Wenn 2016 starke Waldbrände in Spanien, in Frankreich, in Portugal, in Griechenland, auf Madeira und auf den Kanaren Menschenleben bedrohen, deren Häuser und Existenzgrundlagen zerstört werden, Personen in Krankenhäuser müssen, manche von ihnen sterben, dann titeln die Empathiker von Bild.de:
Wenn ein Jahr später in Griechenland, in Italien, in Kroatien, in Frankreich, in Portugal und in Montenegro ebenfallas verheerende Brände wüten, Menschen ums Leben kommen, andere alles verlieren, dann schreiben sie bei Bild.de:
Und wenn aktuell in der Türkei die Währung abrauscht, die Lira heftig an Wert verliert, die Leute weniger für ihr Geld bekommen, Läden dichtmachen müssen, Menschen Jobs verlieren, einige nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, dann fragen sie bei Bild.de:
Es gibt ihn noch. Ernst Elitz, vor eineinhalb Jahren von “Bild”-Chef Julian Reichelt als Ombudsmann eingesetzt, als Anwalt für die Leserinnen und Leser, ist noch immer im Amt. Nach wie vor scheint er sich eher als Anwalt der Redaktion zu sehen und verteidigt die “Bild”-Mediengegen kritische Zuschriftenaus der Leserschaft, aber manchmal findet selbst Elitz, dass “Bild” und/oder Bild.de was falsch gemacht haben. Vor gut zwei Wochen schrieb er:
Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch der Hinweis des Lesers Alexander Neu.
Die Sendung “Hart aber fair” hatte eine offizielle Kriminalstatistik über “tatverdächtige” Ausländer präsentiert. Der Leser kritisiert zu Recht, dass im BILD-Bericht über die Sendung der Eindruck erweckt wurde, es handle sich um eine Statistik bereits verurteilter Täter. Das war sie nicht!
Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.
Hört, hört!
Es ist aber schon etwas niedlich, dass jemand in “Bild” und bei Bild.de ernsthaft mahnt, man solle Tatverdächtige nicht als überführte Kriminelle darstellen; in den zwei Medien, die seit jeher wie keine anderen TatverdächtigealsüberführteKriminelledarstellen.
Das aktuellste Beispiel dieser redaktionellen Leidenschaft: Sami A.
Über den Tunesier wurde in den vergangenen Wochen viel geschrieben und diskutiert. Bei Bild.de unter anderem mit dieser Schlagzeile aus dem Juli:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Das Problem dabei: Sami A. ist kein Terrorist. Jedenfalls wurde er nie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Oder wie Ombudsmann Elitz sagen würde:
Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.
Die Berichterstattung der “Bild”-Redaktion zum Fall von Sami A., die man wohlwollend als schlampig und ungenau bezeichnen kann und weniger wohlwollend als böswillig falsch, ist gleich doppelt problematisch: Sie erklärt einen Mann zum Terroristen, der rechtlich gesehen keiner ist. Und vielleicht noch schlimmer: Sie hinterlässt bei der Leserschaft den falschen Eindruck, dass der Staat überlegt, einen verurteilten Terroristen nach Deutschland zurückzuholen. Die daraus resultierende (unberechtigte) Verachtung für Behörden und Gerichte kann man in den Facebook-Kommentaren zum “Terrorist”-Artikel bestens beobachten:
Bitte bitte nicht! Ein Terrorisrt und Mörder oll zurückgeholt werden! Seit ihr jetzt alle komplett durchgeknallt oder habt ihr schlechte Drogen erwischt!
Je mehr Verbrechen du als Migrant begehst und je mehr einer weltweit gejagt wird, desto mehr klammert sich dieser Staat an seine Terroristen.
Jeden Tag kann man sehen warum man Heute die AFD eigentlich schon wählen muss: Alle anderen Parteien hofieren Verbrecher und Terroristen.
Wie kommen andere Länder nur auf die Idee, Deutschland würde Terroristen willkommen heißen. Kann ich ja so gaaaar nicht nachvollziehen.
Das Theater signalisiert allen Terroristen auf der Welt — in D kannst du sicher und vollversorgt auf Kosten Anderer, deinen wohl verdienten Terror Lebensabend geniessen….
Überall wird Terrorismus bekämpft und in Deutschland holt man ihn sich rein….Ganz sauber im Oberstübchen sind wohl hier viele Amtsinhaber nicht mehr.
Jetzt kämpft das Gericht in Gelsenkirchen darum, das der arme Traumatisierte Terrorist sofort wieder an die Sozialtöpfe nach Deutschland zurückkehren kann. Dieser Irrsinn ist nicht mehr zu verstehen.
Natürlich versteht man als nur halbinformierter “Bild”-Leser die Welt und vor allem deutsche Behörden und Gerichte und die Regierung nicht mehr, wenn scheinbar ein Terrorist “jetzt zurück nach Deutschland” kommen soll, und kommentiert bei Facebook wütend drauf los. Dass diese Empörung auf falschen Tatsachen beruht, ist auch “Bild” zu verdanken.
Sami A. kommt 1997 als Student nach Deutschland. 2006 stellt er einen Asylantrag, der 2007 abgelehnt wird. 2010 entscheidet ein Verwaltungsgericht, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, weil ihm in Tunesien unter anderem Folter drohe. 2014 widerruft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dieses Abschiebungsverbot, weil in Tunesien ein Regimewechsel stattgefunden hat. 2016 entscheidet ein Verwaltungsgericht erneut, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, da ihm in Tunesien noch immer “mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” drohe. Ein Oberverwaltungsgericht bestätigt diese Entscheidung 2017. Am 13. Juli dieses Jahres wird Sami A. doch nach Tunesien abgeschoben, obwohl einen Tag zuvor ein Verwaltungsgericht erneut entschied, dass er dorthin nicht abgeschoben werden darf. Der Mann kam in Tunesien direkt ins Gefängnis. Nun wird diskutiert, ob Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Bei “Spiegel Online” gibt es eine detaillierte Chronologie.
Mittendrin in diesem Hin und Her, ab März 2006, gibt es Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Sami A. wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll um die Jahrtausendwende mehrere Monate im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan gewesen sein und dort eine militärische Ausbildung der Terrororganisation al-Qaida durchlaufen haben. Anschließend soll er zum Mitglied der Leibgarde Osama bin Ladens aufgestiegen sein. Sami A. bestreitet all das. Das Verfahren gegen ihn wird im Jahr 2007 eingestellt, da die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklageerhebung reichen.
Sami A. ist also kein verurteilter Terrorist. Ihm wurde auch nie von einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht nachgewiesen, Leibwächter Osama bin Ladens gewesen zu sein. Er ist laut Behörden ein islamistischer Gefährder.
Einen Mann, gegen den wegen Mordes ermittelt wird, kann man auch nicht einfach Mörder nennen, wenn die Ermittlungen mangels Beweisen eingestellt werden. Wer es trotzdem macht, hat nichts übrig für den Rechtsstaat und das Prinzip der Unschuldsvermutung. Und wer es so penetrant macht wie die “Bild”-Redaktion, gibt diese Justizverachtung an die eigene Leserschaft weiter.
Nur ein paar Beispiele:
“Bild” veröffentlichte auch eine Art Interview mit Sami A. “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer hatte dem Anwalt des Tunesiers Fragen mitgegeben. Sami A. antwortete unter anderen:
“Ich war nie Leibwächter von Osama bin Laden, das ist völlig frei erfunden. Ich war in Saudi-Arabien, Pakistan und Iran in meinem Leben, aber nie in Afghanistan. Auch hier in Tunesien wissen alle, dass diese Vorwürfe einfach nicht stimmen.”
Dass es doch so war, dass die “Bild”-Berichterstattung der vergangenen Wochen und Monate also nicht in einem wichtigen Punkt falsch war — dazu liefern “Bild” und Ronzheimer nicht einen Beweis.
Ende Juli gab es dann gleich zwei größere Überraschungen: Sami A. wurde in Tunesien aus der Haft entlassen, und Bild.de schrieb auf einmal:
Das Wort “mutmaßlicher” war aber wohl doch nur ein Ausrutscher. Kurz darauf ging es bei “Bild” und Bild.de mit der gewohnten Missachtung der Unschuldsvermutung weiter.
1. “So weit kann man gehen” (sueddeutsche.de, Kathleen Hildebrand)
In einer gemeinsamen Aktion verlassen alle acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der österreichischen “Vice” die Redaktion. Der Grund: Umstrukturierungen, die die “Vice”-Zentrale in Berlin für die Redaktionen in Deutschland, der Schweiz und Österreich plant. Im Interview mit der “SZ” erklärt Vize-Chefredakteurin Hanna Herbst, warum sich die Redakteurinnen und Redakteure nicht von Deutschland aus steuern lassen wollen.
Weiterer Lesehinweis: Bei “Meedia” kommt die “Vice”-Chefin zu Wort: Laura Himmelreich zum Vice-Exodus in Austria: “Möchte nicht Chefin von Leuten sein, die nicht zu meinem Team gehören wollen”
2. Neuanfang mit Schleudertrauma (deutschlandfunk.de, Nicole Markwald, Audio, 4 Minuten)
Die “Los Angeles Times” hat bewegte Zeiten hinter sich. Im “Deutschlandfunk” erzählt Redakteurin und Gewerkschafterin Carolina Miranda von den letzten Monaten: “Wir sahen Chefredakteure kommen und gehen, wir sind der Gewerkschaft beigetreten, wir bekamen einen neuen Eigentümer und dann sind wir auch noch umgezogen. Es fühlt sich wie ein Schleudertrauma an — wir freuen uns über einen neuen Besitzer, der Journalismus für wichtig hält, aber wir mussten uns auch nach fast einem Jahrhundert von unserem Zuhause verabschieden.” Eine spannende, in Teilen boulevardeske Geschichte, fast wie aus dem Netflix-Universum.
3. Was machen Zeitungen online besser als Radiosender? (radioszene.de, James Cridland)
Radio-“Futurologe” James Cridland ist unzufrieden mit den Websites der Radiosender, die sich oft auf einen Livestream ihres Hörangebots beschränken: “Ein Livestream ist eine feine Sache, und es gibt sicherlich ein Publikum dafür. Aber auch Zeitungen bieten auch längst mehr als die plumpe PDF-Version ihrer neuesten Ausgabe. Vielleicht sollten auch mehr Radiosender sich die Vorteile des Internets zunutze machen und mehr bieten als nur das Audio-Pendant einer PDF-Datei.”
4. 7 Gründe, weshalb “Markus Lanz” besser ist als sein Ruf (dwdl.de, Timo Neumeier)
Auf “DWDL” bricht Timo Neumeier eine Lanze für Markus Lanz und dessen Talkshow beim ZDF. Sendung und Moderator würden oftmals kritisiert, doch das Format sei seit zehn Jahren erfolgreich, und dafür gebe es gute Gründe.
5. Warum schwindet die größte Kolonie der Kaiserpinguine? Weshalb schaden Kopfbälle Frauen mehr als Männern? Science Media Newsreel No. 19 (30.07. bis 05.08.2018) (meta-magazin.org)
Wie kommt Wissenschaft in die Massenmedien? Welche Themen erfahren die größte mediale Aufmerksamkeit und wird zutreffend berichtet? Diesen Fragen geht das “Science Media Center” in seinem wöchentlichen Rückblick nach. Diesmal dabei: Eine Meldung aus dem Journal “Antarctic Science”, nach der die einst weltgrößte Königspinguin-Kolonie schrumpft, und die Erkenntnis aus dem Fachjournal “Radiology”, dass Kopfbälle bei Frauen größeren Schaden anrichten als bei Männern.
6. Ich bin jetzt auch auf Twitter, und es ist die Hölle (welt.de, Boris Pofalla)
Boris Pofalla hat sich vor ein paar Monaten mit einem Fantasienamen auf Twitter angemeldet und damit etwas geradezu Unvorstellbares für sich gewagt: “Ich war bei ICQ, AOL, Yahoo und bei Myspace, ich bin auf Instagram und auf Facebook, aber Twitter habe ich mir immer verkniffen. So wie ich es mir auch immer verkneife, mitzukommen, wenn bei einer Party mal wieder Leute zu dritt auf der Toilette verschwinden und ihnen vor lauter Fröhlichkeit danach die Augen aus dem Kopf zu laufen scheinen wie zwei zu weich gekochte Eier.“
Ein Rant, der mit der Erkenntnis schließt: “Der nächste Weltkrieg, da bin ich mir sicher, wird mit einem Tweet beginnen.”