Archiv für Januar 4th, 2008

Die Wahl der Qual

Seit ein Münchner Rentner von zwei ausländischen Jugendlichen in der Münchner U-Bahn zusammengeschlagen wurde, fordert “Bild” Tag für Tag implizit oder explizit, oh Verzeihung: explizit, kriminelle Ausländer schnellstmöglich abzuschieben.

Aber solche sozialen Themen sind ja vielschichtig, Lösungsansätze komplex und die gesellschaftlichen Lernprozesse oft langwierig und unvorhersehbar. Da lohnt es sich, zwischendurch einmal den Lesern die Möglichkeit zu einem differenzierten Stimmungsbild zu geben. Zum Beispiel in dem Artikel mit der subtilen Überschrift “Dauer-kriminelle Ausländer ausweisen!” auf Bild.de mit diesem Online-Voting:

Und wenn es Ihnen jetzt — anders als den Bild.de-Lesern, die bislang mit überwältigender Mehrheit für “Abschieben” gestimmt haben — Probleme bereitet, sich für eine der drei Optionen zu entscheiden: Keine Sorge. Bei Bild.de, wo man sich mit sowas auskennt, ist man sich offenbar der Schwierigkeit bewusst, dass Sie ja vielleicht die Ausländer erst abschieben und dann wegschließen, zum Umerziehen wegschließen oder vor der Abschiebung umerziehen lassen möchten. Jedenfalls lässt sich im Bild.de-Voting auch für zwei oder sogar alle drei Punkte gleichzeitig stimmen:

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Mit Dank an Lars K.!

Nachtrag, 5.1.2008: Inzwischen kann man auf Bild.de nur noch für einen der drei Punkte stimmen.

Die Unwahrheit über kriminelle Ausländer

Die Wahrheit über kriminelle Ausländer / Dauer-kriminelle Ausländer ausweisen!

Berlin — Die kriminellen Übergriffe ausländischer Jugendlicher — es ist alles noch viel schlimmer! Allein in Berlin gab es laut Berliner “Tagesspiegel” Ende September 2363 jugendliche Schwerkriminelle (darunter 46 Kinder!) mit fünf und mehr Polizei-Eintragungen wegen Gewalttaten — ein Plus von 7,8 Prozent innerhalb von nur drei Monaten.

Zum ersten Mal spricht jetzt ein Oberstaatsanwalt Klartext über den Umgang und die Hintergründe der zunehmenden Kriminalität ausländischer Jugendlicher. (…)

(Link von uns.)

So macht man das, wenn man den ohnehin erschreckend hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Mehrfach-Gewalttätern noch höher wirken lassen will: Die Schlagzeile auf Seite 1 spricht von Ausländern, die Überschrift über dem Artikel spricht von Ausländern, der erste Satz spricht von Ausländern, der folgende Satz spricht von Ausländern — aber die konkreten Angaben beziehen sich nicht auf Ausländer, sondern sind die Gesamtzahl der Mehrfach-Gewalttäter aller Nationalitäten. “Bild”-Autor Dirk Hoeren, sonst für Renten-Lügen zuständig, hat sich heute an Kriminelle-Ausländer-Lügen versucht und einfach zwei Sätze hintereinander montiert, die sich scheinbar, aber nicht tatsächlich aufeinander beziehen.

Die Zahlen stammen aus einem Vortrag, den der für jugendliche Serientäter zuständige Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch im Dezember bei einem Vortrag (pdf) vor der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung hielt. Bereits im Mai hatte Reusch in einem “Spiegel”-Gespräch gesagt, dass 80 Prozent seiner Täter einen Migrationshintergrund hätten und wörtlich hinzugefügt: “Jeder Einzelne dieser ausländischen Täter hat in diesem Land nicht das Geringste verloren.” Insofern ist nicht ganz klar, warum Dirk Hoeren heute den Eindruck einer Premiere erweckt:

“Er bricht ein Tabu! Der erste Oberstaatsanwalt spricht Klartext über die Kriminalität von jungen Ausländern in Deutschland!

“Bild” nennt Reusch “Deutschlands mutigster Oberstaatsanwalt”, lässt aber offen, ob es schon mutig ist, Zahlen zu nennen, die vorhandene Ressentiments der Bevölkerung bestätigen, und Forderungen aufzustellen, die populär sind und von der größten deutschen Tageszeitung unterstützt werden.

Von “Bild” unerwähnt bleibt, dass sein “Mut” den Oberstaatsanwalt aber tatsächlich schon in Schwierigkeiten brachte: Im “Spiegel” hatte er angegeben, Untersuchungshaft bei Jugendlichen als Erziehungsmittel zu nutzen, obwohl sie dazu eigentlich nicht gedacht ist. Nach Ansicht von Kritikern wäre eine solche Praxis rechtswidrig; die Berliner Justizsenatorin drohte Reusch öffentlich mit einem Disziplinarverfahren.

Reusch selbst hat seinen Vortrag vor der Hanns-Seidel-Stiftung übrigens mit dem Hinweis beendet, dass “Juristenkollegen” seine Vorschläge allesamt für verfassungswidrig oder zumindest unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes halten könnten. Der “Bild”-Leser ahnt davon natürlich nichts.

Mit Dank an Thomas S.!

1,50-Euro-Frau nicht mehr 1,50-Euro-Frau

Erinnern Sie sich an Claudia Kemfert?

Claudia Kemfert ist die 1,50-Euro-Frau von “Bild”: Alle paar Wochen sagt die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Zeitung voraus, dass der Spritpreis in der nächsten Zeit auf über 1,50 Euro steigen werde. (Der Spritpreis selbst wollte dem bislang nicht nachkommen, und Frau Kemfert sagte in einem Interview mit BILDblog, sie erwarte maximal einen Preis von 1,50 Euro für Superbenzin.)

Aber auch eine Benzinpreisexpertin ist nur ein Mensch, und vielleicht hatte Frau Kemfert einfach keine Lust mehr, mit der immer gleichen Zahl in “Bild” zitiert zu werden. Vielleicht hat “Bild” aber auch gesagt: Frau Kemfert, wenn Ihre Prognosen eh nicht eintreffen, könnten Sie wenigstens ein bisschen aufregender sein.

Jedenfalls warnt Claudia Kemfert heute auf Seite 1 der “Bild”-Zeitung nicht mehr, dass Benzin 1,50 Euro kosten könnte…

In den nächsten 10 Jahren könnte der Preis für den Liter Sprit bis auf 4 Euro steigen! Das befürchtet das Institut DIW, falls der Ölpreis weiter so rasant klettert.

DIW-Expertin Claudia Kemfert zu BILD: “Sollte sich der Ölpreis verdoppeln – was nicht unwahrscheinlich ist – und der Dollarkurs normalisieren, würde der Liter Super 4 Euro kosten.”

6 vor 9

Laute Misstöne wegen DRS 4 News
(tagesanzeiger.ch, Thomas Knellwolf)
Eine Untersuchung offenbart Schwächen des neuen Senders. Radiomitarbeiter kritisieren DRS 4 als Fehlkonstruktion. Einzelne kündigen. Unter Druck handelt der Chefredaktor.

Die Intelligenz der Masse
(vanityfair.de, Ulf Poschardt)
Mehr Diskussion ohne Hierarchie und Zensur – warum das Geschreibsel im Internet echte Bereicherung sein kann.

Das Internet als Ausrede
(freitag.de, Martin Böttger)
Die Sorge deutscher Verlage vor Konkurrenz durch Fernsehen und Internet bemäntelt Ideenlosigkeit und Demographie.

Journalisten: Geheimnisträger zweiter Klasse
(telepolis.de, Burkhard Schröder)
Die Journalistenverbände jammern, das jetzt in Kraft getretene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung degradiere sie zu “Berufsgeheimnisträgern zweiter Klasse”, “kastriere” die Pressefreiheit, unterhöhle den Informantenschutz und lasse die Quellen versiegen. Wahr ist das nicht unbedingt – und die notwendigen Konsequenzen zieht auch kaum jemand.

Die Kehrseite von E-Mail und Internet
(dradio.de, Katrin Heise)
Nach Ansicht von Reinhard Oppermann wird unser Arbeitsalltag zunehmend durch moderne Kommunikationsmittel zerstückelt. Es herrsche kein Mangel an Information und Kommunikation, sondern an Aufmerksamkeit, sagte der Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (mp3).

Der Mörder ist immer der Raucher
(tagesspiegel.de, Joachim Huber und Sonja Pohlmann)
Das Fernsehen wird zur rauchfreien Zone. Es sei denn, die Zigarette ist dramaturgisch notwendig. Denn böse Menschen greifen in den Drehbüchern immer noch gerne zur Kippe.