Archiv für November, 2013

TF1, Tacloban, Sex im Amt

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Schmutzkampagne gegen Landrat”
(buergerblick.de)
Hintergründe zur gestrigen Titelschlagzeile “Bayerischer Landrat: Sex im Amt” der “Bild am Sonntag”, inklusive einer Stellungnahme des betreffenden Landrats.

2. “Lessons in life from the hell of Haiyan”
(blogs.afp.com, Agnes Bun, englisch)
Agnes Bun berichtet über die Verwüstungen durch Taifun Haiyan in Tacloban: “Often people asked me to film them in the mad hope that I would help them to pass on their personal messages. ‘Mother, I am alive,’ they would say in front of my camera. Of course, it was not possible for me to pass on dozens of desperate messages. But how could I get them to understand this? How could I refuse their pleading? How could I quash the only glimpse of hope that they could see amid this complete destruction? Impossible. So I complied — I filmed them, although I knew I would never use these images. They thanked me profusely. It broke my heart to be doing this. I felt guilty and weak. But I also saw that this sad charade seemed to really lift their spirits.”

3. “Hollande hué le 11 novembre : TF1 admet une erreur de manipulation”
(lemonde.fr, inklusive Video, 2:17 Minuten, französisch)
Der französische TV-Sender TF1 räumt ein, in einem Bericht des “Le journal de 20 heures” über den Besuch von Präsident François Hollande in Oyonnax Tonaufnahmen von Buhrufen versetzt zu haben: “Il s’agit ‘d’une erreur regrettable sans volonté de déformation de la réalité’, a ajouté Mme Nayl.”

4. “Nach 150 Jahren: US-Zeitung entschuldigt sich für Kritik an Lincoln”
(spiegel.de)
“The Patriot News” entschuldigen sich für einen 1863 publizierten Kommentar zur Gettysburg-Rede von Abraham Lincoln.

5. “Unsere Antwort an die ÖFB-Fußballer”
(österreich.at)
“Österreich” reagiert auf den offenen Brief des österreichischen Fußball-Nationalteams: “Wir verwahren uns ausdrücklich gegen den Vorwurf, Interviews abgedruckt zu haben, die nicht stattgefunden haben. Wir können belegen, dass jedes ÖSTERREICH-Interview auch geführt wurde, und meinen: Wenn man etwas behauptet, sollte man es auch konkret belegen können.”

6. “Beziehungsdrama im Vorderhaus – Der neue Serienkracher aus Deutschland”
(schleckysilberstein.com)

Tages-Anzeiger, Ismaning, Reddit

6 vor 9

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1. “Protestschreiben der Tagi-Redaktion zur Konvergenz”
(infosperber.ch, Kurt Marti)
121 Redakteure der Schweizer Tageszeitung “Tages-Anzeiger” wenden sich mit einem Protestschreiben (PDF-Datei) an Chefredaktion und Verlag. Bei den Bemühungen, die Print- und die Online-Redaktion zusammenzuführen, laufe einiges schief, was detailiert in fünf Punkten aufgelistet wird: “Das Tagesgeschäft ist nervös, klickgetrieben und damit auch anfällig für nicht hinterfragtes Mitwirken in boulevardesken Übertreibungen und Kampagnen. (…) Anderes als diese vermeintlichen Quotenbringer interessiert im Tagesgeschäft oft nur noch am Rande.” Eine Reaktion von Chefredakteur Res Strehle auf das Schreiben findet sich auf Kleinreport.ch.

2. “Ismaninger Online ist gescheitert”
(ismaninger.de, Mark Lubkowitz)
Aufgrund fehlender Werbeeinnahmen wird das hyperlokale Projekt “Ismaninger Online” nach zwei Jahren wieder eingestellt. “Nicht die vermeintlich geringe Reichweite ist das Problem, die passt. Die Relevanz ist es. Ein Medium, das nicht als relevant erachtet wird, findet auch keine Anzeigenkunden. So einfach ist das.”

3. “Ein Prozess auch gegen die Medien”
(cicero.de, Michael Götschenberg)
Nicht nur “Bild” betrieb eine Skandalisierung im Fall Christian Wulff, schreibt Michael Götschenberg: “Die gesamte Medienlandschaft beteiligte sich im Laufe der Affäre daran, das Bild vom Schnäppchenjäger, Trickser und Betrüger im Bellevue zu zeichnen. Alles, was sich skandalisieren ließ, wurde skandalisiert.”

4. “‘Du hast keine Kontrolle – und das ist gut so'”
(tageswoche.ch, David Bauer und Philipp Loser)
Ein Interview mit Erik Martin, dem Geschäftsführer von Reddit: “20 Millionen Mal wird gevotet pro Tag, wir haben pro Tag eine Million Kommentare. Und gleichzeitig sind unsere 200 Top-Subreddits nur für die Hälfte des gesamten Traffics verantwortlich.”

5. “‘Mein Berlin'”
(tvthek.orf.at, Video, 31:10 Minuten)
Hauptstadtjournalisten beantworten die Frage, was es bringt, Politikern zuzuschauen, wie sie kommentarlos an ihnen vorbeilaufen (ab Minute 2).

6. “Erste Ladung Facebook-Likes erreicht die Philippinen”
(dietagespresse.com)

Die privaten Fotos der NSU-Opfer

Die Veranstalter einer Ausstellung in Nürnberg sind gegen die Berichterstattung der “Bild”-Zeitung vorgegangen.

In der Ausstellung, die an die Opfer der NSU-Verbrechen erinnern soll, werden unter anderem Bilder aus den privaten Fotoalben der Familien gezeigt. Die Veranstalter haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht erlaubt sei, diese Aufnahmen abzufotografieren und zu veröffentlichen. Eine Genehmigung dafür könnten nur die Angehörigen der Mordopfer geben.

Die “Bild”-Zeitung hatte, wie uns die Veranstalter auf Anfrage mitteilten, keine solche Genehmigung — druckte die Fotos in ihrer Nürnberger Ausgabe aber trotzdem:Das private Fotoalbum der NSU-Opfer - Eine berührende Ausstellung zeigt, welche Leben die Killer-Nazis zerstört haben
Auch bei Bild.de werden die Bilder gezeigt:Das private Fotoalbum der NSU-Opfer - Diese Leben haben die Killer-Nazis zerstört - Eine berührende Ausstellung erinnert in Nürnberg an das, was wir niemals vergessen dürfen

[Bild.de zeigt sieben Fotos der NSU-Opfer.]
(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)

Die Abmahnung durch die Veranstalter blieb bislang ohne Erfolg: Der Artikel ist nach wie vor online.

Wir haben bei der Pressestelle der Axel Springer AG nachgefragt, warum die Fotos trotz fehlender Genehmigung veröffentlicht wurden. Sie teilte uns mit, dass sie sich grundsätzlich nicht zu “Redaktionsinterna” äußere.

Mit Dank an die Hinweisgeberin.

Österreich, Andreas Voßkuhle, Christian Wulff

6 vor 9

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1. “Offener Brief des österreichischen Fußball-Nationalteams an die Tageszeitung ‘Österreich'”
(oefb.at)
Das österreichische Fußball-Nationalteam schreibt in einem offenen Brief: “Die Fülle an schlecht bis gar nicht recherchierten Artikeln in der Tageszeitung ‘Österreich’, die häufig als ‘Exklusiv-Interviews’ bezeichneten Berichte, für die niemand von uns jemals interviewt worden ist, die reißerischen Texte, die nicht selten in Beleidigun­gen gipfeln (so wurde z. B. zuletzt unser Teamtrainer Marcel Koller als ‘Verräter’ bezeich­net, den man als ‘Packerl an die Schweizer schicken soll’) – wollen wir nicht mehr unkommentiert hinnehmen.”

2. “Journalimus darf sich nicht nur an Quote und Auflage orientieren”
(medienpolitik.net, Andreas Voßkuhle)
Zunehmend tauge jede kritische Äußerung eines Amtsträgers zur Nachricht, stellt der Präsident des Verfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, korrekt fest, wie diese Notiz beweist. “Da damit zugleich die Bereitschaft öffentlicher Amtsträger, inhaltliche Aussagen zu treffen, permanent abnimmt, befinden wir uns in einem circulus vitiosus: In Reaktion auf die Inhaltsleere vieler Äußerungen müssen zunehmend Aussagen, die eigentlich keinen Nachrichtenwert haben, zu Meldungen stilisiert werden.”

3. “Das konnte man als Drohung verstehen”
(faz.net, Julian Staib)
Eine Auseinandersetzung um die Entlassung von “zwei langjährigen freien Mitarbeitern der bulgarischen Redaktion” der Deutschen Welle.

4. “Bloggen: 10 gute Gründe, noch heute damit anzufangen”
(t3n.de, Timo Stoppacher)
“1. Die Öffentlichkeit weiß (spätestens) jetzt, was ein Blog ist. 2. WordPress: Die Standardsoftware zum Bloggen. 3. Lasst euer Blog lesen. 4. Verdient Geld mit dem Bloggen. 5. Keine Lust zu schreiben? 6. Mach ein E-Book draus. 7. Inspiration kommt von selbst oder von anderen. 8. Noch mehr Leser mit Blogparaden. 9. Von wegen keine langen Texte. 10. Nutzt die Schwarmintelligenz.”

5. “Die mit dem Wulff tanzten”
(zapp.blog.ndr.de, Steffen Grimberg)
Steffen Grimberg schreibt: “Falls es noch niemand bemerkt haben sollte: Der völlig grundlos zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff muss sich ab dieser Woche vor einem Gericht unserer Bananenrepublik verantworten, obwohl man die übrig gebliebenen Vorwürfe locker weglachen könnte.” Siehe dazu auch “Medialer Exzess: Wulff vor Gericht” (ndr.de, Video, 4:11 Minuten).

6. “Journalisten!”
(titanic-magazin.de)

Man sollte nicht die Hälfte weglassen

Der Chef der indischen Bundespolizei steht derzeit massiv in der Kritik. Auf einer Konferenz hatte er seine Haltung gegenüber Sportwetten zum Ausdruck bringen wollen: Diese sollten legalisiert werden, weil ein Verbot schwer durchzusetzen sei.

Seine Wortwahl war allerdings völlig daneben:

Wenn man das Verbot von Sportwetten nicht durchsetzen kann, ist es, als würde man sagen: “Wenn man eine Vergewaltigung nicht verhindern kann, sollte man sie genießen”.

(Übersetzung von uns.)

Ohne Frage ein wirklich dummer Vergleich.

Aber mit Dummheit kennen sich deutschsprachige Medien ja aus. Und so wurde aus dem Zitat heute das hier:

“Focus Online”:
Skandal-Aussage entsetzt indien - Indischer Polizei-Chef rät, Vergewaltigungen zu genießen

Augsburger-allgemeine.de:Polizeichef: "Vergewaltigung sollte man genießen"

Heute.at:Welle der Empörung in Indien - Polizeichef: "Man soll Vergewaltigung genießen"

Hna.de:Abscheulicher Kommentar von Polizeichef: "Vergewaltigungsopfer sollten es genießen"

Bild.de:INDISCHER POLIZEICHEF KOMPLETT IRRE - "Vergewaltigungen sollte man genießen"

20min.ch:INDIENS POLIZEICHEF - "Man sollte die Vergewaltigung genießen"

Welt.de:Indien - Polizeichef rät dazu, "Vergewaltigung zu genießen"

Kurier.at:Polizeichef rät: "Vergewaltigung genießen"

T-online.de:Empörung in Indien - Polizeichef empfiehlt: Vergewaltigun "ruhig genießen"

Dass damit die Aussage des Polizeichefs ziemlich verzerrt wird, hat bislang nur “RP Online” gemerkt – und die Überschrift transparent in “Polizeichef sorgt mit Vergewaltigungs-Vergleich für Proteste” umgeändert.

Mit Dank an Marc B.

Nachtrag, 19.45 Uhr: Bild.de, Welt.de, Hna.de und “Focus Online” haben ihre Überschriften geändert.

Nachtrag, 14. November: Bis auf Heute.at haben sich jetzt auch die anderen Medien mehr oder weniger korrigiert.

Gabor Steingart, Evgeny Morozov, Shoah

6 vor 9

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1. “Passauer Journalist im Visier der Fahnder”
(sueddeutsche.de, Wolfgang Wittl)
Journalist Hubert Denk erhält von der Kriminalpolizei Nürnberg eine Vorladung, in der von einer “Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes” sowie “Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses” geht. “Vorwurf: Womöglich habe Denk die Unterlagen aus Ermittlerkreisen aktiv angefordert – und sich somit strafbar gemacht. Es sei nicht einmal auszuschließen, dass Denk die brisanten Belege wie den Stoiber-Brief bei einer Fax-Übertragung abgefangen habe.”

2. “Journalistische Schikane oder Schikane von Journalisten?”
(investigativ.ch, Eveline Dudda)
Das Schweizer Bundesamt für Landwirtschaft will Journalistin Eveline Dudda keine Anfragen mehr beantworten: “Alles in allem startete ich innerhalb von elf Wochen fünf Anfragen beim BLW, zwei davon nur deshalb, weil die erste Antwort ausblieb. Es gibt Bundesämter, bei denen wäre das mit drei mal drei Mails erledigt: Drei mal eine Anfrage, dreimal einen Antwort, dreimal ein Dankeschön. Beim BLW wurde ein Hickhack mit Dutzenden Mails daraus.”

3. “Falsche Freunde: Wie gefährlich nah das ‘Handelsblatt’ seinen Anzeigenkunden kommt”
(newsroom.de, Markus Wiegand)
Wie der Konzern General Electric im “Handelsblatt” vorkommt: “Der Weltkonzern möchte auf dem deutschen Markt, in der Heimat des großen Rivalen Siemens, wachsen und besser in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Und dabei hilft ihm der ‘Handelsblatt’-Herausgeber Gabor Steingart persönlich.”

4. “Lebt eigentlich die HuffPo noch – und wenn ja, warum?”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Es gebe nur wenig Anlass, sich ernsthaft über die “Huffington Post Deutschland” zu unterhalten, glaubt Christian Jakubetz: “Die Substanzlosigkeit, das Fehlen jeglichen Esprits und einer Haltung, die etwas anderes ist als ein bemühtes ‘Wir sind neu und anders’, das alles, was man zu Beginn bemängeln konnte, hat sich nicht wirklich geändert.”

5. “Befreit uns von Morozov”
(de-bug.de, Sascha Kösch)
Der in deutschen Feuilletons omnipräsente Evgeny Morozov: “Nach circa 25 Seiten ‘Smarte neue Welt’ denkt man sich: Gut, ich habe jetzt wirklich verstanden, worum es dir geht. Komm zur Sache, Evgeny! In Kürze: Laut Morozov werde dem Internet ständig unterstellt, dass es eine Essenz habe, eine wesentliche Eigenschaft. Diese gedachte Essenz (Freiheit, Gleichheit etc.) führe dazu, dass man mit dem Internet die Probleme der Welt lösen will (solutionism), und behauptet, es wäre unveränderlich.”

6. “Shoah (1/2)”
(arte.tv, Video, insgesamt 566 Minuten)
Für den Dokumentarfilm Shoah von 1985 sprach Claude Lanzmann mit Zeitzeugen des Holocaust. Teil 2 hier.

Franz Josef Wagner, Jens Schröder, Fake

6 vor 9

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1. “Eine Reaktion auf Franz Josef Wagners offenen Brief an Edward Snowden”
(klauspolitik.de)
Klaus seziert die “Post von Wagner” an Edward Snowden.

2. “Hexenjagd in Hamburg”
(taz.de, Kai von Appen)
Die Polizei in Hamburg dementiert “Bild”-Berichte, “wonach ‘Links-Chaoten’ aus der autonomen Szene im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik des Hamburger SPD-Senats auf den Wohnsitz des Ersten Bürgermeister Olaf Scholz in Hamburg-Altona einen ‘Anschlag’ verüben wollten”.

3. “Der Herr der Zehntausend Fliegen: Gespräch mit Jens Schröder über virales Publizieren”
(gefaelltmir.sueddeutsche.de, Dirk von Gehlen)
Wie sähe ein Medium aus, das bei 10000Flies sehr erfolgreich wäre? Jens Schröder: “Es wäre wahrscheinlich ein Medium mit reißerischen Überschriften, das sich thematisch um Tierquälerei, Tierschutz und vermisste Kinder dreht – und es hätte ein großes Satireressort. Das würde in der Form natürlich sehr wahrscheinlich gar nicht funktionieren, aber diese Themen-Trends fallen mir immer wieder in den Charts auf.”

4. “The 5 Most Hilarious Corrections Newspapers Just Made”
(cracked.com, XJ Selman, englisch)
Fünf kürzlich vorgenommene Korrekturen in englischsprachigen Zeitungen.

5. “Fake, Teil 2”
(victoriahamburg.wordpress.com)
Victoria klärt die Existenz von “Kai” aus Münster, über den sie im Blogbeitrag “Fake” geschrieben hatte. “Machen wir es kurz und schmerzlos. Es handelt sich um eine deutsche Doktorin der Psychologie, die in den Staaten lebt.” Siehe dazu auch “Der Traum-Mann” (blog.neon.de, Tin Fischer).

6. “The Simple Answers To The Questions That Get Asked About Every New Technology”
(xkcd.com, englisch)

Sonne, Mond und Untergang des Abendlandes

Heute ist Martinstag. Mancherorts wird dieser Gedenktag schon etwas früher begangen, zum Beispiel in Hessen, genauer: in Bad Homburg. Dort sind die Kinder und Eltern einer Kita schon am Donnerstag mit ihren Laternen durch die Straßen gezogen. Dabei war im Grunde alles so wie immer. Bis auf die Tatsache, dass der Umzug diesmal von vielen Medien begleitet wurde — und von Polizisten.

Denn im Vorfeld des Umzuges hatte es eine heftige Diskussion und sogar Drohungen gegenüber den Kita-Mitarbeitern gegeben. Auslöser der Aufregung war ein Bericht in der “Taunus Zeitung”, dem Lokalteil der “Frankfurter Neuen Presse”.

Der verkündete am 30. Oktober:Mond und Sterne statt St. Martin - Homburger Kita benennt das Martinsfest um - Aus Rücksicht auf Mitglieder anderer Kulturkreise wird in der städtischen Kita Leimenkaut nicht mehr St. Martin, sondern das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" gefeiert. Dafür haben nicht alle Eltern Verständnis.
Der Autor beruft sich darin auf “etliche Eltern”, von denen aber nur ein Vater und eine Mutter zu Wort kommen, beide anonym. Der Vater sagt, es sei “irgendwie eine Durchmischung von Festen”. Und die Mutter behauptet, ihr sei gesagt worden, die Bezeichnung “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sei “politisch korrekter”.

Zwar wird auch der Stadtsprecher zitiert, der sagt, es gebe keinerlei religiöse Hintergründe für diese Bezeichnung, doch dem wurde offenbar keine große Bedeutung beigemessen. Nicht von der “Taunus Zeitung” — und erst recht nicht vom islamfeindlichen Hetzblog “Politically Incorrect”, das noch am selben Tag schrieb:
Bad Homburg: Kita benennt Martinsfest umOffenbar sind unsere Kultur und unser Brauchtum wirklich etwas Anstößiges, zumindest für alle Rechtgläubigen. Aber anstatt unsere Werte, unsere Feste und Sitten zu verteidigen und hochzuhalten, wird sich weggeduckt und in vorauseilendem Gehorsam alles aufgegeben, was bisher zu unserem Leben gehörte. Nun hat auch eine Kita in Bad Homburg ihren Beitrag zur Abschaffung Deutschlands geleistet.
Von “empörten Eltern” ist dann die Rede und von “Speichelleckerei auf Kosten unserer Traditionen und Werte” und davon, dass “nichts Christliches mehr stattfindet in unseren Kindertagesstätten, Schulen oder auch auf öffentlichen Plätzen”. Der Text endet mit den Kontaktdaten der Kita.

Unter dem Artikel brach innerhalb weniger Minuten ein Sturm der Entrüstung los. Über 150 Kommentatoren warnten vor der “Islamisierung” Deutschlands, forderten den “Widerstand der deutschen Eltern und Bürger” und warfen der Kita-Leitung (im Ernst!) Rassismus vor.

Einen Tag später griff “T-Online” den Fall auf:
"Politisch korrekter" - Kita benennt Sankt-Martin-Fest umIn der Bad Homburger Kita Leimenkaut (Hochtaunuskreis) wird nicht mehr St. Martin, sondern das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" gefeiert. Wie die Frankfurter Neue Presse (FNP) berichtet, geschieht das offenbar aus Rücksicht auf nicht-christliche Kulturkreise.
Die Kommentarfunktion wurde kurz darauf “wegen zahlreicher menschenverachtender Kommentare” geschlossen.

Was der “T-Online”-Bericht allerdings nicht erwähnt: Die Stadt hatte der Darstellung der “Taunus Zeitung” noch am Abend zuvor vehement widersprochen:
Stadt: Kita Leimenkaut feiert St. Martin - Bad Homburg v.d.Höhe. Die städtische Kindertagesstätte Leimenkaut feiert durchaus St. Martin. Darauf weist die Stadt in einer Pressemitteilung hin.
Darin heißt es, der Name des Festes sei, anders als von der Zeitung behauptet, “niemals offiziell geändert worden, auch wenn von Eltern und Beschäftigten umgangssprachlich ein anderer Name verwendet wird.” Dies gehe “auf ein vergangenes Martinsfest” zurück, “bei dem eine Suppe mit Sonnen, Monden und Sternen als Einlage ausgegeben worden war.”

Die Bezeichnung habe sich dann verselbstständigt und sei intern noch heute gebräuchlich:

Die Kindertagesstätte selbst kündigt den Termin intern unterschiedlich an, in einigen Jahren als St.-Martins-Fest, in diesem Jahr zum Beispiel als Sonne-Mond-und-Sterne-Fest in Verbindung mit einem Martinsfeuer.

Die Stadt teilt mit, weder die Kita-Leitung noch die Verwaltung habe gegenüber Eltern weltanschauliche Gründe für die Bezeichnung geltend gemacht. Es sind von keiner dieser Stellen Aussagen über eine “politisch korrekte” Namenswahl gemacht worden.

Schließlich hält die Stadt fest:

Die Kindertagesstätte Leimenkaut wird auch weiter St. Martin feiern – und wenn jemand das als “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” bezeichnen möchte, darf er das auch weiterhin tun.

Klingt nach einem versöhnlichen Ende, mit dem eigentlich alle zufrieden sein könnten. Aber nein — jetzt ging’s erst richtig los.

“Politically Incorrect” schoss nochmal nach und zeigte sich “in keinster Weise” überzeugt von den Argumenten der “rückgratlosen Gutmenschen”. Erneut stimmten die Kommentatoren wutschnaubend zu. Und erneut endete der Text mit der E-Mail-Adresse eines Stadt-Mitarbeiters — eine Masche, die genau das bewirkte, was sie bewirken sollte: Kita-Leitung und Stadt erhielten Hunderte von anonymen Mails, in denen die Verantwortlichen beleidigt und bedroht wurden: “Wir werden Eure Hütte verbrennen. Wir werden Euch niederschlagen”, zitierte der Sozialdezernent später daraus.

Inzwischen hatten auch andere Medien Wind von der Sache bekommen. Und obwohl viele von ihnen auch auf die Stellungnahme der Stadt eingingen, wurde in den meisten Überschriften und Anreißern trotzdem suggeriert, die Kita hätte das Fest offiziell umbenannt oder gar abgeschafft:

“Focus Online”:
"Sonne, Mond und Sterne"-Fest - Kita benennt Sankt-Martins-Fest um - In Bad Homburg heißt das Sankt-Martins-Fest nicht mehr wie früher. Eine städtische Kita feiert lieber das "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest". Angeblich sollte sich niemand diskriminiert fühlen.

“Junge Freiheit”:
Bad Homburger Kita benennt Sankt-Martin-Fest um

“Berliner Kurier” und “Hamburger Morgenpost”:

Deutsche Kita schafft Sankt Martin ab

Handelsblatt.com:Kuriose Umbenennung - Aus Sankt Martin mache Sonne-Mond-und-Sterne-Fest

“Express”:

Kita schafft Sankt Martin ab

FAZ.net:
Bad Homburg - Kindergarten wegen Umbenennung des Martins-Fest bedroht - Weil in einem Kindergarten in Bad Homburg vor Jahren zum Martinsfest Sonne-, Mond- und Sterne-Nudeln gereicht wurden, soll das traditionelle Fest nun anders heißen. Den Kita-Mitarbeiter wird seitdem Gewalt angedroht.

Bild.de:
WEIL ES ANGEBLICH DISKRIMINIEREND IST - Kita will St. Martin abschaffen

Ksta.de:
MARTINS-FEST UMBENANNT - Kita-Mitarbeiter mit Gewalt bedroht - Ein städtischer Kindergarten im hessischen Bad Homburg hat das Sankt-Martins-Fest in Sonne-Mond-und-Sterne-Fest umbenannt. Jetzt werden Kita-Mitarbeiter mit Gewalt bedroht, nachdem ein rechter Blog das Thema aufgegriffen hatte.

Jene Leute, die beim Streifzug durch die Medien nur die Überschriften und Teaser lesen (und das sind erfahrungsgemäß nicht gerade wenige), mussten also davon ausgehen, dass die Kita das Fest tatsächlich offiziell umbenannt hat. Darunter auch einige Journalisten, die selbst mehrere Tage nach der Stellungnahme der Stadt in ihren Artikeln ohne jede Einschränkung behaupteten, die Kita feiere aus Gründen der politischen Korrektheit “statt Sankt Martin ein ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest'”.

Die Folge: Auch von den Lesern der seriösen Medien wurde die Kita in unzähligen Kommentaren und Leserbriefen attackiert — oder aber in Stellungnahmen von Politikern, die plötzlich überall auftauchten. So bezeichnete ein CDU-Politiker es als “absoluten Unsinn”, dass die Kita den St. Martinsumzug “nur noch ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest’ nennen” wolle. Das sei “mehr als eine Farce” und eine “hirnrissige Idee” und so weiter. Ein weiterer CDU-Mann warf der Stadt vor, den Vorfall “herunterzuspielen” und bescheinigte den “Wortschöpfern” ein “zerrüttetes Verhältnis zu Glaube und christlicher Tradition”.

Die “Taunus Zeitung” beharrte weiter auf ihrer ursprünglichen Darstellung und schrieb von einem “fragwürdigen Auftritt” des Stadtrats Dieter Kraft (Grüne), der bei einer “emotionalen Ansprache” einen “Journalisten der Taunus Zeitung öffentlich an den Pranger” gestellt habe. Die Suppen-Geschichte wollen die Journalisten der “Taunus Zeitung” der Stadt einfach nicht glauben — auch nicht die Alternativversion, wonach der Name “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sich auf das bekannte Kinderlied “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne” beziehe. Andererseits bleibt der einzige Beleg für die Theorie, dass die Kita dem Fest aus politischer Korrektheit einen neuen Namen geben wollte, weiterhin nur die anonyme Behauptung einer einzelnen Mutter.

Wessen Version nun stimmt, lässt sich wohl nicht abschließend klären. Der Laternen-Umzug der Kita hat jedenfalls vor ein paar Tagen wie geplant stattgefunden — inklusive Medienrummel und Polizeischutz. Zum Glück blieb alles friedlich.

Dieser Fall erinnert ein wenig an die Geschichte, in der es vor zwei Monaten hieß, Berlin-Kreuzberg wolle Weihnachten verbieten: Damals erzählten die Zeitungen nur die halbe Wahrheit, die Politiker polterten gleich los, und die rechte Ecke hatte genug Stoff, um “Christenhasser!” zu schreien und Stimmung gegen Ausländer zu machen.

Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, täten Journalisten, Politiker, Kirchenvertreter und Leser also gut daran, sich bei solchen Debatten in Zukunft gründlich zu informieren — und vielleicht einfach mal ein bisschen entspannt zu bleiben. So wie die Eltern, deren Leserbrief die “Taunus Zeitung” einen Tag vor dem Laternen-Umzug der Bad Homburger Kita abgedruckt hat:

Wir feiern in dieser Woche mit der Kita Leimenkaut und hoffentlich allen Kindern wie geplant – und nebenbei wie in jedem Jahr seit unsere Kinder die Einrichtung besuchen – Sankt Martin mit den dazugehörigen Liedern, Laternenumzug, Martinsfeuer, aber ohne Pferd, denn das erlaubt die Versicherung nicht. Welchen Titel die Veranstaltung dabei trägt, spielt keine Rolle und ändert am Inhalt nichts. Und am Abend essen wir eine gute selbstgemachte Suppe, vielleicht sogar mit Nudeln in Form von Sonnen, Monden und Sternen, denn das mögen unsere Kinder gerne.

Mit Dank auch an Thomas, Kevin S., Erik G. und Johnny K.

Fische, Frost, Grindelwald

6 vor 9

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1. “Tote Fische in den Briefkästen von ‘Blick’-Journalisten”
(tagesanzeiger.ch, Stefan Hohler)
Ein Student war vor dem Bezirksgericht Zürich angeklagt, er habe eine Hetzkampagne gegen vier “Blick”-Journalisten mitveranstaltet. “Laut Anklageschrift soll der Schweizer die Journalisten ‘durch schwere Drohung in Schrecken oder Angst versetzt haben’. Dies gilt vor allem für den Journalisten, der als ‘stadtbekannter Kinderschänder’ tituliert wurde. Der Mann habe sich zu Tode gefürchtet und sei deswegen für zwei Wochen in die Ferien gefahren.” Inzwischen wurde der Angeklagte verurteilt, siehe dazu “26-jähriger FCZ-Fan verurteilt” (nzz.ch, Michael Baumann).

2. “Mit dem Zweihänder gegen eine Unbequeme”
(oeffentlichkeitsgesetz.ch, Martin Stoll)
Der Pressesprecher des Schweizer Bundesamts für Landwirtschaft will der Journalistin Eveline Dudda keine Fragen mehr beantworten, sie solle sich zukünftig “direkt an den Rechtsdienst des BLW richten”. “Dass die Landwirtschaftsbeamten Dudda als Spezialfall behandeln, hat einen einfachen Grund. Journalistin Dudda ist in der Schweizer Landwirtschaftspresse eine der wenigen, die hartnäckig nachfragt.”

3. “Huffington Post: So schauen die ersten Daten zum Traffic aus”
(youdaz.com, Andreas Grieß)
Mehr als vergleichbare Portale erhält die “Huffington Post” ihre Leser über Links, glaubt Andreas Grieß: “Dieser Wert spricht aber nicht dafür, dass huffingtonpost.de im Netz fleißig verlinkt wird, sondern offenbart viel mehr, dass die Seite extrem abhängig von anderen ist. Genauer gesagt: von zwei anderen Seiten, wie ein Blick auf die Top-Referrer zeigt. Mit großem Abstand sind hier nämlich AOL.de und Focus.de zu finden.”

4. “Kachelmann-Wetter: Wochenende, Winter, Gefahr durch Scheibenkratzen und fiese Friede”
(youtube.com, Video, 4:26 Minuten)
Jörg Kachelmann liest den “Bild”-Artikel “Regen! Schnee! Frost! Das Restjahr im Wetter-Check” (ab 4:15 Minuten).

5. “Grindelwald”
(begleitschreiben.net, Lothar Struck)
Lothar Struck schreibt über seinen vor 100 Jahren geborenen Vater.

6. “An Opinion Piece On A Controversial Topic”
(junkee.com, Edward Sharp-Paul, englisch)

Lügen haben dicke Beine

Bild.de schreibt seit gestern Abend:

Gesundheitspolitiker fordern: Straf-Steuer für Dicke!

… und in der Bildunterschrift heißt es:

Übergewichtige sollen nach Auffassung von Gesundheitspolitikern zukünftig eine Strafsteuer zahlen

Im Text wird dann aber schnell klar, dass die Politiker in Wahrheit lediglich vorgeschlagen haben, eine Zusatzsteuer auf besonders fetthaltige und zuckerreiche Nahrungsmittel einzuführen. Und die müssten logischerweise nicht nur Übergewichtige, sondern alle Menschen zahlen.

Merke: Nicht immer ist das drin, was draufsteht — und das gilt nicht nur für Fast Food.

Mit Dank an Jonas L., Patrick G. und Daniel M.

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