Eigentlich wollten wir hier im BILDblog schon vor knapp zwei Wochen über den Fall berichten. Es geht um die erschreckende Tat eines Mannes, der erst auf seine Frau einstach, ihr dann ein Seil um den Hals band und sie anschließend an seinem Auto hinter sich herzog.
Damals, am 23. November, veröffentlichte “Bild” diesen großen Artikel:
(Unkenntlichmachungen durch uns.)
Und auch Bild.de berichtete (auf einen Link verzichten wir ganz bewusst) mit einem kostenpflichtigen “Bild plus”-Artikel:
In den Tagen zuvor hatten die “Bild”-Medien das Geschehen im niedersächsischen Hameln schon intensiv begleitet. Sie hatten unverpixelte Fotos des Opfers gezeigt (vermutlich mit Zustimmung der Familie), sie hatten unverpixelte Fotos des geständigen Täters gedruckt, sie hatten Fotos von Blutspuren veröffentlicht. Das volle Programm.
Am 23. November sind sie noch einen Schritt weiter gegangen: “Bild” und Bild.de (bereits einen Tag zuvor) verbreiteten eine Aufnahme des Opfers Kader K. aus dem Krankenbett auf der Intensivstation, riesengroß, wie man oben erahnen kann. Zu dieser Zeit lag sie in der Universitätsklinik in Hannover im Koma, hilflos, angeschlossen an viele Schläuche. Die “Bild”-Mitarbeiter verzichteten auf jegliche Unkenntlichmachung.
Dass die Veröffentlichung dieses Fotos eines lebensgefährlich verletzten Opfers auf Kritik stoßen könnte, dürften auch “Bild” und Bild.de geahnt haben. Jedenfalls stellten sie bereits in der Unterzeile klar, dass “der Bruder von Kader K.” “in BILD” spreche, und ihren Artikel begannen die Autoren direkt so:
“WIR WOLLEN DER WELT ZEIGEN, WAS DIESER HUND KADER ANGETAN HAT.”
Das sagt Maruf K. (35), der Bruder von Verbrechensopfer Kader K. (28).
Ein paar Absätze später schreiben sie:
Ihr Bruder fotografierte sie auf der Intensivstation, gab BILD das Foto — weil die Familie dokumentieren will, was geschehen ist.
Deswegen hatten wir das Thema erstmal nicht aufgegriffen: Wenn eine Familie sich dazu entscheidet, das Foto eines Angehörigen an “Bild” zu geben, kann die Zeitung es auch drucken. Natürlich hätte sich die Redaktion dazu entschließen können, aus Pietät auf den Abdruck zu verzichten oder das Opfer zumindest zu anonymisieren. Aber bei einer solchen Entscheidung geht es um Anstand. Und es geht um “Bild” und Bild.de.
Heute ist in der “Süddeutschen Zeitung” ein Artikel zu der “Gewalttat in Hameln” erschienen. Tim Neshitov hat die Familie von Kader K. besucht und mit ihr über den tragischen Fall gesprochen. Neshitov zitiert in seinem Text auch den Bruder, der “Bild” das Foto seiner Schwester im Krankenbett gegeben hatte:
Die Bild-Zeitung hat ihr obligatorisches Opferfoto abgedruckt, sogar mit Beatmungsschläuchen, wofür Kaders älterer Bruder auf der Intensivstation sein Handy zücken musste (“Ich war verwirrt, wie im Nebel, und die sagten noch, so ein Foto würde Kader nützen”).
Der Bruder von Kader K. bereue es inzwischen, bei dieser “Bild”-Geschichte mitgemacht zu haben, sagte uns Tim Neshitov auf Nachfrage.
Wir werden ab und zu gefragt, warum wir “Bild” und Bild.de immer noch beobachten und regelmäßig kritisieren. Dazu kommt oft der Satz: “Die Leute von ‘Bild’ sind doch gar nicht mehr so schlimm wie früher.” Vielleicht nicht alle. Einige aber schon.
Mit Dank an Rosemarie H., Thomas S., Fab und @HoechDominik für die Hinweise!
1. «Als Journalist muss ich sagen: Das ist faszinierend!» (schweizamsonntag.ch, Yannick Nock & Christof Moser)
Alan Rusbridger war von 1995 bis 2015 Chefredakteur der renommierten britischen Tageszeitung “The Guardian”. Im Interview wird er mit unangenehmen Fragen zu Gegenwart und Zukunft konfrontiert: Der “Guardian” habe heute weltweit 100 Millionen Online-Nutzer und trotzdem kein funktionierendes Geschäftsmodell. Im vergangenen Jahr seien 60 Millionen Euro Verlust aufgelaufen, mehr als 200 Stellen sollen gestrichen werden. In den Antworten schimmert viel Rat- und Hilflosigkeit durch. Eine Chance auf Monetarisierung sieht er im Mix: “Zum Beispiel auf ein Publikum setzen, das sich als Mitglied einer Community zahlungsbereit zeigt. Oder Native Advertising als Einnahmequelle. Vielleicht setzt sich auch stiftungsfinanzierter Journalismus durch. Oder Live-Events, um Erlöse zu generieren. Wahrscheinlich ist, dass eine Vielzahl von Einnahmequellen den Journalismus finanzieren muss.”
2. Transparenz ohne Wert (medienwoche.ch, Lothar Struck)
Recherche als Selbstzweck und ohne Erkenntnisgewinn, nennt Lothar Struck die Offenlegung des Pseudonyms der italienischen Bestsellerautorin Elena Ferrante. Der betreffende Journalist hätte das Pseudonym und die dahinterstehende Person respektieren müssen. Alles andere seien Ausreden: “In Wirklichkeit dürfte es ihm weder um die Literatur Ferrantes noch um das Informationsbedürfnis eines Publikums gegangen sein. Die Aktion dient einzig dazu, seinen Ruhm zu steigern. Das Recht auf Anonymität, auf Privatsphäre, das ansonsten jedem Verbrecher zugestanden wird, wird eigenmächtig und nonchalant eines pervertierten Transparenzwahns wegen außer Kraft gesetzt.”
3. «Ich weiss nicht, was ich wäre, wenn ich nicht Geschichte studiert hätte.» (etue.ch, Valentin Rubin & Lisa Gnirss)
Monika Bolliger arbeitet von Beirut aus als Nahostkorrespondentin für die “NZZ”. Im Interview mit der HistorikerInnen-Zeitschrift “etü” erzählte sie vom Umgang mit Gefahr in Gaza und Syrien, von Journalismus mit schwieriger Quellenlage und von ihrem Geschichtsstudium an der Universität Zürich.
4. Die Tagesschau ist nicht das Problem (blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz spöttelt über die mittlerweile vorliegende Entscheidung zum Streit um die Tagesschau-App: “Man könnte auch darüber sinnieren, wie lebensecht ein Urteil über ein Digital-Angebot ist, das ein Gericht auf der Basis seiner ausgedruckten (!) Version erlässt. Ebenso könnte man sich lange darüber auslassen, wie realitätsnah ein Urteil ist, das ernsthaft definieren will, was im hypermedialen Netz als „Presse“ zu bezeichnen wäre.” Doch der Streit um die Tagesschau-App lenke nur von den eigentlichen Problemen ab. Und die liegen nach Jakubetz unter anderem darin, dass die analoge Generation nicht loslasse und es der Branche alles in allem immer noch zu gut ginge. (Für einen Kommentar zum Urteil siehe auch Hans Hoffs Beitrag Wie sich die Tagesschau-App verändern muss in der “SZ”)
5. Die Hassmaschine (spiegel.de, Jan Fleischhauer)
Für Jan Fleischhauer ist ein Besuch bei Facebook wie ein Gang durchs Strafgesetzbuch. Beleidigung, Nötigung, Verherrlichung des Nationalsozialismus, Leugnung des Holocaust, Volksverhetzung. Alles sei möglich! Fleischhauer geht in seiner Kolumne der Frage nach, warum Facebook nicht stärker eingreife und kommt zum Schluss: “Es tut nicht mehr, weil sich das Nichtstun auszahlt. Kompetente Leute einzustellen, kostet Geld. Die Beamten, mit denen ich im Justizministerium in Berlin gesprochen habe, gehen davon aus, dass in der Europazentrale des Unternehmens in Dublin nicht mehr als eine Handvoll Mitarbeiter so gut deutsch sprechen, dass sie eine Verleumdung von einem Witz unterscheiden können. Außerdem hält die Leute nichts so verlässlich bei der Stange wie Wut. Für einen Konzern, der davon lebt, dass die Menschen möglichst viel Zeit auf seinen Seiten verbringen, kann es nichts Besseres geben.”
6. Amazon kann alles – sogar große Flops (dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath hat sich die seit Freitag verfügbare Amazon-Produktion „Crisis in Six Scenes“ angeschaut und ist einigermaßen entsetzt. Die Episodenreihe würde wie ein gestreckter, zerstückelter und noch dazu schlechter Woody-Allen-Film wirken. Doch Lückerath kann dem Seriendesaster auch Gutes abgewinnen: “Ein so prominenter Flop für Amazon tut gut – selbst Amazon. Es ist das Ventil für den ins Unermessliche gestiegenen Erwartungsdruck. Gut ist dieser Flop aber auch für jene, die den neuen SVoD-Anbietern eine grundsätzliche Überlegenheit bescheinigen sowie denen, die der Meinung waren: Wer Film für die große Leinwand kann, schafft Fernsehen doch mal eben mit links. Woody Allen weiß nun, dass dem nicht so ist. In so vielerlei Hinsicht ist „Crisis in Six Scenes“ also gar nicht so schlecht. Nur gucken braucht man es deshalb noch lange nicht.”
Ob man aus ihnen auch Benzin machen kann, verrät Bild.de zwar nicht, aber ist ja auch so schon eine Knallerstory:
In der britischen Hauptstadt hat Schädlingsbekämpfer Dean Burr sechs große Biester unschädlich gemacht. Es sollen Ratten sein, rund 60 Zentimeter lang, etwa so groß wie Katzen!
Und nicht nur das!
Burr vermutet, dass die Tiere so zugelegt haben, weil sie auch Kannibalen seien: „Sie fressen Mäuse, sie fressen aber auch Artgenossen, sterbende oder tote Tiere.“
INVASION DER KANNIBALISCHEN SUPERRATTEN?
So viel vorweg: Nee.
Aber der Reihe nach. Dean Burr, der Kammerjäger, hatte das Foto vor ein paar Wochen bei Facebook gepostet und behauptet, er habe die Tiere in London gefangen.
Die britische “Sun” bekam Wind davon und schrie am vergangenen Freitag:
Am Wochenende schwappte die Geschichte dann in den deutschsprachigen Raum — Bild.de kopierte sie ungeprüft, ebenso wie N24:
Sie sind mindestens drei Jahre alt und zeigen ganz normale Nutrias, die bis zu 65 Zentimeter groß werden, Vegetarier und völlig harmlos sind. Die Tiere wurden auch nicht in London gefangen, sondern in den USA.
Inzwischen hat der Kammerjäger das Foto von seiner Facebookseite gelöscht, und bei einigen der deutschen Abschreiber regen sich allmählich doch ein paar Zweifel.
Stern.de hat die Überschrift heute unauffällig in „Sind das wirklich Ratten? Diese Riesenbiester machen London unsicher“ geändert und schreibt am Ende des Artikels:
Einige Leser wiesen uns darauf hin, dass es sich bei den vermeintlichen Ratten um Nutrias, auch Biberratten genannt, handeln könnte. Die aus Südamerika stammenden Nager sind mittlerweile auch in Europa heimisch und ernähren sich von Pflanzen und Insekten. Ob es sich bei den gezeigten Tieren aber tatsächlich um die harmlosen Nagetiere handelt, ist aktuell noch unklar. Die markanten Orange-farbenen Zähne sprechen aber tatsächlich dafür.
Und News.de schreibt:
Einige Zweifler gibt es dennoch. Es könne sich demnach auch gar nicht um eine herkömmliche Ratte handeln, sondern um eine sogenannte Biberratte. Diese kommt ursprünglich aus Südamerika, sind im Gegensatz zur Kanalratte allerdings fast ausschließlich Vegetarier. Bleibt nur die Frage: Wie kommen die Biberratten nach England? Es darf spekuliert werden.
Falls Sie in der Zwischenzeit Entzugserscheinungen oder stressige Verwandte plagen, empfehlen wir eine Stöberrunde in unserem Archiv. Unsere Beiträge aus diesem Jahr:
Die “6 vor 9”-Ausgaben finden Sie hier, die “Perlen des Lokaljournalismus” hier.
Wir wünschen allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr — und danken allen, die uns in diesem Jahr mit Hinweisen versorgt und unterstützt haben, ganz besonders:
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1. Agent in eigener Sache (zeit.de, Christian Fuchs)
“Zeitmagazin”-Autor Christian Fuchs hatte das erste Mal das Gefühl, überwacht zu werden, als einer seiner Informanten plötzlich verhaftet wurde. Heute sitzt der auf der Anklagebank im NSU-Prozess. Seitdem brechen Fuchs’ Telefonate manchmal ab. Der Journalist ist inzwischen vorsichtiger, um seine Quellen zu schützen — auch wenn er nicht glaubt, aktiv abgehört zu werden. Was die Geheimdienste über ihn gespeichert haben, hat ihn trotzdem überrascht.
2. “Ich bin kein Einzelfall” (taz.de, Claudia Hennen)
Vor einem Jahr fand der Dortmunder Journalist Peter Bandermann seinen Namen auf einer Liste im Internet. Neonazis sammelten “insgesamt zehn Personen, die potenziell geeignet sein sollten, dass man vor ihrer Haustür demonstriert.” Kurz darauf wurde seine Adresse veröffentlich, sein Haus mit schwarz-roter Farbe beworfen. Im Februar erschien eine Todesanzeige mit seinem Namen, seitdem gehören anonyme Anrufe, Nachstellungen und Nazi-Post zu Bandermanns Alltag. Davon erzählt er im Interview mit Claudia Hennen. Zum Thema: “Zapp” mit “Pegida und Co. bedrohen Journalisten”
3. Der Tag, an dem mir klar wurde, wie egal die “Bild”-Zeitung ist (rnd-news.de, Ulrike Simon)
Ulrike Simon ist “Bild” egal. Zumindest so egal, dass sie in ihrer Kolumne darüber schreibt, wie egal “Bild” ihr ist. Die Gleichgültigkeit kommt vor allem durch ein Gespräch mit dem Schauspieler Ulrich Matthes: “Sinngemäß und stark verkürzt hatte er gesagt, ‘Bild’ sei ihm zwar unsympathisch, mehr aber noch egal.” Das überzeugte Simon: “Bild” lebe “in einer Parallelwelt. Ihr Verständnis von Prominenz und Relevanz hat mit meinem rein gar nichts zu tun.”
4. Wo die Recherche der Leser an ihre Grenzen stößt (opinion-club.com, Falk Heunemann)
Das Recherchekollektiv “Correctiv” will zwielichtige Finanzströme bei den 414 deutschen Sparkassen durchleuchten und hat dafür eine “virtuelle Redaktion” aufgebaut, um sich von seinen Lesern helfen zu lassen. Falk Heunemann hält das für ein “nicht nur überfälliges, sondern auch gleich doppelt nützliches Projekt” — sieht aber zwei Probleme und trägt “Correctiv” und der Crowd eine weitere Recherche auf. In den Kommentaren antwortet “Correctiv”-Leiter David Schraven.
5. “Ich kämpfe weiter” (tagesspiegel.de, Sonja Álvarez)
Ali Anousla drohen wegen seiner Recherchen in seinem Heimatland Marokko bis zu 20 Jahre Haft. Einschüchtern lassen will sich der Journalist allerdings nicht. Im Interview mit Sonja Álvarez spricht er darüber, wie sich seine Texte im Netz verbreiten, wie er seine Arbeit finanziert und mit welchen Mitteln der Staat versucht, ihn verstummen zu lassen.
6. Jugendwort 2015: Hefte raus, Vokabeltest! (ze.tt, Mark Heywinkel)
Alljährlich sucht Langenscheidt nach dem “Jugendwort des Jahres” — und genauso regelmäßig beschweren sich mittelalte Journalisten, dass junge Leute in Wahrheit doch völlig anders sprechen würden. Mark Heywinkel findet: “Welches Wort die Jury morgen zum Gewinner kürt, ist herzlich egal.” Überhaupt solle man die ganze Sache nicht so ernst nehmen. Deshalb: “Auf zum Vokabeltest: Könnt ihr in der folgenden Geschichte unsere Lieblingsworte der Long- und Shortlist aus 2015 richtig zuordnen?”
1. Die kleine sechsstellige Summe (taz.de, Anne Fromm)
Der Berliner “Tagesspiegel” muss bis Jahresende einen “kleinen sechsstelligen Betrag” einsparen. Konkret bedeutet das: keine Dienstreisen, keine Bezahlung von Praktikanten, weniger Abomarketing — und der Verzicht auf freie Mitarbeiter bis Anfang 2016. Für den Betriebsratsvorsitzenden ist das “vollkommen gaga” und ein “Ausdruck der Hilflosigkeit”.
3. You’re probably underestimating how much your articles are being shared via text message (niemanlab.org, Joshua Benton)
Die SMS wurde schon unzählige Male für tot erklärt. “Whatsapp” und andere Messaging-Dienste hätten der klassischen Kurzmitteilung längst den Rang abgelaufen. Zumindest unter “Buzzfeed”-Lesern lebt die SMS weiter: Die Nutzer der “Buzzfeed”-Newsapp teilen die meisten Artikel per Textnachricht — damit liegt die SMS noch vor (in dieser Reihenfolge) Twitter, E-Mail und Facebook.
4. Das berüchtigte Nicht-Anonymous-Kollektiv aus Erfurt postet heute über die AfD-Demo in Erfurt (facebook.com, Wir sind VIELE)
Das “Anonymous.Kollektiv” (nicht zu verwechseln mit “Anonymous”) verbreitet bei Facebook unter seinen knapp eine Million Fans stolz die Meldung, dass beim “Pegida”-Ableger in Erfurt am Mittwochabend “erneut Zehntausende Menschen gegen die verbrecherische Berliner Regierungsclique protestiert” hätten. Die Betreiber der Facebook-Seite “Wir sind VIELE” schreiben dazu: “Nun, der Domplatz war wirklich voll, dank Photoshop”. Siehe auch: das “Kraftfuttermischwerk”.
5. Die neuen Sex-Maschinen (zeit.de, Thorsten Schröder)
Der Pornobranche in den USA geht es nicht gut. Studios müssen dichtmachen, es bilden sich Monopole. Im Schnitt entstehe alle 39 Minuten ein neuer Film, schreibt Thorsten Schröder, die Konkurrenz sei durch die vielen Kostenlosportale enorm: “Die Inhalte werden extremer, in immer weniger Zeit werden immer mehr Filme produziert. Die Darsteller werden zu Sexmaschinen.”
6. Es ist Zeit (frank-stauss.de)
“Es ist Zeit für eine glasklare Haltung. Kein Wackeln. Kein Zaudern. Kein Zögern.”
Bei der Berichterstattung über Suizide sollten Journalisten sehr behutsam vorgehen. Seit Jahrzehnten ist erwiesen, dass die Selbstmordrate steigt, wenn zuvor intensiv über einen Suizid berichtet wurde (“Werther-Effekt”).
Um die Gefahr von Nachahmungstaten zu vermeiden, empfehlen Psychologen den Medien:
Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten zu vermeiden.
Anders gesagt: Sie sollten nicht so berichten, wie es die „Bild“-Medien in dieser Woche tun.
In dem Fall geht es geht um einen sogenannten erweiterten Suizid, bei dem ein Mann seine beiden Kinder und sich selbst getötet hat.
Gestern platzierte “Bild” den Fall prominent auf Seite 3 der Bundesausgabe, zeigte groß den Tatort (darum verzichten wir auf einen Ausriss des Artikels), nannte die Suizidmethode, das Alter des Mannes sowie mögliche Motive und zitierte einen Polizeisprecher mit den Worten, der Fall gehe „selbst bei erfahrenen Ermittlern“ „unter die Haut“.
Den Spekulationen über die Ursachen widmete Bild.de sogar eigene Artikel, heute zum Beispiel den hier:
Und weil ein Mensch, der so schlimme Dinge tut, in den “Bild”-Medien automatisch sämtliche Rechte verliert, zeigen sie heute auch ein Foto von seinem Haus — und natürlich sein Gesicht:
Auch den genauen Tatort erwähnen und zeigen die „Bild“-Medien immer wieder. Eines der Fotos taucht dabei in jedem Online-Artikel auf, die Quelle lautet:
Das ist glatt gelogen. Es sei denn „BILD FRANKFURT“ hat das gleiche Foto vor neun Jahren unter einem anderen Namen bei Wikipedia hochgeladen.
Dagegen scheint uns die Quellenangabe unter dem Porträtfoto des Mannes ein wenig ehrlicher:
Inzwischen hat Bild.de diese Angabe gelöscht.
Mit Dank an Boris R., Niko, Sebastian R., Robert G., Diana G. und anonym.
Heute hat vor dem Oberlandesgericht in Celle der Prozess gegen zwei mutmaßliche „IS“-Rückkehrer begonnen. „Mitgliedschaft in terroristischer Vereinigung und Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat“ lautet der Vorwurf, entsprechend groß ist das Interesse der Medien.
In einer Anordnung hatte das Gericht zuvor festgelegt, dass die Angeklagten nur verpixelt gezeigt werden dürfen. Die dpa hat sich daran gehalten und die Fotos nur mit Unkenntlichmachung veröffentlicht.
Inzwischen hat Bild.de das Foto ausgetauscht — und zeigt jetzt eins, auf dem der Mann noch besser zu erkennen ist.
(Der Vollständigkeit halber: Unkenntlichmachungen von uns.)
Nun könnte man argumentieren, dass sich der Angeklagte vor etwas mehr als zwei Wochen ja auch von der “Süddeutschen Zeitung” und dem NDR hat fotografieren und filmen lassen. Die Leute von “Bild” aber begründen die Missachtung der gerichtlichen Anordnung so:
Die blutigen Bilder seiner Kämpfer präsentiert ISIS regelmäßig im Internet, prahlt damit, rekrutiert neue Mitglieder. Doch stehen zwei dieser Kämpfer in Deutschland vor Gericht, sollen sie plötzlich unkenntlich gemacht werden? Da macht BILD nicht mit.
Mit Dank auch an Wolfram S., @RamisOrlu, Sebastian R., Bernhard W., Heinz B., Christian M. und Daniel!
Nachtrag, 16.55 Uhr: Inzwischen haben wir auch die sitzungspolizeiliche Anordnung des Gerichts gefunden (PDF). Darin steht:
Bei den Filmaufnahmen ist sicherzustellen, dass das Gesicht der Angeklagten vor der Veröffentlichung und vor einer Weitergabe der Aufzeichnungen an Fernsehveranstalter oder andere Medien durch ein technisches Verfahren anonymisiert wird und nur eine Verwendung in anonymisierter Form möglich ist.
Das habe der Senat aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes entschieden, erklärte uns die Gerichtssprecherin, und dabei sei ihm durchaus bewusst gewesen, dass einer der Angeklagten bereits im Fernsehen zu sehen gewesen sei.
Und was hält das Gericht von der Veröffentlichung? Die Gerichtssprecherin: “Die Anordnung ist seit Wochen für jeden zugänglich. Mit der Veröffentlichung wurden die Auflagen nicht eingehalten.”
Auf die Frage, ob “Bild” nun mit Konsequenzen rechnen muss, verwies die Sprecherin auf einen weiteren Punkt in der Anordnung, in der es heißt:
Kommen akkreditierte Pressemitarbeiter den Aufforderungen nicht nach, so können ihre Presse- und Medienunternehmen die Akkreditierung verlieren. Darüber entscheidet der Vorsitzende.
Nachtrag, 18:40 Uhr. “Bild” ist nun tatsächlich vom Prozess ausgeschlossen worden. Das hat der Vorsitzende Richter entschieden, wie uns die Gerichtssprecherin bestätigte.
Nachtrag, 4. August: In der heutigen Ausgabe nennt “Bild” die Sache einen “Eklat vor Gericht”, und Bild.de-Chef Julian Reichelt beklagt sich erwartungsgemäß über den …
Nun will das Gericht die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten schützen. Die Medien sollen diese Männer, die sich der schlimmsten Terrororganisation der Welt angeschlossen haben, nur gepixelt zeigen.
BILD hat sich dieser Anordnung widersetzt – und wurde deswegen vom Prozess ausgeschlossen. Mit Verlaub, Herr Richter Meier, damit schützen Sie die Falschen.
Wenn ISIS seine blutrünstigen Taten verübt, posieren die Täter mit abgeschlagenen Köpfen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Wenn die Terroristen sich aber vor einem deutschen Gericht für ihre Taten verantworten sollen, dürfen sie plötzlich nicht mehr erkannt werden? Das ist absurd!
BILD wird sich gegen diese Entscheidung wehren. Sie ist ein Angriff auf die Pressefreiheit!
Vergangene Woche hat der Presserat neben der Germanwings-Berichterstattung auch die “regulären” Beschwerden bearbeitet und im Anschluss (zusätzlich zu den zwei Rügen, sechs Missbilligungen und neun Hinweisen zu Germanwings) sechs Rügen, 26 Missbilligungen und 27 Hinweise ausgesprochen.
Am fleißigsten unjournalistisch unterwegs waren mal wieder die “Bild”-Medien und die der Regenbogenpresse.
***
Eine Rüge bekam Bild.de für die Veröffentlichung eines Notruf-Mitschnitts aus den USA, in dem eine schwer verletzte Frau berichtet, dass sie schwanger sei und ihr der Bauch aufgeschnitten wurde:
(Inzwischen offline.)
Der Beschwerdeausschuss bewertete die Veröffentlichung als unangemessen sensationell (Verstoß gegen Ziffer 11):
Der über fünf Minuten lange Mitschnitt ermöglichte es den Hörern, am Leiden der Frau teilzunehmen. Ein Begleittext mit einer journalistischen Einordnung des Falls fehlte. Da die Frau auch mit Bild gezeigt wurde und sie bei dem Notruf ihren Vornamen, ihr Alter und ihre Adresse nennt, lag zudem eine Verletzung des Schutzes ihrer Persönlichkeit vor.
Dass ein Begleittext fehlte, ist übrigens so nicht ganz richtig. Im Video-Bereich von Bild.de erschien das Video zwar ohne eigenen Text, geschrieben hat das Portal über den Fall aber an anderer Stelle. Und da umso ausführlicher:
Darüber hat sich aber niemand beim Presserat beschwert.
„Bild“ und Bild.de erhielten außerdem fünf Missbilligungen.
Auf Bild.de war ein Artikel über einen Mann erschienen, der angeblich heimlich ein Mädchen gefilmt hatte und von dessen Vater daraufhin zu Tode geprügelt wurde. Im Artikel wurden beide Männer unverpixelt gezeigt, worin der Presserat einen Verstoß gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) erkannte.
Ebenfalls gegen Ziffer 8 verstieß nach Ansicht des Presserats dieser Artikel:
… weil Bild.de die Gesichter der Opfer unverpixelt gezeigt hatte.
Auch in diesem Fall …
… verzichtete Bild.de auf eine Anonymisierung des Opfers, allerdings ist wohl davon auszugehen, dass eine Erlaubnis der Eltern vorlag (sie haben sich auch selbst von „Bild“ fotografieren lassen).
Eine Erlaubnis für das Zeigen des Täters hatte Bild.de aber offensichtlich nicht; der Presserat sprach erneut eine Missbilligung wegen Verstoßes gegen Ziffer 8 aus.
Missbilligt wurde zudem dieser Beitrag:
Das Video wurde zwar von der Mutter selbst veröffentlicht, dennoch erkannte der Presserat einen Verstoß gegen Ziffer 1 (Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde).
***
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Eine weitere Rüge sprach der Presserat gegen die „Ludwigsburger Kreiszeitung“ aus. Das Blatt hatte eine Polizeimeldung über einen Trickdiebstahl veröffentlicht. Darin stand, dass die Verdächtigen „vermutlich Sinti oder Roma“ seien. Der Beschwerdeausschuss bewertete das als diskriminierend und als „einen schwerwiegenden Verstoß gegen Ziffer 12 in Verbindung mit Richtinie 12.1 des Pressekodex“, in der steht:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.
Dieser Bezug fehlte nach Ansicht des Presserats in diesem Fall.
***
Ebenfalls gerügt wurde die „Märkische Allgemeine“. Die Zeitung hatte drei Beiträge veröffentlicht, in denen den Lesern jeweils ein bestimmtes Produkt vorgestellt wurde (Notizbuch, Haarpflegemittel, Raumspray), inklusive Produktfotos und Preisnennung. In einem Fall wurde der vorgestellte Artikel zudem als „Wundermittel“ bezeichnet. Der Beschwerdeausschuss sah durch diese Angaben die Grenze zur Schleichwerbung nach Richtlinie 7.2 überschritten.
***
Alle weiteren Rügen gingen diesmal wieder an die Regenbogenpresse.
Unter anderem an “Das neue Blatt“. Das Heft aus dem Bauer-Verlag hatte im vergangenen Jahr getitelt:
Die Geschichte ging so: Neulich ist mal eine Artistin im Düsseldorfer Varieté aus vier Metern Höhe gestürzt und hat sich verletzt. Helene Fischer macht bei ihrer Tour auch ein paar Kunststücke in luftiger Höhe. Ende.
Oder wie „Das neue Blatt“ zusammenfasst:
Sie will überraschen, das Publikum begeistern: Für ihre Fans gibt Helene Fischer alles! Dabei ist die Gefahr, sich zu verletzen oder dass Schlimmeres passiert, groß, wie ein schwerer Unfall zeigt. […] Ob Helene nach diesem Drama vernünftig wird?
Auch der Presserat wertete die Darstellung auf der Titelseite und in der Schlagzeile als „bewusst irreführend“ und als Verstoß gegen die Ziffern 1 (Wahrhaftigkeit) und 2 (Sorgfalt).
***
Gleich zwei Rügen (ebenfalls wegen Verstößen gegen die Ziffern 1 und 2) kassierte der „Alles Gute Verlag“ — für einen identischen Artikel in zwei verschiedenen Heften. Beide hatten getitelt:
Diese Mehrfachverwurstung ist in der Regenbogenpresse übrigens üblich.
Die Informanten für die Story sind angeblich irgendwelche „Palastinsider“, die angeblich „von einer ausgewachsenen Depression“ bei Norwegens Prinzessin sprechen. Belege für eine tatsächliche Erkrankung liefern die Blätter nicht.
Das Foto auf dem Titel haben die Redaktionen noch dazu komplett aus dem Zusammenhang gerissen. Ja, sie weint auf dem Foto, aber nicht wegen der angeblichen „Schock-Diagnose“, sondern weil sie um die 77 Opfer trauert, die bei den Anschlägen in Norwegen am 22. Juli 2011 ums Leben kamen. Darunter auch Mette-Marits Stiefbruder, der auf der Insel Utøya erschossen wurde.
Die Fotos wurden bei einer Trauerfeier aufgenommen und werde seitdem immerwieder von den Regenbogenredaktionen missbraucht, um ihre Lügengeschichten zu illustrieren.
Apropos. Die „Freizeit direkt“ aus dem Deltapark-Verlag sieht zurzeit so aus:
Und der “Alles Gute Verlag” hat seinen soeben doppelt gerügten Artikel einfach noch ein drittes Mal rausgejagt. Die aktuelle “Freizeit heute” sieht so aus:
Der “Bild”-Zeitung fällt es schwer zu akzeptieren, dass auch Verbrecher Rechte haben. Vor allem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung spricht sie ihnen regelmäßig ab. Der Presserat rügt diese Praxis immer wieder, was die Leute von “Bild” wiederum gerne mal zum Anlass nehmen, ihre Leser gegen den Presserat und diesen Täterschutzquatsch zumobilisieren.
Das alles ist nicht neu. Neu ist, dass die “Bild”-Macher in ihrem Kampf für das Zurschaustellendürfen von Tätern sogar die Eltern eines Mordopfers instrumentalisieren.
Im März 2014 ist im Norden Deutschlands eine junge Frau von einem 16-Jährigen getötet worden. Er wurde inzwischen wegen Mordes verurteilt. Die „Bild“-Medien berichteten damals unter anderem so über den Fall:
(Das große Foto zeigt den 16-Jährigen mit schwarzem Alibi-Augenbalken, ein Foto zeigt die Freunde des Opfers beim Trauern, eins das – unverpixelte – Opfer; drei weitere sind Screenshots aus Videos, auf denen Frauen zum Schein erwürgt werden.)
Und so:
„Bild“ veröffentlichte den Vornamen, den abgekürzten Nachnamen, den Wohnort und andere persönliche Details des Täters, zeigte ein Foto seines Elternhauses und druckte in der Hamburger Ausgabe ein unverpixeltes Portraitfoto von ihm.
Vor drei Monaten beschäftigte sich dann der Beschwerdeausschuss des Presserats mit der Berichterstattung und sprach eine öffentliche Rüge gegen „Bild“ aus. In der Begründung heißt es, das Blatt habe gegen Ziffer 8 des Pressekodex (Schutz der Persönlichkeit) verstoßen, denn:
Der Artikel berichtet über das abgeschlossene Strafverfahren und die erwiesene Schuld des Täters. Die schutzbedürftigen Interessen des Betroffenen sind jedoch durch die identifizierende Berichterstattung verletzt. Gemäß Richtlinie 8.3 des Pressekodex dürfen insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein. Ein Fall, der eine Ausnahme rechtfertigen würde, liegt nach Auffassung des Ausschusses nicht vor. Bei der Tat handelt es sich zwar um eine schwere, nicht jedoch um eine außergewöhnlich schwere und in ihre Art und Dimension besondere Straftat gemäß Richtlinie 8.1 Abs. 2 des Presskodex.
Normalerweise versteckt “Bild” solche Rügen irgendwo klein im Blatt, in diesem Fall haben sie der Sache aber fast eine komplette Seite gewidmet. Und zwar so:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Im Artikel fasst „Bild“ die Entscheidung des Presserats folgerndermaßen zusammen:
Ausgerechnet das Foto des MÖRDERS hätte nicht gezeigt werden dürfen, urteilt das Gremium. Die unglaubliche Begründung: Der Mordfall [L.] sei dafür einfach nicht besonders genug …
Dabei hätte das Gremium sehr wahrscheinlich auch das Fotos des OPFERS beanstandet, wenn dazu eine Beschwerde eingegangen wäre (was allerdings nicht passiert ist).
Aus der Begründung des Presserats gibt das Blatt nur einen einzigen (unvollständigen) Satz wieder:
Wörtlich schreibt der Presserat: „Bei der Tat handelt es sich zwar um eine schwere, nicht jedoch um eine außergewöhnlich schwere und in ihrer Art und Dimension besondere Straftat …“
Dass bei der Entscheidung aber — vor allem — die Minderjährigkeit des Täters eine Rolle gespielt hat, wird erst am Ende des vorletzten Absatzes erwähnt:
Zwei Mal schreibt BILD mit der Bitte um Erläuterung an den Presserat: Wie außergewöhnlich schwer und besonders muss ein Täter sein Opfer umbringen, dass der Presserat eine entsprechende Berichterstattung für zulässig hält? Und wie soll BILD den Eltern der toten [L.] die unglaubliche Begründung des Presserats erklären? Drei Wochen hört BILD nichts. Gestern Abend dann ein Fax. Die Vorsitzende des Beschwerde-Ausschusses verteidigt die Rüge: „Aus Sicht des Ausschusses war die Tat, so scheußlich sie war, nicht derart monströs, dass dahinter alle anderen Erwägungen, insbesondere des Jugendschutzes, zurückzutreten haben.“ Dass der Mörder erst 16 Jahre alt war, spreche gegen eine identifizierende Berichterstattung.
Bis dahin hat der empörte „Bild“-Leser aber sicher gar nicht mehr gelesen, denn es gab ja viel Wichtigeres zu tun:
Den Kasten hat “Bild” groß unter den Artikel gedruckt. Auch online werden die Leser heute dazu aufgerufen:
Inzwischen hat der Presserat eine Stellungnahme zu der „Bild“-Kampagne veröffentlicht. Darin wird noch einmal betont, dass das Alter des Täters „eine wichtige Grundlage der Entscheidung“ gewesen sei.
Weiter schreibt der Presserat, …
dass es bei Straftaten zwar in der Tat Kriterien gibt, die in Einzelfällen dafür sprechen können, dass identifizierende Berichterstattung ethisch vertretbar sein kann. Eines dieser Kriterien ist gemäß Richtlinie 8.1, dass es sich um eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat handeln muss. Mord ist stets eine schwere Straftat, darüber gibt es keinen Zweifel. Jedoch rechtfertigt auch Mord nicht in jedem Fall die identifizierende Berichterstattung.
Mit Blick auf die in Frage stehende Tat ist der Presserat zu dem Ergebnis gekommen, dass diese, so verachtenswert, wie sie ist, die Identifikation des Täters für ein großes Publikum nicht ethisch rechtfertigt, da andere Kriterien der Ziffer 8 des Pressekodex dafür sprechen, dass er hätte anonymisiert werden müssen. Vor allem die Tatsache, dass der Täter erst 16 Jahre alt war, also deutlich noch ein Jugendlicher, sprach nach Ansicht des Ausschusses erheblich gegen eine identifizierende Berichterstattung.
Auch der Medienrechtler Dominik Höch betont auf BILDblog-Anfrage, dass das Alter des Täters eine entscheidende Rolle spiele:
Bei dem Täter handelt es sich um einen 16-Jährigen. Das heißt, dass in dem Fall ohne Wenn und Aber das Jugendstrafrecht gilt, die Verhandlung ist also nicht öffentlich. Da muss man die Frage stellen, warum die “Bild”-Zeitung das Recht haben soll, dieses Foto einem Millionenpublikum zu präsentieren, während der Lokalreporter vor Ort das nicht darf und selbst der Nachbar vom Prozess ausgeschlossen wird. Rechtlich ist das also ganz klar geregelt.
Darüber hinaus, so Höch, sei es „eine perfide Boulevardmethode“, die Leser in dieser Weise gegen den Presserat zu mobilisieren:
Am Ende der Leitung sitzt dann vermutlich eine Sekretärin, die sich den ganzen Tag von Anrufern beschimpfen lassen muss. Auf dieser Ebene sollte man Kritik am Presserat nicht spielen.
Jeder habe das Recht, öffentliche Entscheidungen wie die des Presserats zu kritisieren. Es gehe aber um das Wie. Und da habe die „Bild“-Zeitung heute „klar die Grenze des guten Geschmacks überschritten.”
Interessant ist übrigens der Zeitpunkt der Kampagne. „Bild“ hat sich genau den Tag ausgesucht, an dem der Presserat die Beratungen zur Berichterstattung überden Germanwings-Absturz begonnen hat.
Angesichts der laufenden Sitzung konnte uns der Presserat heute auch noch nicht genau sagen, wie viele Anrufe und Mails bereits bei ihm eingegangen sind. Nur soviel: Es seien „viele“.
Darunter aber nicht nur keifende „Bild“-Fans, wie wir unserem Posteingang (wir wurden in cc gesetzt) entnehmen durften:
Hiermit möchte ich Ihnen meine Meinung sagen: Vielen Dank!
Danke, dass Sie die Bild für die unangemessenen und Persönlichkeitsrechte verletzenden Artikel gerügt haben. Falls Sie nun viele Anrufe und Mails mit wütendem Protest im Sinne Diekmanns Wunsch erhalten, so möchte ich Ihnen schreiben, dass es viele Bürger gibt, die diese Rüge richtig verstehen und Sie die wütenden, Betroffenheit heuchelnden (Bild)Leser nicht ernst zu nehmen brauchen.
Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 3. Juni: Heute geht’s weiter:
„Bild“ präsentiert einige der „entsetzten“ Reaktionen auf die „schwer nachvollziehbare Entscheidung“:
Und, klar:
Und schließlich würfelt “Bild” die Aussagen des Presserats nochmal komplett durcheinander:
Der Presserat entschied: BILD hätte das Täter-Foto nicht zeigen dürfen. Begründung: Da der Killer zur Tatzeit erst 16 war, sei der Mord nicht „außergewöhnlich schwer“ und „monströs“ genug. Der Jugendschutz überwiege …