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Merkwürdigste Verwunderung

Josef Nyary kann so einiges: Der Mann, der bei “Bild” die Polit-Talkshows im TV guckt und dann darüber schreibt, kann Zitate so aus dem Zusammenhang reißen, dass aus Greta Thunberg eine Atomkraft-Aktivistin wird. Er kann Kehrtwenden hinlegen wie sonst nur Franz Josef Wagner. Und er kann sich völlig verblüfft zeigen über Aussagen, die eigentlich niemanden überraschen dürften.

Am vergangenen Donnerstag waren unter anderem der CDU-Politiker Friedrich Merz und der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck in der ZDF-Sendung von Maybrit Illner zu Gast. Darüber hat Josef Nyary natürlich bei Bild.de geschrieben:

Screenshot Bild.de - Merz bei Illner - Mit Habeck ginge es den Grünen besser

Und er konnte gar nicht glauben, was Harbeck gleich zu Beginn der Sendung sagte. Unter der Zwischenzeile “Merkwürdigste Formulierung” schreibt der “Bild”-Autor:

Über den Einsatz der Bundeswehr sagt der Grüne: “Die Soldaten und Soldatinnen, die da gekämpft haben, müssen sich auch im Stich gelassen fühlen. Die Leute, die dort gestorben sind, Kameraden verloren haben, Leid erlebt haben und Leid zugefügt haben, auch die stehen ja jetzt vor dem Trauma, dass alles umsonst gewesen ist.”

Wie bitte? Wem haben die deutschen Soldaten denn “Leid zugefügt”? Dazu leider keine Nachfrage aus der Runde.

Nyarys Verwunderung ist verwunderlich. Es gab zahlreiche zivile Opfer beim langen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Vor allem bei der von der Bundeswehr veranlassten Bombardierung zweier Tanklaster in der Nähe von Kunduz im September 2009. Die Anzahl der damals Getöteten und Verletzten schwankt je nach Quelle. Sie liegt aber meist bei etwa 100 Menschen, darunter viele Zivilisten und wahrscheinlich auch Kinder und Jugendliche. Auch wenn es Josef Nyary nicht glauben kann – dass deutsche Soldaten Afghanen “Leid zugefügt” haben, zeigen nicht zuletzt die (freiwillig) gezahlten Entschädigungen Deutschlands an afghanische Familien.

Mit Dank an Oliver O. für den Hinweis!

Nachtrag, 31. August: Wie wir oben bereits geschrieben haben, schwankt die Anzahl der beim Luftangriff bei Kunduz Getöteten und Verletzten je nach Quelle. Ein BILDblog-Leser wies uns darauf hin, dass zwei Richter des Bundesgerichtshofs, wo es ein Verfahren zu dem Vorfall gab, von lediglich 30 bis 40 Opfern ausgehen, größtenteils Taliban und nicht Zivilisten. Sie beziehen sich unter anderem darauf, dass ISAF-Soldaten vor Ort Spuren von nur zwölf bis 13 getöteten Menschen gefunden hätten. Doch auch das ist kein sicherer Beweis. Der Generalbundesanwalt zum Beispiel schreibt, dass vor Eintreffen der Soldaten “die Leichen durch Einheimische und Waffenreste durch die afghanische Polizei bereits abtransportiert worden” waren.

Mit Dank an Thorsten B. für den Hinweis!

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“Bild”s hämische Koketterie, Weltwunder, Mitschüler “PietSmiet”

1. Polizisten greifen bei Demonstration Journalisten an
(spiegel.de)
Bei einer Demonstration in der Düsseldorfer Innenstadt gegen das geplante neue Versammlungsgesetz für Nordrhein-Westfalen sollen Polizeibeamte zwei Journalisten attackiert haben. Unter anderem sei ein dpa-Fotograf mehrfach mit einem Schlagstock geschlagen worden. Die Polizei habe zunächst keine näheren Angaben zu dem Einsatz gemacht.

2. So unangenehm ist der neue Werbeclip für den TV-Kanal von BILD
(vice.com, Robert Hofmann)
Robert Hofmann hat sich den neuen Werbeclip für den TV-Kanal von “Bild” angeschaut, der nicht nur die Amazon-Dokumentation “BILD.Macht.Deutschland?” zitiert, sondern auch versucht, sich an die Erfolgsserie “Stromberg” anzulehnen. Ein gescheiterter Versuch, wie Hofmann findet: “Nein, das alles ist nicht Stromberg, das ist nicht witzig. Hier soll nichts entblößt werden, das ist keine kluge Satire und auch keine ehrliche Aufarbeitung von Kritik. Dieser Clip ist auch kein Zitat der Serie. Hier sehen wir nur hämische Koketterie von Menschen, die wissen, dass große Teile der Gesellschaft mit Verachtung auf sie blicken, und ihnen doch nichts anhaben können.”

3. Schweizer “Weltwoche” zeigt Deutschland, wie Weltwunder-Journalismus geht
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
“Die Zeitung, in der regelmäßig Matthias Matussek, Thilo Sarrazin, Norbert Bolz, Hans-Georg Maaßen und Henryk M. Broder schreiben, ist in dieser Woche mit einer Spezialausgabe erschienen, in der nun auch noch Harald Martenstein, Kai Diekmann, Jan Fleischhauer, Franz Josef Wagner, Boris Reitschuster und Ralf Schuler schreiben. Mehr Trigger kann man für 9 Schweizer Franken wirklich nicht erwarten.” Stefan Niggemeier hat sich triggern lassen und sich tapfer durch eine “Weltwoche”-Sonderausgabe gekämpft.

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4. No. 7 – der neue nestbeschmutzer ist da
(netzwerkrecherche.org, Malte Werner)
Erneut haben Studierende aus dem Master-Studiengang Journalistik und Kommunikationswissenschaften der Universität Hamburg begleitend zur Netzwerk-Recherche-Jahreskonferenz den “nestbeschmutzer” (PDF) produziert. In der kostenlos verfügbaren Online-Zeitung widmen sich 16 Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten Themen wie Medienkompetenz, Pressefreiheit und Datenjournalismus.

5. Überlegenheit oder Überheblichkeit
(deutschlandfunk.de, Annabell Brockhues, Audio: 6:47 Minuten)
Nachdem die Uefa abgelehnt hatte, dass die Münchner Arena zum Fußball-EM-Spiel gegen Ungarn in den Regenbogenfarben beleuchtet wird, regte sich vielfältiger Protest. Einige Sender und Tageszeitungen gestalteten temporär ihre Logos zu Regenbogenfarben-Signets um. Viele Promis und Unternehmen taten Ähnliches auf ihren Social-Media-Kanälen. Der Medienkritiker Stefan Niggemeier ist zwiegespalten, was die Aktion anbelangt.

6. Mein Mitschüler, der YouTube-Star
(zeit.de, Inga Pöting)
“Peter schien sich nicht besonders dafür zu interessieren, was andere von ihm dachten. Er trug Karohemden, die auch aus dem Schrank seines Vaters hätten stammen können, und er gab im Unterricht oft merkwürdige Antworten.” Die Rede ist hier von Peter Smits, der auf Youtube als “PietSmiet” Millionen von Followern hat. Die Journalistin Inga Pöting hat mit Smits die Schulbank gedrückt. Beide schlugen unterschiedliche Karrierewege ein und begegneten sich Jahre später wieder in einer Kneipe. Der Initialfunke für ein neuerliches Treffen mit dem erfolgreichen Webvideo-Produzenten, das zu dieser lesenswerten, da sehr persönlichen Reportage führte.

Alles hat ein Ende, nur der Billigwurst-Knaller von “Bild” nicht

Screenshot Bild.de - Ist jetzt Schluss mit Billigfleisch?

fragte die “Bild”-Redaktion im Juni vergangenen Jahres, nachdem sich beim Fleischproduzenten Tönnies über 1000 Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert hatten. Damals entstand eine Debatte über die unwürdigen Verhältnisse, in denen viele von ihnen arbeiten und leben müssen. Billigfleisch – für “Bild” ein “wichtiges Thema”.

Bereits einen Tag zuvor berichtete die Redaktion über eine Forderung des CSU-Politikers Georg Nüßlein:

Screenshot Bild.de - Forderung von Unionsfraktionsvize - Schluss mit Werbung für Billigfleisch!

“Wir müssen Fleisch endlich so wertschätzen, wie es dem Töten von Tieren angemessen wäre. Der wöchentliche Preiskampf der Supermärkte steht dem entgegen, ist unanständig und muss aufhören”, zitiert Bild.de den Politiker.

Nur wenige Wochen später erzählte Schlagersängerin Stefanie Hertel bei “Bild”:

Screenshot Bild.de - Schlager-Star Stefanie Hertel - Tierleid kommt mir nicht auf den Teller

Ungefähr zur selben Zeit berichtete Bild.de vom …

Screenshot Bild.de - Kaum Kohle, astronomische Auflagen - Bauernaufstand gegen Billigpreise

Und auch in den Jahren zuvor thematisierten die “Bild”-Medien immer wieder die verschiedensten Probleme rund ums Billigfleisch. Im Mai 2019:

Würden die Grünen in Berlin regieren, müssten sie den Deutschen das Fleisch nicht verbieten. Sie würden es, das erwarten viele Grünen-Anhänger, nur viel teurer machen – durch ein Verbot von Massentierhaltung. Und das ist gut so.

Es gibt kein Grundrecht auf Billigfleisch! Tiere sind keine Fleischlieferanten. Sondern Lebewesen.

Im Dezember 2018 sogar Franz Josef Wagner:

Am Tag des Welt-Endes wird man auch Deutschland zu den Schuldigen zählen. Eisbären, die auf den Schollen verhungern. Inseln mit Menschen, die überschwemmt werden. Marokko, Litauen, Rumänien, Indien tun mehr für die Umwelt als wir.

Im Klima-Ranking ist Deutschland auf Platz 27 abgerutscht. Was ist der Grund? Wir wählen zwar Grün, aber leben nicht grün. Wir fahren SUV anstatt mit der U-Bahn. Wir fliegen mit dem Billigflieger nach Mallorca, wir essen Billigfleisch. Wir haben weltweit den größten Kohleverbrauch.

Schon im Juni 2017 prangerte “Bild” den “PREIS-IRRSINN IM SUPERMARKT” an:

Fleisch billiger als Obst!

Morgen beginnt die Fußball-Europameisterschaft der Männer, am Dienstagabend startet die deutsche Nationalmannschaft ins Turnier. Beim Discounter Lidl gibt es ab kommenden Montag ein neues Angebot: “DEIN EM-PAKET”, bestehend aus sechs Pullen Bier und fünf Rostbratwürsten. Preis: 3,39 Euro – und damit 29 Prozent billiger als sowieso schon. Alles was man für dieses Angebot tun muss: Einen Coupon ausschneiden, der am Sonntag in “Bild am Sonntag” beziehungsweise am Montag in “Bild” abgedruckt wird. Denn Kooperationspartner der Lidl-Aktion sind die Billigfleisch-Kritiker der “Bild”-Medien:

Ausriss Bild-Zeitung - Montag gibt's Fan-Pakete von Lidl, Bild und Bild am Sonntag

Das sei der “erste Knaller dieser Europameisterschaft”, jubelt “Bild”. Es ist auch die Antwort auf die eingangs zitierte Frage der Redaktion, ob jetzt “SCHLUSS” ist mit Billigfleisch: Nee.

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“Bild” und Hitlers Badewanne

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen

Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.

„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3

Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.

Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“

Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7

Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“

Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.

Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.

Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9

Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:

„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10

Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.

Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11

Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.

Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt

Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12

Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13

Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.

Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:

Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.

Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14

Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.

Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:

Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15

Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.

Eigentlich.

„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“

Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.

„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.

In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19

“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20

Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22

Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.

Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:

Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.

Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.

Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.

Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24

In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.

„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25

Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.

Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:

Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26

Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.

Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.

„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30

„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31

Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39

Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:

In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.

Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:

Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40

Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.

„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“

Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45

Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.

Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48

Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49

Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.

„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.

Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51

Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“

In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.

Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.

Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.

Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“

Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.

Alle Schummelminister sind gleich, aber manche sind “Bild”-Freunde

Wie “Bild” berichtet, hängt in weiten Teilen davon ab, wer Freund der Redaktion ist und wer Feind, wer Gegner und wer Gefährte. Das war schon lange so, bevor Julian Reichelt Chefredakteur wurde; unter ihm hat sich diese Einteilung in Gut und Böse aber wieder verstärkt. Wie unterschiedlich die “Bild”-Medien, je nach Gunst, ähnliches Handeln verschiedener Menschen beurteilen, kann man gut an der aktuellen Berichterstattung über Franziska Giffey beobachten.

“Bild am Sonntag” nennt die wegen der Affäre um ihre Doktorarbeit zurückgetretene Familienministerin bereits nur noch “Schummelministerin”; Bild.de stellt sie gewissermaßen als Abkassiererin dar (“57 000 Euro nach Rücktritt wegen Doktortitel”), obwohl ihr das Geld dem Gesetz zufolge schlicht zusteht; und dann lasse Giffey durch ihren Rücktritt laut “Bild”-Redaktion auch noch “ein wichtiges Ressort im Kampf gegen die Corona-Pandemie und deren Folgen im Stich”. Egal, wie sie es macht: Rücktritt – falsch, kein Rücktritt – ebenfalls falsch.

Am kräftigsten teilt “Bild”-Chefkolumnist Alfred Draxler gegen Franziska Giffey aus:

Screenshot Bild.de - Kommentar zum Giffey-Rücktritt - Sie hat geschummelt, gemogelt und betrogen!

Draxler schreibt:

Jetzt ist die SPD-Politikerin ausgerechnet wegen ihrer Doktorarbeit als Bundesfamilienministerin zurückgetreten. In ihrer Dissertation liegt an 27 (!) Stellen eine objektive Täuschung vor. Heißt: Sie hat ohne Quellenangaben abgekupfert.

Sie hat geschummelt, gemogelt und betrogen!

Und jetzt will sie auch noch weiter tricksen!

Denn Giffey hält trotz der Plagiatsvorwürfe an ihrem Plan fest, im September Bürgermeisterin von Berlin werden zu wollen. Draxler:

Die großen Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, Willy Brandt und Richard von Weizsäcker würden sich bei solch einer Nachfolgerin im Grabe umdrehen.

Zweifelsohne gibt es gute Gründe dafür, Franziska Giffeys Verhalten – sowohl in Bezug auf ihre Doktorarbeit als auch mit Blick auf ihre Berlin-Pläne – ausgesprochen kritisch zu sehen. In einem ähnlichen Fall legte Alfred Draxler allerdings völlig andere Maßstäbe an. Er ließ nicht gleich tote Politik-Größen im Grab rotieren. Im Gegenteil. Er fieberte schon dem Comeback eines Schummelministers (den Draxler und “Bild” natürlich nicht so nannten) entgegen: Im August 2017 sieht er bei einer Wahlkampfveranstaltung eine Rede von Karl-Theodor zu Guttenberg. Und ist hin und weg:

Screenshot Bild.de - Erste Wahlkampfrede bei Bier und Jubel - Guttenberg will's wissen

War da nicht mal was mit einer abgeschriebenen Doktorarbeit? Für Alfred Draxler alles nur eine Klammer wert:

Sechseinhalb Jahre nach seiner Abdankung (wegen teilweise abgeschriebener Doktorarbeit) hat Ex-Wirtschafts- und Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (45) gestern Abend in seinem alten Wahlkreis seinen ersten öffentlichen politischen Auftritt.

Bei Franziska Giffey setzt Draxler für die “objektive Täuschung” an 27 Stellen ein Extra-Ausrufezeichen, bei Karl-Theodor zu Guttenberg und dessen 1218 Plagiatsfragmenten reicht ihm ein abschwächendes “teilweise”. Aber bei Guttenberg gab es ja auch diesen tobende Saal, die ständigen “KaTe, KaTe”-Rufe, das “überschäumende Bad im Jubel”. Hach, der Karl-Theodor:

Er in Jeans, blauem Sakko, offenem weißen Hemd, Ein-Tage-Bart. Seine schöne Frau Stephanie an seiner Seite, neben ihr Guttenbergs Vater Enoch. “Klartext” versprachen die Plakate draußen.

Und KT liefert: Klartext

Draxler sieht den Ex-Minister schon zurück in höchsten politischen Ämtern – und Guttenbergs einstiges Schummeln, Mogeln, Betrügen so gar nicht als Hindernis:

Es drängt sich der Eindruck auf: Hier läuft sich einer warm für neue politische Aufgaben. Charismatische Politiker wie KT sind rar. Er hat die Unterstützung von CSU-Chef Seehofer (“Wir können ihn sehr gut gebrauchen.”). Und: Die Basis hat ihm längst vergeben. (…)

Einer wie KT drängt sich nicht auf. Er muss sich in Demut üben – um eines Tages gerufen zu WERDEN. Als Minister? Seine Rede klang wie eine Bewerbung fürs Außenministerium.

Oder für etwas anderes?

Nach dem, was ich gestern Abend in Kulmbach erlebt habe, halte ich nichts mehr für undenkbar …


Unser Buch ist seit dem 11. Mai überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Alfred Draxlers Jubel über Karl-Theodor zu Guttenberg ist die konsequente Fortführung einer seit Jahren andauernden “Bild”-Kampagne für den Liebling des Hauses. In unserem kürzlich erschienenen Buch über “Bild” haben wir ein ganzes Kapitel zu den Feind- und Freundbildern der Redaktion geschrieben. Die Berichterstattung über Guttenberg spielt darin eine zentrale Rolle. Hier ein Auszug:

Mit wie viel Energie und Einfallsreichtum “Bild” für Freunde in die Bresche springt, lässt sich seit mehr als zehn Jahren an der Berichterstattung über einen Mann beobachten, mit dem Julian Reichelt eine ganz persönliche Geschichte verbindet: “Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Wilhelm Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg”, wie “Bild” ihn nach seiner Ernennung zum Wirtschaftsminister groß auf der Titelseite nennt, ohne zu merken, dass einer der Namen frei erfunden ist (Wilhelm; er stammt aus einem manipulierten Wikipedia-Eintrag).1 Solche Nachlässigkeiten sollten der Redaktion in Zukunft aber nicht mehr passieren, denn schnell wird Guttenberg in den “Bild”-Medien zum glänzenden “Einhorn der deutschen Politik”2 erklärt. Ein “Aufklärer und Erneuerer”, “attraktiv, bescheiden, voller Power”3.

Als Verteidigungsminister – “Minister Liebling”4 – wird Guttenberg bei fast jeder seiner Auslandsreisen von “Bild” begleitet, genauer: vom damaligen “Bild”-Reporter Julian Reichelt, der den Kurs des “Klartext-Ministers” immer wieder lobt und sich für die deutschen Soldaten freut, die “nun endlich den Minister” hätten, “den sie verdienen”.5 (Im Sommer 2010 kommt der Verteidigungsminister dann auch persönlich zur Vorstellung von Reichelts neuem Buch.6) Die Inszenierung des Ministers geht so weit, dass “Bild” ein exklusives Foto – Guttenberg in “Top-Gun”-Pose vor einem Kampfjet – fast seitenhoch auf die Titelseite druckt und sogar eine 3D-Brille dazulegt: “Exklusiv in 3D: Minister Guttenberg fliegt im Kampfjet”.7 Immer wieder erscheinen Zeilen wie “Guttenberg auch in China ein Star”8 oder “Karl-Theodor und Stephanie zu Guttenberg: Total verschossen auf der Wiesn!”9 oder “Sind Adelige die besseren Politiker?”10 Ende 2010 träumt Bild schon von Kanzler Guttenberg: “CSU-Chef, Ministerpräsident oder sogar Kanzler … In welches Amt stürmt Guttenberg 2011?”11 Als Guttenbergs “hinreißende Frau Stephanie”12 eine Sendung bei RTL2 moderiert, machen die “Bild”-Medien in großem Stil Werbung dafür, lobpreisen die Show und ihre Macherin – “Deutschlands heimliche First Lady”13 – wochenlang auf allen Kanälen (“Bravo, Stephanie zu Guttenberg!”, “Respekt, Frau zu Guttenberg!”)14, und als sie im Dezember 2010 mit ihrem Mann deutsche Truppen in Afghanistan besucht, erklärt “Bild” auf der Titelseite in großen Lettern: “Wir finden die GUTT! Nörgler, Neider, Niederschreiber: Einfach mal die Klappe halten!”15

Zwei Monate später, an einem Samstagabend, macht es sich der Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano mit einem Glas Rotwein vor seinem Computer gemütlich. Auf dem Monitor vor ihm: die Dissertation von Karl-Theodor zu Guttenberg. Er hat die 475 Seiten bereits gelesen, jetzt will er eine Rezension für eine Fachzeitschrift schreiben. Bei einer routinemäßigen Google-Suche merkt er plötzlich, dass einige Passagen der Arbeit wortwörtlich aus anderen Publikationen übernommen wurden.16

Vier Tage später titelt die “Süddeutsche Zeitung”: “Plagiatsvorwurf gegen Guttenberg”.17 Sofort stürzen sich nationale und internationale Medien auf die Enthüllung, nennen Guttenberg den “Lügenbaron”18. Rücktrittsforderungen kommen von allen Seiten. “Bild” aber geht mit voller Kraft in den Verteidigungsministerverteidigungsmodus. “Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor”19, schreibt “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner am Tag nach Bekanntwerden der Vorwürfe (obwohl er knapp zwei Jahre zuvor noch gegen jene “Uni-Luschen” gewettert hatte, die sich einen Doktortitel erkaufen: “Sich ein falsches Gehirn einpflanzen zu lassen, muss per Gesetz bestraft werden. Ein Doktortitel ist kein Busen, kein Facelifting und keine Straffung des Popos”20). Als Guttenberg kurz darauf verkündet, er wolle im Amt bleiben, titelt “Bild”: “GUT! Guttenberg bleibt!” Was hier geschehe, sei eine “Hetzjagd auf den beliebtesten Minister der Republik”.21

“Bild”-Redakteure treten in Talkshows auf, um dem Minister beizuspringen; Nikolaus Blome, damals Leiter des “Bild”-Hauptstadtbüros (dessen Buch der Minister eigentlich auch vorstellen wollte, bis die Plagiatsaffäre dazwischenkam22), wiegelt bei “Hart aber Fair” ab: “Der Untergang des Abendlandes fällt aus, trotz dieser Doktorarbeit.” Bei “Maischberger” ringt eine “Bild-am-Sonntag”-Redakteurin, so beschreibt es der “Spiegel” später, “wie eine Ehefrau um Verständnis für den jungen Familienvater, der in siebenjähriger Nachtarbeit seine Doktorarbeit erstellt, dabei ein paar Fehler gemacht und nun als großartiger Minister Ziel einer Kampagne geworden sei. Aber: ‘Er ist auch ein Mensch.'”23 Der “Spiegel” nennt “Bild” damals die “Leibgarde von Karl-Theodor zu Guttenberg”.24

Kurz darauf startet “Bild” eine große Leseraktion. Auf der Titelseite wird dazu aufgerufen, per Telefon und Fax (kostenpflichtig) darüber abzustimmen, ob Guttenberg Minister bleiben oder zurücktreten solle. Auch online kann man abstimmen. Als sich dort eine Mehrheit gegen den Minister abzeichnet, verschwindet die Umfrage von der Seite. Sie erscheint erst wieder, als Journalisten sich nach dem Ergebnis erkundigen – das da lautet: 56 Prozent wollen den Rücktritt; nur 35 Prozent finden, er mache seinen Job gut.25 Tags darauf titelt “Bild”: “87% Ja-Stimmen beim BILD-Entscheid – ‘Ja, wir stehen zu Guttenberg!'”26 Die Zahl, behauptet die Zeitung, stamme aus dem Telefon- und Fax-Voting; die Online-Umfrage wird gar nicht erwähnt und in den Tiefen der Website versteckt.27

Sogar nach dessen Rücktritt ist “Bild” offenkundig bemüht, Guttenbergs Ansehen zu beschützen: Am Tag nach der Rücktrittserklärung beschreibt Julian Reichelt unter der Überschrift “Ich war mit dem Minister im Krieg” in herzerwärmenden Worten, wie Guttenberg einmal in ein brennendes Flugzeug kletterte, um für seinen Piloten, der Geburtstag hatte, eine Kiste Bier zu holen. Er habe oft von “Pflicht” und “Anstand” gesprochen, und Reichelt könne “bezeugen, dass seine Taten zu seinen Worten passten”.28

Bis heute berichten die “Bild”-Medien (oft exklusiv) über Guttenbergs Projekte29 und Aussagen30, lassen ihn Gastkommentare schreiben31, feiern auf der Wiesn “große Gaudi mit Guttenbergs”32. 2017, gerade mal einen Tag nach seinem ersten öffentlichen politischen Auftritt seit der Plagiatsaffäre, bringen “Bild” und Alfred Draxler ihn schon wieder als Kanzler ins Spiel.33

So behandelt “Bild” Freunde.

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Dünnbartbohrer, Heimliches Strategiepapier, Falscher Tod

1. Exklusiv: Deutschlands beste Corona-Ticker
(kress.de, Christian Lindner)
Medienberater Christian Lindner stellt 15 beispielhafte Corona-Ticker vor. Sein Überraschungssieger: Der Corona-Feed der “Hamburger Morgenpost”. “Total regional, stimmig, kraftvoll, nüchtern im Sound und optisch perfekt.”
Wie es um Europas Presse in Zeiten der Pandemie steht, berichten “SZ”-Korrespondenten aus sechs Ländern. Angenehm kurze Infohäppchen der Auslandsreporterinnen und -reporter.
Doch wie wirkt sich die Corona-Krise im Inland aus? Gregory Lipinski hat sich für “Meedia” bei den großen Verlagshäusern umgeschaut. Nach Bertelsmann, Funke, SWMH und “Zeit”-Verlag wolle jetzt auch Axel Springer zumindest partielle Kurzarbeit anmelden. Und auch beim “Tagesspiegel” werde es wegen massiver Anzeigenrückgänge bald Kurzarbeit geben.
Im Podcast “Unter Zwei” von Levin Kubeth geht es ebenfalls um Die Herausforderungen der Coronakrise. Kubeth hat, wie so oft, hochkarätige Interviewgäste aus der Medienbranche in der Sendung.
Die “taz” plant eine Sonderausgabe für und gefüllt durch freie Fotografen und Fotografinnen: “Die taz wird am Donnerstag, Gründonnerstag Dokumente dieser Zeit aufbereiten — Dokumente, die uns unsere Fotograf:innen selbst bereitstellen, als visuelle Zeitzeug:innen.”
Beim “Fachjournalist” gibt es ein Interview mit dem Datenjournalisten Marcel Pauly vom “Spiegel”: “Die Coronakrise dominiert den Arbeitsalltag aller Datenteams”.
Lesenswert ist zudem Dennis Horns Einordnung der Medienkritik des Virologen Christian Drosten.
Und wer nach all den Corona-News etwas Abstand und Ablenkung braucht: Die “Süddeutsche” hat eine tolle Zusammenstellung von Kulturlinks: Konzerte, Lesungen und Kunst von zu Hause erleben.

2. Der Dünnbartbohrer
(neues-deutschland.de, Christian Y. Schmidt)
Christian Y. Schmidt ärgert sich über die journalistische Begleitung der Corona-Krise durch den Wirtschaftsjournalisten Gabor Steingart in dessen Newsletter: “Seit 2018 verschickt er per E-Mail ein sogenanntes ‘Morning Briefing’, eine Art ‘Breitbart light’ für Wirtschaftsliberale, das stilistisch den schmalen Grat zwischen Claas Relotius und Franz Josef Wagner auslotet. ‘Dünnbart’ wäre kein schlechter Name. Für den Verfasser aber müsste man aufgrund seiner Corona-Verlautbarungen ebenfalls eine neue Bezeichnung finden. Am besten würde eine passen, die ich hier nicht hinschreibe, denn ich habe keine Lust, mich von Steingart verklagen zu lassen.”

3. Veröffentlicht die Dokumente!
(uebermedien.de, Arne Semsrott)
In der Presselandschaft zirkuliert ein vertrauliches Strategiepapier des Bundesinnenministeriums zum Umgang mit der Corona-Pandemie. Viele Medien hätten sich aus dem 17-seitigen Papier unterschiedliche Aspekte herausgepickt und würden daraus zitieren. Obwohl das Strategiepapier bereits in der Branche kreise, weigere sich das Innenministerium, es auch anderen Journalistinnen und Journalisten auf Basis des Pressegesetzes herauszugeben. Arne Semsrott ist deshalb initiativ geworden: “Es über das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) zu bekommen, würde sich einen Monat hinziehen, viel zu lange. Und auch kein Sender, kein Verlag hat das Papier bisher veröffentlicht. Deshalb haben wir von ‘FragDenStaat’ das gemacht.”

4. Umstrukturierung als Mentalitätswandel
(deutschlandfunk.de, Daniel Bouhs, Audio: 5:21 Minuten)
Der Hessische Rundfunk befindet sich mitten in der Transformation. Das betrifft sowohl die Personalstruktur als auch die Inhalte und Ausspielwege. Es ist eine gewaltige Herausforderung, denn die Änderungen finden an vielen Stellen gleichzeitig statt, und die Corona-Krise verlangt dem Sender Weiteres ab. Daniel Bouhs hat sich die Reformanstrengungen näher angeschaut.

5. Konkurrenz mit Sonntags-Talks
(sueddeutsche.de)
Neulich lagen ARD und ZDF im Clinch wegen zeitgleich laufender Nachrichtensendungen, nun sollen parallel angesetzte Polit-Talkshows für Unmut sorgen. Spezial-Talkshowausgaben rund um das Coronavirus mit Maybrit Illner (ZDF) kollidierten mit dem festen Sendetermin ihrer ARD-Kollegin Anne Will.

6. Korrektur: Meldung zum Tod von Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger war falsch
(nzz.ch)
Die “Neue Zürcher Zeitung” (“NZZ”) ist offenbar auf einen berühmt-berüchtigten Twitter-Hoaxer hereingefallen, der sich als “Suhrkamp Verlag” ausgegeben und den angeblichen Tod des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger verkündet hatte.
Weiterer Lesehinweis: Felix Neumann hat mit dem Mann Kontakt aufgenommen, der sich als Politiker, Bischof und Künstler ausgebe: Tommasso Debenedetti – “Meisterfälscher” und Papst-Serienmörder (katholisch.de).
PS: Die “NZZ”-Redaktion wäre besser gefahren, wenn sie Neumanns 4 Strategien gegen Twitter-Fakes gelesen hätte, bevor sie die Falschnachricht ungeprüft weiterverbreitete. Ein Artikel für den digitalen Handwerkskoffer und die ewige Bookmarkliste.

Bild  

Der Unfall von Südtirol, die fehlende Korrektur und die “journalistische Aufrichtigkeit” der “Bild”-Zeitung

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute unter anderem Platz war:

  • “Schluck! DEUTSCHES BIER WIRD TEURER” — der größte deutsche Bierhersteller hebt die Preise für Fassbier an
  • die Gewinnquoten beim Lotto
  • einen Leserbrief zum möglicherweise drohenden Aus des “Tatort” mit Til Schweiger: “Bitte ARD, keinen Cent mehr für solchen Filmschrott ausgeben.”
  • Franz Josef Wagners Geschreibsel an Oliver Kahn
  • “IHR HOROSKOP” für den 8. Januar
  • “Die traurige Wahrheit” hinter der Liebe zwischen “Dianas Nichte” und einem “Mode-Millionär”
  • “Schluss mit Blond”: “TV-Star Christine Neubauer (57) färbt ihre Haare nicht mehr blond.”
  • die Kinder des dänischen Kronprinzenpaars “pauken jetzt in der Schweiz”
  • Sidos Ehefrau Charlotte Würdig will ihrem Mann helfen, von einer Nasenspray-Sucht wegzukommen
  • die “Playboy”-Fotos von Laura Müller, der Freundin des Wendlers
  • “Frau trocknet nasses Telefon in Mikrowelle”
  • “HITLER-DOUBLE WILL IN MÜNCHEN AUFTRETEN”
  • “Rentnerin hatte Granate als Deko”

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute kein Platz war:

  • eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion gestern auf ihrer Titelseite ein unvepixeltes Foto einer Frau gezeigt hat, die laut “Bild” bei einem Unfall in Südtirol ums Leben gekommen sein soll — die aber in Wirklichkeit überhaupt nichts mit dem Unfall zu tun hat, die nicht mal in Südtirol war und die vor allem: lebt.

“Bild”-Chef Julian Reichelt sagte mal über sich selbst:

Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.

Und Springer-Chef Mathias Döpfner lobte mal die angeblich so “tolle” Fehler-Kultur bei “Bild”:

Und was ich toll finde: Dass Julian Reichelt, wenn er Fehler macht, sich dafür entschuldigt und sofort Transparenz herstellt.

Die besten Hör-, Lese- und Sehtipps aus den Redaktionen

Das “6 vor 9”-Jahr nähert sich dem Ende, die Feiertage stehen vor der Tür. Für viele von Euch die Gelegenheit, sich mit einem guten Buch aufs Sofa zurückzuziehen, Podcasts zu hören oder den Streamingdienst der Wahl leer zu “bingen”. Das Angebot ist riesig, doch was lohnt? In dieser Ausgabe der “6 vor 9” geht es um die besten Hör-, Lese- und Sehtipps aus den Redaktionen. Wir wünschen viel Spaß und eine unterhaltsame und/oder erkenntnisreiche Zeit!

1. Die Redaktion empfiehlt: 17 Hör- und Lesetipps
(mediummagazin.de)
“Medium”, das Magazin für Journalistinnen und Journalisten, präsentiert zum Ende des Jahres 17 Hör- und Lesetipps. Im weitesten Sinne haben alle Empfehlungen etwas mit Medien zu tun, aber durchaus auf unterhaltsame Art und Weise. Der Blick auf die Zusammenstellung lohnt.

2. Hören, Sehen, Lesen – Tipps für die Feiertage
(deutschlandfunknova.de, Daniel Fiene & Sebastian Pähler, Audio: 41:05 Minuten)
Die “Was mit Medien”-Podcaster Daniel Fiene und Sebastian Pähler haben ein Dutzend Medienmacher und Medienmacherinnen nach ihren Empfehlungen für die Feiertage gefragt: “Welche Podcast-Episoden lohnen sich? Welche Zeitschrift sollte man mal durchblättern? Welche Streaming-Serie eignet sich zum Bingen zwischen den Jahren?” Interessante Tipps von interessanten Leuten.

3. Lesen, schmökern, wälzen und – lauschen
(tagesanzeiger.ch)
Das Ressort “Wissen” des Schweizer “Tagesanzeigers” empfiehlt 19 spannende Sachbücher. Die Themen sind breit gestreut: Von “mörderischen Bäumen und verheerenden Bränden” sowie den “Gesetzen der Physik als Gutenachtgeschichte” bis hin zum “Geheimnis der 100-Jährigen”.

4. Kinder- und Jugendbücher für den Gabentisch
(deutschlandfunk.de, Ute Wegmann & Dina Netz & Tanya Lieske & Jan Drees, Audio: 24:36 Minuten)
Welche Kinder- und Jugendbücher eignen sich für den Gabentisch? Das Redaktionsteam der “Bücher für junge Leser” hat auf den letzten Drücker noch ein paar Geschenktipps zu Weihnachten. Wer es nicht mehr schafft, sich die Sendung anzuhören: Auf der oben verlinkten Webseite sind die Buchtipps samt Mini-Rezensionen übersichtlich aufgelistet.
Weiterer Lesetipp: “Diese Kinderbücher empfehlen SPIEGEL-Redakteure”.

5. SJ-Podcast: Die besten neuen Serien 2019, Trends, Tipps und mehr
(serienjunkies.de, Audio: 1:31:29 Stunden)
Die “Serienjunkies” werfen in ihrem Podcast einen Blick auf die besten neuen Serien des vergangenen Jahres: “Was waren die neuen Top-Serien 2019? Welche Trends konnte man beobachten, was war besonders auffällig und wie wird es in der Welt der Serien weitergehen?”

6. Diese Filme lohnen sich bei Amazon und Netflix
(spiegel.de, Oliver Kaever)
An den Feiertagen und zwischen den Jahren kann man endlich guten Gewissens vor dem Fernseher oder Laptop abhängen und einen Film nach dem anderen weggucken. Oliver Kaever hat sich bei Netflix und Amazon Prime nach geeignetem Futter umgeschaut.
Weiterer Lesetipp: Das sind die schlimm-besten Weihnachtsfilme zum Streamen (jetzt.de, Lena Mändlen)
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7. Adventskalender 2019: Die Weihnachtsgeschichte, neu erzählt
(uebermedien.de, Lorenz Meyer)
Außer Konkurrenz, weil vom “6 vor 9”-Kurator selbst, der Hinweis auf den “Übermedien”-Adventskalender. Dort gibt es jeden Tag die Weihnachtsgeschichte aus der Sicht einer anderen Medienpersönlichkeit — von Mario Barth, Franz Josef Wagner, Udo Lindenberg, Ina Müller bis hin zu Gabor Steingart und Markus Lanz. Und wer einen guten Sachtext zum Journalismus lesen will, sei an unsere achtteilige BILDblog-Serie “Kleine Wissenschaft des Fehlers” von Ralf Heimann verwiesen. Gestern ging es dort zum Beispiel um das Zeugenproblem: Die Erinnerung ist eine Wikipedia-Seite.

“Bild”-Chef schafft “Weihnachten” ab

Wir wünschen entspannte und besinnliche Feiertage und ein erfolgreiches, gesundes Jahr 2020.

So lautet der Spruch in der Grußkarte von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.”, die die Medienjournalistin Ulrike Simon heute bei “Horizont” präsentiert. Aber fehlt da nicht was? Wo steckt denn “das wichtige Wort: Weihnachten”? Will Julian Reichelt, der als Chef der Chefredakteure für alle drei Blätter verantwortlich ist, etwa eines der zentralen christlichen Feste abschaffen?

Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert, wenn es für die “Bild”-Medien vor ziemlich genau einem Jahr nicht der Rede der Aufregung der Kampagne wert gewesen wäre, dass in einer Weihnachtskarte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz das aus “Bild”-Sicht “wichtige Wort: Weihnachten” fehlte.

Mehrere Tage versuchten sie bei “Bild” und Bild.de, Widmann-Mauz fertigzumachen und aus dem Amt zu schreiben:

Collage mit Screenshots von Bild.de und Ausrissen aus der Bild-Zeitung - Peinliche Karte aus dem Kanzeramt - Integrations-Beauftragte schafft Weihnachten ab - Die peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt - Integrationsbeauftragte drückt sich vor dem Wort Weihnachten - Kritik-Stum wegen beschämender Weihnachtskarte - Warum ist sie Integrationsministerin?

Filipp Piatov und Franz Solms-Laubach regten sich über die “peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt” auf. Solms-Laubach kommentierte zusätzlich: “Instinktloser Unsinn!” Briefonkel Franz Josef Wagner schrieb an die “Liebe Integrationsministerin”. Und die Redaktion ließ den selbst initiierten “Kritik-Sturm wegen beschämender Weihnachts-Karte” über Widmann-Mauz ziehen. Es war eine typische “Bild”-Kampagne, in der Julian Reichelt und sein Team aus purer Lust auf Krawall eine Kleinigkeit zum großen Skandal aufbliesen. Und für alle ganz Rechten, die das Abendland untergehen sehen, war es ein gefundenes Fressen für Hass und Hetze.

Ulrike Simon schreibt bei “Horizont”, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags das fehlende “Weihnachten” noch bemerkt haben sollen:

Glück gehabt, dass Bild den eigenen Faux-pas in diesem Jahr rechtzeitig erkannte. Pech, dass HORIZONT eine von mehreren tausend Karten vor dem Einstampfen retten konnte.

Mit Dank an Max für den Hinweis!

Boni trotz Job-Kahlschlag: Die Springer-Sauerei!

Mit dem geplanten Einstieg des US-Finanzinvestors Kohlberg Kravis Roberts (KKR) hat der Axel-Springer-Verlag massive Veränderungen im Unternehmen angekündigt. So sind Kosteneinsparungen von 50 Millionen Euro geplant, wie Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner erklärte, dafür sollen unter anderem Arbeitsplätze in Redaktion und Verlag gestrichen werden.

Für den Vorstand selbst scheint aber noch jede Menge Geld da zu sein. Unter der Überschrift “Üppige Vorstandsboni trotz Sparkurs” schreibt Markus Wiegand, Chefredakteur des Branchendienstes “Kress Pro”:

In den fünf Jahren zwischen 2014 und 2018 entlohnte Axel Springer seine Vorstände (inkl. Pensionszusagen) mit insgesamt 115,6 Millionen Euro. Noch nicht enthalten sind in der genannten Summe Bonuszahlungen über Aktienoptionsprogramme (im Fachjargon Long-Term Incentive Plan), die Springer aufgelegt hat. Die Auszahlung ist an eine Reihe von Bedingungen gekoppelt. Am wichtigsten ist der Anstieg der Marktkapitalisierung (also des Aktienkurses).

Da der Kurs der Aktie wegen des Angebots von KKR deutlich nach oben gegangen ist, hat Springer im Halbjahresfinanzbericht 39,4 Millionen Euro an Aufwand für Boni erfasst. 35,2 Millionen Euro davon für den Vorstand. Springer teilt dazu mit, dass nicht sicher sei, ob die Boni auch ausgezahlt werden. Angeblich gibt es keine Regelung dafür, was passiert, wenn die Springer-Aktie von der Börse genommen wird. Daher könnte dem Aufsichtsrat die Entscheidung zufallen, ob und wie die Vorstands-Boni zur Auszahlung kommen. (Der neunköpfige Aufsichtsrat übrigens wird mit 3 Millionen Euro jährlich nicht ganz so üppig entlohnt. (…))

“Man stelle sich allerdings nur kurz vor”, so Wiegand, “was die hauseigene ‘Bild’ über ein Management schreiben würde, das im nationalen Mediengeschäft Leute rauswirft, um 50 Millionen Euro zu sparen, und gleichzeitig schon mal eine ähnlich hohe Summe als Boni erfasst. Schön wär’s nicht.”

In der Tat. Und so viel Vorstellungskraft braucht es da auch gar nicht, immerhin hat sich “Bild” schon oft genug über genau diese Praxis bei Wirtschaftsunternehmen empört.

Als Ryanair vor Kurzem ankündigte, Arbeitsplätze zu streichen, schrieb “Bild” voller Entsetzen:

Sparmaßnahmen bei Piloten, Millionen für den Chef

Während die Ryanair-Piloten um ihre Jobs zittern müssen, könnte [Ryanair-Vorstandschef] O’Leary weitere Millionen einstreichen und sein geschätztes Vermögen (rund 1,1 Mrd. Euro) vergrößern. Mit hauchdünner Mehrheit (50,5 Prozent) stimmten die Aktionäre für ein Bonusprogramm, durch das der Ryanair-Chef über einen Zeitraum von fünf Jahren insgesamt rund 100 Millionen Euro zusätzlich kassieren könnte. Voraussetzung: die Verdoppelung der Margen oder des Aktienkurses.

Als die Deutsche Bank im vergangenen Jahr bekanntgab, Stellen abzubauen und trotzdem hohe Manager-Boni auszuschütten, schimpfte “Bild” auf …

Screenshot BILD.de: Die nimmersatten Bosse von der Deutschen Bank

… und suchte sich sofort ein paar Politiker, die entrüstete Zitate abgaben wie:

“Einerseits Arbeitsplatzabbau, andererseits goldene Nasen in der Führungsetage — das kann man niemandem erklären.”

Als bekannt wurde, dass VW plane, als Folge des Dieselskandals viele Arbeitsplätze abzubauen, seinen Bossen aber Boni in Millionenhöhe zu zahlen, wütete “Bild”: “Beschäftigte müssen gehen — doch die Bosse haben ihre Boni sicher.”

Screenshot BILD.de: VW streicht 30000 Jobs - Doch die Chefs sahnen kräftig ab!

Und der damalige stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Nikolaus Blome schrieb:

Screenshot BILD.de: Bosse kassieren Boni trotz Job-Kahlschlag - Die VW-Sauerei!

Rolf Kleine, damals Leitender Redakteur bei “Bild”, forderte:

Screenshot BILD.de: Streicht Euch die Boni!

Und Franz Josef Wagner schwurbelte:

Für mich ist der Boni-Streit der größte Skandal. Da wollen Vorstände einen Bonus — ein Zusatzgeld.

Wofür? Vorstände verdienen Millionen. Der kleine Mann bei VW bangt um seinen Job.

In dieser Situation sorgen Manager sich um ihre Boni. Was für Menschen sind das? Was macht Geld aus Menschen? (…)

Diese Manager sind so weit entfernt von unserem normalen Leben.

Geld ist für sie Liebe. Sie lieben das Geld mehr als Alles.

Ihr Vorstände von VW hättet auf alle Boni verzichten müssen, dann könnten wir miteinander reden.

Ob Wagner noch mit Döpfner redet?

Siehe auch:

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