Frau Polle und der Schnee von gestern

Manche Sachen kommen immer wieder. Heuschnupfen zum Beispiel. Jedes Jahr das gleiche Elend. Und jedes zweite Jahr ist es zum Beispiel bei Birkenpollen-Allergikern besonders schlimm. 2010 wird wohl so ein Jahr.

Wenn also in einem Artikel, der gestern auf sueddeutsche.de erschien, folgende Formulierung steht …

Eines steht jedenfalls fest: Ein Spaziergang dürfte das Jahr 2008 für Pollenallergiker nicht gerade werden.

… dann ist die naheliegende Erklärung, dass sich jemand die Mühe ersparen wollte, den ganzen Rotz noch einmal aufzuschreiben, einen zwei Jahre alten Text einfach unter dem aktuellen Datum noch einmal veröffentlicht hat und dabei vergaß, die Jahreszahl zu ändern.

So einfach ist es aber nicht.

Weite Teile des sueddeutsche.de-Artikels basieren auf einer Meldung, die die Nachrichtenagentur DAPD am vergangenen Freitag verbreitet hat. Die DAPD-Meldung wiederum basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, worauf DAPD auch hinweist.

Der Artikel von sueddeutsche.de basiert aber nicht nur auf der DAPD-Meldung: Den Hinweis, dass dieses Jahr ein sogenanntes “Mastjahr” mit besonders starker Birkenpollenbelastung werden könnte, bekommen Leser von sueddeutsche.de als zusätzliche Information. Er stammt offenbar aus einem Artikel aus einem Asthma-Online-Portal, der erklärt, dass ein solches “Mastjahr” alle zwei Jahre auftritt und unter anderem 2004 und 2006 stattfand und für 2008 erwartet wurde — der Artikel ist nämlich schon zwei Jahre alt (und basiert zum Teil auf dieser Nachricht von journalmed.de, der wiederum basiert auf … Ach, egal).

Jedenfalls kommt in diesem Artikel auf dem Asthma-Online-Portal auch folgender Satz vor:

Eines steht jedenfalls fest: Ein Spaziergang dürfte das Jahr 2008 für Pollenallergiker nicht gerade werden.

Und der fand dann (mit zwei weiteren Sätzen) wörtlich Einzug in den Artikel auf sueddeutsche.de. Der deshalb jetzt aussieht, als sei er schon zwei Jahre alt. (Einen entsprechenden Leserhinweis in einem Kommentar unter dem Artikel hat die Redaktion, wie es üblich ist, ignoriert.)

Manche Menschen mögen dieses Produktionsverfahren “Flickenteppich” oder “Kraut und Rüben” nennen, andere sprechen vielleicht von einem “Mashup”. Wir würden einen anderen Begriff für diese Textform empfehlen: “Onlinejournalismus”.

Mit Dank an Urs Sch. und Annika K.

Nachtrag, 19.50 Uhr: sueddeutsche.de hat aus der “2008” eine “2010” gemacht.

Axolotl Roadkill, Vancouver, Burkina Faso

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Interview mit Deef Pirmasens
(sueddeutsche.de, Lisa Sonnabend)
Deef Pirmasens, der mit seinem Blogeintrag zum Buch “Axolotl Roadkill” von Helene Hegemann eine Flut von Berichten ausgelöst hat, äussert sich zur Literaturkritik: “Ein Buch von einem 28-jährigen Blogger aus einem Untergrundverlag ist offensichtlich nicht so interessant wie eine Veröffentlichung in einem Großverlag von einer Jugendlichen, deren Vater in der Kulturszene bekannt ist. Hegemann wird ja gelobt als das Wunderkind der Literaturszene, das den großen Generationenroman geschrieben hat.”

2. “Die Unfähigkeit, zu googlen”
(begleitschreiben.twoday.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig nennt Helene Hegemann das “Hätschelkind des deutschen Feuilletons” und freut sich, dass nun wohl dem netten Mädchen kein Buchpreis von alten Männern übergeben werde. “Das Buch wurde über den grünen Klee gelobt – die Gründe liegen natürlich darin, weil den Rezensenten hier eine Welt gezeigt wird, die sie gar nicht kennen und für exotische Jugendliche hat man doch immer ein Ohr, zumal wenn sie Authentizität, die Krücke aller Lebensfremden, suggerieren.”

3. “IOC und Internet”
(dradio.de, Jens Weinreich)
Die Sportler der bevorstehenden Winterspiele in Vancouver dürfen nun doch publizieren, aber nur in engen Grenzen: “Sie dürfen nur Tagebuch führen und sich auf ihre Erlebnisse beschränken, nicht aber über Konkurrenten schreiben, schon gar nicht olympische Betriebsgeheimnisse verraten und Sicherheitsrisiken eingehen, was immer das heißen mag.” Die Vorschriften sind in den IOC Blogging Guidelines nachzulesen.

4. “Oli Kahn und das … äh, Fußball”
(print-wuergt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris ist die “Bereitschaft von Medien, falsche Informationen zu verbreiten”, nicht egal.

5. “Polish newspaper claims ‘Pedobear’ is 2010 Vancouver Olympic mascot”
(telegraph.co.uk, Matthew Moore, englisch)
Eine polnische Zeitung druckt eine vor Monaten veröffentlichte und vermutlich über eine Bildersuche aufgefundene Zeichnung, die nicht die offiziellen Olympia-Maskottchen zeigt. Künstler Michael R. Barrick zeigt in einem Blogeintrag, wie die Nachricht darauf um die Welt geht.

6. “Die Grundsteinlegung am 8.2.2010 hat stattgefunden!”
(schlingenblog.posterous.com, Christoph Schlingensief)
Christoph Schlingensief bloggt über die Grundsteinlegung der Oper, die er in Burkina Faso plant.

Bekannt aus “Der Dummschwätzer”

Kai Diekmann, in letzter Zeit als Darsteller eines selbstironischen “Bild”-Chefs unterwegs, hat seine Ankündigung wahr gemacht und das nach ihm benannte Blog nach genau einhundert Tagen, zahlreichen Lobpreisungen und Auszeichungen, sowie einigen Gerichtsurteilen und mehr als 30.000 Euro Rechtskosten in der vergangenen Woche zugemacht. (Ein paar Kosten könnte das Blog allerdings auch im Nachhinein noch verursachen.)

Statt Angriffen auf Kollegen und Gegner, Urlaubsvideos und Bildern von Kostüm-Partys mit seinen engsten Mitarbeitern gibt es auf kaidiekmann.de jetzt nur noch eine Bild-Ton-Collage zu sehen, die die Berliner Mediaagentur Kircher-Burkhardt zusammengestellt hat und die an Fieberwahn, Rauschmittel und Albträume gemahnt:

Website von Kai Diekmanns.

Oder alternativ auch an die Website eines etwas talentierteren Komödianten:

Website von Jim Carrey.

Bild  

Ein bisschen angereichert

Die Leserschaft von “Bild” muss dieser Tage zweifelsfrei den Eindruck gewinnen, die Welt stehe ganz unmittelbar vor einem Atomkrieg im Nahen Osten — wenn, ja wenn die USA, Israel und die Weltgemeinschaft dem als “Irren von Teheran” verschrieenen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad (für “Bild” eindeutig ein “Diktator”) nicht bald den Krieg erklärten.

Von Tag zu Tag überschlagen sich “Bild” und Bild.de mit neuen und immer schriller werdenden Alarmmeldungen, Skandalnachrichten und vermeintlichen Insiderberichten, angereichert mit immer bedrohlicher klingendem Zahlenmaterial zu Urananreicherung und zu Sprengkopftechniken.

So erklärt “Bild” heute etwa:

Der Irre von Teheran entsetzt die Welt

Am Morgen (…) befahl Diktator Ahmadinedschad grinsend im Staatsfernsehen die Herstellung hochangereicherten Urans: “Beginnen Sie die 20-Prozent-Anreicherung!”

Damit steht für Experten endgültig fest: Der Iran will die Bombe! Um jeden Preis!

Nun ist keineswegs ausgeschlossen, dass Ahmadinedschads Regierung die Herstellung von Atomwaffen plant. Und selbstverständlich ist die fehlende Bereitschaft der iranischen Behörden zur Kooperation mit der Internationalen Atomenenergieorganisation IAEA höchst beunruhigend, vor allem angesichts der innen- und regionalpolitischen Instabilität.

Aber: Die medial inszenierte Anweisung Ahmadinedschads, nun Uran auf 20 Prozent anzureichern, ist keineswegs ein Indiz dafür, dass der Iran “jetzt” und “um jeden Preis” eine Atombombe entwickeln wollen würde. Ganz davon abgesehen, dass zu einer Atombombe neben dem Willen auch ein gerüttelt Maß an Know-How gehört, über das der Iran nach seriösen Einschätzungen zumindest bislang noch nicht verfügen soll.

Interessanterweise ist das auch “Bild” bekannt: Zehn Zentimeter neben dem Wort “20-Prozent-Anreicherung” darf nämlich der umstrittene Allround-Experte Michael Wolffsohn in einem Interview erklären, dass erst “hochangereichertes Uran (85%)” eine Atombombe ermögliche. (Wobei der Historiker hinzufügt, dass der Iran seine Fabriken nutzen wolle, um das 20-prozentige Uran “heimlich weiter anzureichern — für Atomwaffen” und somit die Atombombe “in etwa einem Jahr” haben werde).

Auch bei Bild.de klärt ein Kasten auf:

Was bedeutet die jetzt angekündigte Uran-Anreicherung auf 20 Prozent?

Die Anreicherung auf 3,5 Prozent für den Einsatz in Kernkraftwerken kann der Iran inzwischen selbst bewerkstelligen. Für den Einsatz in medizinischen Reaktoren – etwa für die Krebstherapie – wird ein Anreicherungsgrad von 20 Prozent benötigt. Uran gilt dann bereits als hoch angereichert.

Es wird befürchtet, dass der Iran in einer weiteren Stufe Uran noch höher anreichern könnte, um schließlich Atombomben bauen zu können. Dafür ist ein Anreicherungsgrad von mindestens 85 Prozent erforderlich.

Deshalb will die Weltgemeinschaft schon die niedrigere Anreicherung nicht im Iran selbst zulassen, sondern im Ausland aufbereitetes Uran liefern.

All dieses Wissen hielt “Bild” aber nicht davon ab, die Sachlage abzukürzen:

Irans Diktator Mahmud Ahmadinedschad hat Befehl gegeben, hochangereichertes Uran zur Entwicklung von Atomwaffen im eigenen Land herzustellen.

Mit Dank an Eagle.

Kaum Überlebenschancen

Dann hielt sich Kevin die Waffe an den Kopf und drückte ab. Mit lebensgefährlichen Verletzungen kam er in die Klinik, wo er kurz darauf verstarb. Walther zu BILD: "Er ist schwer verwundet, hat kaum Überlebenschancen."

Nachtrag, 19.55 Uhr: Bild.de äußert sich inzwischen nicht mehr zu den Überlebenschancen des Verstorbenen.

Mit Dank an Mike E.

Pfitzinger, Hegemann, Knallpresse

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der lauteste Leser”
(taz.de, Anja Maier)
taz-Redakteurin Anja Maier besucht Hans Pfitzinger, einen an Krebs erkrankten taz-Leser, der sie in seinem 2008 und 2009 geführten taz-Blog schon als “Hohlspießerin” und “Dünkelkolumnistin” bezeichnete.

2. “Axolotl Roadkill: Alles nur geklaut?”
(gefuehlskonserve.de, Deef Pirmasens)
Im von vielen Medien ausführlich rezensierten Buch “Axolotl Roadkill” von Helene Hegemann stehen Passagen, die sehr ähnlich im Buch “Strobo” des Bloggers Airen zu finden sind. Romanautorin Hegemann gibt auf buchmarkt.de zu, von Airen “regelrecht abgeschrieben” zu haben. Felicitas von Lovenberg überraschen die Vorwürfe in der FAZ nicht – “einem ungewöhnlichen Bucherfolg” folge “fast nichts so zuverlässig wie der Plagiatsvorwurf”.

3. “Was die Medien Ihnen verschweigen”
(evangelisch.de, Daniel Drepper)
Daniel Drepper schreibt über “Project Censored”, ein seit über 30 Jahren bestehendes Non-Profit-Projekt, das sich um von den Medien nicht aufgegriffene Themen kümmert.

4. “Zum Umgang mit der Knallpresse”
(floriansiepert.com)
Florian Siepert beleuchtet, wie BBC Radio 4 mit fragwürdigen Quellen wie “Sun, Mirror oder Daily Mail” umgeht.

5. “Sat 1: Sender ohne Sendung”
(tagesspiegel.de, Bernd Gäbler)
“Um Sat 1 zu retten, müsste es einen Bruch mit dem ewigen Lavieren, den Halbheiten des Low-Budget-TV und dem Nachläufertum geben. Dazu reichen nicht einzelne Formatideen. Der Sender selbst braucht ein Leitbild.”

6. “The Blogs Must Be Crazy”
(thedailyshow.com, Video, 5:34 Minuten, englisch)
Jon Stewart mokiert sich über die reißerischen Schlagzeilen von US-Blogs wie der “Huffington Post”.

Privatsphärenklänge

Die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” beschäftigt sich mit einer neuen Form des Sexismus, dem sich Frauen in Castingshows und ähnlichen Wettbewerben freiwillig aussetzen.

Weil so ein langer Text zur Auflockerung und Aufmachung ein Foto braucht, zeigt die “FAS” ein dpa-Foto von zwei hoffnungsvollen Teilnehmerinnen eines Castings für “Germany’s Next Topmodel”:

Angetreten zur Demütigung

Die Bildunterschrift beginnt mit den Worten “Angetreten zur Demütigung”.

Das mit der Demütigung könnte sich durchaus noch mal auf direktem Wege wiederholen, denn auf den Teilnahmebögen, die die beiden jungen Frauen in die Kamera halten, sind etliche persönliche Daten, darunter Adresse und Telefonnummer, gut lesbar zu erkennen:

Vorname: Katja, Nachname: XXX, Adresse: XXX Telefon: XXX, Geburtsdatum: XXX

Mit Dank an Theo, Falk Z. und Björn.

Frau zu sein bedarf es wenig

Jedes Jahr veröffentlicht das Halbnackt-Magazin “FHM” das Ergebnis einer Leserumfrage zu den “100 unsexiesten Frauen der Welt”. Die “FHM”-Redaktion scheint einen Weg gefunden zu haben, die Kollegen der üblichen OnlineTrashPortale dazu zu zwingen, über diese (laut FHM-Chefredakteur Christian Kallenberg “mit einem Augenzwinkern” zu verstehende) Umfrage zu schreiben — gerne mit dem Hinweis, das dazugehörige Magazin sei jetzt am Kiosk zu haben.

Auch Bild.de berichtet heute über die Liste. Und mal davon ab, dass Lilly Kerssenberg, deren Hochzeit mit Boris Becker im vergangenen Jahr von “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de groß begleitet wurde, plötzlich wieder “Boris Beckers ebenso sympathische wie hübsche Freundin” ist, kann man sich bei Bild.de nicht so recht mit der Liste (deren Plätzen 1 bis 50 prima als Klickstrecke taugen) anfreunden.

Besonders das Entsetzen über Platz 2 ist groß:

Außenminister auf Platz 2 der "unsexiesten Frauen" der Welt: Männermagazin FHM beleidigt Guido Westerwelle!

Neben dem Auftauchen vieler Frauen, darunter die “Bild”-Darlings Heidi Klum (“eine natürliche Schönheit”) und Sandy Meyer-Wölden (“die schöne Freundin von Oliver Pocher”), kann Bild.de vor allem eines nicht verstehen:

Auf Platz 13 wieder ein männlicher Kandidat: Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz (20). Offenbar ist für das Magazin und manche seiner Leser jeder, der nicht dem gängigen Klischee eines Mannes entspricht, gleich eine Frau.

Und das geht natürlich nicht an, dass das Magazin und manche seiner Leser Bill Kaulitz als Frau bezeichnen, nur weil er nicht dem gängigen Klischee eines Mannes entspricht.

Diese Aufgabe kommt schließlich immer noch “Bild” zu:

Bill Fraulitz: Wie sieht Tokio-Bill denn jetzt aus?

Blonde Spitzen, zweifarbig lackierte Fingernägel und ein umwerfendes fliederfarbenes Augen-Make-up. Schönes Mädchen, oder?

Nein, im absoluten Girlie-Look zeigte sich Bill Fraulitz – Entschuldigung! – Kaulitz (19) von “Tokio Hotel” am Samstagabend.

Mit Dank an noir, Rainer T. und Maria.

Nachtrag, 8. Februar: Boris Beckers “ebenso sympathische wie hübsche Freundin” Lilly Kerssenberg ist inzwischen auch von Bild.de zu seiner Ehefrau erklärt worden.

Immer mehr Artikel über Hartz-IV-Betrüger!

Hinweis/Korrektur: Den hier besprochenen Artikel hatten wir ursprünglich fälschlicherweise “Bild” zugeschrieben. Es handelt sich um einen Text der Nachrichtenagentur AFP, der unter anderem bei Bild.de erschienen war.

Wir haben den Eintrag entsprechend geändert und bitten um Entschuldigung.

Am 2. Februar schrieb Bild.de:

Bundesagentur registriert fast 165 000 Fälle! - Immer mehr Hartz-IV-Betrüger

Der Text, der darauf folgt, stammt von der Nachrichtenagentur AFP und war von ihr unter der Überschrift “‘SZ’: Missbrauch von Hartz IV nimmt zu” verbreitet worden. Es geht also um einen Artikel der “Süddeutschen Zeitung”, der sich wiederum auf Zahlen der “Jahresbilanz Leistungsmissbrauch SGBII” der Bundesagentur für Arbeit (BA) stützt.

Wenn man sich die Jahresbilanz, die ohne weiteres auf Anfrage bei der Agentur erhältlich ist, einmal direkt ansieht, stellt man fest, dass dass nicht alles so schlimm ist, wie es die Medien darstellen.

So schreibt AFP:

Die Zahl der Straf- und Bußgeldverfahren gegen Hartz-IV-Empfänger ist im vergangenen Jahr […] um 1,8 Prozent auf knapp 165 000 Fälle gestiegen.

Dieser minimale Anstieg betrifft allerdings die Zahl der eingeleiteten Verfahren. An deren Ende könnten auch weniger “Hartz-IV-Betrüger” stehen, je nachdem, wie die Verfahren ausgehen.

Die Bundesagentur für Arbeit erklärt dazu in ihrem Bericht:

Die Zahl der eingeleiteten Straf- und Bußgeldverfahren stieg im Jahr 2009 um 2.921 auf 164.633, das waren 1,8 % mehr als ein Jahr zuvor (Jahr 2008: 161.712). Ein Teil dieser Entwicklung ist darauf zurückzuführen, dass sich die Situation in den ARGEn, die erst seit dem 01.01.2007 für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständig sind, personell, organisatorisch und fachlich verbessert hat.

AFP schreibt:

Das eingetriebene Verwarnungs- und Bußgeld, über das die Jobcenter selbst entscheiden können, belief sich bei etwa 74 000 Fällen auf 3,7 Millionen Euro.

AFP schreibt nicht, dass diese Summe um 7,5 % unter der des Jahres 2008 liegt, die festgesetzten Verwarnungs- und Bußgelder also “nicht unerheblich” gesunken sind, wie es die Bundesagentur für Arbeit selbst ausdrückt.

Die Anzahl der Fälle, in denen die Bundesagentur zu viel Leistungen ausgezahlt hat, ist im Vergleichs zu 2008 geringfügig gesunken, der Gesamtbetrag der festgestellten Überzahlungen dagegen “deutlich geringer” ausgefallen. Mit anderen Worten: Die Leute, die zu viel bekommen haben, sind etwas weniger geworden und haben deutlich weniger zu viel bekommen.

Ertappt wurden dem Bericht zufolge auch deutlich mehr potenzielle Schwarzarbeiter.

Das entscheidende Wort ist auch hier “potenziell”. Dass in dem Bericht gar nicht steht, wie viele Schwarzarbeiter tatsächlich “ertappt” wurden, weiß AFP also eigentlich schon.

AFP weiter:

Insgesamt hatten 2009 laut dem Bericht im Jahresdurchschnitt etwa 6,5 Millionen Menschen Anspruch auf die Grundsicherung (Hartz IV). Bezogen auf diese Gesamtzahl lag die Missbrauchsquote nach Angaben der Bundesagentur bei 1,9 Prozent.

Zur Einordnung dieser Zahl wäre es hilfreich zu wissen, dass die Missbrauchsquote 2008 mit 1,8 % nur 0,1 Prozentpunkte niedriger lag, die Veränderung trotz der “Optimierung des Verfahrens” in den Arbeitsagenturen also im Promillebereich liegt. AFP verzichtet auf diese Einordnung und verschweigt auch diese Einschränkung der Bundesagentur für Arbeit:

Leistungsmissbrauch ist im Rechtskreis SGB II in Relation zu der Anzahl der Hilfebedürftigen und den Gesamtausgaben relativ gering verbreitet.

Die BA nennt sogar eine Zahl: 0,25 % der Gesamtausgaben.

Und was passiert, wenn ein – ebenfalls nicht unumstrittener – Artikel der “Süddeutschen Zeitung”, die sich immerhin an ein paar Stellen um Relativierung bemüht hatte, über den Umweg von AFP schließlich bei “Bild” angekommen ist, konnte man am nächsten Tag am Kiosk sehen:

Betrugs-Rekord mit 165000 Fällen - So wird bei Hartz-IV abgezockt!

Die Irreführung von Teheran

Für die Mitarbeiter von “Bild” ist Mahmud Ahmadinedschad, der Präsident des Iran, seit langem lediglich “der Irre von Teheran”. Inzwischen scheint man ihn für derart irre zu halten, dass man ihm sogar unterstellt, sich nicht einmal mehr an die Regeln von Zeit und Logik zu halten.

Anders nämlich ist kaum zu erklären, wie Bild.de auf die Idee kommt zu melden:

MAHMUD AHMADINEDSCHAD: Jetzt hat der Irre von Teheran Pläne für Atomsprengköpfe! -  EX-SOWJET-WISSENSCHAFTLER SOLL MIT GEHEIMEN INFORMATIONEN GEHOLFEN HABEN +++ IRAN WÄRE ALLEINE NICHT DAZU FÄHIG GEWESEN

Dass in der Sprache von “Bild” das kleine Wörtchen “jetzt” ungefähr so viel wie “irgendwann” bedeutet, ist mittlerweile eine Binse. Wie Bild.de dieses “jetzt” selber demontiert, ist allerdings schon auffällig:

Die IAEA hatte bereits vor zwei Jahren Unterlagen gezeigt, die belegen, dass der Iran bis Anfang des Jahrzehnts an Atomwaffen gearbeitet hat.

Bild.de muss darüber hinaus das Raum-Zeit-Kontinuum krümmen, um die Unterstützung des iranischen Militärs durch einen ehemaligen sowjetischen Wissenschaftler zwischen den 1990ern und spätestens 2003 nicht einfach dem Iran zuzuschreiben, sondern Ahmadinedschad persönlich in die Schuhe zu schieben:

Er soll Mahmud Ahmadinedschad bei der Entwicklung moderner Kernwaffen assistiert haben…

Das ist einigermaßen unwahrscheinlich. Nicht nur, dass die Formulierung (“assistiert”) den albernen Anschein erweckt, Ahmadinedschad höchstpersönlich habe an Atomsprengköpfen herumgeschraubt — die Behauptung ist auch mit der Biographie Ahmadinedschads nur schwer in Einklang zu bringen ist: Er ist nämlich erst seit Juni 2005 iranischer Präsident. In den betreffenden Jahren soll er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Teheraner Universität der Wissenschaft und Industrie beschäftigt gewesen sein — als Bauingenieur.

Mit Dank an Eagle.

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