Teils des Gutachtens hat in der öffentlichen Darstellung in den deutschen Medien seinen tatsächlichen Inhalt fast vollständig verdrängt.