Suchergebnisse für ‘Julian Reichelt’

Bild  

Der Unfall von Südtirol, die fehlende Korrektur und die “journalistische Aufrichtigkeit” der “Bild”-Zeitung

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute unter anderem Platz war:

  • “Schluck! DEUTSCHES BIER WIRD TEURER” — der größte deutsche Bierhersteller hebt die Preise für Fassbier an
  • die Gewinnquoten beim Lotto
  • einen Leserbrief zum möglicherweise drohenden Aus des “Tatort” mit Til Schweiger: “Bitte ARD, keinen Cent mehr für solchen Filmschrott ausgeben.”
  • Franz Josef Wagners Geschreibsel an Oliver Kahn
  • “IHR HOROSKOP” für den 8. Januar
  • “Die traurige Wahrheit” hinter der Liebe zwischen “Dianas Nichte” und einem “Mode-Millionär”
  • “Schluss mit Blond”: “TV-Star Christine Neubauer (57) färbt ihre Haare nicht mehr blond.”
  • die Kinder des dänischen Kronprinzenpaars “pauken jetzt in der Schweiz”
  • Sidos Ehefrau Charlotte Würdig will ihrem Mann helfen, von einer Nasenspray-Sucht wegzukommen
  • die “Playboy”-Fotos von Laura Müller, der Freundin des Wendlers
  • “Frau trocknet nasses Telefon in Mikrowelle”
  • “HITLER-DOUBLE WILL IN MÜNCHEN AUFTRETEN”
  • “Rentnerin hatte Granate als Deko”

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute kein Platz war:

  • eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion gestern auf ihrer Titelseite ein unvepixeltes Foto einer Frau gezeigt hat, die laut “Bild” bei einem Unfall in Südtirol ums Leben gekommen sein soll — die aber in Wirklichkeit überhaupt nichts mit dem Unfall zu tun hat, die nicht mal in Südtirol war und die vor allem: lebt.

“Bild”-Chef Julian Reichelt sagte mal über sich selbst:

Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.

Und Springer-Chef Mathias Döpfner lobte mal die angeblich so “tolle” Fehler-Kultur bei “Bild”:

Und was ich toll finde: Dass Julian Reichelt, wenn er Fehler macht, sich dafür entschuldigt und sofort Transparenz herstellt.

Bild  

“Bild” schickt Bodo Ramelow in einen erfundenen “Shitstorm”

Ein “Shitstorm” ist laut Duden ein “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht”.

Bei “Bild” haben sie hingegen eine leicht andere, eigenwillige Definition, und die geht in etwa so: Um einen “Shitstorm” handelt es sich, wenn auf einen Witz bei Twitter weit über 200 Personen mit “Gefällt mir” reagieren, mehr als 30 Personen ihn per Retweet verbreiten und zwölf Personen auf den Tweet antworten, wobei die Antworten vor allem mit einem Daumen nach oben, lachenden Gesichtern, vielen Herzchen und Aussagen wie “Sehr schön … danke dafür :-)” oder “Herrlich” versehen sein müssen. Oder anders: Wir finden Linken-Politiker und Ministerpräsident Bodo Ramelow blöd, also lasst uns ihm mal einen “Shitstorm” andichten:

Ausriss Bild-Zeitung - Was wollten Sie uns damit sagen, Herr Ramelow?

Shitstorm für MP Bodo Ramelow (Linke)!

Grund sei dieser “schräg formulierte Nachrichten-Mix des Politikers auf Twitter”:

Screenshot eines Tweets von Bodo Ramelow - Was die Woche passierte und die Welt bewegte: Betrunkener Waschbär fährt erster Klasse mit der DB bis Bremen - nur dadurch entkam er dem Erfurter Stadtjäger. Die Stadtmusikanten müssen ab sofort geändert werden und eine  Greta war die Zugbegleiterin.

Die Thüringen-Ausgabe der “Bild”-Zeitung schreibt über die Reaktionen:

Ein verärgerter User antwortete: “Bodo lass das, Witze kann nicht jeder, mach lieber ordentliche Politik!”

Andere fanden, dass sich der Beitrag wie ein Antrag auf Pensionierung lese, fragten beim MP sogar nach, ob er alkoholisiert gewesen sei.

… wobei die Sache mit der “Pensionierung” mit einem Zwinkern versehen ist. Ansonsten sehen die Antworten auf Ramelows Tweet so aus:








Das ist, neben aktuell 247 Mal “Gefällt mir” und 31 Retweets, der “Shitstorm”, den die “Bild”-Redaktion herbeifantasiert hat.

Dazu auch aus unserem Archiv:

Heuristiken: Riskante Schleichwege fürs Denken

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 2: Heuristiken.

***

Als Anfang des Jahres private Daten von Prominenten auf einer Internetseite auftauchten, war “Bild”-Chef Julian Reichelt sich sehr schnell sicher, wie alles gewesen sein musste. In Gabor Steingarts Podcast sagte er damals:

Ich glaube, was relativ klar ist: Das waren nicht ein oder zwei Jungs, die bei Pizza und Cola light im Keller gesessen haben, bisschen Computerspiele, bisschen Youtube und dann bisschen was gehackt haben und das dann aufbereitet haben. Das muss eine größere Struktur gewesen sein.

Am Ende stellte sich heraus: Reichelt hatte recht. Es waren tatsächlich nicht zwei Jungs gewesen, die ein bisschen was gehackt und dann aufbereitet hatten, es war nur einer.

Julian Reichelt ist dabei ein Fehlschluss unterlaufen, der Menschen immer wieder passiert — Journalistinnen und Journalisten sehr häufig, weil sie oft in Situationen geraten, in denen sie wenig wissen, aber trotzdem irgendetwas sagen müssen.

Wenn wichtige Informationen fehlen, um zu einer guten Einschätzung kommen zu können, müssen Menschen sich an etwas orientieren. Die verschiedenen Techniken, mit denen sie versuchen, im Nebel Halt zu finden, nennt man Heuristiken.

Menschen versuchen, sich in so einer Situation mit einer Handvoll Puzzleteilen ein vollständiges Bild zu machen. In sehr vielen Fällen gelingt das auch. Wenn man auf einem Puzzleteil eine Nase erkennen kann, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass auf den übrigen Mund und Augen zu sehen sein werden.

Wahrnehmungspsychologen nennen diese Methode Repräsentativitätsheuristik, weil Menschen dabei von einer einzelnen repräsentativen Information auf die Gesamtheit schließen. Im Falle des Puzzlestücks kann das Gesamtbild natürlich auch aus eintausend Nasen bestehen. Aber um das herauszufinden, müsste man das gesamte Bild erst zusammenzusetzen. Die Heuristik macht es möglich, sich schnell zu entscheiden.

Menschen, die “Fake News” verbreiten möchten, machen sich dieses Prinzip zunutze. Sie entwerfen Websites, die auf den ersten oberflächlichen Blick aussehen wie Nachrichtenseiten. Sie spekulieren darauf, dass die Menschen sich auf ihren ersten Eindruck und ihre Intuition verlassen und nicht ganz so genau hinschauen. Darauf fallen auch Journalistinnen und Journalisten ganz gern herein.

Als der heutige “Titanic”-Chefredakteur Moritz Hürtgen im Juni 2018 bei Twitter meldete, Horst Seehofer wolle die Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU auflösen, hätten wenige Klicks genügt, um herauszufinden, dass der Twitter-Account @hrtgn nichts mit dem Hessischen Rundfunk zu tun hat. Aber Hürtgen hatte die Journalistinnen und Journalisten schon richtig eingeschätzt: Er hatte lediglich sein Profilbild geändert und in den Tagen zuvor ein paar Meldungen vom Hessischen Rundfunk gepostet. Die Nachrichtenagentur Reuters verließ sich darauf, dass der Account den Anschein einer seriösen Quelle hatte. Danach machte die satirische Falschmeldung die Runde.

Das Problem ist: Heuristiken liefern in der Tendenz gute Ergebnisse, sind aber recht anfällig für Fehler — vor allem dann, wenn Menschen nicht ahnen, dass ihr Urteil durch eine Heuristik zustande kommt.

In Gabor Steingarts Podcast erklärt “Bild”-Chef Reichelt seine Einschätzung so:

Ich glaube nach allem, was wir an Hacks in den letzten Jahren gesehen und erlebt haben, ist das Wahrscheinlichste immer noch, dass es zumindest staatliche Unterstützung, von welcher Seite auch immer, für diesen Hack gab.

Reichelt schaut, wie gut die Situation in ein Muster passt — wie repräsentativ sie also für eine bestimmte Situation ist. Danach bemisst er die Wahrscheinlichkeit.

In solchen Situationen machen Menschen auch oft einen anderen Fehler: Sie schätzen Wahrscheinlichkeiten falsch ein, wenn sie sich von logischen Zusammenhängen blenden lassen. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky nennen das Phänomen das Linda-Problem. Herausgefunden haben sie es mit einem Experiment, in dem sie Probandinnen und Probanden eine Frau beschrieben und ihnen dann Fragen stellten. Sie charakterisierten die Frau zunächst mit Merkmalen, die zu einer Feministin passen, und fragten anschließend: Was ist wahrscheinlicher:

  • Die Frau ist Bankangestellte?

Oder:

  • Die Frau ist eine feministische Bankangestellte?

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entschieden sich mehrheitlich für die zweite Antwort, weil es logisch erscheint, dass eine feministische Frau auch eine feministische Bankangestellte ist. Allerdings ist jede feministische Bankangestellte auch einfach nur eine Bankangestellte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau zu dieser viel größeren Gruppe gehört, ist also deutlich höher.

Diese falsche Einschätzung nennt sich Basisratenfehler: Wenn etwas offensichtlich erscheint, neigen Menschen dazu, nicht auf die tatsächlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten zu schauen.

Julian Reichelt muss die Wahrscheinlichkeit recht hoch vorgekommen sein, dass irgendein Geheimdienst bei der Veröffentlichung der Prominenten-Daten seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Und nun gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder ist ein recht unwahrscheinliches Ereignis eingetreten — oder Reichelt hat die Wahrscheinlichkeiten falsch eingeschätzt.

In beiden Fällen ist ihm möglicherweise noch ein anderer Denkfehler unterlaufen, den Kahneman mit der sogenannten WYSIATI-Regel (What you see is all there is) beschreibt: Wenn Menschen eine Situation einschätzen, schauen sie auf die Informationen, die vor ihnen liegen. Sie bewerten das Sichtbare und unterschätzen den Einfluss des Unsichtbaren — sogar dann, wenn sie wissen, dass unbekannte Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Das kann dazu führen, dass Menschen Zusammenhänge konstruieren, wo keine sind — dass sie zum Beispiel davon ausgehen, dass ein außergewöhnlicher Fußballtorwart auch ein zuverlässiger Ratgeber in Finanzfragen sein muss, oder ein sympathischer Moderator auch ein guter Bundeskanzler wäre (Halo-Effekt). Dieses Prinzip nutzt die Werbung sehr gerne.

Umgekehrt kann es auch zur Folge haben, dass bekannte negative Eigenschaften einen Verdacht auf Menschen lenken, die im konkreten Fall nichts damit zu tun haben (Teufelshörner-Effekt). Mit diesem Effekt arbeiten auch Krimi-Autoren: Wenn eine Figur in einer Szene zu sehen ist, in der sie unfreundlich zu anderen Menschen ist, lenkt das auch den Verdacht im Mordfall auf sie (wobei es am Ende doch immer die Figur war, die zu Beginn von allen am sympathischsten erschien).

Es gibt noch eine Reihe weiterer Denkabkürzungen, mit denen Menschen sich behelfen, wenn sie schnell Entscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel die Verfügbarkeitsheuristik: Wenn Menschen nicht alle relevanten Faktoren kennen, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, überlassen sie die Bewertung ihrer Erinnerung. Das führt dazu, dass sie besonders präsente Informationen bevorzugen — also all das, was ihnen sofort in den Sinn kommt.

Im Fall der geleakten Prominenten-Daten hätten die Täter natürlich Aktivisten von irgendwoher sein können. Weil Julian Reichelt und sein “Bild”-Team die Russen aber ohnehin hinter so gut wie allem vermuten, lag wohl auch hier die Annahme nahe, dass der russische Geheimdienst etwas mit der Sache zu tun haben muss.

Die Verfügbarkeitsheuristik spielt im Journalismus an verschiedenen Stellen eine Rolle. Wenn Journalistinnen und Journalisten einen Experten suchen, der etwas zu einem Thema sagen kann, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht den anrufen, der sich am besten auskennt, sondern den, der ihnen als Erstes einfällt.

Außerdem beeinflussen Medien sich bei der Auswahl von Themen gegenseitig. Berichten mehrere Redaktionen über etwas, kommt schnell die Frage auf: Warum haben wir das nicht? So gewinnt die Verbreitung an Dynamik. Und je präsenter ein Thema ist, zum Beispiel bei Twitter, desto schneller fällt es Redakteurinnen und Redakteuren in den Themenkonferenzen ein. Das führt zu einer Verzerrung, deren Ergebnis sein kann: Über ein wichtiges Thema wird nicht berichtet, weil über ein wichtiges Thema nicht gesprochen wird.

Die Verfügbarkeitsheuristik verzerrt auch die Wahrnehmung des Publikums. Wenn Meinungsforschungsinstitute Menschen fragen, wovor sie am meisten Angst haben, ist kurz nach Terroranschlägen eine häufige Antwort: vor Terroranschlägen — obwohl die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt, an Krebs oder bei einem Autounfall zu sterben, sehr viel größer ist.

Berichten Journalistinnen und Journalisten über diese Umfragen, führt das wiederum dazu, dass der Effekt sich verstärkt, weil beim Publikum der Eindruck entsteht: Wenn andere das auch so sehen, ist die Sorge ja offenbar nicht ganz unbegründet.

Ein weiterer Denkfehler, der in der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten eine Rolle spielt, ist der fundamentale Attributionsfehler. Menschen neigen dazu, den Einfluss von Personen auf Ereignisse zu über- und den der Umstände zu unterschätzen. Dieser Fehler kommt zum Beispiel in der Sport- oder Wirtschaftsberichterstattung häufig vor, wenn Journalistinnen und Journalisten Erfolge der Taktik des Trainers oder der unkonventionellen Art des Vorstandsvorsitzenden zuschreiben. So ergibt sich eine stimmige Geschichte. Es kann allerdings sein, dass die unkonventionelle Art des Firmenchefs bei Rekordverlusten zwei Jahre später auch eine gute Erklärung für seinen Misserfolg ist. Tatsächlich hat der Zufall sehr großen Einfluss. Das ist allerdings eine Erklärung, von der man in der Berichterstattung nur sehr selten liest.

Gleichzeitig spielt dabei die Ergebnisverzerrung (Outcome-Bias) eine Rolle. Um die Qualität von Entscheidungen zu bewerten, schauen Menschen auf das Ergebnis. Hat eine Mannschaft gewonnen, hat der Trainer dem Anschein nach alles richtig gemacht. Es kann aber eben auch sein, dass eine Mannschaft gewonnen hat, obwohl der Trainer ihr mit seinen Entscheidungen alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt hat.

Was aber lässt sich gegen diese Verzerrungen machen?

Das Herrschaftswissen der Verhaltensökonomie und Sozialpsychologie über Shortcuts und Fehler bei der Entscheidungsfindung (…) ist vielen Kommunikationsmanagern und -strategen, die die Medien für ihre Zwecke instrumentalisieren, inzwischen wohlvertraut. Dagegen kennen all das bisher viel zu wenige Journalisten

… schreibt der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl in seinem Buch “Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde”. Daher ist der erste Schritt: sich unbewusste Denkprozesse bewusst machen. Dann fällt man vielleicht immer noch auf sie herein, kann das aber in einem zweiten Schritt überdenken und korrigieren.

Janina Kalle hat einen interessanten Beitrag über Techniken geschrieben, mit deren Hilfe sich diese Verzerrungen entschärfen lassen. Um das Outcome-Bias auszuschalten, kann es zum Beispiel sinnvoll sein, eine andere Perspektive einzunehmen, sich zu fragen: Wäre unter den gleichen Umständen ein anderer Ausgang der Geschichte möglich gewesen?

Generell gilt: Wer sich die Wahrnehmungsverzerrungen bewusst macht, hat immerhin die Chance, sie zu erkennen. Auch Zeit ist immer von Vorteil, denn wenn das Gehirn schnelle Entscheidungen trifft, ist die Fehlerwahrscheinlichkeit hoch. Und je weniger Journalistinnen und Journalisten sich auf ihre Erinnerung und vor allem auf bloße Eindrücke verlassen, desto geringer ist die Gefahr, vom eigenen Gehirn überlistet zu werden.

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zitiert in seinem Buch “Die große Gereiztheit” ein geflügeltes Wort us-amerikanischer Journalistinnen und Journalisten: “Wenn deine Mutter dir sagt, sie liebt dich, überprüfe es.” Für Julian Reichelt könnte man den Satz etwas abwandeln: “Wenn dein Gefühl dir sagt, es waren die Russen, recherchiere es.”

***

Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier.

“Bild”-Chef schafft “Weihnachten” ab

Wir wünschen entspannte und besinnliche Feiertage und ein erfolgreiches, gesundes Jahr 2020.

So lautet der Spruch in der Grußkarte von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.”, die die Medienjournalistin Ulrike Simon heute bei “Horizont” präsentiert. Aber fehlt da nicht was? Wo steckt denn “das wichtige Wort: Weihnachten”? Will Julian Reichelt, der als Chef der Chefredakteure für alle drei Blätter verantwortlich ist, etwa eines der zentralen christlichen Feste abschaffen?

Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert, wenn es für die “Bild”-Medien vor ziemlich genau einem Jahr nicht der Rede der Aufregung der Kampagne wert gewesen wäre, dass in einer Weihnachtskarte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz das aus “Bild”-Sicht “wichtige Wort: Weihnachten” fehlte.

Mehrere Tage versuchten sie bei “Bild” und Bild.de, Widmann-Mauz fertigzumachen und aus dem Amt zu schreiben:

Collage mit Screenshots von Bild.de und Ausrissen aus der Bild-Zeitung - Peinliche Karte aus dem Kanzeramt - Integrations-Beauftragte schafft Weihnachten ab - Die peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt - Integrationsbeauftragte drückt sich vor dem Wort Weihnachten - Kritik-Stum wegen beschämender Weihnachtskarte - Warum ist sie Integrationsministerin?

Filipp Piatov und Franz Solms-Laubach regten sich über die “peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt” auf. Solms-Laubach kommentierte zusätzlich: “Instinktloser Unsinn!” Briefonkel Franz Josef Wagner schrieb an die “Liebe Integrationsministerin”. Und die Redaktion ließ den selbst initiierten “Kritik-Sturm wegen beschämender Weihnachts-Karte” über Widmann-Mauz ziehen. Es war eine typische “Bild”-Kampagne, in der Julian Reichelt und sein Team aus purer Lust auf Krawall eine Kleinigkeit zum großen Skandal aufbliesen. Und für alle ganz Rechten, die das Abendland untergehen sehen, war es ein gefundenes Fressen für Hass und Hetze.

Ulrike Simon schreibt bei “Horizont”, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags das fehlende “Weihnachten” noch bemerkt haben sollen:

Glück gehabt, dass Bild den eigenen Faux-pas in diesem Jahr rechtzeitig erkannte. Pech, dass HORIZONT eine von mehreren tausend Karten vor dem Einstampfen retten konnte.

Mit Dank an Max für den Hinweis!

Bild.de macht Oliver Welke “DROGEN-ÄRGER” und entdeckt Verpixelung

“Oliver Welke hat DROGEN-ÄRGER mit der Polizei” titelten sie vorgestern Abend bei Bild.de. Hui!

Doch das, was nach Redaktionsexzessen und Koks auf dem Teleprompter klingt, ist bei genauerer Betrachtung viel, viel unspektakulärer: In der ZDF-Sendung “heute-show” vom vergangenen Freitag ging es unter anderem um die Legalisierung von Cannabis. Dazu zeigte Moderator Welke in einer Fotomontage einen Polizisten, der einer Frau einen Joint anzündet. Die Aufnahme des Beamten (ohne Feuerzeug in der Hand und auch ohne Frau mit Joint neben sich) hatte sich die “heute-show” nach eigener Aussage bei einer Fotodatenbank besorgt.

Einem Heilbronner Polizeisprecher gefiel das überhaupt nicht, denn er ist derjenige, der auf dem Bild als Feuerspender zu sehen ist. Informiert war er über die Verwendung des Fotos nicht, schon gar nicht in diesem Kontext. Die Polizei Heilbronn prüfte rechtliche Schritte gegen das ZDF, genauso der Polizeisprecher selbst. Inzwischen hat er eine Entschuldigung des Senders angenommen.

Über den Zwist berichtete Bild.de und brachte dazu eben diese irreführende Schlagzeile auf der Startseite, die eigentlich nur die Assoziation zulässt, dass Oliver Welke Drogen verkauft, Drogen nimmt oder sonst irgendwas mit Drogen am Hut hat:

Screenshot Bild.de - Heute Show - Oliver Welke hat Drogen-Ärger mit der Polizei

Der Bild.de-Artikel hat aber nicht nur eine ziemlich verrenkte Überschrift, die es locker mit jenen in den Knallblättern der Regenbogenpresse aufnehmen kann — er wartet auch mit einer Überraschung auf: Die “Bild”-Redaktion ist technisch in der Lage und willens zu verpixeln. Zu diesem Screenshot aus der “heute-show” …

Screenshot Bild.de mit einem Screenshot aus der Heute Show - Die Polizei, dein Joint und Helfer

… steht in der Bildunterschrift:

Ein Screenshot der Sendung: BILD hat den Beamten auf der ZDF-Fotomontage gepixelt, die “Heute Show” zeigte sein Gesicht erkennbar

Sind die “Bild”-Medien nun also die Hüter des heiligen Persönlichkeitsrechts? Nur zur Erinnerung:

Und das ist lediglich eine kleine Auswahl.

Mit Dank an @HoechDominik, Jens W. und Johannes für die Hinweise!

Gartentor Handke, “Titanic”-Briefe, “Vertrautheit schafft Vertrauen”

1. “Stellt mir nicht solche Fragen”: Peter Handke kritisiert Medien
(kurier.at, Georg Leyrer)
Der Nobelpreisträger Peter Handke will “nie wieder” Journalistenfragen beantworten. Das hat etwas mit der öffentlichen Kritik an ihm, aber auch mit einem Gartentor, Homer und Cervantes zu tun: “Ich stehe vor meinem Gartentor und da sind 50 Journalisten und alle fragen nur wie Sie. Von keinem Menschen, der zu mir kommt, höre ich, dass er sagt, dass er irgendwas von mir gelesen hat.  Es sind nur die Fragen: Wie reagiert die Welt? Reaktion auf Reaktion auf Reaktion. Ich bin ein Schriftsteller, ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes. Lasst mich in Frieden und stellt mir nicht solche Fragen”.

2. Die Gutsherren legen die Axt an
(kontextwochenzeitung.de, Josef-Otto Freudenreich)
Bei der Südwestdeutschen Medienholding sollen tiefe Einschnitte anstehen: Gleich vier Redaktionen sollen geschlossen werden. Das wird einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Job kosten, wie “Kontext”-Autor Josef-Otto Freudenreich nach einem Gespräch mit einem Verdi-Vertreter befürchtet: “Die Gewerkschaft spricht von 40 bis 45 Stellen, die in der 270-köpfigen StZN-Redaktion gestrichen werden sollen. Als sicher gelte, dass in einem ersten Schritt die Außenredaktionen in Esslingen, Böblingen, Waiblingen und Göppingen geschlossen werden. Nach Kontext-Informationen müssen StZ [“Stuttgarter Zeitung”] und StN [“Stuttgarter Nachrichten”] auch jeweils drei ihrer zwölf sogenannten Exklusiv-Autoren einsparen.”

3. Das sind Twitters neue Regeln für Staatschefs
(spiegel.de)
In einem Blogpost will Kurznachrichtendienst Twitter “klarstellen, dass die Accounts von politischen Führungspersonen nicht komplett über unseren Regeln stehen”. Die entscheidende Formulierung ist dabei das “nicht komplett”, denn man lässt den Staatslenkern dennoch eine Menge durchgehen und wählt als Sanktion, außer bei Extremfällen, höchstens eine Einschränkung der Verbreitung.

4. “Bild TV” ist das Volk
(deutschlandfunk.de, Arno Orzessek, Audio: 4:17 Minuten)
Der Axel-Springer-Konzern will mit “Bild TV” noch stärker ins Fernsehgeschäft einsteigen. Arno Orzessek hat verfolgt, was “Bild”-Boss Julian Reichelt zu dem Thema gesagt hat und ist sich sicher: “Falls “Bild TV” ein ähnliches Bild vom Erleben der Menschen abbildet wie die “Bild”-Zeitung, und Sie zu diesen Menschen gehören, dann werden Sie entdecken: Sie sind voller Ressentiments! Sie verleumden, wenn es Ihnen passt! Sie nehmen es mit den Fakten nicht so genau! Sie mischen sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen. Und so weiter.”

5. Jan Hofer: “Vertrautheit schafft Vertrauen”
(haz.de, Imre Grimm)
Imre Grimm hat sich mit der “Tagesschau”-Institution Jan Hofer unterhalten. Der 69-jährige Chefsprecher arbeitet dort seit stolzen 34 Jahren und weiß daher gut über die Konstanten und Wechsel im Nachrichtenbusiness Bescheid. Im Gespräch geht es nicht nur um die Sendung, sondern auch ihre Auswirkungen auf sein Privatleben: “Ich passe höllisch auf, dass meine Kinder nicht in die Presse kommen. Aber wenn es bei mir privat nicht so gut läuft, habe ich wochenlang die Boulevard-Typen vor der Tür stehen. Das ist alles nicht so angenehm. Damit muss man aber fertig werden.”
Weiterer Lesetipp: Grimm hat auch die “Tagesschau” besucht und dabei “ins Herz einer deutschen TV-Institution” geblickt.

6. 40 Jahre TITANIC – 40 Jahre zufriedene Leser Teil 1
(youtube.com, Caricatura – Museum für Komische Kunst, Video: 2:55 Minuten)
“Titanic”-Titelbilder lösen nicht immer vorbehaltlose Zustimmung aus, um es vorsichtig auszudrücken. In einem kurzen Video tragen Redakteurinnen und Redakteure des Satire-Magazins Zuschriften von Leserinnen und Lesern vor, die emotional besonders aufgewühlt waren.

Bild  

Vom “Messermann” zur Verschwörungstheorie

Am vergangenen Freitag ist in Berlin ein Mann über die Absperrung vor einer Synagoge gestiegen. Laut Polizeimeldung lief er mit einem Messer in der Hand auf die Wachleute zu und soll dabei etwas gemurmelt haben. Die Wachleute zogen sofort ihre Dienstwaffen, richteten sie auf den Mann und forderten ihn auf, das Messer fallen zu lassen. Der Mann blieb stehen und sprach mehrfach mit ruhiger Stimme und mutmaßlich auf Arabisch etwas vor sich hin. Die Wachleute setzten schließlich Pfefferspray ein, um den Mann zu überwältigen.

In einer ersten Befragung ließ sich das Motiv des Mannes nicht feststellen. Auch eine richterlich angeordnete Durchsuchung seiner Wohnung brachte keine Klärung. Da auch ein politisches Motiv in Frage kam, beschlagnahmte die Polizei mehrere Datenträger und Unterlagen, die zurzeit ausgewertet werden. Haftgründe gegen den Mann lagen nicht vor, weshalb er am darauffolgenden Morgen aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde.

So. Und dann kam “Bild”.

“Horror in Berlin-Mitte”, schrie die Zeitung am Montag: “Synagoge angegriffen”!

Der Mann sei Syrer und solle “Allahu Akbar” und “Fuck Israel” gerufen haben, schrieben die Autoren des Artikels. Ob das stimmt, ist unklar; in der Polizeimeldung steht es nicht, und andere Medien schreiben es nur mit Verweis auf die “Bild”-Zeitung.

Der eigentliche Skandal ist für “Bild” aber ohnehin etwas anderes.

DAS UNFASSBARE: MOHAMAD M. WIRD AM NÄCHSTEN TAG FREIGELASSEN.

“Wo er jetzt ist? Unbekannt.”, gruselte sich “Bild”-Redakteur Timo Lokoschat im dazugehörigen Kommentar:

Was bleibt, ist das bedrückende Gefühl, dass da draußen jemand herumläuft, der voller Hass ist und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.

Und “Bild”-Chef Julian Reichelt twitterte:

Tweet von Julian Reichelt: Solange man von den Behörden laufen gelassen wird, wenn man mit einem Messer bewaffnet eine Synagoge überfällt, solange soll bitte kein Politiker behaupten, Antisemitismus habe in Deutschland keinen Platz. Hat er. Und zwar in seiner gefährlichsten Form. In unserer Hauptstadt.

Vielleicht ist es an der Zeit, diese Sache mit dem Laufenlassen nochmal zu erklären, “Bild” hatte da ja schon immer gewisse Verständnisprobleme.

Der deutsche Rechtsstaat sieht vor, dass es gute Gründe braucht, jemanden ohne ein Urteil ins Gefängnis zu stecken. Die Untersuchungshaft sei “die ultima ratio”, erklärte uns Anfang des Jahres in einer ähnlichen Sache der Strafverteidiger Carsten Hoenig. Der Erlass eines Haftbefehls müsse sich “an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Unschuldsvermutung messen lassen”. Zur Untersuchungshaft komme es nur, “wenn gar nichts mehr anderes geht”.

Laut Strafprozessordnung muss zunächst einmal dringender Tatverdacht bestehen. Zudem gibt es bestimmte Haftgründe, etwa die Fluchtgefahr, die Wiederholungsgefahr oder die Gefahr, dass Beweismittel vernichtet werden (Verdunkelungsgefahr). Liegen solche Gründe aus Sicht der Behörden nicht vor, gibt es keinen Haftbefehl.

Man kann also nicht mal so eben jemanden einsperren, auch wenn der “Bild”-Chefredakteur es gerne hätte:

Tweet von Julian Reichelt: Bei der Kombination aus Synagoge, Messer, „Allahu Akbar“ und „Fuck Israel“ könnte man auch von einem politisch/terroristischen Hintergrund ausgehen und den Täter erstmal einsperren. Oder man kann das alles ganz entspannt sehen wie @polenz_r und die Stadt Berlin.

Natürlich ist es möglich, dass ein politisches/terroristisches Motiv dahintersteckte. Aber es ist auch möglich, dass es einen anderen Hintergrund gab. Sogar “Bild” selbst schrieb in einem der Artikel zu dem Fall:

Haben Objektschützer vor der Neuen Synagoge in Mitte ein Blutbad verhindert? Oder haben sie am Freitagabend einen geistig verwirrten Mann gestoppt, der in Selbstmordabsicht mit einem Messer auf die bewaffneten Wachmänner zulief?

Julian Reichelt und Timo Lokoschat aber erwecken den Eindruck, als gebe es nur einen einzigen zulässigen Schluss.

Und als würden die Berliner Behörden die Sache gezielt vertuschen. In seinem Kommentar schrieb Lokoschat:

Erst vergangene Woche hatte ein Mann in Paris vier Menschen mit einem Keramikmesser erstochen. Ein Islamist, wie die Behörden erst nach langem Herumdrucksen bestätigten.

Auch in Berlin formuliert die Polizei, dass das Motiv des überwältigten Syrers “unklar” sei. Wie bitte? Was will jemand, der laut Zeugen “Allahu akbar” und “Fuck Israel” gerufen hat, mit einem Messer in einer Synagoge? In Ruhe reden? Nein, er will Juden verletzen oder ermorden.

Wer den grassierenden Antisemitismus bekämpfen will, muss sich auch trauen, ihn beim Namen zu nennen.

Ein entscheidender Punkt in der Berichterstattung von “Bild” ist, dass sie nicht das zum zentralen Thema macht, was passiert ist — ein Mann klettert mit einem Messer über die Absperrung einer Synagoge und wird gestoppt –, sondern das, was der Fantasie der Redaktion nach hätte passieren können.

Nochmal zur Erinnerung: Es ist nicht erwiesen, dass der Mann “Juden verletzen oder ermorden” wollte. Es könnte — wie “Bild” selbst schrieb — auch ein “geistig verwirrter Mann” mit “Selbstmordabsicht” gewesen sein. Oder etwas anderes. Die Behörden werden sich bemühen, die Motive herauszufinden. Während die “Bild”-Leute so tun, als hätten sie selbst den Fall schon gelöst.

Gestern dann die nächste Eskalationsstufe: Titelseitenwut.

BILD-Titelseite: Was uns wütend macht! - Politiker sagen: DDR war kein Unrechtsstaat - Staatsanwalt lässt Messer-Angreifer laufen - Klima-Kämpfer stellen unsere Demokratie infrage

“Wie kann das sein?”, fragte “Bild” immer noch fassungslos — und warf sogar die Frage auf, ob der Staatsanwalt “für seine Entscheidung, einen offenbar gefährlichen Täter freizulassen” “belangt werden” könne.

“Bild”-Redakteur Filipp Piatov erklärte den “Skandal um den Messerangreifer” dann noch mal nachdrücklich zu einer “Schande” für die Berliner Regierung. Der Fall beweise: Das “Engagement des Regierenden Bürgermeisters gegen Antisemitismus” sei “eine Luftnummer”.

BILD-Ausriss: Die Berliner Regierung ist eine Schande!

Nun ist [der Syrer] auf freiem Fuß, unauffindbar — und gewaltbereit. Denn was für jeden Bürger mit gesundem Menschenverstand nach einem versuchten antisemitischen Terrorangriff aussieht, ist für Berliner Behörden leider kein Haftgrund. Verrückt!

Anstatt den Mann in Gewahrsam zu nehmen und intensiv zu prüfen, ob er nicht in ein Flugzeug gen Heimat gehört, darf er durch Berlins Straßen laufen. Es ist amtlich: Die deutsche Hauptstadt drückt nicht nur bei Drogendealern, sondern auch bei antisemitischen Gewalttätern beide Augen zu.

Gestern Vormittag meldete sich die Generalstaatsanwaltschaft Berlin zu Wort — und widersprach so ziemlich allem, was die “Bild”-Leute behauptet hatten.

Zunächst einmal stellte sie klar: “Die Voraussetzungen für einen Haftbefehl liegen nicht vor”: Es bestehe “kein dringender Tatverdacht einer Straftat, lediglich der Anfangsverdacht eines Hausfriedensbruchs.” Der Verdächtige sei “strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten”. Und: Derzeit lägen “keine Erkenntnisse zu einer möglichen islamistischen Motivlage vor”, die Ermittlungen dazu würden “mit Hochdruck fortgeführt”. “Durch Berlins Straßen”, wie die “Bild”-Kommentatoren geschrieben hatten, läuft der Mann auch nicht: Er befinde sich, so die Generalstaatsanwaltschaft, “derzeit in der Psychiatrie”.

Und wie reagierte der “Bild”-Chef? “Sorry, dass wir so viele voreilige Schlüsse gezogen haben?” Aber nicht doch.

Tweet von Julian Reichelt: Die Berliner Staatsanwaltschaft macht sich komplett lächerlich und wirft die Frage auf, ob man politisch/terroristische Straftaten bewusst ignoriert, weil sie politisch unbequem sind und nicht zur Ideologie der Berliner Regierung passen.

Das muss man sich mal vorstellen: Wegen des Verzichts auf einen Haftbefehl aufgrund fehlender Voraussetzungen dafür unterstellt er jetzt den Berliner Behörden, aus ideologischen Gründen terroristische Straften bewusst zu ignorieren. Woanders würde man sowas Verschwörungstheorie nennen, bei “Bild” nennen sie es Journalismus.

Reichelt scheint fest entschlossen zu sein, aus dem Vorfall vor der Synagoge eine Kampagne gegen die Berliner Regierung und deren “Ideologie” zu machen.

Heute wird es persönlich. Groß auf Seite 2 der Bundesausgabe: ein Foto der Berliner Generalstaatsanwältin.

BILD-Ausriss: Warum fürchtet die Politik das Wort Terror?

Im Artikel listet “Bild”-Redakteur Ralf Schuler mehrere islamistische Anschläge der vergangenen Jahre auf und — als gäbe es keinen Zweifel daran, dass es sich dabei ebenfalls um islamistischen Terror gehandelt hat — nennt dabei auch den Vorfall vor der Synagoge vom Wochenende. Es sei “IRRE”, dass der Mann wieder freigelassen wurde, schreibt auch Schuler nochmal. Und dann schreibt er, in bester AfD-Manier:

Die Politik drückt sich noch immer vor dem Eingeständnis, dass mit der Massenmigration seit 2015 auch Kriminelle nach Deutschland gekommen sind und spricht deshalb lieber über Einzelfälle als über das Terror-Problem.

Was haben wir also gelernt? Der Synagogen-“Messermann” ist hundertprozentig ein islamistischer Terrorist, denn während die Ermittlungsbehörden nur aufwendig rumermitteln, hat “Bild” einfach eins und eins zusammengezählt. Die Berliner Behörden stecken aber alle unter einer Decke und wollen das mit dem Terror geheimhalten. Und dass viele Flüchtlinge Terroristen sind, will die Politik ebenfalls vertuschen. Und von “Terror” sprechen sollte man sowieso nicht erst, wenn alle Beweise gesichtet, wenn die Datenträger ausgewertet und die Ermittlungen abgeschlossen sind, sondern gefälligst dann, wenn die “Bild”-Zeitung es verlangt.

Erst BREAKING, dann Recherche

Ein Chefredakteur einer großen Zeitung wird ja sicher nicht einfach so und ohne wirklich was zu wissen den ganz großen Hammer auspacken und Breaking News, Verzeihung, BREAKING NEWS verkünden. Da muss schon etwas Besonderes passiert sein. Oder, Julian Reichelt?

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Breaking: Flugbetrieb in TXL wegen Drohnen am Flugfeld für min 30 Minuten unterbrochen. All flight traffic stopped at TXL for at least 30 minutes after drones were spotted near runway. More soon at Bild

Das schrieb der “Bild”-Chef gestern bei Twitter. Und more gab es dann tatsächlich soon at Bild.de: Die Redaktion hatte bei Stefan Jaekel nachgefragt, der als Sprecher der Deutschen Flugsicherung für den Bereich Ostdeutschland zuständig ist. Doch bei Jaekel klingt der von Reichelt aufgegriffene Vorfall in der Nähe des Flughafens Berlin-Tegel schon etliche Nummern kleiner und nicht mehr ganz so “BREAKING”:

“Ein Pilot hat eine Drohnensichtung mitgeteilt, etwa fünf Meilen vom Flughafen Tegel, am Stadtrand, entfernt. Da sich die Sichtung in Verlängerung der Startbahn von Tegel befand, wurden von der Flugsicherung weitere Piloten befragt, ob sie eine ähnliche Sichtung gemacht haben. Das war nicht der Fall. Deswegen haben wir entschieden, dass keine Gefahr besteht.”

Anders als von Reichelt behauptet, wurde der Flugbetrieb auch nicht für “min 30 Minuten unterbrochen”, sondern für etwa fünf Minuten. Was aber überhaupt kein Problem gewesen sei, so Jaekel, “denn in dieser Zeit sollten eh keine Maschinen starten.” Der Flughafenbetreiber bestätigte, dass es “keine Auswirkungen auf den Flugverkehr” gab.

Eine Korrektur oder wenigstens eine Entwarnung zu seinem Tweet gab es von Julian Reichelt nicht. In den Antworten auf seine BREAKING NEWS wird wild spekuliert, ob “die Fanatiker von Extinction Rebellion” hinter der angeblichen Aktion mit der Drohne stecken.

Bild  

Gefühle statt Fakten: “Bild” will TV-Sender werden

Im aktuellen “Spiegel” spricht “Bild”-Chef Julian Reichelt über seine Pläne, “Bild” auf die TV-Bildschirme zu bringen:

Wir sind selbstbewusst genug zu glauben, dass es genug Menschen gibt, die lieber das schauen, was »Bild« zeigt, als etwas anderes.

Auf die Frage von “Spiegel”-Redakteurin Isabell Hülsen, was “Bild” als TV-Sender denn könne, was andere nicht längst können und machen, sagt er:

Reichelt: Exklusive News zeigen und emotionale Geschichten erzählen. Man kann natürlich sagen, das bieten andere auch schon. Die Wahrheit ist: Die meisten Fernsehsender machen das, was wir uns vorstellen, eben nicht. Aus dem brennenden Amazonasgebiet, so wie wir zuletzt, sendet nicht jeder.

SPIEGEL: Vielleicht nicht mit acht Reportern wie »Bild«, aber etliche Sender haben durchaus direkt vor Ort berichtet.

Reichelt: Ja, aus dem Hotelzimmer. Aber nicht mit mehreren Teams, die im brennenden Regenwald stehen und mit Menschen reden, um die herum alles gerodet wird. Ich habe nicht das Gefühl, dass es diese menschliche Geschichte im Nachrichtenangebot gab.

Nun, blöderweise hat er da falsch gefühlt. Die ARD zum Beispiel stand auch im brennenden Regenwald und redete mit Menschen:

Screenshot vom ARD-Weltspiegel: Eine Frau wird interviewt, um sie herum abgebrannter Regenwald

Genauso RTL:

Screenshot von RTL: Ein Reporter steht vor einem brennenden Waldstück in Brasilien

Auch das ZDF war vor Ort:

Screenshot einer ZDF-Reportage: "Die Brände im Amazonas-Regenwald"

Und Stern-TV schickte gar Ex-DSDS-Jurorin Fernanda Brandão los, um mit Amazonas-Bewohnern über ihre Gefühle zu reden:

Screenshot von Stern-TV: Fernanda Brandao unterhält sich mit Amazonas-Einwohnern, umgeben von abgebranntem Regenwald

Wenn das nicht der Gipfel des menschlichen Fernsehens ist, dann wissen wir auch nicht.

Aber das alles passt natürlich nicht in Reichelts Erzählung.

Die Fernsehsender, so der “Bild”-Chef, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, würden über einige wichtige Dinge gar nicht berichten. Die Medien und die Politik hätten “das Gefühl für den Alltag der großen Masse von Menschen in diesem Land verloren. Die Leute haben das Gefühl, sie werden nicht gehört.”

Ich frage mich: Wo findet die Realität, die wir auf der Seite 2 von »Bild« abbilden, im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Flaschen sammeln müssen.

Wo das im Fernsehen stattfindet?

Im ZDF zum Beispiel, wie Medienjournalist Daniel Bouhs korrekterweise bei Twitter anmerkt. Der Sender zeigte erst vor Kurzem die “37 Grad”-Reportage “Warum Menschen Flaschen sammeln”.

Oder in der ARD. Die befasste sich schon 2013 für die Reihe “Menschen hautnah” mit den Schicksalen von Flaschensammlern.

Der RBB begleitete erst Ende Juli dieses Jahres zwei Flaschensammler in Berlin. Vor sieben Jahren hatte der Sender die beiden schon einmal für eine Reportage begleitet: “Die Flaschensammler – ohne Pfandgeld geht’s nicht mehr”.

Im NDR lief schon vor fast zehn Jahren eine Reportage über die Geschichte eines Flaschensammlers in Hamburg.

Arte brachte 2017 eine Reportage, in der es um Rentner geht, die nur 400 Euro im Monat haben und darum Flaschen sammeln müssen.

2018 befasste sich “Akte” bei Sat.1 mit dem Thema. Zwei Jahre zuvor gab es auch im Sat.1-Frühstücksfernsehen einen Beitrag: “Wegen Minirente: Immer mehr Rentner gehen Flaschen sammeln!”

Und so weiter.

Julian Reichelt aber tut so, als gäbe es so etwas im Fernsehen nicht, als klaffe dort eine Lücke, die nur “Bild” füllen kann. Er sehe da “großes Potenzial”.

Wir wollen das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben, und nicht so steril und weichgespült wie teilweise bei den Öffentlich-Rechtlichen.

Wir können es kaum erwarten.

Kita-Messerstecher, Diekmanns Brei, Flower Rain statt Shitstorm

1. “Ich werde sie töten, mit einem Messerstich ins Herz”
(t-online.de, Jonas Mueller-Töwe)
Dass die reißerische und manipulative Berichterstattung der “Bild”-Zeitung immer wieder dramatische Folgen hat, wird in Zusammenhang mit dem angeblichen Schweinefleisch-Verbot in Kindertagesstätten besonders deutlich. So veröffentlichte der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung eingegangene Morddrohungen gegen Kita-Leitung, Erzieherinnen und Erzieher, bei denen einem selbst als Unbeteiligtem ganz mulmig zumute wird.

2. Von wegen Einheitsbrei
(djv.de, Hendrik Zörner)
Der frühere “Bild”-Chef Kai Diekmann kritisiert in einem aktuellen Interview die Medien und schwadroniert von “Einheitsbrei” und “Mainstream-Journalismus”. Hendrik Zörner hält Diekmann entgegen: “(…) dass er selbst sein eigenes Blatt nicht mehr zur Kenntnis nimmt, ist skurril. Täte er es, so wüsste er, dass Deutschlands meistverkaufte Zeitung das schlagende Argument gegen den angeblichen Mainstream-Journalismus und medialen Einheitsbrei ist. Darin ist sein Nachnachfolger Julian Reichelt Spitzenklasse.”

3. Wikipedia löscht wieder Frauen: Die schwierige Kultur einer Enzyklopädie
(t3n.de, Jochen G. Fuchs)
Werden Frauen bei Wikipedia benachteiligt? Jochen G. Fuchs fasst noch einmal die Löschdiskussion über den Phantastik-Autoren-Verband zusammen und beschäftigt sich mit den sogenannten Relevanzkriterien. “Es gibt verschiedene Probleme in der Wikipedia: Manchmal stellen die Relevanzkriterien und deren beliebige Auslegung ein Problem dar, manchmal die ausgeprägte Abneigung gegen Neumitglieder und gegen eine Öffentlichkeit außerhalb der Wikipedia. Manchmal aber ist das Problem eine generelle strukturelle Benachteiligung der Frauen und eine sowohl latente als auch offen zur Schau getragene Frauenfeindlichkeit. In den vorliegenden Fällen ist es eine Mischung aus allem.”

4. Flower Rain statt Shitstorm – Wie wir Betroffene von Hass im Netz unterstützen können
(vice.com, Alexandra Stanic)
“Vice”-Kolumnistin Alexandra Stanić geriet unlängst in einen Shitstorm, als eine rechtsextreme Plattform einen ihrer Texte aufgriff und ihre Leser zur massenhaften Hetze anstachelte. So unerfreulich sich dies für sie auswirkte, so erfreulich war, dass ihr im Netz viele Menschen beiseite standen: “Eine Welle an Solidarität hat mich in Zuckerwatte gepackt und mir geholfen, mit den Hass-Mails besser umzugehen. Der Flower Rain — das positive Pendant zum Shitstorm — war stärker als die Wut. Dieser virtuelle Blumenregen hat gut getan — und wir sollten alle daran mitarbeiten, dass es im Netz weiterregnet, und zwar nicht nur auf mich.”

5. Das bedrohte Erbe des Axel Springer
(sueddeutsche.de, Caspar Busse)
Der amerikanische Finanzinvestor KKR will den Axel-Springer-Verlag übernehmen. Was hat das für Folgen für das Medienunternehmen und seine publizistischen Ableger? Gibt es Umstrukturierungen oder droht am Ende gar die Zerschlagung des Konzerns? Caspar Busse trägt die bislang bekannten Fakten zusammen.

6. Würde er doch beim Wetter bleiben!
(deutschlandfunk.de, Arno Orzessek)
Jörg Kachelmann startet einen vierwöchigen Urlaub und werde nach eigenen Angaben in dieser Zeit auch nicht twittern. Für Arno Orzessek eine gute Gelegenheit den Wettergott und dessen “Twitter-Ergüsse” gebührend zu würdigen: “Liebe Kulturpessimisten und Verächter der sozialen Medien, geben Sie es ruhig zu: Was das rhetorische Vermögen angeht, vereint der Twitterer Kachelmann den Ingrimm des ruhmreichen Kotzbrockens Arthur Schopenhauer mit dem Detailwahnsinn des Buchstabenfexes Jean Paul.”

Blättern:  1 ... 24 25 26 ... 43