Archiv für März, 2010

Google, CNN, Kostenstellen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Interview mit Robert Rosenthal
(focus.de, Leif Kramp und Stephan Weichert)
Ein langes Gespräch mit Robert Rosenthal, Chef des Center for Investigative Reporting (CIR) in Berkeley, Kalifornien, einer Nonprofit-Organisation für Recherchejournalismus. “Immer mehr Stiftungen, die mit Medien und Journalismus bisher nichts am Hut hatten, erkennen, dass es immer weniger Journalisten gibt und der Bedeutungswandel der Presse sich in unserer Demokratie zu einem Thema entwickelt hat, das uns alle etwas angeht.”

2. “Leistungsschutzrecht für Mathematiker?”
(presseschauer.de, Daniel Schultz)
Daniel Schultz schreibt an Mathias Döpfner zum Thema Leistungsschutzrecht. Ihm scheint, man wolle “unter Bemühung der Pressefreiheit ein Existenzrecht für Verlage” herbeileiten – “als würden Hersteller von Sicherheitsschlössern aus der Unverletzlichkeit der Wohnung eine Existenzberechtigung ableiten”.

3. “Auf Google mit Gebrüll!”
(ftd.de, Annette Berger)
Eine Auflistung der “Kritiker und Neider”, die sich Google mit seinen Produkten eingehandelt hat.

4. “Es geht um mehr als nur um Google”
(fischmarkt.de, Martin Recke)
“Die speziell in Deutschland geführte Attacke der Verlagshäuser auf Google ist mehr als nur das übliche Beißverhalten konkurrierender Konzerne. Es ist auch eine Schlacht um Meinungsmacht und Meinungsfreiheit, um das Oligopol der Verleger und meinungsführenden Redaktionen, das durch das Internet in seinen Grundfesten erschüttert ist.”

5. “Die Zukunft von Journalismus heißt – Journalismus”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz hat den Eindruck, dass Redaktionen “leider viel zu sehr zu Kostenstellen, zu reinen Produktionsstätten verkommen; besetzt mit ziemlich vielen Menschen, die austauschbar sind”. “Richtige Autoren, Autoren die etwas können, Autoren, die nicht nur unter dem Label einer Marke schreiben, sondern womöglich selber sogar Marken sind, vermisst man inzwischen fast überall.”

6. “The Uninformant”
(thedailyshow.com, Video, 3:45 Minuten, englisch)
Jon Stewart über die Tsunami-Live-Berichterstattung auf CNN, wo die Galápagos-Inseln für Hawaii gehalten werden und es Probleme mit dem metrischen System gibt.

Die Reifeprüfung

Schlechte Nachrichten, die die Deutsche Presse-Agentur da heute Morgen um 5.30 Uhr unter der Überschrift “Jeder zweite Schulabgänger ‘nicht ausbildungsreif'” verkündet hat:

Fast jeder zweite Schulabgänger gilt als “nicht ausbildungsreif” und muss vor Vermittlung in eine Lehrstelle zusätzliche Fördermaßnahmen absolvieren. Dies geht aus dem Entwurf des “Berufsbildungsberichts 2010” der Bundesregierung hervor, der der Deutschen Presse-Agentur dpa vorliegt.

Doch es reich nicht immer aus, wenn einem so ein Entwurf vorliegt — man muss ihn auch verstehen. Und das ist gar nicht so einfach, wie ein Sprecher des Bundesministeriums für Bildung und Forschung uns gegenüber zugab.

Der Journalist von dpa habe einfach die Zahl aller Schulabgänger aus dem Jahr 2008 mit der Zahl der Eintritte in sogenannte berufsgrundbildende Maßnahmen verglichen und war so auf einen Wert von 47,3% gekommen. Übersehen hatte er dabei aber, dass diese Maßnahmen auch von Abgängern anderer Jahrgänge in Anspruch genommen werden können, dass sie mehrfach besucht (und dann auch mehrfach gezählt) werden können und dass sie teilweise von “ausbildungsreifen” Jugendlichen zur Qualifikationsverbesserung genutzt werden.

All das hat das Ministerium in einer ersten Reaktion auf den dpa-Bericht auch mit einer etwas umständlichen Pressemitteilung ausdrücken wollen, doch da waren die Jugendlichen schon in den Brunnen gefallen: Weil sie die mutmaßlichen Ergebnisse des Berichts, der Mitte April dem Kabinett vorgelegt werden soll, direkt verkünden wollten, hatten Onlinemedien wie “Spiegel Online”, “Welt Online” und RTL.de (dort übrigens unter der beeindruckenden Überschrift “Viele Schulabgänger zu dumm zum Arbeiten”) die Fehlinterpretation von dpa bereits in die Welt getragen.

Doch nicht nur das. Auch die Zahlen von 2005, mit denen dpa (und damit auch “Spiegel Online” und “Welt Online”) die von 2008 vergleicht, sind falsch, weil auf die gleiche Weise zustande gekommen:

Zwar sei die Zahl der von der Bundesagentur für Arbeit als “nicht ausbildungsreif” eingeschätzten Jugendlichen zwischen 2005 und 2008 wieder leicht zurückgegangen – und zwar von 55 Prozent auf 47,3 Prozent. Doch gebe es für diese Gruppe der Schulabgänger immer noch erhebliche Probleme bei der Ausbildungsplatzvermittlung.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff “nicht ausbildungsreif” oft sehr unterschiedlich definiert wird. Wenn man ihn mit “gar keinen Schulabschluss schaffen” gleichsetze, liege der Wert seit Jahren bei rund 8%, so der Ministeriumssprecher weiter.

Ohne ihre erste Version über die “Ausbildungsreife” zurückzuziehen, hat dpa um 15.11 Uhr einen ausführlicheren Text über den Entwurf zum Berufsbildungsbericht verschickt, in dem es jetzt heißt:

Der Anteil der Jugendlichen, die zwischen Schule und Eintritt in die Berufsausbildung zunächst einen ergänzenden Grundbildungskurs besuchen, wird in dem Bericht für das Jahr 2008 mit 47,3 Prozent beziffert. 2005 lag dieser Anteil laut Bericht sogar bei 55 Prozent.

Die Möglichkeit, dass manche Absolventen dieser Kurse mehrfach gezählt werden, ist da immer noch nicht berücksichtigt. Oder wie es das Bundesministerium für Bildung und Forschung formulierte: Die neue Version ist “schon richtiger, aber immer noch nicht ganz richtig”.

Mit Dank an Hendrik W.

Nachtrag, 4. März, 0.30 Uhr: Um 20.03 Uhr verschickte dpa eine Berichtigung des ersten Textes:

Berichtigung: In der Überschrift und im ersten Absatz wurden die Zahlenangaben entfernt. Das Bundesbildungsministerium hat darauf hingewiesen, dass bei der im Entwurf des Berufsbildungsberichtes 2010 “genannten Referenzgröße von 47,3 Prozent” bei den Teilnehmerzahlen für zusätzliche Bildungsmaßnahmen auch Schulabgänger früherer Jahrgänge mitgezählt worden seien. In der Zusammenfassung um 15.11 Uhr (dpa 4299) ist dieser Umstand bereits berücksichtigt worden.

Davon ab verzichtet dpa in dieser Version auf jedwede Prozentzahlen.

“Spiegel Online” hat seinen kompletten Artikel entfernt und durch diesen Hinweis ersetzt:

In eigener Sache

An dieser Stelle stand ein Artikel (“‘Mangelhaft’ für deutsche Schulabgänger”), in dem auf Basis der Nachrichtenagentur dpa falsch gewichtete Zahlen über die Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen berichtet wurden. Inzwischen hat die Agentur ihre Darstellung korrigiert und die Bundesregierung die ursprünglichen Zahlen dementiert. SPIEGEL ONLINE berichtet darüber in einem eigenen Artikel…

“Welt Online” hat seinen Artikel komplett überarbeitet, aber auf einen Hinweis darauf verzichtet.

Nur bei RTL.de heißt es weiterhin:

Die Bilanz ist erschreckend: fast jeder zweite Schulabgänger ist laut dem ‘Berufsbildungsbericht 2010’ der Bundesregierung zu unqualifiziert für eine Ausbildungsstelle.

2. Nachtrag, 10.45 Uhr: Wer ist natürlich gestern noch voll drauf reingefallen?

Berufsbildungsbericht: Sind unsere Azubis zu blöd?

Und wer verbreitet den Quatsch heute immer noch?

Ernst Elitz, früherer Intendant des Deutschlandradios, in einem Kommentar für “Bild”:

Handwerker suchen händeringend Lehrlinge. Sie wollen Arbeit schaffen. Aber fast jeder Zweite, der in eine Lehre soll, ist “nicht ausbildungsreif”.

Mit Dank an Andreas H.

Sehweg nach Indien entdeckt!

Das “Mystery”-Ressort, das sich Bild.de seit einiger Zeit gönnt, wirkt wie Bild.de auf Drogen: noch ein bisschen lauter, bunter und übergeigter als der Rest des Angebots.

So fragte die Seite gestern:

Beweis für Alien-Besuch auf der Erde entdeckt?

Das ist wohl auch als indirekte Antwort auf einen Artikel aus dem letzten August zu verstehen, als Bild.de schon mal in der Überschrift fragte, ob (endlich, vermutlich) der Beweis für außerirdisches Leben erbracht sei.

Aber auch diesmal sieht es schlecht aus mit einer positiven Antwort auf die Frage.

Bild.de beruft sich – wie andere Quellen auch – auf die “Rajasthan Times”. Dort ist der betreffende Artikel inzwischen offline genommen worden und nur noch im Google Cache verfügbar.

Diese mysteriöse Höhlenmalerei aus Indien gibt Rätsel auf: Das bizarre Wesen im Raumanzug ähnelt einem Außerirdischen, und auch das Ufo ist gut zu erkennen

Möglicherweise hat das etwas damit zu tun, dass der etwas unscharfe Bildausschnitt, den Bild.de und die anderen Medien gerade als möglichen Beweis für eine prähistorische Alien-Sichtung in Indien präsentieren, schon einmal in einer bizarren Ufo-Dokumentation aus dem Jahr 2007 zu sehen war — und damals aus einer australischen Höhle stammen sollte:

Faksimile einer angeblichen australischen Höhlenmalerei

Der Regisseur des Films erklärt übrigens selbst, dass es sich bei dem Bild um eine Zusammenstellung von verschiedenen Motiven handele, die auf diese Weise besser zu überblicken seien. (Wobei auch das ein bisschen zweifelhaft ist, wenn man die Zeichnungen, aus denen die Zusammenstellung bestehen soll, mal zum Vergleich heranzieht.)

Mit Dank an Martin B.

Zynismus, Leserbriefe, Ringier

6 vor 9

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1. Interview mit Stefan Enderle
(spreegurke.twoday.net, Ursula Pidun)
Stefan Enderle gibt Auskunft über seinen medienkritischen Film “Kann nicht sein, was nicht sein darf!?” (youtube.com, Video, 98 Minuten), “der im Rahmen der Diplomarbeit zum Abschluss des Studiums ‘Audiovisuelle Medien’ an der Hochschule der Medien in Stuttgart Vaihingen entstand.” Für den Film befragte er unter anderem Journalistikprofessoren und Journalisten.

2. “Berufskrankheit Zynismus”
(konitzer.wordpress.com, Michael Konitzer)
Michael Konitzer hält die Überwachung des Privatlebens von Politikern für eine fast schon pubertäre “Erotik-Phantasie verklemmter Medienmacher”: “Wer sich mal ein paar Tage im Kreis verdienter Journalismus-Kollegen bewegt, bekommt massenhaft Tatsachen und Fakten erzählt, die bei Licht besehen nur Tratsch und Gerüchte sind. Der treibt es mit der, diese mit jenem. Der ist schwul und diese Lesbe. Diese Ehe ist im Eimer, jener ist jener hörig. Und alles ist so belanglos, und wenn es denn stimmen würde, dann nur reinste Privatsache der Beteiligten.”

3. “Tangerinegate”
(bbc.co.uk/blogs/comedy, Lucy McDermott, englisch)
Wie ein Scherz über Gordon Brown, der angeblich mit dem Wurf einer Mandarine eine Maschine zerstörte, zur Nachricht wird. “So apparently a pretend worker at a pretend factory phoned The Sun to tell them about a pretend incident with a pretend tangerine breaking a pretend lamination machine.”

4. “Newsletter abmelden: Don’t make me work!”
(blog.zeix.com, Jeanine Troehler)
Jeanine Troehler zeigt auf, wie schwierig es manchmal ist, einen Newsletter abzumelden.

5. “Die Meinungskracher”
(medienspiegel.ch, Fred David)
Fred David, ehemaliger Chefredakteur der Wirtschaftszeitung “Cash”, gibt zu, “selber auch schon Leserbriefe in meinem Sinn gefälscht” zu haben. “Ist allerdings lange her und durchaus branchenüblich. Ich schäme mich noch heute.”

6. Interview mit Michael Ringier
(kleinreport.ch, Bruno Affentranger)
Verleger Michael Ringier (“Blick”) hat seinem hauseigenen Mitarbeitermagazin “Domo” ein Interview in drei Teilen gewährt, das der Kleinreport nun ins Internet gestellt hat. Ringier über das Internet: “Das Web bietet uns ein heilloses Chaos. Das Internet ist eine gigantische Ansammlung von absolutem Quatsch. Das ist unsere grosse Chance.”

Weizenbier, Propagandisten, Schawinski

6 vor 9

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1. “Clockwork Bundesliga”
(11freunde.de, Titus Chalk)
Ein Engländer schaut ein Wochenende lang deutschen TV-Fußball und schreibt dann einen langen Text darüber. “Als sich mein Wochenende immer mehr in die Länge zieht und sich, je länger ich vor der Glotze sitze, mein leicht halluzinierender Sinneszustand verschlimmert, beginne ich mir vorzustellen, dass es in Deutschland vielleicht nur ein einziges Fußballpublikum gibt, das in einem Marathon ähnlich dem meinen von Studio zu Studio chauffiert wird und überall höflich applaudiert, mit dem einzigen Anreiz, am Sonntagmorgen als Belohnung ein Weizenbier beim ‘Doppelpass’ trinken zu dürfen.”

2. “Chancen trotz Krise”
(sueddeutsche.de, Hajo Schumacher)
Hajo Schumacher macht “zwölf Anmerkungen zu einem Berufsstand, der sich für gefährlich ehrbar hält”.

3. “Die Interpretation einer Fernsehshow”
(fernsehkritik.tv)
Spiegel.de (“Nach dieser Sendung ist es überflüssig geworden, überhaupt noch Fernsehen zu machen”) und Stern.de (“Ein überforderter Endfünfziger im blauen Samtjackett”) schätzen die letzte “Wetten, dass…?”-Sendung komplett unterschiedlich ein (wenn man die Möglichkeit von Satire ignoriert). “Interessant ist jedenfalls, wie sich seriöse Online-Auftritte offenbar darin abquälen, einer belanglosen TV-Show im negativen oder positiven Sinne mittels eines Extrem-Artikels mehr Bedeutung beizumessen als sie in Wahrheit hat.”

4. “Manipulative Information”
(nzz.ch, ras.)
Rainer Stadler kritisiert einen Artikel auf Tagesanzeiger.ch, der den Titel “Einreisewelle aus dem Balkan schwappt in die Schweiz” trägt und das im Text dazu mit lediglich zwei Fällen in einem Kanton untermauert. “Ein schrill aufgemachter Text treibt natürlich auf dem fiebrigen Online-Informationsmarkt die Leserzahlen hoch. Die Verkaufsmethode gleicht indessen in diesem Fall der Arbeitsweise von politischen Propagandisten.”

5. “Medienkritik im Web”
(rosprivat.wordpress.com, Ronny Schilder)
Eine kurze Vorstellung von sechs Websites, die Medienkritik im Internet betreiben. “Journalisten, die ihren Beruf ernst nehmen, dürften sich von Medienkritik eher inspiriert als getroffen fühlen.”

6. “Deutsche sind vom Mars, Schweizer von der Venus”
(welt.de, Roger Schawinski)
Der Schweizer Roger Schawinski berichtet von seinen Erfahrungen in der Führungsetage von Sat.1 in Berlin: “Eine enge Mitarbeiterin erklärte mir, dass ich nicht einfach unangemeldet in eine Redaktion platzen könne, um mit den gerade Anwesenden über die aktuelle Sendung zu debattieren. Ein Geschäftsführer genieße in Deutschland so hohen Respekt, dass sich viele Mitarbeiter nicht frei und ungezwungen äußern könnten.”

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Eine Zeitung über Sex

Bücher sind für “Bild” nur dann interessant, wenn man ein “Skandal-” oder “Schmuddel-” davor setzen kann. Wenn man völlig scheinheilig “Auszüge aus dem Buch gefällig?” fragen und die ekligsten geilsten beim Durchblättern ins Auge gefallenen Stellen zitieren kann. Wenn Sprache möglichst “scharf” und die Autorin möglichst jung ist.

Auf der Suche nach weiteren “Sex-Romanen” interessiert sich “Bild” vor allem für den ersten Teil des Wortes und weniger für die Romane und ihre Autoren selbst:

Endersbach: Teenie (16) schreibt Buch über Sex

“Flotte Charlotte! Mit 16 schreibt sie Sexromane … dabei hatte sie selbst noch nie einen Freund”, titelte die Bildzeitung am Mittwoch, 24. Februar.

“Als ich die Überschrift sah, musste ich erst einmal lachen, weil das so komisch und unwirklich wirkte und ja überhaupt nicht zu dem Buch passt”, erinnert sich Nathalie Ulbrich. Doch dann liest sie weiter und bekommt Angst um ihre Tochter: “… nicht so eklig und vulgär wie bei Charlotte Roche (31/Feuchtgebiete). Und auch angeblich nicht bei anderen Autoren abgeschrieben, wie Kritiker es Helene Hegemann (18/Axolotl Roadkill) unterstellten.”

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Margot Käßmann: Einmal grün und zurück

Vielleicht haben Sie sich auch schon mal gefragt, wie eigentlich der ganze Quatsch, der mitunter so in der Zeitung steht, überhaupt in die Zeitung kommt.

Oder wer all das fordert, was in “Bild” gefordert wird, wenn “Bild” nicht gerade selber fordert?

Also, sagen wir mal so etwas:

Grüne wollen Käßmann in die Politik holen. Berlin - Jetzt wirbt die erste Grünen-Politikerin um Bischöfin Margot Käßmann. Die kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Agnes Krumwiede, will Käßmann in die Politik und zu den Grünen holen. Krumwiede zu BILD: "Frau Käßmann wäre ein Gewinn für uns Grüne, obwohl es wichtig ist, dass Kirche und Politik unabhängige Instanzen bleiben." Käßmann hatte am Mittwoch wegen einer Alkoholfahrt alle Kirchen-Ämter niederlegt.

Auf ihrer Website distanzierte sich Agnes Krumwiede sodann von der “Bild”-Berichterstattung und erklärt:

Dass ich Frau Käßmann zu “den Grünen holen will” ist eine reine Erfindung der BILD-Zeitung.
Ebenso die Behauptung, dass Frau Käßmann von “den Grünen umworben wird”.

Frau Krumwiede schildert ausführlich, wie sie von “Bild” um eine Stellungnahme gebeten wurde, “ob Bischöfin Käßmann in die Politik wechseln sollte”, und was “Bild” dann letztlich daraus gemacht hat.

Die Grünen-Politikerin war dabei offenbar nicht das einzige Mitglied des Bundestags, das von “Bild” kontaktiert wurde — der Bonner SPD-Abgeordnete Ulrich Kelber twitterte nämlich kurz nach Erscheinen der “Bild”-Meldung am Samstag:

BILD: "Grüne wollen Käsmann in Politik holen." So macht BILD Schlagzeilen. Zuvor war ich gefragt worden, ob ich das für SPD fordern will

Auf unsere Anfrage berichtet Kelber, er sei von einem “Bild”-Mitarbeiter (bzw. einem Mann, der sich als “Bild”-Mitarbeiter ausgegeben hatte) angerufen worden, der ihn fragte, “ob ich nicht etwas zu der Forderung erzählen wolle, Frau Käßmann in die Politik, in die SPD zu holen.” Als Kelber den Anrufer gefragt habe, wer diese Forderung denn erhoben habe, habe er zur Antwort erhalten: “Bisher noch niemand.” Nachdem Kelber abgelehnt hatte, diese Forderung zu erheben, habe er sie kurz darauf wortgleich als Vorschlag der Grünen in “Bild” gelesen.

Die Langfassung der Meldung, die Bild.de bereits am Freitagabend veröffentlicht hatte, deutet ihre eigene Entstehungsgeschichte an einer Stelle sogar an:

Agnes Krumwiede (33), kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, kann sich eine Zukunft der Theologin in der Politik vorstellen und würde sie gerne in ihre Partei holen.

“Vorstellen” können sich wohl die Vertreter aller Parteien so Einiges.

Ulrich Kelber war übrigens nach eigenen Angaben überrascht, dass sich “Bild” mal wieder bei ihm gemeldet hat: Nachdem er vor einiger Zeit eine ähnliche Anfrage der Zeitung mit der Gegenfrage gekontert hatte, ob er die vorformulierte “Forderung” noch ein wenig umformulieren dürfe, habe ihn “Bild” eine Zeit lang nicht mehr angerufen. Er wisse aber von Kollegen, dass derartige Anfragen fast an der Tagesordnung seien.

Nachtrag, 2. März: Die von uns zitierte und verlinkte Pressemitteilung von Agnes Krumwiede, in der sie die “Bild”-Berichterstattung kritisiert, ist seit gestern Nachmittag von der Internetseite der Politikerin verschwunden. Unsere Anfrage, warum der Text offline genommen wurde, blieb bisher unbeantwortet.

2. Nachtrag, 5. März: “Bild” veröffentlichte heute folgende Gegendarstellung:

Gegendarstellung. zu "Grüne wollen Käßmann in die Politik holen" am 27.02.2010, S. 2: Sie schreiben: "Jetzt wirbt die erste Grünen-Politikerin um Bischöfin Margot Käßmann. Die kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Agnes Krumwiede, will Käßmann in die Politik und zu den Grünen holen. Krumwiede zu BILD: "Frau Käßmann wäre ein Gewinn für uns Grüne, obwohl es wichtig ist, dass Kirche und Politik unabhängige Instanzen bleiben."
Dazu stelle ich fest: Ich werbe nicht um Frau Käßmann und will sie nicht in die Politik holen. Tatsächlich habe ich folgende Veröffentlichung mit Ihnen abgestimmt: "Die kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Agnes Krumwiede, kann sich eine Zukunft in der Politik für Bischöfin Margot Käßmann vorstellen. Krumwiede zu BILD: "Frau Käßmann wäre sicher ein Gewinn für uns Grüne, obwohl ich es wichtig finde, dass Kirche und Politik unabhängige Instanzen bleiben." Berlin, den 01.03.2010. RA Johannes Eisenberg für Agnes Krumwiede, Mitglied des Deutschen Bundestages. Hinweis der Redaktion: Frau Krumwiede hat recht.

Der ausführlichere Artikel zum gleichen Thema bei Bild.de wurde entfernt.

Preiserhöhung allein zu Haus

Früher hat man, wenn man nicht zuhause war, seine Lampen an Zeitschaltuhren angeschlossen und den Nachbarn einen Schlüssel gegeben, damit sie die Rolladen rauf- und runterziehen können.

Heute teilt man aller Welt über das Internet mit, dass man nicht zuhause ist — das spart Stromgebühren und die Flasche Wein für die Nachbarn. Die Einbrecher freuen sich auch über die Hinweise.

Über diesen (tatsächlich etwas überraschenden) Trend berichtete Bild.de in der vergangenen Woche und wusste mit einer Meldung aus Großbritannien zu überraschen:

Auf sorglose Netzwerker, die zu oft mitteilen, dass sie nicht zu Hause sind, sind mittlerweile auch Großbritanniens Versicherer aufmerksam geworden. Die Tageszeitung “The Telegraph” berichtet, dass britische Versicherungen von eifrigen Nutzern sozialer Netzwerke bereits zehn Prozent höhere Gebühren für die Hausratversicherung verlangen. Die Zeitung beruft sich auf das Preisvergleichsportal “Confused.com”.

Egal, wie man es dreht und wendet: Das ist falsch.

Der “Telegraph” berichtet nämlich mitnichten, dass Versicherungen schon jetzt höhere Gebühren verlangen, sondern lediglich, dass sie dies bald tun könnten.

Schon die Überschrift spricht da eine deutliche, wenn auch fremde Sprache:

Using Facebook or Twitter 'could raise your insurance premiums by 10pc'

Die Möglichkeit einer solchen Preiserhöhung wird auch im Artikel noch einmal betont:

Darren Black, Chef der Hausratsversicherungsabteilung bei Confused.com, sagte: “Ich wäre, angesichts der wachsenden Popularität Sozialer Netzwerke und von Orts-basierten Anwendungen, die nach vorne drängen, nicht überrascht, wenn Versicherungsanbieter diese Faktoren bei der Preisfestsetzung eines persönlichen Risikos berücksichtigen. Bei Leuten, die diese Seiten nutzen, könnten wir Preiserhöhungen von bis zu 10 Prozent erleben.”

Und wie es die Falschmeldung von Bild.de dann auch noch in die österreichische “Kronen Zeitung” schaffte, steht bei den Kollegen von Kobuk!

Count-Up, Riekel, HartzIV

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Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Gerüchteköche”
(fr-online.de, Ulrike Simon)
Ulrike Simon fragt Joachim Widmann, Chefredakteur der Nachrichtenagentur ddp, wie es dazu kommen konnte, dass so viele deutschsprachige Medien eine angebliche Trennung des Schauspielerpaars Brad Pitt und Angelina Jolie vermeldeten. “Widmann erzählt, dass die Kollegin aus der Redaktion die Meldung der News of the World zunächst zur Seite gelegt habe. Sie habe sie erst veröffentlicht, nachdem im Internet drei Dutzend Medien darauf eingegangen waren.”

2. “Das Riekelsche Gesetz”
(print-wuergt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris fühlt sich als freier Journalist von den Methoden der “Bunte”-Chefredakteurin Patricia Riekel beleidigt. “Wir sind Journalisten, keine Spanner, die im Gebüsch liegen um herauszufinden, ob und mit wem Parteivorsitzende ein Sexualleben haben.”

3. “Journalismus 2010: Drecksarbeit”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
“Mir sind diese Woche gleich zwei Dinge widerfahren, die aktuelle Probleme der gedruckten Presse dokumentieren, ohne gleich hochtrabende Begriffe wie ‘Qualitätsjournalismus’ oder ‘redaktionelle Autonomie’ zu strapazieren.”

4. “Käßmann, Mixa und die Kunst der Gegendarstellung”
(stern.de/blog, Artur Fischer-Meny)
Artur Fischer-Meny geht auf die schnelle mediale Verbreitung der “Alkoholfahrt” von Margot Käßmann ein und recherchiert Straßenverkehrsdelikte in der katholischen Kirche.

5. “Pingpong mit Westerwelle”
(nn-online.de, Hans-Peter Kastenhuber)
Die “Nürnberger Nachrichten” fassen nochmals zusammen, was “Bild” in den letzten zwei Monaten alles zum Thema HartzIV schrieb.

6. “Das unwürdige Count-Up”
(begleitschreiben.twoday.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig fragt sich, warum zum Erdbeben im Chile “trotz unsicherster Nachrichtenlage immer wieder sinnlose Zahlen von Todesopfern weitergemeldet” werden.

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