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Rechter Siff, Queer in den Medien, “Framing Manual” der ARD

1. Warum “linksgrün versifft”?
(spiegel.de, Margarete Stokowski)
“Spiegel”-Kolumnistin Margarete Stokowski denkt über die Besonderheiten rechter Sprache nach, in der Formulierungen wie “links-/rotgrün versifft” auftauchen. Derlei Begriffe seien in einem historischen Kontext zu sehen, wobei nicht jeder Verwender derartiger Vokabeln durch und durch ein Faschist sei: “Aber wenn man schon genau sein will, dann muss man auch sehen, dass heute Begriffe in die Alltagssprache sehr vieler Menschen übergegangen sind, die direkt aus dem Faschismus kommen und bei denen sich eine klare Linie zu Hitler ziehen lässt, die offensichtlicher ist, als viele sich wohl wünschen würden, die heimlich immer noch auf einen Führer warten, der sie an die Hand nimmt.”

2. Eine Frage der Ressourcen
(taz.de, Wilfried Urbe)
Gleich vier Kinder-Fernsehprogramme buhlen um die Gunst der jungen Zuschauer, doch die Angebote werden von Kritikern bemängelt, vor allem hinsichtlich Qualität und Vielfalt. Medienexpertin Gudrun Sommer kritisiert: “Es wird vorrangig ein bestimmter Ausschnitt der Gesellschaft gezeigt, Hauptschüler*innen beispielsweise kommen, wenn überhaupt, nur problematisiert vor. Die Vielfalt junger Lebenswelten, jenseits von Berlin oder Köln, und jenseits der herkömmlichen Geschlechterstereotypen findet sich höchstens marginalisiert im Kinderfernsehen wieder.”

3. Wenn der Druck zu groß wird
(de.ejo-online.eu, Alice Antheaume)
Französischen Journalistinnen und Journalisten, die über die Gelbwesten-Bewegung berichten, scheint es derzeit so zu gehen wie ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen in der Hochblüte der “Pegida”-Versammlungen: Die Feindlichkeit ist teilweise so heftig, dass sie die Logos ihrer Medienhäuser auf ihren Mikrofonen verstecken. Gleichzeitig soll mit knappem Personal möglichst rund um die Uhr berichtet werden. Ein Druck, der seinen Tribut fordert.
Weiterer Lesetipp: Bei den Gelbwesten haben die traditionellen Medien einen schlechten Ruf. Ihr Held ist ein junger Live-Reporter (nzz.ch, Nina Belz).

4. Queer in den Medien: Homosexualität ist keine Privatsache und Stonewall war keine Online-Petition!
(nollendorfblog.de, Johannes Kram)
Etwa 150 Medienschaffende haben die “Queer Media Society” gegründet, unter anderem, um die Präsenz der LGBTI-Community in den Medien zu verbessern. Johannes Kram spricht in seiner Eröffnungsrede über die Wahrnehmung in Medien und Unterhaltungsindustrie und über die damit verbundenen Widersprüche und Dilemmata: “Wir wollen endlich als ganz normale Charaktere sichtbar sein, die nicht vor allem ihr Anderssein zur Schau stellen. Einerseits. Denn andererseits haben wir darum gekämpft, endlich anders sein und auch stattfinden zu dürfen! Wir wollen endlich, dass Homo- oder Transsexualität nicht immer nur als Problem, sondern als Normalität gezeigt wird. Einerseits. Denn andererseits wollen wir, dass endlich unsere Opfergeschichten angemessen gezeigt werden. Wir wollen, dass es egal ist, ob eine Figur LGBTI ist. Anderseits wollen wir zeigen, dass, und wo es eben nicht egal ist. Wir wollen keine Klischees, keine Stereotypen mehr sein. Aber andererseits sind viele dieser Stereotype auch ikonenhafte Ergebnisse und auch Erfolge von Queer Culture! Wir wollen, dass es nicht immer um Sex geht. Andererseits haben wir auch dafür gekämpft, dass wir keine bürgerlichen, aseptischen Homos mehr sein müssen!”
Weiterer Lesetipp: “Queer Media Society” gegründet: Für mehr Diversität in den Medien (tagesspiegel.de, Tilmann Warnecke).

5. “Framing Manual” der ARD sorgt für Diskussionen
(dwdl.de, Timo Niemeier)
Sprachforscherin und Framing-Expertin Elisabeth Wehling hat im Auftrag der ARD ein Gutachten erstellt, wie man mit sprachlichen Mitteln den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in ein besseres Licht rücken kann. Das ruft Kritiker auf den Plan, die von Manipulation sprechen.
Weiterer Lesetipp: Wofür braucht die ARD denn ein “Framing Manual”? Generalsekretärin Susanne Pfab über den viel diskutierten Sprach-Leitfaden (meedia.de, Stefan Winterbauer).

6. Klick durchs Museum
(sueddeutsche.de, Benedikt Frank)
Beim Fernsehsender ZDFkultur soll heute eine virtuelle Kunsthalle eröffnet werden mit Werken, die der Öffentlichkeit sonst nicht zugänglich sind. Aber auch sonst tut sich viel bei dem Spartensender, der einen Relaunch mit 15 Eigenproduktionen und interaktiven Tools hinlegt. Siehe dazu auch: Comeback im Digitalen: Das kann das neue ZDFkultur (dwdl.de, Timo Niemeier) und die dazugehörige Formatübersicht.

Bild.de lässt Bergmänner am Times Square demonstrieren

Die Bundesregierung hat beschlossen, bis 2038 aus der Braunkohle auszusteigen. Doch die “Bild”-Zeitung ist dagegen.

Der Ausstieg sei viel zu “teuer und kompliziert”, wetterte “Bild”-Vize Nikolaus Blome schon kurz nach dem Beschluss. Wenn es nach den Grünen und den Umweltschützern ginge, säßen wir “irgendwann alle im Dunkeln.”

Von “Öko-Irrsinn” ist die Rede, von “Klima-Chaos”. Der Kohleausstieg: ein riesiger Fehler! “Unser Wohlstand verträgt keinen übereilten Kohle-Ausstieg!”, schreit “Bild” schon vor dem Beschluss und warnt: “STANDORT DEUTSCHLAND IN GEFAHR!” Und nicht nur das!

BILD-Titelseite: Steuern! Strompreis! Arbeitsplätze! DAS KOSTET UNS DAS KOHLE-AUS
Schlagzeile Bild.de: Experten rechnen mit Strompreis-Hammer
Schlagzeile Bild.de: Energiewende - Wie viel Kohle ist uns das wert?
Schlagzeile BILD: Kohle-Aus kostet bis zu 78,5 Milliarden Euro
Schlagzeile BILD: Milliarden-Loch - Scholz geht wegen Kohle-Aus die Kohle aus
Schlagzeile BILD: Merkel äußert Zweifel am Kohle-Ausstieg - Wenn wir so weitermachen, werden wir scheitern

Heute präsentiert Bild.de …

Schlagzeile Bild.de: 5 Gründe, warum der Kohle-Ausstieg so nicht funktioniert

Grund Nummer 3:

Widerstand in den Regionen. Aus den betroffenen Kohle-Regionen — Sachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg — gibt es Widerstand gegen das Kohle-Aus, weil viele Jobs wegfallen. Im Saarland unterzeichneten mindestens ein Dutzend Bürgermeister einen Brief an die Bundesregierung, sie fordern finanzielle Unterstützung. Sogar am Times Square in New York wurde demonstriert.

Der Link steht da so im Original, und wer sich die Mühe macht, ihn anzuklicken, sieht schnell, dass das keine Demonstration empörter Braunkohlearbeiter war …

Schlagzeile Bild.de: Bergbau-Label "Grubenhelden" mit Flashmob aus New York - Pott-Kumpel leuchten am Times Square - Mode-Start-Up nimmt auch an der Fashion Week teil

… sondern eine PR-Kampagne von einem Modelabel.

Mit Dank an den Hinweisgeber!

Teilsieg über “Bild”, Geleakter Artikel 13, Prinz und Pöbler

1. Asylsuchender gewinnt – teilweise
(taz.de, Markus Kowalski)
Das Hamburger Landgericht hat entschieden: “Bild” darf Teile eines Artikels über den Asylsuchenden Alassa M. nicht weiter verbreiten. Das gehe aus einer einstweiligen Verfügung gegen den Springer-Verlag von Ende Januar hervor, die der “taz” vorliege (zum Hintergrund: Ein unfassbarer Fall). In allen anderen Punkten wies das Gericht jedoch den Antrag des Asylsuchenden ab. “taz”-Autor Markus Kowalski erklärt die Entscheidung des Gerichts und die Beweggründe, warum sich Alassa M.s Anwalt damit nicht abfinden will.

2. Zensur und Selbstzensur
(faktenfinder.tagesschau.de, Sebastian Schreiber)
Für US-Forscher hat sich unter Donald Trump vieles verändert. Eine Forschergruppe hat 80 Angriffe auf wissenschaftliche Prozesse in Regierungsorganisationen dokumentiert, darunter die Umweltbehörde EPA und die Wetterbehörde NOAA. Forscher seien von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen, wissenschaftliche Texte zensiert und Studien eingeschränkt worden. Nun ruht alle Hoffnung auf einem neuen Berater im Weißen Haus.

3. Steigende Kosten bei der Zeitungszustellung
(deutschlandfunk.de, Vera Linß, Audio: 5:29 Minuten)
Zeitungsverlage haben es in Deutschland nicht leicht: Sinkende Werbeerlöse sorgen für sinkende Auflagen. Und nun will die Deutsche Post auch noch die Zustellkosten erhöhen. Gleichzeitig steigen die eigenen Vertriebskosten durch die verordnete schrittweise Einführung des Mindestlohns. Entsprechend groß ist das Wehgeschrei von Verlagen und Zeitungsverlegerverband.

4. Gericht sieht keine Belege für Diskriminierung von ZDF-Reporterin
(uebermedien.de, Juliane Wiedemeier)
Die ZDF-Reporterin Birte Meier hat vor Gericht eine bittere Niederlage hinnehmen müssen. Das Berliner Landesarbeitsgericht, an das sich Meier wegen angeblicher Frauendiskrimierung gewandt hatte, wies ihre Klage ab. Ein Kausalzusammenhang zwischen Gehalt und Geschlecht sei nicht belegt worden, so die Richterin. Wer sich für die Hintergründe interessiert: Im “Übermedien”-Beitrag gibt es Links zur Vorgeschichte.

5. Artikel 13 ist wieder auf der Zielgeraden – und er ist schlimmer als je zuvor
(juliareda.eu)
Kurzfristig standen die Verhandlungen um die neue EU-Urheberrechtsreform und insbesondere den umstrittenen Artikel 13 (“Uploadfilter”) still, doch jetzt sieht es so aus, als könnte alles viel schlimmer kommen als befürchtet. Ein geleakter deutsch-französischer Deal sehe vor, dass Artikel 13 für alle profitorientierten Plattformen gilt. Damit müssten unzählige völlig harmlose Apps und Websites Uploadfilter installieren, selbst wenn die Plattform bisher überhaupt kein Problem mit Urheberrechtsverletzungen gehabt habe. EU-Urheberrechts-Expertin Julia Reda: “Der deutsch-französische Kompromiss zu Artikel 13 verlangt, dass fast alle unsere Posts oder geteilten Inhalte online von einer “Zensurmaschine” — Algorithmen, die grundsätzlich nicht dazu in der Lage sind, zwischen Urheberrechtsverstößen und legaler Nutzung für Parodie oder Kritikzwecke zu unterscheiden — vorab Existenzerlaubnis erhalten. Es würde diesen Rechteinhabern erlauben, jede profitorientierte Website oder App mit Uploadfunktion zu drangsalieren.”

6. Der Prinz und der Pöbler
(spiegel.de, Isabell Hülsen & Marc Pitzke)
Der 38-jährige “New York Times”-Verleger Arthur Gregg Sulzberger schwimmt auf einer Erfolgswelle: Die Zahl der Abos habe sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, und die Redaktion sei mit 1500 Journalisten so groß wie nie zuvor. Das liege an vielen klugen und glücklichen unternehmerischen Entscheidungen, aber auch an der Auseinandersetzung mit Donald Trump.

“Bild” abgemahnt, Geistig Umnachtet, “Aus Frust schlug er zu”

1. Nach tödlichem S-Bahn-Streit: Familien mahnen “Bild” ab
(nordbayern.de)
Nach Angaben von nordbayern.de haben die beiden Familien der bei dem Unglück an der Nürnberger S-Bahn-Station Frankenstadion ums Leben gekommenen Jugendlichen einen Medienanwalt beauftragt und die Axel Springer SE abgemahnt. “Bild” hatte unverpixelte Fotos veröffentlicht, auf denen die beiden verstorbenen 16-Jährigen gut zu erkennen waren.

2. Sich mit den Tätern anlegen
(kontextwochenzeitung.de, Oliver Stenzel)
Die “Kontext Wochenzeitung” hat sich mit dem Enthüllungsjournalisten und langjährigen “Stern”-Autor Arno Luik über dessen Spezialgebiete Stuttgart 21 und Deutsche Bahn unterhalten. Luik kommentiert das Versagen von Politik und Medien. Schon der Einstieg sei nicht einfach gewesen: “(…) als ich KollegInnen vorgeschlagen hatte, etwas über S 21 zu machen, da hieß es zunächst sinngemäß: S 21, was ist denn das? Interessiert doch kein Schwein. Sollen die Stuttgarter unter sich ausmachen. Es hat auch deswegen niemanden interessiert, weil Stuttgart von Hamburg aus gesehen so sexy ist wie ein überfahrener Frosch.”

3. Die Macht der Geschichten
(spektrum.de, Theodor Schaarschmidt)
Diplompsychologe und Wissenschaftsjournalist Theodor Schaarschmidt hat sich Gedanken gemacht, warum wir immer wieder auf Hochstapler hereinfallen und warum packende Geschichten eine derartige Sogwirkung entfalten: “Offenbar brauchen wir narrative Strukturen, um uns die Welt zu erschließen. Wo keine Geschichten zu finden sind, halluzinieren wir manchmal sogar welche herbei!”

4. Die frustrierend falsche Berichterstattung zu Implantaten, Prothetik und Wissenschaftsthemen
(ennopark.de)
Forscher und Forscherinnen der New Yorker Columbia University haben mit einem Hirnimplantat gemessen, was im Hörzentrum des Gehirns passiert, wenn Menschen gesprochener Sprache zuhören. Über ein KI-System sei es gelungen, die gehörte Sprache während des Zuhörens aus dem Hörzentrum zu rekonstruieren. Mit “Gedankenlesen” habe dies ausdrücklich nichts zu tun, doch genau das behaupteten viele internationale Medien in ihrer Berichterstattung. Enno Park, Vorsitzender des Vereins Cyborgs e.V., kommentiert: “Manchmal sind die Artikel schlicht falsch, manchmal haben die Autor:innen völlig korrekt abgeliefert aber Redakteur:innen offenbar den Inhalt des Textes ignoriert und eine Clickbait-Überschrift drübergetackert. Der Verantwortung der Medien wird ein solches Vorgehen jedenfalls nicht gerecht.”

5. «Aus Frust schlug er zu!»
(infosperber.ch, Barbara Marti)
Immer wieder wird in der Berichterstattung über Gewalttaten gegen Frauen die Täterperspektive übernommen. Dann ist vom “Flirt-Frust” die Rede, vom “Beziehungsdrama” oder der “Eifersuchtstat”. Dadurch werden die Taten bagatellisiert, den Opfern wird eine Teilschuld zugeschoben. Auch Heute.at berichtete in dieser Form und korrigierte sich erst nach zahlreichen Protesten im Netz.

6. Geistige Umnachtung an der Falkenstrasse
(nureinefrage.blogspot.com, Benjamin Blume)
Die “NZZ am Sonntag” veröffentlichte ein “Quiz” über die junge Klimaaktivistin Greta Thunberg, in dem verschiedene Krankheitsformen zur Auswahl gestellt wurden. Mittlerweile hat sich der Chefredakteur der “NZZ am Sonntag” bei Twitter mit einem knappen “Wurde geändert. Danke für die Hinweise” gemeldet. Für ein Wort des Bedauerns oder eine Entschuldigung reichte es augenscheinlich nicht …

7. “Abtreibungsärzte”
(twitter.com, Lorenz Meyer)
Als siebter und damit zusätzlicher Link, weil vom “6 vor 9”-Kurator: “Abtreibungsärzte”…. Müssen wir wirklich solche Vokabeln framen, lieber Spiegel Online?

Die ganz besondere “Bild”-“Wahrheit” zum Tempolimit

Nach seinem Diesel-“Manifest” aus dem vergangenen Jahr und den “10 Mitrede-Fakten zum Diesel-Durcheinander” von vor ein paar Tagen liefert Stefan Voswinkel, stellvertretender Chefredakteur Auto der „Bild“-Gruppe, nun “5 WAHRHEITEN” zur Diskussion ums Tempolimit:

Screenshot Bild.de - Fünf Wahrheiten zur Autobahn-Debatte - Ein Tempolimit verhindert keine tödlichen Unfälle

Voswinkels “Wahrheit 4”, die zur Überschrift bei Bild.de geführt hat, lautet:

Ein Tempolimit verhindert keine tödlichen Unfälle. Ob man mit 130 km/h oder 160 km/h verunglückt — die Folgen sind in beiden Fällen zumeist tödlich.

Das mag sein — wobei wir uns durchaus vorstellen können, dass es einen Unterscheid macht, ob man mit 160 km/h oder mit 130 km/h auf ein Auto brettert, das beispielsweise mit 100 km/h von der rechten auf die linke Autobahnspur ausschert.

Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Voswinkel geht davon aus, dass es einen Unfall gibt, und schaut sich dann die Auswirkungen verschiedener Geschwindigkeiten an. Die wenigen Studien, die es zum Thema gibt, zeigen aber, dass ein Tempolimit schon früher ansetzt: Mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h kommt es gar nicht erst zu so vielen Unfällen — und damit auch nicht zu so vielen tödlichen Unfällen — wie ohne Tempolimit.

Das Land Brandenburg hat bereits Ende 2002 auf einem 62 Kilometer langen Abschnitt der A24 eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h eingeführt (an den dazugehörigen Autobahndreiecken beträgt sie 120 km/h). Eine Studie hat unter anderem die Unfälle vor und nach Einführung untersucht (PDF). Die Ergebnisse sind ziemlich deutlich: In den drei Jahren zuvor gab es auf der Strecke 654 Unfälle, in den drei Jahren danach nur noch 337. Das entspricht einem Rückgang von 48 Prozent. Die Zahl der Verletzten und tödlich Verunglückten sank mit 57 Prozent noch stärker: von 838 in drei Jahren vor der Umstellung auf 362 in den drei Jahren danach. Allerdings war laut Studie auch die sogenannte Verkehrsstärke auf dem Abschnitt leicht rückläufig: von 47.200 Kfz pro 24 Stunden zwischen 2000 und 2002 auf 45.400 Kfz pro 24 Stunden zwischen 2004 und 2006.

Christian Frahm und Emil Nefzger haben sich bei “Spiegel Online” die Unfallstatistik für die 62 brandenburgischen Autobahnkilometer in einem noch größeren Zeitraum angeschaut:

Bemerkenswert ist vor allem die Entwicklung der Verletztenzahlen: So wurden von 1996 bis 2002 bei Unfällen auf diesem Autobahnabschnitt 1850 Menschen verletzt — im gleichen Zeitraum nach der Einführung der 130 km/h sank die Zahl um mehr als die Hälfte, auf 799 Verletzte.

Die Zahlen aus Brandenburg widerlegen auch die These des Verkehrsforschers Michael Schreckenberg, der sich gegen Tempolimits ausgesprochen hat. Auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar hatte er noch erklärt: “Ob ich mit Tempo 100 oder 160 vor den Baum fahre — ich bin in beiden Fällen tot.” Tatsächlich starben auf dem untersuchten Abschnitt der A24 in Brandenburg in den Jahren 1996 bis 2002 ohne Tempolimit 38 Menschen. Seit der Beschränkung auf 130 km/h im Jahr 2003 halbierte sich diese Zahl auf 19 Tote.

Ein Tempolimit kann, anders als Stefan Voswinkel bei Bild.de behauptet, offenbar tödliche Unfälle verhindern.

Das bestätigen auch Zahlen aus Nordrhein-Westfalen, die Frahm und Nefzger ebenfalls nennen:

Ein ähnliches Beispiel gibt es auch in Nordrhein-Westfalen, auf einem Autobahnabschnitt der A4 zwischen den Gemeinden Elsdorf und Merzenich. Dort wurde 2017 nach mehreren schweren Unfällen mit zahlreichen Verletzten und insgesamt neun Getöteten in den vorangegangenen drei Jahren ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde eingeführt. Nach Informationen des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) ereignete sich dort bis heute kein tödlicher Unfall mehr.

Ein Tempolimit könne laut der Studie aus Brandenburg übrigens noch weitere Vorteile haben: einen besseren Verkehrsfluss, eine höhere Kapazität und, da die sinkenden Unfallkosten die durch eine längere Fahrtzeit entstehenden zusätzlichen Kosten übertreffen, niedrigere Ausgaben für die Gesellschaft.

Mit Dank an Dirk H. für den Hinweis!

Gängelung durch VW, “Don Alphonso” in der Jury, Unterirdische Klopapiere

1. Wie Volkswagen Journalisten gängelt
(horizont.net, Ulrike Simon)
Volkswagen lädt Journalistinnen und Journalisten zu einer Veranstaltung ein. So weit, so normal. Ab da wird’s aber bemerkenswert: Der Konzern schreibt vor, dass nicht fotografiert werden darf, nicht gefilmt werden darf, nicht mitgeschrieben werden darf. Und sollte anschließend doch jemand etwas veröffentlichen wollen, dann nur, nachdem er oder sie VW die Zitate “und auch die Fakten”, “die Sie gedenken zu verwenden”, zuvor zugeschickt hat. Man könne den Zugang zur Veranstaltung “leider nur gewähren, wenn wir die Artikel vor Veröffentlichung einmal sehen und ggf. ändern können”. Ulrike Simon fragt: “Heißt das mit anderen Worten: Ist der Ruf erst ruiniert, zensiert es sich ganz ungeniert?”

2. Jury-Berufung von “Don Alphonso” in der Kritik
(deutschlandfunk.de, Michael Borgers)
Rainer Meyer, besser bekannt als “Don Alphonso”, sitzt in diesem Jahr erstmals in der Jury des Medienpreises des Bundestages. Dass einer, der in seinen Blog-Beiträgen und Tweets immer wieder von “Merkels Medienpaladinen”, “Relotiusmedien” und “Systemredakteuren” spricht, nun über einen renommierten journalistischen Preis mitentscheiden soll, können einige kaum fassen.

3. Raus aus der Blase: Pfleger wird Politikchef
(ndr.de, Sebastian Friedrich)
Laut einer Studie haben drei Viertel der Journalistinnen und Journalisten in Deutschland einen Hochschulabschluss. Das Medienmagazin “Zapp” hat mit einem gesprochen, der über einen deutlich anderen in den Journalismus gekommen ist: Jan Jessen ist ausgebildeter Krankenpfleger, war Sänger in einer Punk-Band, wohnte in besetzten Häusern und leitet heute das Politik-Ressort der “Neuen Ruhr Zeitung”. Für ihn sei die soziale Öffnung überlebenswichtig für die Branche.

4. Ich dachte naiverweise, dass der Focus Ärzte empfiehlt, weil sie gut sind
(facebook.com/yael.adlerdr, Yael Adler)
1900 Euro plus Mehrwertsteuer kostet es, um laut “Focus” ein guter Arzt, Pardon, ein “empfohlener Arzt in der Region” zu sein. Soviel will die BurdaNews GmbH haben, damit man ein entsprechendes “FOCUS-Empfehlungssiegel” verwenden darf. Yael Adler, selbst Ärztin, hat ein solches Angebot “von einem empörten Kollegen” zugespielt bekommen und bei Facebook veröffentlicht.

5. Soziale Netzwerke: Wo Mitgefühl überbewertet wird
(nordbayern.de, Christian Urban)
Nach den Meldungen zum Tod zweier Jugendlicher in Nürnberg und zum Tod eines Zweijährigen in Spanien habe er mit Mitgefühl und Anteilnahme gerechnet, schreibt Christian Urban: “Das wären die Reaktionen, die man nach solch tragischen Ereignissen erwarten sollte. Nicht gerechnet hatte ich allerdings mit den Kommentaren zahlreicher Nutzer auf unseren Facebook-Seiten.” In einer recht deftigen “Wutrede” richtet sich der Online-Redakteur an jene Nutzer: “Haltet einfach die Klappe. Eure noch nicht komplett abgestumpften Mitmenschen werden es Euch danken. Und ich sowieso.”

6. Pressefreiheit auch für Saftpressen
(instagram.com, Jan Josef Liefers)
“Steht er jetzt noch zu ihr?” steht in großen Buchstaben auf der Titelseite eines Klatschmagazins, dahinter die Fotos von Schauspielerin Anna Loos und Schauspieler Jan Josef Liefers. Diese Schlagzeile hat die zehnjährige Tochter der beiden offenbar so verunsichert, dass sie bei ihren Eltern in einer Familien-Whatsapp-Gruppe nachfragte, was da los sei. Liefers veröffentlichte den Chatverlauf und schrieb dazu: “Eines dieser unterirdischen Klopapiere hat es mal wieder geschafft. Seid ihr stolz auf Euch?”

Vom “Unwort des Jahres” zu einer Bedrohung für die Meinungsfreiheit

Seit 28 Jahren wird in Deutschland das “Unwort des Jahres” gewählt — sehr zum Gefallen der “Bild”-Zeitung, die seit vielen Jahren gerne darüber berichtet, oft sogar auf der Titelseite.

Ausriss Bild-Zeitung - Unwort des Jahres - Zum Unwort des Jahres 2009 hat eine Jury den Begriff betriebsratsverseucht gewählt. Ein Mitarbeiter einer Baumarkkette hatte das Wort im TV verwendet
(“Bild”, 2010, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Gesellschaft für deutsche Sprache - Alternativlos ist das Unwort des Jahres 2010 - Es war Angela Merkels Kommentar zur Griechenland-Hilfe
(Bild.de, 2011)

Ausriss Bild-Zeitung - Döner-Morde ist das Unwort des Jahres
(“Bild”, 2012, Titelseite. Dass sie selbst zur Verbreitung des Begriffs beigetragen hatte, ließ die Redaktion natürlich lieber unerwähnt.)

Ausriss Bild-Zeitung - Schlecker-Frauen Unwort des Jahres?
(“Bild”, 2013, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Aus über 1300 Einsendungen gewählt - Sozialtourismus ist Unwort des Jahres
(Bild.de, 2014)

Ausriss Bild-Zeitung - Lügenpresse ist Unwort des Jahres
(“Bild”, 2015, Titelseite)

Ausriss Bild am Sonntag - Jury sucht Unwort 2015
(“Bild am Sonntag”, 2016)

Ausriss Bild-Zeitung - Umvolkung und Rapefugee sind Favoriten - Endspurt für Unwort 2016
(“Bild Frankfurt”, 2017)

Ausriss Bild-Zeitung - Volksverräter Unwort des Jahres
(“Bild”, 2017, Titelseite)

Screenshot Bild.de - Jury aus Sprachwissenschaftlern hat entschieden - Alternative Fakten ist Unwort des Jahres 2017
(Bild.de, 2018)

Ausriss Bild-Zeitung - Unwort des Jahres 2017: Alternative Fakten
(“Bild”, 2018, Titelseite)

Auch über die jüngste Wahl zum “Unwort des Jahres 2018” hat “Bild” vor ein paar Tagen wieder berichtet. Diesmal aber mit einer, nun ja, leichten Änderung im Ton. Die Zeitung schreibt:

Ausriss Bild-Zeitung - Große Debatte um das Unwort des Jahres - Sprach-Polizei verordnet Deutschland Sagbarkeits-Regeln

Die Jury der sogenannten „Sprachkritischen Aktion“ aus Sprachwissenschaftlern hat die Formulierung „Anti-Abschiebe-Industrie“ von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt (48) zum „Unwort des Jahres 2018“ gekürt – und löst damit kritisches Nachfragen aus.

Und zwar in erster Linie bei den Autoren des “Bild”-Artikels, Filipp Piatov und Ralf Schuler, die empört fragen: “Wer ist die Sprachpolizei überhaupt?” “Was hat die Sprach-Jury auszusetzen?” Und vor allem: “Wer soll das noch verstehen?”

“Niemand hat diese Jury legitimiert”, zitieren sie einen Sprachprofessor. Die Jury stehe “immer auf der sicheren Seite der politischen Korrektheit”. Diese ganze Sache sei “eine Farce”.

Man dürfe, so das bittere Fazit der “Bild”-Autoren, in diesem Land eben nicht mehr öffentlich sagen, was man möchte:

Nach der Kritik von Sport-Star Stefan Kretzschmar (45) diskutiert Deutschland, ob man eigentlich noch öffentlich sagen kann, was man möchte. Erkenntnis seit gestern: Ja, darf man. Es sei denn, es passt der Sprachpolizei nicht…

Über diese Kretzschmar-Sache hatte “Bild” schon in den Tagen davor groß berichtet:

Ausriss Bild-Titelseite - Darf man nicht mehr sagen, was man denkt? Die Debatte über Meinungsfreiheit geht weiter - was Prominente sagen

Die Antwort dürfte den “Bild”-Lesern spätestens seit dem “Unwort”-Artikel klar sein. Stichwort: Political Correctness! Stichwort: Sprachpolizei!

Jahrelang hielt die “Bild”-Zeitung die Wahl zum “Unwort des Jahres” für eine berichtenswerte Nachricht, sie widmete ihr prominente Plätze auf der Titelseite, machte regelrecht Werbung dafür: Diese Begriffe stehen zur Auswahl! So können Sie Vorschläge einreichen! Das sind die Gewinner!

… und auf einmal ist sie das Werk der “Sprachpolizei”, die mit ihrer “politischen Korrektheit” die Meinungsfreiheit in diesem Land einschränken will.

Ganz neu sind diese Argumente und Begrifflichkeiten freilich nicht. 2017 schrieb die AfD zum Unwort des Jahres, hier schwinge sich “eine Gesellschaft zur Sprachpolizei” auf. 2018 schrieb “Compact”: “Das Unwort des Jahres 2017 steht fest. Na, toll – und jetzt? Was soll dieser Zirkus eigentlich? Will uns die Sprachpolizei hier rhetorisch einnorden? Alles frei nach Orwell: ‘Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken?'” Und “Tichy’s Einblick” erklärte vor ein paar Tagen, die Wahl zum “Unwort” diene “Linksintellektuellen” lediglich dazu, “Andersdenkende lächerlich zu machen und zu diffamieren”. Überschrift: “Jährlich meldet sich die linke Sprachpolizei”.

Und “Bild” marschiert — mal wieder — munter mit.

Dreiklassensystem, Zuckerbergs Wortbruch, Pudding-Interview

1. Ein Dreiklassensystem
(taz.de, Jürn Kruse)
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat in Kooperation mit der Bundestagsfraktion der Linken eine Studie herausgegeben, in der fast 2.000 freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Beschäftigungsbedingungen und Bezahlung befragt wurden. 94 Prozent der Befragten fühlen sich gegenüber den Festangestellten von ARD, ZDF, “Deutschlandradio” und “Deutsche Welle” benachteiligt. 66 Prozent würden laut eigener Aussage für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als Festangestellte.

2. Zuckerberg bricht sein Whatsapp-Versprechen
(sueddeutsche.de, Jannis Brühl)
Derzeit sieht es ganz danach aus, als würde Facebook die Whatsapp-, Instagram- und Messenger-Technik miteinander verschmelzen lassen. Jannis Brühl kommentiert: “Zuckerberg bricht die Versprechen, die er Nutzern wie Mitarbeitern von Instagram und Whatsapp gab, als er die Firmen kaufte. Sie würden unabhängig bleiben, hieß es, und, im Fall von Whatsapp: Die Daten der Nutzer sollten sicher bleiben, wie es den Gründern des Messengers immer am Herzen lag. Sie taten öffentlich kund, wie sehr sie Werbung und Überwachung hassten — die zentralen Ideen hinter Facebooks Geschäftsmodell. Das Whatsapp-Team war die letzte Verteidigungslinie für die Privatsphäre der Nutzer im Konzern. Mittlerweile hat Zuckerberg die Gründer vergrault. Jetzt regiert er durch.”

3. “Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln” – ZDF-Mann Walde verzweifelt an SPD-Umweltministerin Svenja Schulze
(meedia.de)
Ein mögliches Tempolimit beherrschte in den vergangenen Tagen die Diskussionen in Deutschland. Da lag es für den ZDF-Journalisten Thomas Walde nahe, die Bundesumweltministerin Svenja Schulze zu der Thematik zu befragen. Doch diese will wieder und wieder nicht antworten. Thomas Walde dazu auf Twitter: “Ich habe eben Umweltministerin Svenja Schulze, SPD gefragt, wie ihre Position zu einem Tempolimit ist. Dann habe ich sie das nochmal gefragt. Dann nochmal. Und nochmal. Und nochmal.”

4. Die “Fake News”-Falle
(medienblog.hypotheses.org, Mandy Tröger)
Christian Wendelborn, Philosoph an der Universität Konstanz, plädierte im Rahmen der Fachtagung “Fake” dafür, auf den Begriff der “Fake News” zu verzichten. Dieser habe keine feste Bedeutung, es handele sich um einen politischen Kampfbegriff, ein “epistemisches Schimpfwort” und er diffamiere die Konsumenten.

5. Wühlen in privaten Daten
(deutschlandfunk.de, Daniel Bouhs und Caroline Schmidt)
Vor wenigen Wochen kursierten im Netz privateste Daten von Politikern, die im Rahmen eines “Adventskalenders” unter noch nicht ganz geklärten Umständen veröffentlicht wurden. Für Redaktionen stellt sich die medienethische Frage: Dürfen sie die Dokumente durchforsten, obwohl sie ihnen nicht gezielt zugespielt wurden?

6. Do You Still Have A Job At BuzzFeed?
(buzzfeed.com, Jason Sweeten)
Beim US-amerikanischen Medienunternehmen “BuzzFeed” kommt es zu gewaltigen Umstrukturierungen. Angeblich will das Unternehmen rund 200 Stellen streichen. Jason Sweeten hat daraus das Quiz “Do You Still Have A Job At BuzzFeed?” gebastelt, das er wo veröffentlicht hat? Genau: natürlich auf “BuzzFeed”!

Bild.de dramatisiert Emiliano Salas letzte Nachricht

Der argentinische Fußballspieler Emiliano Sala wird seit vorgestern vermisst. Er war mit einer einmotorigen Propellermaschine auf dem Weg von Nantes, wo sein alter Fußballverein, der FC Nantes, spielt, nach Cardiff, wo er einen Vertrag beim Premier-League-Klub Cardiff City unterschrieben hatte. Über dem Ärmelkanal verschwand das Flugzeug am Montagabend vom Radar. Seitdem wird nach Sala und dem Piloten gesucht.

Zuvor hatte Sala per WhatsApp eine Sprachnachricht verschickt, über die nun viele Medien berichten. Darunter auch Bild.de:

Screenshot Bild.de - Fußball-Star Sala Ich habe solche Angst - Dramatische WhatsApp aus dem Absturz-Flieger

Die Redaktion interpretiert die Aufnahme in bemerkenswerter Weise: Es sei …

eine dramatische Sprach-Nachricht des Argentiniers, die er per WhatsApp an Freunde schickte.

Und:

Schon zu Beginn der knapp einminütigen Nachricht heißt es: “Ich bin tot!”

Bei Bild.de schlussfolgern sie:

Im Hintergrund zu hören: Motorengeräusche. Kaum zu fassen: Sala spricht mit relativ ruhiger Stimme. Er klingt erschöpft, fast schon lethargisch — offenbar ohne jede Hoffnung zu überleben …

Tatsächlich spricht Emiliano Sala in der Aufnahme davon, dass das Flugzeug so aussehe, als würde es gleich in Stücke fallen. Und er sagt: “Wenn ihr in eineinhalb Stunden noch nichts Neues von mir gehört habt, keine Ahnung, ob man jemanden schickt, mich zu suchen, der wird mich eh nicht finden, aber das wisst ihr ja.” Er sagt auch: “Papa, habe ich eine Angst.” Angesichts des möglichen Absturzes und der aktuellen Suche nach dem Fußballer wirkt die Sprachnachricht sicher gespenstisch — sie ist ohne diesen Hintergrund allerdings keineswegs “dramatisch”, wie Bild.de schreibt. Sala gähnt beim Reden. Er nennt seine Freunde spaßig “ihr Verrückten”. Er fragt sie: “Wie geht es Euch, Brudis, alles gut?” Er sagt auch nicht zwingend “Ich bin tot!”, sondern “estoy muerto”, was man mit Blick auf den Kontext (er erzählt anschließend, wie viel er vor seiner Abreise nach Cardiff in Nantes noch erledigen musste — “ich musste Sachen erledigen, Sachen erledigen, Sachen erledigen und es hörte nicht auf, es hörte nicht auf, es hörte nicht auf”) besser mit “Ich bin vollkommen fertig” übersetzen kann. Und dann die Behauptung von Bild.de, Sala sei “offenbar ohne jede Hoffnung zu überleben”, was ziemlicher Unsinn ist, schließlich blickt er in der Aufnahme in die Zukunft und erzählt, dass er bald ja das erste Training mit seinem neuen Team habe: “Mal sehen, wie es wird.”

Die Familie von Emiliano Sala soll darum gebeten haben, die Audioaufnahme nicht zu verbreiten. Bild.de hat die Audioaufnahme in den Artikel eingebettet (und, ja, auch wir tragen durch die Zitate weiter oben dazu bei, dass sich der Inhalt der Aufnahme verbreitet — wir verzichten allerdings bewusst auf jeglichen Link zu Artikeln, in denen die Originalaufnahme zu hören ist).

Mit Dank an anonym und Benedikt für die Hinweise!

“Aber immer noch frei!”

Bonnie Elizabeth Parker und Clyde Champion Barrow zogen, soweit wir wissen, nie durch Magdeburg (Sachsen-Anhalt), und auch sonst ist der Vergleich mit dem mordenden US-Duo, den die “Bild”-Redaktion im ersten Absatz ihrer heutigen Titelgeschichte zieht, recht gewagt:

Wie Bonnie & Clyde zogen Peggy N. (39) und ihr Freund (41) durch Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Sie lebten als Mietnomaden, begingen Einbrüche und räumten Briefkästen leer. Die Polizei wies dem drogensüchtigen Duo 640 Straftaten in 18 Monaten nach — und ließ es wieder laufen!

Nein, auch wenn “Bild” den Eindruck erwecken mag: “und ließ es wieder laufen” bedeutet nicht, dass sich die Angelegenheit für das Paar damit erledigt hat. Es bedeutet nicht, dass Peggy N. und ihr Freund trotz der vielen mutmaßlichen Straftaten (größtenteils wohl Beschaffungskriminalität) straffrei bleiben. Es bedeutet erstmal nur, dass sie nicht in Untersuchungshaft sitzen.

Das wird auf der “Bild”-Titelseite noch nicht ganz klar:

Ausriss Bild-Titelseite - Verbrecher-Paar aus Magdeburg - 640 Straftaten, aber immer noch frei! Und die Polizei hilft auch noch bei Behördengängen

Auf Seite 6 im Blatt wird “Bild” immerhin konkreter:

Ausriss Bild-Zeitung - 640 Straftaten, keine U-Haft! Polizisten helfen Intensivtätern bei lästigen Behördengängen

Die Ermittlungen sind abgeschlossen. Warum das Paar nicht in U-Haft sitzt? Unklar!

So “Unklar!” dürfte es aber gar nicht sein.

Die U-Haft dient der Durchführung von Strafverfahren. Sie dient nicht der Strafe. Und sie hat hohe Anforderungen, schließlich geht es darum, jemanden ohne ein Urteil ins Gefängnis zu stecken. “Ihr Vollzug ist die ultima ratio; der Erlass eines Haftbefehls muss sich an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Unschuldsvermutung messen lassen”, erklärt uns Strafverteidiger Carsten Hoenig. Zur Untersuchungshaft komme es nur, “wenn gar nichts mehr anderes geht”.

In den Paragraphen 112 und 112a der Strafprozessordnung ist geregelt, wann es soweit ist und wann nicht: Besteht Flucht- oder Verdunkelungsgefahr (§112)? Wenn nicht: Besteht Wiederholungsgefahr (§112a)? Wenn auch nicht: keine U-Haft. Oberstaatsanwalt Frank Baumgarten wollte sich uns gegenüber zwar nicht zum konkreten Fall äußern, sagte aber, dass die Staatsanwaltschaft Magdeburg immer prüfe, ob eine dieser Gefahren besteht. Und dass sie keinen Haftbefehl beantrage, wenn keine davon vorliegt.

Es kann auch sein, dass es einen Haftbefehl gibt, dieser aber gegen Auflagen ausgesetzt wurde. Eine solche Auflage könnte zum Beispiel darin bestehen, so Strafverteidiger Hoenig, “dass die Beschuldigte sich in Therapie begibt, um auf diesem Wege die Wiederholungsgefahr zu minimieren beziehungsweise zu beseitigen.” Das könne er ohne Akteneinsicht aber natürlich nicht sicher sagen.

Das Polizeirevier Magdeburg hat eine Pressemitteilung zu dem Fall herausgegeben, aus der auch “Bild” zitiert. Darin steht unter anderem:

Mit der Beschuldigten konnten eingehende Gespräch zu ihrem Lebenswandel geführt werden. Ebenso erhielt sie von den Beamten unterstützten bei Ämtergängen. Auch wurde innerhalb ihres sozialen Umfelds vermittelt, um ein erneutes in Erscheinung treten zu verhindern. Der beschuldigte 41-jährige wies solche Maßnahmen zurück.

Das klingt zumindest bei Peggy N. wie ein Versuch, die Wiederholungsgefahr zu minimieren.

Nicht, dass er es sich wünsche, sagt Strafverteidiger Carsten Hoenig noch, aber mit anderen Argumenten hätte man vielleicht auch eine Inhaftierung vertreten können: “Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Haftrichter bereits die Fluchtgefahr bejahen könnte — wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe, die einen Fluchtanreiz bieten könnte.”

Es sind also nicht ganz einfache, aber ziemlich normale rechtsstaatliche Vorgänge und Fragen, um die es bei der Untersuchungshaft geht. Es ist auf jeden Fall nicht das große Ärgernis, das “Bild” daraus macht.

Nachtrag, 22:52 Uhr: Wir haben vergessen, eine weitere Stelle aus der verlinkten Pressemitteilung des Polizeireviers Magdeburg zu zitieren, die auf eine Therapie der Beschuldigten hinweist und damit einen Grund gegen eine mögliche Wiederholungsgefahr liefern könnte. Diese Passage wollen wir hier nachreichen:

Zeitweise arbeiteten bis zu 5 Kriminalbeamte gleichzeitig an den Verfahren in der Ermittlungsgruppe. Neben strafprozessualen Maßnahmen wurden auch Therapiemaßnahmen durch die Polizisten begleitet, da es sich bei der Begehung der Straftaten um Fälle der so genannte “Beschaffungskriminalität” gehandelt hat. Die Beschuldigten haben durch die Taten ihren Drogenkonsum finanziert.

Und, weil man es möglicherweise falsch verstehen kann: Carsten Hoenig äußert sich hier als Experte und nicht als Verteidiger des beschuldigten Paares — denn das ist er nicht.

Mehr zu den Schwierigkeiten der “Bild”-Redaktion mit der Untersuchungshaft:

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