1. Was die Politik gegen Hetze und Gewaltaufrufe tun kann (deutschlandfunk.de, Isabelle Klein & Christoph Sterz, Audio: 6:29 Minuten)
Derzeit würden Messengerdienste nicht vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz erfasst, wenn sie zur Individualkommunikation bestimmt seien. Telegram stelle in gewisser Weise eine Ausnahme dar, denn hier können öffentliche Kanäle von einer großen Anzahl von Personen abonniert werden. Demnach müsse Telegram offensichtlich strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden und rechtswidrige Inhalte innerhalb von sieben Tagen löschen. Doch das Bundesamt für Justiz beißt sich an dem Messenger bislang die Zähne aus, erklärt der Experte für Internetrecht Matthias Kettemann: “Telegram will einfach nicht”.
2. NDR wird Zielscheibe von Querdenkern (verdi.de)
Am dritten Advent haben sich mehrere Hundert Verschwörungsgläubige der Gruppierung “Freie Niedersachsen” zu einem “Querdenker”-Protest vor dem NDR-Landesfunkhaus in Hannover versammelt, berichtet das ver.di-Magazin “Menschen machen Medien”: “Der Versammlungsort sei von den Initiatoren aus dem verschwörungsideologischen Spektrum nicht zufällig gewählt worden und knüpfe an frühere Angriffe an: Bereits im November 2019 hatte die rechtsradikale NPD einen Zug durch die Innenstadt von Hannover organisiert, die sich ebenfalls gegen den NDR richtete.”
3. Weitere Reformen angemahnt (medienpolitik.net, Helmut Hartung)
Bei der Aktion “Unsere Medien” haben sich mehr als einhundert Personen aus Kultur, Medien, Wissenschaft und Politik für eine Stärkung und Weiterentwicklung der öffentlich-rechtlichen Medien ausgesprochen. Mit ihrem Appell würden sie sich an die politisch Verantwortlichen richten, aber auch an die Sender selbst, und die Verteidigung des öffentlich-rechtlichen Modells in Deutschland und Europa als Voraussetzung für funktionierende Demokratien fordern: “Mit diesem Appell an Medienpolitik und Rundfunkanstalten unterstützen wir die Idee und die Existenz unabhängiger öffentlich-rechtlicher Medien in Deutschland und Europa. Im digitalen Zeitalter brauchen wir sie noch mehr denn je. Gleichzeitig verbinden wir unsere Unterstützung mit der Forderung nach mehr Transparenz und grundlegenden, nachhaltigen Veränderungen.”
4. Springer-Führungskräfte müssen Beziehungen am Arbeitsplatz offenlegen (tagesspiegel.de)
Der Medienkonzern Axel Springer hat seinen Firmen-Verhaltenskodex zu persönlichen Beziehungen am Arbeitsplatz überarbeitet: “Wir müssen und wollen klarer formulieren, welches Verhalten wir gerade von Führungskräften im Falle von möglichen Interessenskonflikten am Arbeitsplatz erwarten, und unser Handeln konsequent daran messen”, so der Personalvorstand in einem Schreiben an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Einer der Gründe für die Anpassung dürfte der Fall des jüngst unrühmlich ausgeschiedenen (Ex-)”Bild”-Chefredakteurs Julian Reichelt sein.
5. Überfremdung (journalist.de, Sebastian Pertsch & Udo Stiehl)
Sebastian Pertsch und Udo Stiehl werfen im Rahmen ihres Projekts “Floskelwolke” einen sprach- und medienkritischen Blick auf vielbenutzte Formulierungen. Diesmal nehmen sie sich das Wort “Überfremdung” vor: “Wäre der Begriff ein Shopping-Artikel, hieße es wohl: Personen, die dieses Wort verwendet haben, nutzten auch die Kampfbegriffe Asylindustrie, das Boot ist voll, Einfallsrouten, Flüchtlingswelle, Lügenpresse, Passdeutsche und raumfremde Menschen.”
6. Magazin “Time” kürt umstrittenen Tesla-Chef Elon Musk zur “Person des Jahres” (rnd.de)
Das Magazin “Time” hat Elon Musk zur “Person of the Year” gekürt. “Die Person des Jahres ist ein Zeichen für Einfluss, und nur wenige Menschen haben mehr Einfluss auf das Leben auf der Erde und möglicherweise auch auf das Leben außerhalb der Erde als Musk”, habe der “Time”-Chefredakteur zur Begründung geschrieben. Nun ja, darüber ließe sich trefflich streiten, zumal mit den Impfstoff-Erfindern aus Sicht des “6-vor-9”-Kurators geeignetere Kandidaten zur Verfügung gestanden hätten. Die wurden jedoch von “Time” auf das Nebengleis “Helden des Jahres” geschoben und tauchen damit nicht großformatig auf dem Cover auf.
Vor Kurzem ist eine 34-jährige Frau, die vor einigen Jahren aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet war und in Berlin lebte, ermordet worden. Unter dringendem Tatverdacht stehen ihre beiden Brüder, die sich laut Haftbefehl “gekränkt gefühlt haben” sollen, “weil das Leben ihrer geschiedenen Schwester nicht ihren Moralvorstellungen entsprochen hatte”.
Seit Bekanntwerden des Falls ist die “Bild”-Redaktion entschieden damit beschäftigt, ihn für ihre eigene politische Agenda zu nutzen. So erschien zum Beispiel vergangene Woche ein “Bild”-Kommentar (“Wo bleibt der Aufschrei?”), in dem gefordert wird, dass es endlich ein Stoppschild geben müsse für Männer, “die in Deutschland Asyl suchen, aber die freiheitlichen Gesetze und Werte dieses Landes mit Füßen treten”. Geschimpft wird vor allem auf “die Politik”, weil es von ihr “nur dröhnendes Schweigen” gebe:
Aus Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden, oder weil die Diskussion darüber ungemütlich werden könnte.
Solange die Politik hier schweigt, die Dinge nicht offen benennt und nicht konsequent Maßnahmen wie Abschiebung ergreift, schützt sie die falschen – die Täter.
In einem weiteren “Bild”-Kommentar zu dem Mordfall war zuvor schon die “bittere Wahrheit” beklagt worden, dass “die Politik” zu leise und untätig sei:
Wir brauchen eine Strategie gegen die kranken Vorstellungen und Denkweisen einiger Migranten, um solche Taten auf deutschem Boden zu verhindern!
Dazu braucht es vor allem eine Migrationspolitik, die verhindert, dass solche Ideologien überhaupt erst Fuß fassen können. Es gibt diese Denkweisen in Deutschland nämlich ursprünglich nicht, sie sind gemeinsam mit den Männern nach Europa eingewandert.
Die deutsche Migrationspolitik, “sofern man diese überhaupt als solche bezeichnen kann”, sei “gescheitert”.
Bebildert ist der Kommentar mit einem unverpixelten Foto der Frau. Wir haben es unkenntlich gemacht, weil unklar ist, auf welchem Weg es beschafft wurde (es sieht aus wie ein abfotografiertes Passfoto), und wir Zweifel daran haben, dass “Bild” zuvor die Erlaubnis der Angehörigen eingeholt hat, mit dem Gesicht der ermordeten Frau für eine härtere Abschiebepolitik zu kämpfen.
***
Insgesamt veröffentlichten die “Bild”-Medien innerhalb einer Woche mindestens 29 Mal Fotos von Menschen, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind.
Nur in einem Fall hatten Angehörige der Veröffentlichung laut “Bild”-Angabe zugestimmt (bei einem Kind, dessen Eltern bei einem Seilbahnunglück gestorben sind). Und nur in diesem einen Fall war das Gesicht verpixelt – in 28 Fällen gab es keinerlei Unkenntlichmachung.
***
Bild.de veröffentlichte zum Beispiel das Gesicht einer Frau, die von ihrem Ehemann erschossen wurde (der Mann wird ebenfalls unverpixelt gezeigt):
Und das Gesicht einer Frau, die in der Türkei ermordet wurde (Quelle: TikTok):
Und das Gesicht einer Frau, die bei einem Tigerangriff in Chile starb:
Und die Gesichter zweier Frauen, die Anfang des Jahres in Hamburg getötet wurden:
Und die Gesichter zweier Frauen, die in Schleswig-Holstein mutmaßlich vom selben Täter ermordet wurden:
Die Fotos hatte die Polizei während der Ermittlungen veröffentlicht, um Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten. Seit aber ein Verdächtiger verhaftet wurde, und der Prozess gegen ihn begonnen hat, zeigen viele Medien (sogar Boulevardblätter) die Fotos der Frauen höchstens verpixelt. Die “Bild”-Redaktion veröffentlicht sie weiter ohne Unkenntlichmachung.
“Bild” und Bild.de zeigten auch, wie schon in den Wochenzuvor, Facebookfotos einer Frau, die sie “Die Tote aus dem Nazi-Bunker” nennen:
Und, wie ebenfalls in den Wochenzuvor, Fotos eines Paares, das bei einer Bootskollision ums Leben kam:
Veröffentlicht wurde auch ein Foto eines Ehepaares, das bei den Waldbränden in der Türkei ums Leben kam – sowohl auf der Bild.de-Startseite als auch auf der Titelseite und noch mal groß im Innenteil der gedruckten Bundesausgabe:
Quelle des Fotos: “PRIVAT”.
***
Seit zwei Monaten beobachten wir diese Praxis nun etwas genauer. In dieser Zeit haben die “Bild”-Medien mindestens 253 Mal Fotos von Menschen gezeigt, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind. In 24 Fällen von Minderjährigen.
Nur in neun Fällen haben Angehörige der Veröffentlichung laut “Bild”-Angabe zugestimmt.
In sieben Fällen waren die Augen verpixelt, in zwölf Fällen die Gesichter. In 234 Fällen verzichtete “Bild” auf jede Unkenntlichmachung.
In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar vonReporternbedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.
Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:
Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.
Pressekodex Richtlinie 8.2
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:
Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.
Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.
Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.
Bei “Bild TV” war am Mittwoch der Publizist und Verleger Wolfram Weimer zu Gast. Er kommentierte unter anderem einen Fall aus Leer, wo drei Asylbewerber eine 16-Jährige vergewaltigt haben sollen. Weimer sagte dazu:
Das Problem ist größer als öffentlich drüber geredet wird. Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, ich habe die mal mitgebracht, dann haben wir, die Zahlen sind ganz frisch, im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund. Das heißt, das sind jeden Tag 15. Wir haben jeden Tag 15 Fälle in Deutschland. Das ist schon sehr viel.
Und wenn man sich anguckt: Die Entwicklung, im Jahr 2016 waren das nur 3.400. Natürlich: Jeder Fall ist zu viel. Aber man sieht diesen dramatischen Anstieg. Wir haben einen Anstieg um 80 Prozent in wenigen Jahren. Aus einer ganz bestimmten Tätergruppe, man weiß, das sind die 18- bis 30-Jährigen eines ganz bestimmten Milieus. Und das Problem muss adressiert werden.
Mit den “Zahlen vom BKA” dürfte Wolfram Weimer das “Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2020” (PDF) des Bundeskriminalamts meinen, das im Juni veröffentlicht wurde. Darin geht es um Straftaten in unterschiedlichen Deliktsbereichen, darunter auch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Fokus dieser Sonderauswertung liegt auf Delikten, bei denen mindestens ein Zuwanderer oder eine Zuwanderin als tatverdächtig gelten. Das BKA schreibt dazu:
Analog den Festlegungen in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] gilt eine tatverdächtige Person in diesem Bundeslagebild als Zuwanderer/Zuwanderin, wenn sie mit dem Aufenthaltsanlass “Asylbewerber/-in”, “Schutzberechtigte/-r und Asylberechtigte/-r, Kontingentflüchtling”, “Duldung” oder “unerlaubter Aufenthalt” registriert wurde.
Bei den Angaben handelt es sich also nicht um verurteilte Täter, sondern um ermittelte Tatverdächtige (eine Unterscheidung, mit der die “Bild”-Redaktion häufiger Probleme hat, die aber ausgesprochen wichtig ist).
Wenn man sich dieses Lagebild tatsächlich “einmal anguckt”, wie Wolfram Weimer vorschlägt, erkennt man, dass seine Wiedergabe bei “Bild TV” teils so unvollständig, so einseitig oder schlicht so falsch ist, dass wir hier für eine umfassendere Darstellung ein paar Infos hinterherschicken wollen.
Vielleicht erstmal zu Weimers Rechenfähigkeiten. Bei einer Steigerung von 3.400 Fällen im Jahr 2016 (ganz genau sind es laut BKA 3.404) auf 5.719 Fälle im Jahr 2020, kommt er auf “einen Anstieg um 80 Prozent”. Richtig gerechnet sind das allerdings 68 Prozent. Die 80 Prozent, die Weimer nennt, sind aber ganz interessant, denn es gibt in der BKA-Statistik tatsächlich eine Steigerung von etwa 80 Prozent: Bei den aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt – also bei den Zahlen, die sich nicht nur auf tatverdächtige Zuwanderer beziehen, sondern auf alle Tatverdächtigen in Deutschland. 2016 waren es 37.442 Straftaten, 2020 67.656 – ein Plus von 80,7 Prozent. Das heißt also: Die Straftaten mit tatverdächtigen Zuwanderern sind im selben Zeitraum weniger stark gestiegen als die Straftaten aller Tatverdächtiger.
Eigentlich ist dieser Vergleich mit den Zahlen aus 2016 aber – ob nun bei den Zuwanderern oder insgesamt – sowieso nicht richtig sinnvoll. Denn es gab in der Zwischenzeit eine Gesetzesänderung, die die Statistik verzerrt. Da weist das BKA in seinem Bundeslagebild auch extra drauf hin:
Mit dem “50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung” vom 04.11.2016 wurden im Sexualstrafrecht Straftatbestände geändert und neue Straftatbestände eingeführt. Dies führt im Ergebnis dazu, dass im Bereich “Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall einschl. mit Todesfolge (§§ 177, 178 StGB)” ab dem Berichtsjahr 2017 ein Vergleich mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt möglich ist.
Wolfram Weimer macht es bei “Bild TV” trotzdem einfach. Hätte er ein anderes Jahr aus der Statistik genommen, hätte seine Erzählung auch nicht mehr so richtig gepasst: Für 2017 nennt das BKA 5.258 “Straftaten mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererin” – eine Steigerung bis 2020 von gerade mal noch 8,8 Prozent. 2018 sind es 6.046 Straftaten. Und seitdem sinkt der Wert: 2019 sind es 5.802 und 2020 die bereits erwähnten 5.719. So stellt das BKA in seinem Lagebild auch optisch extra groß heraus:
Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererinnen an Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung weiter rückläufig
Die Behörde schreibt dazu:
Während die Gesamtzahl der 2020 in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] registrierten aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Vergleich zum Vorjahr weiter angestiegen ist (+17,4 %; 2019: +12,7 %), sanken die Fallzahlen mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwanderin im Berichtsjahr um 1,4 %.
All das bleibt bei Weimers “Bild-TV”-Auftritt gänzlich unerwähnt. Genauso der Vergleich mit den 67.656 aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt in Deutschland im Jahr 2020. Dazu kein Wort von Weimer. Er nennt nur die Straftaten der tatverdächtigen Zuwanderer, liefert keinerlei Einordnung, lässt es so wirken, als wären Sexualstraftaten nur ein Zuwanderer-Problem, eine Sache “eines ganz bestimmten Milieus”. Stattdessen rechnet er 15 Fälle pro Tag aus und sagt: “Das ist schon sehr viel.” Insgesamt sind es noch viel mehr: 185 Fälle pro Tag.
Und dann noch zum Sprachlichen. Wenn Wolfram Weimer sagt: “Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, […] dann haben wir […] im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund”, dann ist das gleich doppelt irreführend. Einmal ist nicht endgültig juristisch geklärt, ob diese Personen wirklich die Täter sind. Und vor allem wirkt seine Aussage im Kontext der “Bild-TV”-Sendung so, als würde es sich bei den “5.719 sexuellen Übergriffen” um Delikte wie Vergewaltigungen handeln. Die 5.719 Fälle aus der BKA-Statistik decken aber das gesamte Feld der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ab – von exhibitionistischen Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses bis zu sexuellem Missbrauch. Darunter auch die Paragrafen 177 und 178 des Strafgesetzbuches, in denen es um “Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung” geht. Aber eben nicht nur.
Natürlich kann und soll man über Kriminalität von Zuwanderern berichten und diskutieren. Wir finden nur, dass man dann auch umfassend berichten sollte. Die einseitige Darstellung der BKA-Statistik durch Wolfram Weimer und “Bild TV” verfängt jedenfalls ganz wunderbar. In den Tausenden Kommentaren unter dem Youtube-Video sowie den Facebook- und Twitter-Posts von “Bild” gibt es reichlich Wut auf die Politik, auf “Mutti” Merkel, auf die Justiz, auf Zuwanderer. Und es gibt zahlreiche Danksagungen an die Redaktion, dass jetzt endlich mal jemand die Fakten auf den Tisch lege.
Mit einer falschen Überschrift und möglichst wenig Einordnung haben es die “Bild”-Medien gestern malwiedergeschafft, rechten Scharfmachern Munition zu liefern.
Die Überschrift ist deswegen falsch, weil die interne Statistik der Bundespolizei, auf der der ganze “Bild”-Artikel beruht, gar nicht von “Tätern” spricht, sondern von Tatverdächtigen. Das ist in einem Land, in dem die Unschuldsvermutung gilt, ein bedeutender Unterschied.
Die “Bild”-Redaktion reagierte gestern zumindest teilweise auf die Kritik an der Überschrift – online änderte sie sie heimlich in:
Wir haben uns die Statistik der Bundespolizei ebenfalls besorgt. Ein Blick darauf zeigt, dass die Zahlen die inzwischen geänderte Bild.de-Überschrift durchaus stützen: 2019 konnte die Bundespolizei im Zusammenhang mit “Sexualdelikten auf Bahnanlagen” 693 Tatverdächtige ermitteln. Davon hatten 371 Personen “eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit”. 2020 waren es 346 von insgesamt 621. Und im ersten Quartal 2021 80 von 137. Also jeweils mehr als 50 Prozent.
Allerdings fehlt in der Berichterstattung der “Bild”-Medien in diesem Zusammenhang ein Detail: Bei den von “Bild” und Bild.de angegebenen Tatverdächtigen handelt es sich um ermittelte Tatverdächtige. Es gibt allerdings zahlreiche “Sexualdelikte auf Bahnanlagen”, bei denen der Täter überhaupt nicht bekannt ist: 2019 konnte die Bundespolizei bei 682 Delikten einen Verdächtigen ermitteln. Insgesamt gab es aber 1.184 Delikte. 2020 waren es insgesamt 1.215 Delikte – nur bei 680 gibt es einen Tatverdächtigen. Und im ersten Quartal dieses Jahres sieht es ähnlich aus: Bei 143 von 274 Delikten gibt es einen Verdächtigen. Das heißt: Bei jeweils über 40 Prozent der Delikte weiß man nicht, woher die Verdächtigen/Täter stammen. Natürlich kann es sein, dass auch in diesen Fällen die Verteilung zwischen Personen mit deutscher und mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit ganz ähnlich ist. Sicher ist das aber nicht. In den “Bild”-Medien liest man von dieser Einordnung kein Wort.
Genauso bei der Frage, um welche Delikte es sich konkret handelt. Dazu schreibt “Bild” nur allgemein:
Die Delikte: Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Nötigung, Belästigung, exhibitionistische Handlungen und andere Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Die Bundespolizei liefert in ihrer Statistik die genaue Verteilung: Sowohl 2019 als auch 2020 als auch im ersten Quartal 2021 entfielen rund 92 Prozent der Delikte auf die zwei Bereiche “exhibitionistischeHandlungen” und “sexuelle Belästigung”. Auch diese Delikte können für Opfer zweifelsohne traumatische Folgen haben. Die in der Regel härter bestraften Delikte “sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen” sowie “sexuelle Nötigung/Vergewaltigung” kommen vergleichsweise allerdings deutlich seltener vor. Bei “Bild” liest man auch von dieser Einordnung nichts, obwohl die Zahlen der Redaktion laut Bundespolizei vorlagen.
Und auch mit Blick auf den größeren Zusammenhang geben sich die “Bild”-Medien keinerlei Mühe, irgendeinen Kontext herzustellen. Schaut man in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts, in der nicht nur das Geschehen an Bahnhöfen und in Bahnen dokumentiert wird, sondern jenes im gesamten Land, erkennt man, dass der von “Bild” gesetzte Fokus nur einen kleinen Teil aller Sexualdelikte ausmacht. Zur Erinnerung: 2019 gab es laut Bundespolizei 1.184 “Sexualdelikte auf Bahnanlagen”. In ganz Deutschland gab es im selben Jahr laut PKS (PDF) insgesamt 69.881 erfasste “Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” (wir wählen in diesem Fall bewusst das Jahr 2019, weil es dafür die aktuellste PKS gibt). Auch hier gilt: Eine derartige Einordnung liefern “Bild” und Bild.de nicht.
Das Bundeskriminalamt gibt in seiner PKS auch an, wie groß der Anteil “nichtdeutscher Tatverdächtiger” im Bereich der “Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” ist: 26,8 Prozent. Verglichen mit dem Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in Deutschland ist das immer noch überproportional viel*, aber eben auch deutlich niedriger als die “Jeder-2.”-Schlagzeile von “Bild”.
Und so stellt sich schon die Frage: Warum setzt die “Bild”-Redaktion diesen sehr speziellen Fokus auf die Sexualdelikte in Bahnhöfen und Bahnen? Doch nicht etwa nur, um ihrer Leserschaft einen möglichst großen Anteil krimineller Ausländer (oder genauer: ausländischer Tatverdächtiger) präsentieren zu können?
Mit ihrem Beitrag kommt sie in bestimmten Kreisen jedenfalls gut an: Den Bild.de-Artikel haben unter anderem die AfD-Politikerinnen und Politiker Beatrix von Storch, Joana Cotar, Markus Buchheit, Martin Sichert, Bernhard Zimniok, Martin Hess, Rainer Kraft, Tobias Peterka, Sebastian Wippel und Jörg Dornau, die AfD-Verbände Nordrhein-Westfalen, Hannover, Köln, Landkreis Leipzig, Emmendingen, Ravensburg, Weserbergland, Erding, Traunstein, Bergisch Gladbach, Straubing-Regen, Neustadt an der Weinstraße und Kleve sowie Gruppen mit Namen wie “WIR SIND DAS VOLK”, “Gegen Masseneinwanderung”, “Gutmenschen im Endstadium” und “Dr Hans-Georg Maaßen für Kanzler” bei Facebook geteilt. Es dürfte ein erfolgreicher Tag für die “Bild”-Redaktion gewesen sein.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
*Nachtrag, 17. Juni: Mehrere Leserinnen und Leser weisen uns berechtigterweise darauf hin, dass der Vergleich mit dem Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in Deutschland problematisch ist, da in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) Personen auch dann als “nichtdeutsche Tatverdächtige” gezählt werden, wenn sie den Delikt zwar in Deutschland begangen haben sollen, aber aus dem Ausland stammen und dort auch wohnen. So werden beispielsweise auch Grenzpendler, denen in Deutschland eine Straftat vorgeworfen wird, die aber in Österreich wohnen, als “nichtdeutsche Tatverdächtige” in der Statistik des Bundeskriminalamts gezählt. Damit sind die Zahlen der PKS nicht direkt vergleichbar mit der Wohnbevölkerung in Deutschland. Gerade bei Bahnhöfen, wo die Reisebewegung qua Definition dazugehört, könnte das eine größere Rolle spielen.
1. Die dpa liefert Steilvorlage für rechte Verschwörungshetzer – die “Welt” nimmt dankend an (volksverpetzer.de, Tobias Wilke)
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg fragte beim Bundesinnenministerium nach dem Anteil der Asylerstantragstellenden, die bei der Antragstellung keine gültigen Identitätspapiere vorweisen konnten. Der Anteil habe bei mehr als der Hälfte gelegen, so das Ministerium. Über eine dpa-Meldung gelangte die Zahl zu allerlei rechten Postillen und der NPD, die sie in ihre Erzählung einpflegten. Aber auch die “Welt” stürzte sich auf die Meldung. Tobias Wilke erklärt, wie die Zahl zustande komme und warum der Skandal an ganz anderer Stelle liege. Lesenswert, weil es eine Falschargumentation dekonstruiert, auf die viele aus Unkenntnis hereinfallen.
2. Das Private ist politisch (taz.de, Steffen Grimberg)
Die Immobiliengeschäfte von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn werfen Fragen auf. Fragen, mit denen sich Redaktionen beispielsweise ans Grundbuchamt gewandt haben. Spahn scheint dies sehr zu missfallen: Laut “Tagesspiegel” hätten seine Anwälte erfahren wollen, wer denn da von welchen Medien was genau wissen wollte. Steffen Grimberg kommentiert: “Alles Private ist immer noch politisch. Und was Spahn verbergen wollte, interessiert plötzlich alle Welt. Er sollte sich schleunigst bessere Berater*innen besorgen, sonst geht’s am Ende noch auf die Gesundheit.”
3. Tipp: So klappt es mit der Filmförderung (fachjournalist.de, Ralf Falbe)
Was nicht alle wissen: Die Filmförderung springt nicht nur bei aufwändigen Kinoproduktionen, sondern auch bei Kurzfilmen, Dokus und Multimedia-Projekten ein. Ralf Falbe gibt Tipps für die Antragstellung und Kostenzusammenstellung. Nicht nur für Produzenten und Filmemacherinnen lesenswert, weil der Text einen ganz anderen Blick hinter die Kulissen liefert.
4. Männerdomäne Regionalzeitungen: ProQuote Medien stellt neue Studie vor (pro-quote.de)
Der Verein ProQuote hat eine “qualitative Studie zu Machtbeteiligung und Aufstiegschancen von Journalistinnen bei Lokal- und Regionalzeitungen” angestoßen (PDF). In der Untersuchung geht es auch um die Fragen, warum in deutschen Regional- und Lokalzeitungen so wenige Frauen in Führungspositionen kommen und wie man dem entgegenwirken kann: “Der Frauenmachtanteil in den Chefredaktionen liegt bei rund zehn Prozent – und damit niedriger als in jeder anderen Mediengattung.”
5. Liebesgrüße von der Medienaufsicht (lto.de, Frederik Ferreau)
Unlängst verschickten Landesmedienanstalten “Hinweisschreiben” an verschiedene Onlineportale, in denen sie auf Ungenauigkeiten in der Berichterstattung aufmerksam machten. Medienrechtler Frederik Ferreau wirft einen juristischen Blick auf die neue Praxis und kommentiert: “Das ist in der Anfangsphase ein begrüßenswertes, weil grundrechtsschonenderes Vorgehen. Bedenklich werden solche Schreiben aber, sollten darin geringfügige Mängel der Online-Portale thematisiert werden, die gar nicht das Potential einer Tatbestandserfüllung besitzen: Dann überdehnte die Aufsicht ihre Befugnisse und könnte schlimmstenfalls ‘chilling effects’ in Form einer Einschüchterung der Anbieter hervorrufen. Im sensiblen Spannungsfeld zwischen Medien und Medienaufsicht gilt es, solche Effekte unbedingt zu vermeiden.”
6. ServusTVs Corona-Quartett gleicht einem Verschwörungskabinett (kobuk.at, Lena Wechselberger)
Lena Wechselberger analysiert die Sendereihe “Corona-Quartett” des österreichischen Privatsenders ServusTV, die zum Stelldichein von “alternativen Experten” wurde. Ihr Fazit: “Diskussionen über COVID-19 und die Regierungsmaßnahmen dürfen natürlich durchaus kritisch und kontrovers sein, das ist keine Frage. Polarisierung zum Selbstzweck einer gesamten Sendreihe zu machen, ist jedoch höflich ausgedrückt: Mehr als fraglich. Das Ergebnis ist die Konstruktion einer Parallelrealität fernab jeglicher wissenschaftlichen Fakten. Das Corona-Quartett wurde so zur österreichischen Speerspitze verharmlosender (Falsch-)Information während einer weltweiten Pandemie.”
Wenn es darum geht, die Kampagne gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung weiterzuführen, greift die “Bild”-Redaktion zu verschiedensten schmutzigen Mitteln: Sie erfindet ein Zitat, denkt sich eine Bedrohung aus, stellt alles als “Irrsinn” dar.
Gestern auf der Bild.de-Startseite:
Frank Ulrich Montgomery, einst Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, einst Präsident der Bundesärztekammer, Ehrenpräsident des Deutschen Ärztetages und aktuell Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, soll sich in der Talkshow von Anne Will also gegen das Tragen von Masken ausgesprochen haben, weil dies eine Grundrechtseinschränkung wäre.
Es war komplett anders. Montgomery sprach sich bei Anne Will für das Benutzen von Masken aus. Sein Satz, in dem die Wörter “Grundrechtseinschränkung” und “Maske” fielen, endete auch nicht, wie die “Bild”-Redaktion behauptet, mit einem Ausrufezeichen, sondern mit einem Fragezeichen. Montgomery sagte am Sonntag (ab Minute 23:32):
Wir müssen immer vier Dinge, wie in einem Rechteck, bedenken. Da ist auf der einen Seite die Gesundheit, darüber reden wir jetzt hier. Da sind die soziokulturellen Folgen. Ich finde, die Auswirkungen auf das Bildungswesen haben Sie wunderbar beschrieben [er zeigt dabei auf Marina Weisband]. Da ist aber auch dann die Frage der Grundrechtseinschränkungen zum Beispiel. Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen? Und dann ist die Frage …
Anne Will unterbricht ihn:
Fanden Sie erst lächerlich, erinnere ich mich. Hatten Sie gesagt, das sei lächerlich.
Montgomery darauf:
Ja, ich habe mich geirrt. Ich habe damals zu Herrn Söder gesagt: Sie müssen richtige Masken, Sie müssen den Leuten FFP2-Masken mit einem Bußgeld auferlegen. Aber Sie können nicht mit einem feuchten Lappen vor dem Gesicht rumlaufen und darauf ein Bußgeld erheben, wenn das nicht getan wird. Inzwischen wissen wir, das hat Herr Yogeshwar wunderbar beschrieben, wir wissen inzwischen, dass alleine der mechanische Schutz einer Maske nicht den Träger, aber die anderen schützen kann. Und da hat Wissenschaft, und das ist übrigens was Tolles an dem ganzen Prozess, den wir gelernt haben, hat Wissenschaft auch gelernt zu sagen: Nee, also wir haben uns geirrt. Das ist jetzt anders. Wir sehen das anders.
Das Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, hat die Redaktion erfunden. Den Artikel und auch den dazugehörigen Tweet hat sie inzwischen still und heimlich gelöscht.
Solange es zur laufenden Kampagne passt, denken sich die “Bild”-Leute halt einfach Sachen aus, und sei es nur eine angebliche Bedrohung durch nasse Haare.
Vergangene Woche ärgerte sich Alexander von Schönburg in “Bild” und bei Bild.de:
Ginge es im Puff ums Singen mit vielen Leuten, wäre es dort vermutlich genauso verboten wie in der Kirche. Und Sex mit einer anderen Person könnte unter denselben Bedingungen in der Kirche genauso erlaubt werden wie im Puff – wenn es denn von der Kirche erlaubt wäre. Aber das nur nebenbei.
Das Puff/Kirchen-Beispiel illustriert schon ganz gut, worum es in von Schönburgs Artikel geht: Dinge zu vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben (etwa der vermeintliche Widerspruch, dass man in Berlin “jeden Tag Menschen ohne Helm, aber mit Mund-Nasen-Schutz Fahrrad fahren” sehe, wo doch die Krankenhäuser “voller Unfallopfer” seien, aber die “für die Covid-Patienten frei gehaltenen Intensivbetten” leer), um damit für Kopfschütteln und Neid zu sorgen (die Fußballfans dürfen im Stadion nun wieder grölen, von Schönburgs Nichte darf im Musikunterricht nur summen). Wichtig dabei: möglichst wenig Interesse an Logik und einer Erklärung zeigen. Zum Beispiel so:
Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.
Vielleicht zieht es noch bei Drei- bis Sechsjährigen, ihnen zu erzählen, dass “nasse Haare auf dem Fahrrad” krank machen, um sie zum Föhnen nach dem Schwimmunterricht zu bewegen. Alle anderen solltenhingegenwissen: Niemand wird allein durch nasse Haare krank, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Viren und Bakterien sorgen für die Krankheiten, nicht nasse Haare und auch nicht die Kälte. Muss der Körper wegen nasser Haare gegen die Auskühlung des Kopfes ankämpfen, kann er anfälliger für Krankheiten sein. Allerdings passiert auch dann ohne Viren oder Bakterien nichts.
Bei “Bild” versuchen sie aber auch schon gar nicht mehr, irgendwas zu verstehen: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”, steht im Bild.de-Artikel. Und so gilt bei den Corona-Maßnahmen der Regierung nun das, was bisher vor allem beim Thema Asyl galt: Ohne “Irrsinn” geht es bei “Bild” nicht mehr.
Gestern beispielsweise:
Das, was man hinter der “Bild plus”-Paywall erfährt, klingt hingegen keineswegs nach “Irrsinn”, sondern nach Vernunft und nach Regeln, die transparent und für jeden nachvollziehbar sind:
In Düsseldorf durften die [Ehrlich-]Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.
Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die Ehrlich Brothers auftreten. In Köln nicht. Sich an das zu halten, was vorher vereinbart wurde, ist laut “Bild”-Redaktion also “Irrsinn”.
Und auch hier: Schaut man sich den “Corona-Irrsinn im deutschen Fußball” nur einen Tick genauer an, wirkt es alles gar nicht so irrsinnig, wie “Bild” glauben machen will. Dass zum Beispiel der FC Bayern München im Finale des Uefa-Supercups am kommenden Donnerstag in Budapest (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: über 110) vor mehr als 20.000 Menschen spielen wird, während der Klub am vergangenen Wochenende in München (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: 56,1) nur vor den Vereinsverantwortlichen auflaufen durfte, lässt sich damit erklären, dass Ungarn nicht Deutschland ist. Und dass damit andere Regeln gelten. Das kann man falsch finden. Aber um unerklärlichen “Irrsinn”, der nicht zu verstehen ist, handelt es sich nicht.
Genauso der von “Bild” erwähnte Vergleich Gelsenkirchen/Mönchengladbach:
Auch in Deutschland selbst gibt es weiter unterschiedliche Entwicklungen. Schalke droht zum Heim-Start gegen Werder ein Geister-Spiel, weil die 7-Tage-Inzidenz in Gelsenkirchen gestern bei 44,1 lag. 70 Kilometer entfernt, in Gladbach, dürfte gegen Union – Stand jetzt – vor Fans gespielt werden.
Im ersten Satz steckt schon die Erklärung: Auf “unterschiedliche Entwicklungen” wird unterschiedlich reagiert. Was wäre denn die Alternative, die auch aus “Bild”-Sicht nichts mit “Irrsinn” zu tun hätte? Etwa dass auch in Mönchengladbach nicht vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Gelsenkirchen der Wert so hoch ist? Oder dass in Gelsenkirchen vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Mönchengladbach der Wert niedrig ist? Dann wäre in den “Bild”-Medien aber was los.
Am deutlichsten aber …
Der Corona-Irrsinn im deutschen Fußball zeigt sich am deutlichsten bei den anstehenden Derbys.
Etwa bei dem Derby in Hamburg zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli Ende Oktober. Im Hygienekonzept der Deutschen Fußball-Liga ist festgelegt, dass zu Bundesligaspielen keine Fans der Gastmannschaften ins Stadion dürfen. Das soll Fan-Reisen durch die Republik verhindern. Für Derbys gibt es keine Ausnahmen, auch wenn die Gästefans aus derselben Region oder derselben Stadt kommen. Das mag für Fans des FC St. Pauli schade sein. “Irrsinn” ist aber auch hier nicht zu erkennen, sondern schlicht gleiche Vorgaben für alle.
Es soll aber alles noch viel schlimmer sein. In Deutschland herrscht dank der Bundesregierung, zumindest laut “Bild”, nicht nur der “Irrsinn”, das Land ist sogar im “Absage-Fieber”:
Und obendrein lahmgelegt:
Aber: Reicht die 7-Tage-Inzidenz allein dafür aus, wegen Corona-Alarm das Land lahmzulegen?
Das behauptet jedenfalls “Bild”-Redakteur Filipp Piatov. Er nennt die bereits bekannten Einschränkungen und Absagen: keine Fans im Stadion in München, keine Zaubershow der Ehrlich Brothers in Köln. Also: Deutschland ist lahmgelegt. Und das “trotz leerer Intensiv-Betten”:
Fakt ist: Als z. B. die Stadt München (rund 1,5 Millionen Einwohner) am Donnerstag wegen der gestiegenen Infektionszahlen das Fan-Verbot beschloss, lagen in der Landeshauptstadt 14 Corona-Kranke auf der Intensivstation.
Was aus seiner Beobachtung konkret folgen soll, schreibt Piatov leider nicht. Soll das alles heißen: Absagen braucht derzeit kein Mensch, weil ja noch genügend Intensivbetten frei sind, die wir füllen können? Soll es erst wieder Absagen geben, wenn alle Betten voll sind? Wie viele gefüllte Intensivbetten mögen wohl der Zielwert der “Bild”-Redaktion sein? Und kommt dort jemand mal auf die Idee, dass der Zweck von Absagen genau das ist: möglichst leere Intensivbetten?
Am Wochenende versuchte die “Bild”-Redaktion dann noch, Kinder ins Spiel zu bringen (wobei es wirklich ein kühner Zug von ihr ist, jetzt schon wieder Kinder für die eigene Kampagne einzuspannen):
In einem dazugehörigen Kommentar schreibt Christian Langbehn, dass die Corona-Regeln in Deutschland nur noch “absurd” seien:
Wenn Regeln absurd werden, wenn wir als Vorbilder unserer Kinder das eigene Verhalten nicht erklären können, dann läuft etwas schief.
Was so alles schieflaufen soll, das verpackt Langbehn in Fragen. In diese zum Beispiel:
Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?
Diese vermeintlich naive Frage zeigt, dass es Langbehn nur darum geht, Zweifel zu säen und Unmut zu verursachen. Er hat keinerlei Interesse an Antworten, denn wenn er Interesse hätte, hätte er ohne Probleme eine Antwort auf seine Frage finden können. In Schleswig-Holstein beispielsweise lautet sie “Kohortenprinzip”:
Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.
Übergeordnetes Ziel ist es, das Infektionsrisiko zu begrenzen und die Ansteckungsrate niedrig zu halten (“flatten the curve” bzw. “keep the curve flat”). Unter diesen Annahmen wird auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen innerhalb der Kohorten verzichtet.
Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich verschiedene Kohorten nicht gegenseitig infizieren.
Springer-Chef Mathias Döpfner sagte vor Kurzem in einer Rede, die er als Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger hielt:
Aktivismus ist das Gegenteil von Journalismus, auch wenn es um etwas Gutes geht.
Bei der “Bild”-Kampagne geht es nicht mal um etwas Gutes.
Corona-Alarm in einer Grundschule in Leipzig-Holzhausen. Ein Kind der vierten Klasse ist dort positiv auf das Virus getestet worden.
(26. Juni)
Wieder Corona-Alarm im Hamburger Hafen!
Im Hansahafen liegt bei Unikai der italienische Autotransporter “Grande Cotonou” (236 Meter) in der Kette – er wurde unter Quarantäne gestellt, darf den Hafen zwei Wochen lang nicht verlassen.
(25. Juni)
(5. Juni)
Corona-Alarm im Psychiatriezentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Königslutter (Kreis Helmstedt): Bei der Aufnahme war ein Patient vorige Woche positiv auf das Virus getestet worden.
1. So überwacht der BND das Internet (spiegel.de, Max Hoppenstedt & Wolf Wiedmann-Schmidt)
Heute urteilt das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Internetüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Was bedeutet die Internetüberwachung durch eine der mächtigsten deutschen Behörden für unseren Alltag? Kann der BND auch verschlüsselte Kommunikation knacken? Und welche privaten Daten sind für den BND tabu? Max Hoppenstedt und Wolf Wiedmann-Schmidt geben Antworten auf die wichtigsten Fragen.
2. Medien fordern bessere Corona-Daten vom RKI (ndr.de, Daniel Bouhs)
45 Datenjournalisten und Datenjournalistinnen fordern vom Robert-Koch-Institut (RKI) die Herausgabe der detaillierten Corona-Daten. In ihrem “#OpenCoronaData-Appell” wenden sie sich an RKI-Präsidenten Lothar Wieler: “Bitte tragen Sie auch Sorge dafür, dass Ihre Behörde (und insbesondere Ihre Pressestelle) personell, technisch und inhaltlich in die Lage versetzt wird, diesem datenbezogenen Informationsinteresse der Medien Rechnung tragen zu können.”
3. Redaktionsstart unter genauer Beobachtung (deutschlandfunk.de, Vera Linß, Audio: 5:55 Minuten)
Nun schwimmt es also tatsächlich auf der Spree im Berlinger Regierungsbezirk: Gabor Steingarts Redaktionsschiff “Pioneer One”. Rund 15 Journalistinnen und Journalisten sollen sich dort um Newsletter, Podcasts und Events kümmern — bezahlt von Abonnenten und Abonnentinnen. Der Deutschlandfunk stellt das Projekt vor und lässt dabei auch Wiebke Loosen zu Wort kommen, die als Professorin an der Universität Hamburg zu Pionierjournalismus forscht.
Weiterer Lesetipp: Der Erklärungsversuch von Stefan Niggemeier auf “Übermedien”: “Ich male mir das so aus, dass Gabor Steingart irgendwann zu Springer-Chef Mathias Döpfner gegangen ist und ihn überzeugt hat, Millionen in das neue Unternehmen zu stecken statt in sowas wie, sagen wir, die ‘Welt’, indem er es nicht als Schnäppchen, sondern absurd teure Sache verkauft hat. Je mehr es kostete, je absurder es wurde (und dann lassen wir ein eigenes Schiff bauen und fahren damit auf der Spree zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof hin und her!), desto attraktiver schien die Investition.”
4. Oberstes Gericht setzt Grenzen für “Message Control” durch Zensurheberrecht (netzpolitik.org, Leonhard Dobusch)
Die österreichische Regierung bemüht sich um die totale Kontrolle ihrer Außenwirkung. Das führte unter anderem dazu, dass ein unpassend erscheinendes Hintergrundbild noch zwei Jahre später durch eine Heimatlandschaft mit Kühen ersetzt wurde. Als Online-Medien darüber berichten wollten, verfiel man auf einen Trick: die Berichterstattung verletze angeblich das Urheberrecht des Fotografen. Dem habe nun letztinstanzlich der Oberste Gerichtshof widersprochen: Die Nutzung als Bildzitat sei zulässig gewesen. Leonhard Dobuschs Fazit: “Meinungsfreiheit schlägt hier also klar ein Urheberrecht, das für die Zwecke der Message Control instrumentalisiert werden sollte.”
5. Das sind die Podcast-Tipps im Mai (sueddeutsche.de, Kathleen Hildebrand & Nicolas Freund & Carolin Gasteiger & Stefan Fischer & Theresa Rauffmann)
Die “Süddeutsche Zeitung” stellt einige empfehlenswerte Podcasts vor und zeigt, dass es jenseits unterhaltsamer Laber-Formate auch anspruchsvolle und aufwändige Produktionen gibt. Diesen Monat mit dabei: ein fünfteiliges Feature zum Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh, der unter zweifelhaften Umständen in der Gefängniszelle einer Polizeiwache in Dessau starb, ein amerikanisches Format über die Auswirkungen von Corona im Mississippi-Delta, eine Produktion zur Zukunft der Arbeit, ein Krimi sowie eine Chronologie der Pannen beim Bau des Berliner Flughafens.
Wann ist man eigentlich Deutscher? Also so richtig deutsch, akzeptiert sogar von der “Bild”-Redaktion? Braucht man dafür einen deutschen Namen, deutsche Vorfahren, ein irgendwie geartetes deutsches Aussehen? Muss man in Deutschland geboren sein? Oder reicht die deutsche Staatsbürgerschaft?
In Leipzig soll ein Mann seine Ex-Freundin getötet haben. Der 30-Jährige ist Deutscher mit deutschem Pass und lebt seit knapp 25 Jahren in Deutschland. Als 6-Jähriger flüchteten er und seine Familie aus Afghanistan, was bei dieser Geschichte eigentlich keine Rolle spielen sollte. “Bild” und Bild.de sehen das offenbar anders. Denn wenn man möglicherweise zum Straftäter geworden ist, dann kann man noch so lange schon in Deutschland leben und einen noch so deutschen Pass haben. Dann ist man direkt: einstiger “Vorzeigeflüchtling”, wie die “Bild”-Redaktion in einem Facebook-Teaser schreibt.
Mehrere Tage berichteten die “Bild”-Medien in der vergangenen Woche über den Fall. In ihrer Leipzig-Ausgabe titelte die “Bild”-Zeitung am Mittwoch:
Man kann nur mutmaßen, was der Leserschaft eine solche Überschrift sagen soll — hängen bleibt aber irgendein Zusammenhang zwischen Migration und Gewaltverbrechen. Und dann noch nicht mal von irgendeinem sowieso schon kriminellen Dahergelaufenen verübt, sondern von einem “Musterbeispiel gelungener Integration”. Wenn jetzt die sogar schon …
Die Onlineversion des Artikels wurde über 4000 Mal bei Facebook geteilt, von AfD-Politikern und -Ortsverbänden, von der NPD, von “Pegida”, von Facebookgruppen mit Namen wie “Büdingen wehrt sich — Asylflut stoppen”, “Klartext für Deutschland — FREI statt bunt” und “Aufbruch deutscher Patrioten”. Sie alle stürzen sich auf die Bezeichnungen “Vorzeigeflüchtling” und “Musterbeispiel gelungener Integration”. Die “Bild”-Redaktion weiß sehr genau, für wen sie schreibt.
Den viel passenderen größeren Zusammenhang lässt sie hingegen außen vor: Gewalt gegen Frauen. Der Tod der Frau in Leipzig reiht sich ein in die zahlreichen Frauenmorde, die hierzulande und überall auf der Welt eine traurige Alltäglichkeit haben. Wegen Fällen wie diesem gab es in letzter Zeit Debatten zu verharmlosenden Bezeichnungen in Medien wie “Beziehungsdrama”: Gewalttaten in Beziehungen sollen nicht mehr als einzelne “Tragödien” beschrieben werden, sondern als strukturelles Problem. Die dpa kündigte beispielsweise an, künftig auf Begriffe wie “Familientragödie” verzichten zu wollen.
Anders Bild.de. Als die genauen Hintergründe der Tat in Leipzig noch nicht bekannt waren, titelte die Redaktion:
War der Mordversuch eine Beziehungstat?
Kolumnistin Katja Thorwarth schrieb vergangenes Jahr in der “Frankfurter Rundschau” darüber, “warum Mord keine ‘Beziehungstat’ ist”. Solche Überlegungen scheinen an “Bild” spurlos vorbeizugehen.
Das gilt auch für Überlegungen zu Persönlichkeitsrechten: Regelmäßig veröffentlichen die “Bild”-Medien unverpixelte Fotos von Tatopfern und von bisher nicht verurteilten Tatverdächtigen. Die Unschuldsvermutung ist der Redaktion eher lästig. Und so lässt “Bild” auch diese Gelegenheit nicht aus und zeigt sowohl ein Foto der Getöteten als auch eines des mutmaßlichen Täters ohne jegliche Unkenntlichmachung.
Das Foto der Getöteten hat “Bild” vom Facebook-Account der Frau:
Facebookeintrag kein Freibrief für Verwendung von Opferfotos
Konkret ging es damals um einen Fall, bei dem Bild.de ein Foto einer getöteten Frau von Facebook gezogen und veröffentlicht hatte — für den Presserat ein Verstoß gegen den Opferschutz. Der Ehemann des Opfers sei in den Sozialen Netzwerken zwar offen mit dem Tod seiner Frau umgegangen, so das Gremium, trotzdem hätte die “Bild”-Redaktion eine Erlaubnis zur Veröffentlichung der Bilder einholen müssen:
Die Veröffentlichung von Fotos und Angaben zu Opfern durch die Angehörigen in sozialen Netzwerken ist nicht gleichzusetzen mit einer Zustimmung zu einer identifizierenden Darstellung in den Medien.
Gab es für die “Bild”-Berichterstattung aus Leipzig so eine Zustimmung? “Bild”-Sprecher Christian Senft wollte sich dazu nicht äußern: Man kommentiere, “wie üblich”, keine redaktionellen Entscheidungen. Nach unserer Anfrage hat die Redaktion die Fotos des Opfers bei Bild.de verpixelt.
Mit Dank an Maria T. und anonym für die Hinweise!
Nachtrag, 23:24 Uhr: Mit dem Herauskramen der Bezeichnung “Vorzeigeflüchtling” ist die “Bild”-Redaktion nicht allein. Auch Sächsische.de bezeichnet den Tatverdächtigen in einem später erschienenen Artikel so.
Nachtrag, 21. April: Auch die “Leipziger Volkszeitung” berichtet von dem Fall und schreibt über den Tatverdächtigen, er sei ein “Musterbeispiel gelungener Integration” gewesen.
“Tag24” bekommt es hin, den Mord an der Frau sprachlich auf ganz besondere Weise zu verharmlosen: Die Redaktion schreibt vom “dramatischen Höhepunkt einer toxischen Liebe im Sozialarbeiter-Milieu”.
Wie kann es so weit kommen, dass ein kleiner Verein, der eigentlich nur in Kindergärten Kindern verschiedener Herkunft Märchen erzählen will, in eine Welle aus Wut und Hass und Hetze gerät und am Ende Drohungen von Islamhassern und Rechtsextremen erhält? In diesem Fall spielen falsche und verzerrende Schlagzeilen zweier Medien eine zentrale Rolle. Ein Beispiel für gefährliche Berichterstattung.
Ein mehrsprachiges Erzähl-Projekt zur Begegnung mit der Sprache des Nachbarn im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien
3 erfahrene Tandems erzählen entweder auf deutsch und polnisch, deutsch und tschechisch oder deutsch und sorbisch und lassen so die Sprachen der Grenzregion durch das mehrsprachige freie Erzählen von Märchen in Kinderherzen und -köpfen Einzug halten.
Seit 2016 gibt es das Projekt. In diesem Jahr kommt erstmals ein viertes “Tandem” hinzu:
Neu 2020: Besonders für Kinder mit Migrationshintergrund kann das zweisprachige Erzählen eine tiefgreifende, motivierende Erfahrung sein, die eigene Sprachbarriere zu überwinden. Aus diesem Anlass gibt es ab August ein viertes Tandem, welches auf deutsch und syrisch erzählt. In einer Zeit, in der sich die Zusammensetzung von Schulklassen und Wohngebieten zunehmend internationalisiert, können Märchen vor allem auch als Brücken zwischen den Kulturen erlebt werden.
Daraus machte Sächsische.de also: “Oberlausitzer Kita-Kinder sollen Syrisch lernen”.
Das Projekt “Erzählen – Ein Schatz für die Zukunft” hat mit Sprachunterricht nichts zu tun. Kein Kindergartenkind “soll” eine andere Sprache dabei “lernen”, auch nicht “Syrisch”. Die Zweierteams, die in den Kitas vorbeischauen, “erzählen gemeinsam mit den Kindern vor Ort abenteuerliche und phantasievolle Geschichten” in unterschiedlichen Sprachen. So steht es in der ausführlichen Ausschreibung (PDF) des Vereins:
An 7 Projekttagen, die im Projektzeitraum durchzuführen sind, kommen die Erzählerteams in die Einrichtung und arbeiten mit den Kindern in jeweils zwei Gruppen à 45-60 Minuten. (…)
Die Erzählstunden werden jeweils von zwei Erzählenden (Muttersprachler_innen) zweisprachig gestaltet, wobei es nicht darum geht, dass die Texte in die andere Sprache übersetzt werden; vielmehr wird in beiden Sprachen fortlaufend und abwechselnd erzählt. Die Kinder werden so mit der Sprachmelodie, dem Rhythmus, der Lautbildung und Artikulation der anderen Sprache vertraut, ohne dass die einzelnen Worte bekannt sein und verstanden werden müssen. Durch gezielte Wiederholungen inhaltlicher Passagen oder von Zitaten in beiden Sprachen, durch das Nachsprechen einzelner Wörter (z.B. bei Kettengeschichten), durch die Verwendung von Internationalismen und insbesondere durch Mimik und Gestik sowie plastischer Erzählweise wird das Verstehen der Geschichten gewährleistet. Die Einbeziehung kleinerer Requisiten erleichtert die Wiedererkennung von Gegenständen und Begriffen.
Bei vielen Leserinnen und Lesern der “Sächsischen Zeitung” kamen diese Details nicht an. Die Görlitz-Redaktion postete den Artikel von Sächsische.de auf ihrer Facebookseite. Und dort gab es vor allem eine Reaktion: Wut.
Die Kinder sollen in Deutschland die Sprache deutsch lernen!!!
Die armen Kinder! Ich fasse es nicht!!!
Ich würde den Erziehern was Husten
Aber sonst gehts den noch gut?
erstmal sollen die flüchtlinge deutsch lernen dann können wir darüber reden
Die sollen lieber Deutsch lernen
Außerdem nutzten verschiedene Gruppen den Beitrag für ihre rassistische Hetze. Nur ein Beispiel von vielen:
Am Dienstag erschien auch in der Dresden-Ausgabe der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de ein Artikel zum Thema:
Nach dieser verzerrenden Schlagzeile legte der Hass dann richtig los. Der Bild.de-Artikel wurde tausendfach wutschnaubend kommentiert und tausendfach geteilt. Rechtspopulisten, Rechtsradikale und Neonazis verbreiteten den Text:
Mit Bezug auf den “Bild”-Artikel forderte die sächsische AfD-Fraktion in einer Stellungnahmen den sächsischen Kulturminister auf, “die Indoktrination kleiner Kinder” durch den “Arabisch-Unterricht” sofort zu stoppen. Sicherheitshalber noch einmal: Es ist kein “Arabisch-Unterricht” geplant.
Was die AfD besonders empört: “Wenn allerdings Kita-Kinder zur Teilnahme am Arabisch-Unterricht gezwungen werden, so ist dies ungeheuerlich und zeugt davon, dass sich die Initiatoren eine Islamisierung unserer abendländischen Kultur wünschen.” Diese abstruse These mit der Aussage zum angeblichen Zwang basiert auf einem Zitat aus dem Artikel der “Bild”-Medien. Laut Autor Karsten Kehr sagte eine Mitarbeiterin des Vereins “Erzählraum”:
“Wir sind fester Programmpunkt, die Teilnahme für die Kinder ist nicht freiwillig.”
Wir haben beim “Erzählraum” nachgefragt, ob das stimmt. Die schriftliche Antwort:
Die Kinder werden NICHT, wie behauptet wird, gezwungen an den Erzählstunden teilzunehmen.
Es blieb nicht bei Forderungen der AfD-Fraktion und wütenden Kommentaren bei Facebook. Der Verein und einzelne Mitarbeiterinnen persönlich wurden per Mail beschimpft und bedroht:
Die Reaktionen sind zum Teil so heftig, dass wir sie nicht im Detail aufführen möchten, um die Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen. Wir behalten uns aber das Recht vor, sie zur Anzeige zu bringen.
Früher, als die arabische Sprache noch nicht Teil des Projekts war und nur deutsch-polnische, deutsch-tschechische und deutsch-sorbische Tandems im Einsatz waren, habe es weder derartige Reaktionen noch eine ähnliche mediale Aufmerksamkeit gegeben, so die “Erzählraum”-Mitarbeiterinnen.
In einer Richtigstellung hat der Verein versucht, der Welle aus Wut, Hass und Hetze etwas entgegenzusetzen. Die Redaktion von Sächsische.de hat ihre Überschrift inzwischen geändert und den Fehler eingeräumt. Bei Bild.de ist alles unverändert online.