Archiv fü 2012

dpa  etc.

Eine Interpretationsagentur macht Nachrichten

Es war eine düstere Warnung, die am vergangenen Mittwoch Schlagzeilen machte. Eine Gruppe von 17 europäischen Ökonomen hatte am Tag zuvor in einem Gutachten gewarnt: “Europa steuert schlafwandelnd auf eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen zu.”

Die Agentur dpa berichtete über das Papier, das der Rat des “Institute for New Economic Thinking” veröffentlicht hatte, den ganzen Tag über in immer neuen Meldungen. Jedesmal schrieb sie dabei auch über die Position der Wissenschaftler:

Eine langfristige Transferunion lehnen sie dagegen ebenso ab wie Eurobonds.

Die Formulierung findet sich in minimalen Varianten in sieben dpa-Meldungen, die zwischen 3:15 Uhr morgens und 16:52 am späten Nachmittag veröffentlicht wurden. Das Problem ist nur: Die Aussage findet sich nicht in dem Papier, in dem sie angeblich stehen soll.

Dort heißt es:

“As far as the long-term vision is concerned, we do not believe that euro zone bonds, or a full fiscal union, are necessary to ensure a functioning economic and monetary union. (…) While many Council members believe that further fiscal and political integration In Europe is desirable, we do no[t] believe that they are necessary to make an economic system with a single currency viable.”

Es ist also keineswegs die Rede davon, dass die Unterzeichner eine langfristige Transferunion und Eurobonds “ablehnen”, sondern bloß, dass beides “nicht notwendig” sei, um das Funktionieren der Währungsunion zu gewährleisten.

Eine “Ablehnung” wäre von dem Rat auch nicht zu erwarten gewesen, denn zu seinen Mitgliedern gehören mehrere ausgesprochene Befürworter von Eurobonds wie der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Er bestätigt uns auf Anfrage, dass die Formulierung von dpa falsch ist. Unter den Autoren des Papiers herrsche keine Übereinstimmung darüber, ob die Einführung von Eurobonds wünschenswert sei; deshalb hätten sie sich auf die Kompromiss-Formulierung geeinigt, sie sei jedenfalls “nicht notwendig”. Das Papier weise ausdrücklich darauf hin, dass sich “einige Mitglieder” für dauerhafte Eurobonds aussprechen. Er zähle sich auch dazu. Außerdem spreche sich das Papier für eine temporäre Gemeinschaftshaftung in Form des Schuldentilgungspaktes aus.

Wenn in dem Text also nicht steht, dass die Wissenschaftler Eurobonds ablehnen, warum behauptet die dpa das? (Die Agentur betonte in ihren Meldungen, dass ihr das Papier vorliege; es war zu diesem Zeitpunkt eh längst im Internet veröffentlicht.)

Auf unsere Anfrage räumt dpa-Nachrichtenchefin Iris Mayer ein, dass es sich bei der Formulierung um “eine Interpretation unsererseits” handle. Die Darstellung sei “sprachlich verkürzt, inhaltlich finden wir sie aber durchaus angemessen”:

Durch das gesamte Gutachten der Ökonomen zieht sich als Grundtenor die Ablehnung einer langfristigen Transferunion, sie wird als nicht notwendig bezeichnet, im Begleitschreiben heißt es zusätzlich zur Begründung, sie würde falsche Anreize setzen.

(…) Da es sich bei dieser Position um die von Wissenschaftlern handelt, wäre es sicher besser gewesen, sprachlich neutral mit “halten für nicht notwendig” zu formulieren, anstatt dem politisch einordnenden Reflex “lehnen ab” zu unterliegen. Mit genau diesem Reflex hätten wir im übrigen eine Äußerung von Merkel “halte Eurobonds nicht für notwendig” sehr wahrscheinlich verkürzt mit “Merkel hat Eurobonds erneut abgelehnt” dargestellt.

Merkel ist aber auch bekanntermaßen eine Gegnerin von Eurobonds. Mehrere Autoren des Papiers konnten Eurobonds schon deshalb nicht “erneut” ablehnen, weil sie sie gar nicht ablehnen.

Wäre es also nur “besser gewesen”, wenn die Nachrichtenagentur den Inhalt des Gutachtens richtig wiedergegeben hätte? Oder schlicht notwendig — angesichts der Tatsache, dass sich bekannte und erklärte Befürworter von Eurobonds unter den Autoren befinden und ihr Papier, anders als dpa behauptet, eben keine klare Ablehnung von Eurobonds enthält?

Was die Nachrichtenagentur dpa meldet, wird schnell zur Tatsache. Ihre Meldungen mit der Aussage, die 17 Ökonomen “lehnen eine langfristige Transferunion ebenso ab wie Eurobonds” fanden sich u.a. in FAZ.net, “Zeit Online”, “Focus Online”, n-tv.de, stern.de, morgenpost.de, diepresse.com, “Handelsblatt”, ftd.de.

Die spezielle dpa-Behauptung übernahmen aber auch Medien in ihren (vermeintlich) eigenen Berichten, so etwa die “Rheinische Post”, “Frankfurter Neue Presse” und “Kölner Express”.

Selbst die renommierte und als Wirtschafts-Autorität geltende “Frankfurter Allgemeine Zeitung” machte sich offenbar nicht die Mühe, das Originaldokument zu lesen, verließ sich auf die dpa-Zusammenfassung und stolperte nicht darüber, dass eine “Ablehnung” angesichts der beteiligten Personen sehr überraschend gewesen wäre. In der FAZ erschien am Donnerstag ein Zeitungsartikel, der mit dem Kürzel eines Wirtschaftsredakteurs versehen war, und in dem es hieß:

Eine langfristige Transferunion lehnen die Ökonomen dagegen ebenso ab wie Eurobonds. Diese Positionen decken sich mit denen der deutschen Regierung.

Der zweite Satz zeigt, welche Kreise die dpa-Formulierung inzwischen gezogen hatte. Die Bundesregierung hatte nämlich zwischenzeitlich Stellung genommen zu dem Papier der 17 Ökonomen. Wiederum dpa gab die Aussagen des stellvertretenden Regierungssprechers Georg Streiter so wieder:

Streiter betonte, viele der Expertenpositionen deckten sich mit denen der Regierung, etwa die Ablehnung von Eurobonds oder einer langfristigen Transferunion.

Auf dem Umweg über die Antwort der Regierung fand die dpa-Interpretation sogar Einzug in den Dienst der Nachrichtenagentur Reuters, die am Mittwochmittag nun ebenfalls meldete:

Die Bundesregierung folgt zwar ausdrücklich die dramatischen Lagebeurteilung der Ökonomen nicht, sieht Übereinstimmung bei einigen Vorschlägen der Wissenschafter. Das gelte etwa in Hinblick auf die Ablehnung einer langfristigen Transferunion im Währungsraum und von Euro-Bonds.

Das war in der indirekten Rede womöglich noch korrekt, wenn auch irreführend. Anders als die Meldungen der Konkurrenz von AFP, die über die 17 Wissenschaftler und ihr Papier am Mittwochnachmittag dann ebenfalls schrieb:

Zugleich sprachen sie sich gegen eine Transferunion und gemeinsame Staatsanleihen aus.

Die dpa-“Interpretation” dieses Teils des Gutachtens hat in der öffentlichen Darstellung in den deutschen Medien seinen tatsächlichen Inhalt fast vollständig verdrängt.

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Die dümmste anzunehmende Verwechslung (2)

Im März wurde in Emden ein elfjähriges Mädchen ermordet und vergewaltigt. Die Polizei verhaftete zunächst einen 17-jährigen Tatverdächtigen, der von den Medien als Täter präsentiert wurde. Über Facebook organisierte sich ein Mob vor der Polizeiwache, der den 17-Jährigen lynchen wollte. Dann stellte sich der junge Mann als unschuldig heraus (BILDblog berichtete mehrfach).

Kurz darauf wurde ein 18-Jähriger verhaftet, der die Tat gestand. Nun hat die Staatsanwaltschaft Aurich Anklage erhoben.

“Bild” berichtete gestern darüber in der Bremer Regionalausgabe:

Anklage im Mordfall Lena (†11). David H. (18) versteckt sich bei seiner Verhaftung im April unter einem Sweatshirt.

Bei der Auswahl des Fotos machte die Zeitung den dümmsten anzunehmenden Fehler: Das Bild zeigt nicht den mutmaßlichen Täter, sondern den unschuldigen, ursprünglichen Tatverdächtigen.

Mit Dank an Horst-Schantalle.

Nachtrag, 30. Juli: Bild.de hat das Foto ersetzt.

Politische Korrektheit, Hugh Hefner, Rollator

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Warum Islamisten keine Pyramiden sprengen”
(theeuropean.de, Martin Eiermann)
Martin Eiermann thematisiert eine Falschmeldung aus Ägypten: “Islamisten, so konnte man lesen, wollten die ägyptischen Pyramiden sprengen, diese heidnischen Monumente, genauso wie auch bereits die afghanischen Buddha-Statuen von den Taliban in die Luft geblasen wurden.”

2. “Schießen Sie nicht auf den Pappkameraden”
(freitag.de, Matthias Dell und Marc Fabian Erdl)
Eine Untersuchung der Politischen Korrektheit: “Vor 1990 sucht man den Begriff ‘Politische Korrektheit’ in Pressedatenbanken vergeblich. Das Ergebnis ist: null. Im Laufe des Jahres 1990 ändert sich das, und Anfang der neunziger Jahre steigt die Verbreitung rasant, ‘PC’ ist der Darling der Debatten dieser Zeit. Der adjektivische Gebrauch ist schon etwas früher belegt, affirmiert wird die Wendung aber auch da nie.”

3. “Dichtung und Wahrheit”
(tagesspiegel.de, Markus Ehrenberg)
Was Heribert Prantl aus der Küche von Andreas Voßkuhle zu berichten weiß.

4. “How journalists can do a better job of correcting errors on social media”
(poynter.org, Craig Silverman, englisch)
Craig Silverman erinnert an das Jahr 1972: “That’s the year The New York Times decided to start publishing all corrections on page A2, using the same style of language and headlines. That was a moment when a lot of American newspapers started to do the same, rather than scatter corrections throughout their editions. This helped standardize corrections.”

5. “‘Der Staat hat im Schlafzimmer nichts verloren'”
(zeit.de, Jessica Braun)
Ein Interview mit Hugh Hefner, Gründer und Chefredakteur des Playboy: “Ich glaube, was Photoshop im Playboy angeht, herrscht eine falsche Wahrnehmung. Wir bearbeiten die Bilder für die US-Ausgabe nur sehr wenig – viel weniger zum Beispiel als Modemagazine oder Frauenzeitschriften es tun.”

6. “Rentner verliert Kontrolle über Rollator und rast in Menschenmenge”
(der-postillon.com)
“Obwohl glücklicherweise niemand ernsthaft verletzt wurde, entbrennt nun einmal mehr die Diskussion, ob Rollatoren überhaupt sicher sind.”

Enthüllungen unter der Dusche

In Vereinen, wo der Sport bekanntlich am Schönsten ist, gibt es viele merkwürdige Traditionen und Regeln. Dazu zählt etwa die sogenannte Mannschaftskasse, in die die Mitglieder unterschiedlich hohe Geldbeträge einzahlen, wenn sie gegen bestimmte Verhaltensregeln verstoßen haben.

Auch der Fußballbundesligist FC Augsburg hat eine solche Mannschaftskasse mit entsprechendem Strafenkatalog, den sportbild.de gestern “enthüllte”:

In die Dusche urinieren = 50 Euro. Enthüllt! Der Strafenkatalog des FC Augsburg

Echte Fans des FC Augsburg werden von diesen Enthüllungen (“Wer ungeduscht auf die Massagebank oder ins Entmüdungsbecken geht, zahlt je 50 Euro”) allerdings wenig überrascht gewesen sein: Die “Augsburger Allgemeine” hatte schon zwei Wochen vorher über den Strafenkatalog des FCA berichtet, der der Redaktion damals schon “vorlag”.

In diesem Zusammenhang kam es auch zu dieser grandiosen Kombination von Überschrift, Symbolfoto und Bildunterschrift:

Strafenkatalog: 50 Euro fürs Pinkeln unter der Dusche. Der Strafenkatalog des FC Augsburg bietet allerhand zur Belustigung. Ein Auszug. Schon klar: Das sind weder Spieler des FC Augsburg, noch die Dusche des FCA. Aber finden Sie mal ein Bild zu dieser Überschrift ... So haben Sie wenigstens noch etwas für die Augen bekommen. Ist doch auch nicht schlecht.

Mit Dank an Matthias M.

Verifikation, Chris Köver, Herdentrieb

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. ” Amok-Lauf: US-Berichterstattung”
(ndr.de, Video, 5:13 Minuten)
Die Berichterstattung von US-TV-Sendern über den Anschlag von Aurora: “Nicht wissen, aber berichten – es könnte ja stimmen.”

2. “Wie ARD, BBC und CNN Inhalte aus dem Social Web verifizieren”
(konradweber.ch)
Konrad Weber vergleicht Verifikationsprozesse verschiedener Medienhäuser: “Während einige der grossen anglo-amerikanischen Medienhäuser bereits ganze Teams mit der Verifikation von Social Media-Inhalten beauftragen, ziehen die Medieninstitutionen im deutschsprachigen Raum erst langsam nach.”

3. “Keine Bewegung!”
(rp-online.de, Sebastian Dalkowski)
Sebastian Dalkowski besucht einen Medientermin des Fußballvereins Borussia Mönchengladbach.

4. “Die aufgewärmte Frauenpower der ZEIT”
(comicgate.de, Marc-Oliver Frisch)
Ein Vergleich zwischen einem Artikel in der FAZ (von Oliver Ristau am 24. März) und einem in der “Zeit” (von Chris Köver am 19. Juli), inklusive Statements der Verfasser.

5. “Herdentrieb”
(medienspiegel.ch, Pia Horlacher)
Wie kommt es, fragt Pia Horlacher, dass wir “hundertmal das Gleiche in hundert gleichen Meinungen lesen und hören”? “Vielleicht liegt’s ja nicht nur an der Angst, den Mainstream zu verlassen, wo einer etwas vorsagt (oft genug die Spindoktoren der dazugehörigen, riesigen Vermarktungs-Maschinerie) und viele hinterher schreiben. Manchmal ist es wohl einfach nur der Mangel an kritischer Kompetenz, der in den gegenwärtigen Medienstrukturen nicht mehr erworben und nicht mehr ausgebildet werden kann. ”

6. “dahinter steckt manchmal auch ne doofe zeitung”
(belauscht.de, Thorsten)

Milchmädchen verlieren mehr Geld

Statt auf “Pleite-Griechen” einzudreschen, befasste Bild.de sich gestern zur Abwechslung einmal mit den Folgen einer möglichen “Griechen-Pleite”. Dabei wurde unter anderem folgende Rechnung angestellt:

• Wie viel Geld verliert Deutschland bei einer Griechen-Pleite?
Aus Deutschland sind bislang nach Berechnungen des ifo-Instituts 50,4 Mrd. Euro nach Griechenland geflossen – das Geld wäre weg. Hinzu kommen 27 Mrd. Euro, mit denen Griechenland bei der Europäischen Zentralbank in der Kreide steht – für die haftet Deutschland teilweise. Macht zusammen 119,7 Milliarden Euro!

Die 50,4 Milliarden Euro tauchen tatsächlich in einer aktuellen Berechnung des ifo-Instituts (pdf, Summe der Posten 1 bis 5) auf. Das gleiche gilt für die 27 Milliarden Euro (Posten 6). Wie jedoch die Summe aus 50,4 Milliarden und 27 Milliarden stolze 119,7 Milliarden Euro betragen kann, das wissen wohl nur die Milchmädchen.

Das ifo-Institut jedenfalls kommt – je nachdem ob Griechenland in der Eurozone verbleibt oder nicht – auf 88,7 bzw. 82,2 Milliarden Euro. Und so steht es heute auch in “Bild” sowie in einer Agenturmeldung auf Bild.de.

Mit Dank an Katrin H.

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Bis sich die Balken biegen (4)

Das Dr.-Sommer-Team hat es immer schon gewusst: “Sechs ist nicht immer gleich!”

Im Balkendiagramm, das “Bild” auf Grundlage eines “INSA-Meinungstrends” erstellt hat, ist das jetzt erstmals grafisch festgehalten:

Mit Dank an die vielen andern Hinweisgeber.

Nachtrag, 22.25 Uhr: Auf Bild.de ist die Grafik inzwischen korrigiert — offenbar sogar schon kurz bevor wir unseren Artikel freigeschaltet hatten.

Abwärts

Die “Bild”-Zeitung, größte deutsche Tageszeitung, hat ihren Auflagenrückgang gestoppt. (…) Ulrike Fröhling von der “Bild”-Verlagsgeschäftsführung führte die aktuelle Entwicklung am Dienstag auf die Veränderungen bei dem Blatt seit dem Wechsel in der Chefredaktion zurück. Neuer Chefredakteur von “Bild” ist seit Anfang des Jahres Kai Diekmann (…).

dpa, 17. April 2001

Der Jubel hielt nicht lange an. Und als es mit der Auflage der “Bild”-Zeitung kurz danach wieder bergab ging, sollte es nicht mehr am Chefredakteur liegen.

Im April 2002 hatte Kai Diekmann noch eine originelle Erklärung dafür, warum deutlich weniger Leute die “Bild”-Zeitung kauften. Der “Tagesspiegel” gab sie damals so wieder:

Seien früher die Leute morgens zum Kiosk gegangen, hätten eine Mark für “Bild” hingelegt und automatisch vom Verkäufer den vorbereiteten Groschen rübergeschoben bekommen, würden sie nun auf der Suche nach Münzen im Portmonee fummeln. An der Kasse bilden sich Schlangen, der Kaufvorgang sei im Gegensatz zu früher kein unbewusster mehr.

Schuld seien außerdem das Gefühl der Verbraucher, dass alles teurer geworden sei, die hohe Arbeitslosigkeit und die sinkende Zahl von Verkaufsstellen.

Das war vor knapp zehn Jahren.

Und so haben sich die Auflagen von “Bild” und “Bild am Sonntag” weiter entwickelt, nachdem die Menschen sich an das neue Geld gewöhnt hatten und die Arbeitslosigkeit gesunken war:

Als sich Anfang 2011 abzeichnete, dass das Blatt bald keine drei Millionen Exemplare mehr verkaufen würde, sagte er dem “Focus” wie zur Erklärung:

Schauen Sie mal raus. Es ist kalt, es schneit, da gehen weniger Menschen zum Kiosk.

Es hörte auf zu schneien, es wurde Sommer, die Auflage der “Bild”-Zeitung sank weiter.

Diekmann hat aber noch eine andere Ausrede, auf die er seit Jahren zurückgreift: Sein Blatt verliere zwar Käufer, aber nicht so viel wie die anderen Blätter. Im Verhältnis zum schrumpfenden Markt gewinne “Bild” also sogar an Auflage.

Im Gespräch mit dpa, 2012:

dpa: “Wenn wir die Verkaufskurve weiterziehen, gibt es in 15, 20 Jahren keine “Bild” mehr…”

Diekmann: “Da wir kontinuierlich Marktanteile gewinnen, würden vorher sehr viele andere Zeitungen und Zeitschriften vom Markt verschwinden. Im Ernst, diese Rechnung ist Quatsch.”

Gegenüber dem “Focus” 2011:

“Wir haben in Deutschland einen insgesamt rückläufigen Markt. Das Mediennutzungsverhalten ändert sich. Die junge Generation bezieht ihre Informationen nicht mehr automatisch auf Papier, sondern etwa über digitale Kanäle. In diesem Markt ist “Bild” stabiler als andere. Deshalb haben wir unseren Marktanteil bei den Boulevardzeitungen weiter ausgebaut.”

Gegenüber der “Süddeutschen Zeitung” 2010:

“Der Tageszeitungsmarkt ist insgesamt rückläufig, die Auflage fast aller Zeitungen geht zurück. In diesem Umfeld verdienen wir mit Bild so viel wie noch nie. Wir haben mit mehr als zwölf Millionen Lesern die höchste Reichweite und im Einzelverkauf den größten Marktanteil unserer Geschichte.”

Im “Tagesspiegel” 2002:

“In einem Marktumfeld, in dem unseren Wettbewerbern die Hände und Füße abfrieren, niesen wir gerade mal. Das macht mich nicht glücklich. Aber immerhin trotzten wir im letzten Jahr dem rückläufigen Markttrend, gewannen sogar Auflage hinzu. Doch jetzt konnten wir uns dem Markttrend zumindest nicht völlig entziehen.”

Spiegelt die sinkende Auflage von “Bild” (und “Bild am Sonntag”) also wirklich nur den Abwärtstrend bei Zeitungen insgesamt wider? Und schlagen sich die Blätter, wie Diekmann seit vielen Jahren in leicht wechselnden Formulierungen behauptet, innerhalb dieses Trends besser als die Konkurrenz?

Nun. Dies ist die relative Entwicklung der Boulevardzeitungen in Deutschland seit 1998:

Alle haben Auflage verloren, aber “Bild” ragt dabei keineswegs positiv heraus. Sie verliert mit erstaunlicher Konstanz dramatisch Käufer. Wenn man als Bezugspunkt 2001 nimmt, das Jahr des Dienstantritts von Kai Diekmann, hat keine Boulevardzeitung in diesem Zeitraum einen so hohen Anteil an Auflage verloren wie “Bild” (38 Prozent) und “Bild am Sonntag” (44 Prozent). Auch bezogen auf die vergangenen beiden Jahre stehen “Bild” und “Bild am Sonntag” schlechter da als die regionale Konkurrenz mit Ausnahme ihres Berliner Schwesterblattes “B.Z.”

Falls nicht die kleinen regionalen Boulevardzeitungen der richtige Bezugspunkt für “Bild” sind, sondern die anderen überregionalen Blätter:

Und, der Vollständigkeit halber: So gut hat “Bild am Sonntag” im Vergleich zu anderen Sonntags- und Wochenzeitungen ihre Auflage in den vergangenen zehn Jahren gehalten:

Die “Bild”-Zeitung hat es unter anderem dank Preiserhöhungen um insgesamt 100 Prozent seit dem Amtsantritt Diekmanns geschafft, ihre Gewinne trotz sinkender Auflagen zu erhöhen. Misst man den publizistischen Erfolg des Blattes aber an der Zahl seiner Käufer — wie Kai Diekmann es tat, solange die Auflage stieg — ist die Bilanz vernichtend. Und das liegt nicht am Wetter und nicht am Euro.

Kimble, Nervenkrisen, Bauarbeiten

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Nachtrag: Kimble-Report”
(notes.computernotizen.de, Torsten Kleinz)
Torsten Kleinz stellt den “Kimble-Report” ein, nachdem Kim Schmitz gegen Artikel von ihm geklagt hatte. Zudem führen inzwischen viele Links ins Leere und auf Wikipedia gibt es “einen recht guten Überblick über die Geschichte von Kim Schmitz” zu lesen.

2. “Gute Reiseblogger, schlimme Reisemagazine? Eine Entgegnung”
(tourististan.de, Bernd Schwer)
Bernd Schwer, Redakteur des Reisemagazins “Geo Saison”, antwortet auf den Text “Warum ich vermutlich nie für ein Reisemagazin schreiben werde…” von Heike Kaufhold auf koeln-format.de. “Sich Reisemagazin zu nennen, ist leicht. Mehr als eine weitere Hochglanzpostille und PR-Schleuder anzubieten, das ist schon eine andere Nummer.”

3. “Wie Paintball zum Computerspiel wird”
(stigma-videospiele.de, Rey Alp)
Ein Artikel auf Focus.de über die Schießerei von Aurora zitiert ausführlich aus einem Artikel der “Daily Mail”.

4. “Don’t Jump to Conclusions About the Killer”
(nytimes.com, Dave Cullen, englisch)
Dave Cullen, Autor von “Columbine”, schreibt auf, warum man nicht zu früh über Motive und Täterprofile spekulieren sollte.

5. “Berliner Nervenkrisen: Ein Aufruf zu mehr Bedächtigkeit”
(novo-argumente.com, Matthias Heitmann)
Matthias Heitmann wünscht sich mehr Bedächtigkeit und Gründlichkeit in der Politik: “Zeit, Fakten ‘gründlich’ zu prüfen, nimmt sich dieser Betrieb kaum mehr. Die überhaupt zu fordern, gilt mittlerweile fast schon als verantwortungslos.”

6. “Leserreporter beobachtet Bauarbeiten in der Währinger Straße”
(vienna.at)

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