Archiv für März, 2010

Jugendpresse, Winnenden, Balzac

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Fernbedient”
(jpbw.de, PDF-Datei, 1.7 MB)
Die aktuelle Ausgabe von “Noir”, dem Magazin der Jugendpresse, widmet sich den Medien. Unter anderem geht es um versteckte Werbung bei den Jugendzeitungen “Spiesser” und “Yaez”.

2. “Bis zur letzten Träne”
(taz.de, Ingo Arzt)
Es naht der Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden und “mit ihm die nächste Presseinvasion”: “Man kann sich tausend Mal sagen: Bevor ich als Journalist die Opfer eines solch traumatischen Erlebnisses behellige, hänge ich meinen Job an den Nagel. Und wenn es so weit ist, dann muss eine Zeitung voll werden.”

3. “Der Hinterweltler und die Ignoranz”
(begleitschreiben.twoday.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig schreibt über die Flut von Angeboten, denen der Medienkonsument mit Aufkommen von neuen Medien gegenübersteht und den “Überforderungs-Klagediskurs” dazu: “Ja, natürlich gibt es schreckliche Webseiten, Onlinemagazine und Blogs. Oder einfach nur banale. Aber es gibt auch schreckliche und banale Bücher, Filme, Fernsehsendungen, Theaterstücke, Zeitschriften und Zeitungen ohne dass deshalb das Medium kollektiv verworfen wird. Warum wird also die Polyphonie wenn nicht als Gewinn so doch mindestens als Inspiration empfunden?”

4. “Kleine Fehler, grosse Wirkung”
(nzz.ch, Sven Titz)
Sven Titz listet nochmals die Fehler des Uno-Klimarats auf, die von den Medien groß ausgebreitet wurden. “Klimaforscher räumen die Patzer mehr oder weniger ein, beklagen aber Fehlinformationen und Übertreibungen, vor allem durch britische Medien.”

5. “Journalisten, nicht nur nach Balzac”
(jungle-world.com, Stefan Ripplinger)
Stefan Ripplinger widmet sich Honoré de Balzac und dem “Schreckenskabinett seiner Journalisten, dieser mürrischen, unterbezahlten, ausgehungerten, ressentimentgeladenen, mitunter auch erschreckend einfallsreichen Lohnschreiber und verhinderten Dichter”.

6. “Spiegel-Bild”
(ralkorama.blogspot.com)
Gleiches Foto, fast gleiche Schlagzeile. Zwischen dem “Spiegel” und “Bild” ist online kaum ein Unterscheid auszumachen. In einem Fall.

Bild  etc.

Hetzen wird olympisch

Diese Zusammenstellung von “Bild”-Überschriften aus den letzten Tagen ist sicher unvollständig:

"Bild" schlagzeilt auf die "Pleite-Griechen" ein

Da wird über die “Pleite-Griechen” gespottet, die “die schönen Euros” “verbrennen” (sehr pietätvoll unterlegt mit einem Foto der verheerenden Waldbrände aus dem vergangenen Jahr), aber ihre Inseln nichts verkaufen wollen. Vorläufiger Höhepunkt: Der offene Brief an Ministerpräsident Papandreou, in dem die gesamte “Bild”-Redaktion kalauert: “Ihr griecht nix von uns!” (Als ob es jemals zur Debatte gestanden hätte, dass die “Bild”-Redaktion das griechische Haushaltsloch stopft.)

All das hat sich Michalis Pantelouris, Hamburger Journalist und Sohn eines Griechen, lange angesehen, dann ist ihm der Kragen geplatzt: Er sagt, er schäme sich, wenn er daran denke, dass sein Vater die hetzerischen Artikel in “Bild” (aber nicht nur da) lese.

Es ist ein aufrichtiger Aufschrei, der mit jeder Zeile wütender wird, und der dringend zur Lektüre empfohlen sei:

Bild  

Kein Todesstern über Niederursel

Seltsame Dinge scheinen in Frankfurt-Niederursel zu passieren:

Screenshot: Bild.de

“Darth Vader”, der von “Bild” als “unheimlicher Kerl” beschrieben wird, soll etwa 35 Jahre alt sein und 1,80 Meter groß.

Gegenüber fnp.de, dem Online-Angebot der “Frankfurter Neuen Presse”, dementierte der Sprecher der lokalen Polizei, die “den Irren mit der ‘Darth Vader’-Maske” angeblich “jagt”, dass es sich überhaupt um eine solche Maske handle.

Vielmehr sei der Täter mit einem schwarzen Mantel und einer WollSturmhaube mit Sehschlitzen bekleidet gewesen.

(Links von uns)

Bisher vorgefallen ist wenig: Der gesuchte Mann hat “zwei Schüler mit den Worten ‘warte Mal’ angesprochen” und “am Arm berührt”.

Aus Lustprinzip gegen Klaus Wowereit

Die “Welt am Sonntag” veröffentlichte heute ein Interview, das ihr stellvertretender Chefredakteur Ulf Poschardt mit Klaus Wowereit geführt hat. Das Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin ist in der Printausgabe mit “Klientelpflege ist nichts Schlechtes” überschrieben — nicht gerade ein eye catcher für um Aufmerksamkeit buhlende Internetseiten.

Aber zum Glück ergab sich ja folgender Dialog:

Welt am Sonntag: Viele Beobachter glauben, Sie haben die Lust an Ihrem Job verloren.

Wowereit: Wenn das so wäre, könnte ich morgens nicht ins Büro gehen. Das geht nur, wenn man wirklich Lust auf diesen Job hat.

Und so mussten die Kollegen von “Welt Online” nur noch ein wenig an der Logik-Schraube drehen und hatten endlich eine knallige Überschrift:

Berlins Regierender Bürgermeister: Wowereit geht nur ins Büro, wenn er Lust dazu hat

Mit Dank an Alfons S., Horst-Schantalle, Ulf S. und Johannes K.

Nachtrag, 17 Uhr: “Welt Online” hat die Überschrift zu “Haben Sie die Lust an Ihrem Job verloren?” geändert.

AP, RTL  etc.

Wellen mit Bart

Außergewöhnliche oder unvorstellbare Ereignisse werden oft ein bisschen begreifbarer, wenn es Bilder davon gibt. Oder, wie man im Internet sagt: “pics or it didn’t happen”.

Insofern hilft es natürlich beim Verständnis der Ereignisse auf dem Kreuzfahrtschiff “Louis Majesty”, sich mithilfe von Videos selbst ein Bild der Lage machen zu können.

Oder, wie es Associated Press ausdrückt:

Auf YouTube sind nun drei Amateur-Videos aufgetaucht. Sie sollen die zerstörerischen Wellen zeigen, die das Kreuzfahrtschiff “Louis Majesty” am Mittwoch mit voller Wucht trafen.

In den YouTube-Videos, die als AP-Zusammenschnitt unter anderem bei stern.de und “RP Online” zu sehen sind und auch von RTL in verschiedenen Nachrichtensendungen und online gezeigt wurden, geht es hoch her.

So sieht man beispielsweise Außenaufnahmen, die die Wucht der Wellen erahnen lassen:

Hohe Wellen auf dem Mittelmeer.

Auch auf der Brücke knallt es gewaltig:

Hohe Wellen auf dem Mittelmeer.

RTL hat für seine Nachrichtensendung “Punkt 12” sogar noch ein weiteres Video entdeckt:

Hohe Wellen auf dem Mittelmeer.

Diese und ähnliche Videos werden seit Mittwoch in großer Stückzahl hochgeladen. Mache wurden wieder gelöscht, andere aus dem Fernsehen, wo sie mit Berufung auf YouTube liefen, mitgeschnitten und erneut hochgeladen. Es ist kaum möglich zu sagen, was die Originalvideos sind.

Aber diese hier könnten es sein:

Hohe Wellen.

(Hochgeladen am 25. August 2007, laut Uploader an Bord der “Empire State” entstanden.)

Hohe Wellen.

(Online seit dem 23. Oktober 2007, vor der Küste Australiens gedreht.)

Hohe Wellen.

(Seit dem 22. Februar 2010 im Netz, immerhin sogar auf der “Louis Majesty” gefilmt.)

Bei Stern.de weist seit 24 Stunden ein Leserkommentar auf die entsprechenden YouTube-Clips hin.

Unser Leser Dirk E. hat nach eigenen Angaben zehn Minuten gebraucht, um diese drei alten Videos zu finden. So viel Zeit hatten die Medien wohl nicht.

Mit Dank an adameus23, Sebastian F. und Dirk E.

Nachtrag, 13.10 Uhr: Stern.de hat das Video durch den Hinweis “Das Video ist nicht mehr verfügbar!” ersetzt.

Bild  

Ohne Worte (aber mit Zahlen)

Sade (schöne 51) feiert ihr Bühnen-Comeback. (...) Und: Sade (49) feiert ihr Live-Comeback.

Nachtrag, 19.10 Uhr: Jetzt doch mit Worten: Offenbar ist der Fehler irgendwann aufgefallen und es hat sich jemand (fälschlicherweise) gedacht: “Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.”

Jedenfalls steht in einer späteren Ausgabe:

Sade (schöne 50) feiert ihr Bühnen-Comeback. (...) Und: Sade (50) feiert ihr Live-Comeback.

Berlusconi, Regionalzeitungen, Stern

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Interview mit Thierry Chervel
(die-stadtredaktion.de, Atossa Kamran)
Thierry Chervel vom Perlentaucher über die Krise der Printmedien und zu festen und freien Journalisten: “Freie Journalisten hatten schon immer einen elenden Status, der sich seit der Zeitungskrise vor ein paar Jahren noch verschärft hat. Hier ist es immer am leichtesten zu sparen. Festangestellte sind schwer zu entlassen. Die Freien sind die Opfer eines soliden Arbeitsrechts – darum werden auch immer weniger Leute fest angestellt.”

2. “Regierung Berlusconi verbietet politische Talkshows während des Wahlkampfes”
(dradio.de, Thomas Migge)
Macher von politischen Diskussionssendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Italien dürfen nicht mehr frei entscheiden, wen sie einladen möchten: “Die Talkmaster müssen nicht nur Listen mit jenen Politikern, die eingeladen werden sollen, einer RAI-internen Kommission vorlegen, deren Entscheidungen das Plazet der Regierung haben müssen, sondern auch dafür sorgen, dass ihre Sendungen politisch ausgewogen und rein informierend sind. Keine Diskussionen mehr, keine Polemiken.”

3. “Regionalzeitungen pro Stadt”
(zeit.de, Matthias Stolz)
Eine Karte des “Zeit Magazins” zeigt auf, wieviele Zeitungen mit Lokalteil es in deutschen Großstädten gibt.

4. “Die Angst vor Google”
(dondahlmann.de)
Don Dahlmann schreibt über die Technologie-Ängstlichkeit der etablierten Intellektuellen. “Es scheint, als ob eine Beharrungs-Philosophie Einzug gehalten hat. Bloß dem Neuen keinen Raum geben, es argwöhnisch beobachten und wo es geht, mit allen Mitteln bekämpfen. Das führt dann zu absurden Dingen, wie der Formulierung, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei.”

5. “Wer sich noch wundert, warum vielen Bloggern der Spaß an der Sache vergeht”
(yuccatree.de, Jürgen Vielmeier)
Jürgen Vielmeier wundert sich über Blogleser, die “wegen eines Mausklicks mehr” einen “Abschied auf nimmer Wiedersehen” ankündigen.

6. “Nackt auf dem Stern”
(dirkvongehlen.de)
Wie der “Stern” das Thema “Vorsorge und Früherkennung” illustriert.

Die Zeit ist nicht auf ihrer Webseite

Die gestrige Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Argentinien hat gravierende Folgen. Bei Bild.de ist zum Beispiel die Zeitachse verbogen.

So wusste das Internetportal noch in der Nacht zu berichten, was eine Untersuchung am kommenden Montag ergeben wird (vielleicht auch am vergangenen Montag, also vor der Verletzung, so genau wird das nicht deutlich):

54. Minute: Bei einer Standardsituation trifft Ballack unglücklich Demichelis mit dem Knie ins Gesicht. Der Bayern-Verteidiger muss verletzt raus – Bruch des Jochbeins, des Oberkiefers und des Augenhöhlenbogens, wie sich bei einer Untersuchung am Montag rausstellt. Eine OP ist nötig, der Argentinier wird Bayern wochenlang fehlen.

Außerdem wird sich Lukas Podolski irgendwie zu einer Situation geäußert haben werden, die später passiert sein wird:

Der äußerte sich gestern früh, also 12 Stunden später, auf der DFB-Internetseite zu dem Vorfall: "Ich fühlte mich von ihm in der Mixed-Zone durch einige Anmerkungen zum Spiel provoziert. Darüber habe ich mich geärgert und ihm deshalb deutlich meine Meinung gesagt. Ich habe ihn aber nicht geschlagen. Wenn ich mich im Ton vergriffen habe, entschuldige ich mich dafür."

Es könnte allerdings auch sein, dass Demichelis’ Untersuchung am Donnerstag stattgefunden und Podolski sich heute früh zu Wort gemeldet hat …

Mit Dank an Patrick.

Nachtrag, 13.49 Uhr: Inzwischen hat sich Podolski laut Bild.de nicht mehr “gestern früh”, sondern nur noch “12 Stunden später” geäußert.

Viel Lärm um Hartz

Mit einer neuen Studie des Paritätischen Wohlfahtsverbandes ist die Sozialstaatsdebatte am Montag in die nächste Runde gegangen — genau der richtige Moment, etwas Licht ins mediale Dunkel zu bringen.

Beginnen wir von Anfang an: Am 6. Februar veröffentlichte die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” einen mehr als halbseitigen Bericht über Berufe im Niedriglohnbereich. Unter Berufung auf Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts behauptete der Autor Sven Astheimer, dass das sogenannte Lohnabstandsgebot nicht eingehalten werde. Das Gehalt, das in bestimmten Branchen gezahlt wird, liege zum Teil noch unter dem Hartz-IV-Anspruch des jeweiligen Arbeitnehmers.

Schon damals hatten wir berichtet, dass die “FAZ” bei dieser Berechnung wichtige Aspekte wie Freibeträge als Anreiz für Erwerbstätigkeit außer Acht gelassen hatte. Weiterhin distanzierte sich das Karl-Bräuer-Institut auf Anfrage von den Ergebnissen der “FAZ”. Das Institut habe keine Vergleichsstudie angefertigt, sondern lediglich die Brutto- und Nettolöhne ausgesuchter Branchen im Niedriglohnsektor berechnet. Den Vergleich mit Hartz-IV-Empfängern und insbesondere die Unterschlagung der Freibeträge hatte demnach allein die “FAZ” zu verantworten.

In den folgenden Tagen verbreiteten zahlreiche Medien die Zahlen der “FAZ”. Während diese selbst allerdings noch von “umfangreichen Berechnungen (…), die das Karl-Bräuer-Institut – das Forschungsinstitut des Bundes der Steuerzahler – für diese Zeitung durchgeführt hat” schrieb, machten “Bild”, “Welt”, der “Münchner Merkur” und das “Hamburger Abendblatt” daraus schon eine “Studie des Karl-Bräuer-Instituts”. Auf die Idee, diese “Studie” selbst zu lesen, kam jedoch niemand.

“Welt Online” schaffte es sogar, den umstrittenen Kommentar Guido Westerwelles, in dem sich der FDP-Politiker beim Beispiel eines geringverdienenden Kellners auf die falschen Zahlen der “FAZ” berief, mit Schautafeln zu bestücken, die Westerwelle widerlegten. Die Beispielfälle auf den Schautafeln waren ebenfalls vom Karl-Bräuer-Institut berechnet worden – diesmal allerdings komplett und mit deutlichem Lohnabstand (also ohne den “FAZ”-Faktor).

Die eingangs genannte Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat jetzt bestätigt, dass der Lohnabstand zwischen Geringverdienern und Hartz-IV-Empfängern stets gewahrt bleibt. Allerdings macht Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, das Karl-Bräuer-Institut als einen der Hauptverursacher der fehlgeleiteten Debatte aus.

Auf einer Pressekonferenz erklärt Schneider:

In offensichtlicher Unkenntnis des Sozialrechts wird dabei auf äußerst dubiose Berechnungen zurückgegriffen. Sehr starke Beachtung fanden etwa die Tabellen des Karl-Bräuer-Instituts, des Instituts des Bundes der Steuerzahler.

Und während “Welt Online” und “Spiegel Online” die “neuen” Erkenntnisse aus der Studie des “Paritätischen Wohlfahrtsverbandes” inklusive Schuldzuweisungen an das Karl-Bräuer-Institut wenigstens routiniert nachkrähen, hält man es bei “Bild”, beim “Münchner Merkur” und beim “Hamburger Abendblatt” überhaupt nicht für nötig, davon zu berichten — obwohl es die falschen Zahlen der “FAZ” vor einem Monat noch allemal wert waren.

Einzig bei der “FAZ” selbst scheint man zu wissen, was für eine Lawine man losgetreten hat. Verantwortung will man allerdings nicht übernehmen.

Dort heißt es lapidar:

Schneider kritisierte Berechnungen, in denen diese Sozialtransfers nicht berücksichtigt würden. Das Karl-Bräuer-Institut hatte lediglich für diese Zeitung durchschnittliche Nettolöhne von Geringverdienern berechnet, die in einigen Branchen unter oder nur knapp über dem Hartz-IV-Anspruch liegen.

“Lediglich”, genau. Schlagzeilen wie “Diese Jobs bringen weniger als Hartz IV” haben sich dann nämlich die Journalisten ausgedacht.

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