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Von Monstern und anderem Irren

2008 war, wenn man so will, ein gutes Jahr für “Bild”. Der Deutsche Presserat sprach nur in zwei Fällen Rügen gegen “Bild” aus:

  • Das Gremium beanstandete — aufgrund einer Beschwerde von BILDblog — die teils frei erfundene Berichterstattung über zwei Mädchen, die angeblich von ihrer Mutter nach Afrika gebracht und dort beschnitten werden sollten (BILDblog berichtete).
  • Und der Presserat rügte die “unangemessen sensationelle” Art, wie “Bild” über einen Flugzeugabsturz berichtetete, verkohlte Leichen auf der Titelseite zeigte und die Opfer im Inneren identifizierte — und so “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” habe. (Die “Bild”-Zeitung fand die Beanstandung, wie berichtet, “rätselhaft” und führte ihre Leser beim Abdruck der Rüge in die Irre, was dem Presserat aber egal ist.)

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.

Trotzdem hatte der Presserat auch im vergangenen Jahr reichlich mit “Bild” zu tun und sprach eine Reihe von “Missbilligungen” und “Hinweisen” aus. Und wie in jedem Jahr gibt das vor kurzem erschienene “Jahrbuch” des Presserates seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.

Eine Auswahl:

Tote Kinder ohne Rechte?

“Die toten Kinder von Darry — Von der Mutter erstickt, vom Vater wieder ausgegraben”. Unter dieser Überschrift berichtet “Bild” am 26. Juni 2008, wie drei tote Kinder von einem Berliner Friedhof nach Schleswig-Holstein umgebettet werden. Sie und zwei weitere waren von ihrer Mutter getötet worden. “Bild” zeigt ein Familienfoto, auf dem die Gesichter der Erwachsenen unkenntlich gemacht wurden, sowie Nahaufnahmen der Särge und der Gruft — und ein Notfallseelsorger aus Schleswig-Holstein, der beruflich mit dem Fall zu tun hat, beschwert sich beim Presserat, der seine Position so wiedergibt:

Die Umbettung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Mit allen Firmen und den Friedhöfen sei Stillschweigen und absolute Vertraulichkeit vereinbart worden. Zu Beginn der Exhumierung in Berlin hätten mehrere Journalisten fotografieren und filmen wollen. Die Friedhofsverwaltung habe vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Medien habe das Boulevardblatt Nahaufnahmen der Särge, der Gruft und des gesamten Vorgangs veröffentlicht. Zudem sei in der Online-Ausgabe ein “abscheuliches Video” mit Nahaufnahmen abrufbar gewesen. Der Geistliche sieht einen Missbrauch der Pressefreiheit und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder und des trauernden Vaters.

Die Antwort von “Bild” ist vor allem eine juristische: Die Vorwürfe seien unbegründet, weil das Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Tod erlösche. Es müsse dann nur noch allgemein die Menschenwürde geachtet werden. “Bild” habe die Kinder aber nicht herabgewürdigt oder erniedrigt. Das (nicht mehr abrufbare) Video auf Bild.de habe allerdings religiöse Gefühle verletzen können — das habe der Chefredakteur in einem Brief an den Seelsorger bedauert. Die Reporter hätten versichert, dass sie während der Exhumierung nicht am Fotografieren gehindert worden seien.

Der Presserat sieht in der Veröffentlichung der Fotos einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, der eine Identifizierung der Opfer von Unglücksfällen und Straftaten untersagt. Der “engeren juristischen Wertung” des Verlages wollte er sich nicht anschließen. Aus ethischer Sicht hätte die Redaktion auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder sowie des trauernden Vaters größeres Gewicht legen müssen. Der Presserat sah darin allerdings keinen rügenswerten Verstoß, sondern “missbilligte” die Berichterstattung nur — warum auch immer.

Lea-Sophie, nackt und verhungert auf dem OP-Tisch

Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de zwei Fotos der fünfjährigen Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Eines zeigte das Mädchen zu Lebzeiten, eines den Leichnam, nackt auf dem Obduktionstisch. Das zweite Foto, das die Zeitung auf unbekannte Weise bekommen hatte, war, wie die “BamS” damals schrieb, ein “schreckliches” Foto. Die Redaktion, behauptete die Redaktion, habe lange diskutiert, ob sie es zeigen solle. Dass sie sich dafür entschieden habe, das tote Kind auf diese Weise vor einem Millionenpublikum auszustellen, begründete sie mit dem Satz: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete.)

Ein Leser beschwerte sich beim Presserat, weil er in der Veröffentlichung des Bildes Sensationsmache und eine Verletzung der Menschenwürde der Verstorbenen sieht. Die Rechtsabteilung der “BamS” hält ihm entgegen, er habe sich mit den Überlegungen der Redaktion nicht auseinandergesetzt: Darin seien die Beweggründe, das Foto zu veröffentlichen, ausführlich dargelegt worden. Sie erinnerte an das “vermutlich eindringlichste Foto der Pressegeschichte”: fliehende, weinende, teilweise nackte und vom Napalm verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Wenn die Eltern von Lea-Sophie und ihr Anwalt ein falsches Bild der Ereignisse zeichneten, so die “BamS” laut Presserat, müsse dies ausnahmsweise durch ein Fotodokument korrigiert werden können.

Der Beschwerdeausschuss widersprach: Das Foto sei für eine wahrhaftige Berichterstattung über die Grausamkeit der Todesumstände nicht erforderlich gewesen — eine Beschreibung der Vorgänge hätte ausgereicht. Die “BamS” habe “unangemessen sensationell” berichtet und die Würde des Opfers verletzt — und somit gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex verstoßen. Der Presserat fand das aber offenbar lässlich genug, keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” auszusprechen.

Ein “Kinderschänder” und sein Opfer im Bild

Zu den für “Bild” nachhaltig unbegreiflichen Realitäten gehört es, dass auch (mutmaßliche) Täter Rechte haben, sogar Persönlichkeitsrechte. Und dass die Richtlinie 8.1 des Pressekodex vorsieht, dass die Presse bei Straftaten in der Regel keine Informationen veröffentlicht, die die Beteiligten erkennbar machen. Es ist vermutlich die Richtlinie, gegen die “Bild” am häufigsten verstößt, so auch am 5. Juni 2008. Das Blatt titelte “Kinderschänder lockt 13-Jährige in Sex-Falle” und berichtete über ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mann, der ein Mädchen, das er im Internet kennen lernte, zu sich nach Hause gelockt, dort vier Wochen lang versteckt und mit ihm einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt haben soll. “Bild” zeigt beide auf einem Foto. Der Anwalt des Beschuldigten sieht in der Bezeichnung “Kinderschänder” eine unzulässige Vorverurteilung und weist darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bereits nach einer Woche die Aufhebung des Haftbefehls beantragt habe. Das Foto, auf dem der Mann mit dem Mädchen zu sehen ist, sei auf unlautere Weise aus den Privaträumen des Beschwerdeführers beschafft worden. Und sowohl die Bildunterschrift “In diesem Gartenhäuschen auf dem Hotelgrundstück fanden die Ermittler Kinderpornos” als auch die Behauptung “Der Mann fiel der Polizei schon früher auf: Als 17-Jähriger soll er erstmals zwei Mädchen in einen Schuppen gelockt und gefesselt haben” seien frei erfunden.

Die Rechtsabteilung von “Bild” hingegen meint, dass die Wertung als “Kinderschänder” und der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Beschreibung der beiden Betroffenen erfüllt sei. Und an der Veröffentlichung der Fotos gebe es ein öffentliches Interesse. “Wenn jemand eine 13-jährige Schülerin vier Wochen lang vor deren Eltern versteckt halte, sei das so außergewöhnlich, dass die Fotoveröffentlichung auch gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei”, erklärt “Bild” laut Presserat. “Die Mutter des Beschwerdeführers habe das strittige Foto zur Verfügung gestellt. Sie habe damit zeigen wollen, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen gehandelt habe.” Somit habe “Bild” nicht gegen Ziffer 4 des Pressekodex verstoßen, die unlautere Recherchemethoden untersagt. Schließlich beruhten die angeblich “frei erfundenen Behauptungen” auf Informationen der Ermittlungsbehörden und Aussagen der Mutter des Beschwerdeführers, die man “nicht als Tatsachen, sondern in der Soll-Form wiedergegeben” habe.

Der Presserat “missbilligte” die Berichterstattung von “Bild”. Er sah zwar keine Verletzung der Unschuldsvermutung und konnte, wie fast immer, nicht klären, ob “Bild” unlautere Methoden bei der Recherche angewandt hat. Aber “Bild” habe den mutmaßlichen Täter nicht einmal teilweise unkenntlich gemacht. Sowohl er als auch die 13-Jährige seien erkennbar. “Der Fall ist sicher von großem öffentlichem Interesse, doch ist es auch dann nicht gerechtfertigt, die Beteiligten erkennbar zu machen”, urteilte der Beschwerdeausschuss. “Diese hätten anonymisiert werden müssen.”

Ein Irak-Soldat “frisst” einen kleinen Hund

Man kann sicher darüber streiten, ob es wirklich, wie ein Beschwerdeführer meint, “abartig” ist, dass die “Bild”-Zeitung am 11. Januar 2008 auf ihrer letzten Seite zwei AFP-Fotos zeigt, auf denen ein irakischer Soldat einen Hund erst mit seinem Messer tötet und dann isst, um den Jahrestag der Übernahme der Stadt Nadschaf zu feiern. Aber die Argumente, mit denen die “Bild”-Justiziare die Veröffentlichung der drastischen Aufnahmen rechtfertigen, sind atemberaubend. Der Presserat gibt sie so wieder:

Die Rechtsabteilung der Zeitung hält das Foto mit dem irakischen Soldaten für ein über den Tag hinaus wirkendes zeitgeschichtliches Dokument. Es zeige die Verrohung des Menschen im Krieg. Das Foto dokumentiere zudem den Hass, der einen Moslem dazu bringe, genau das Tier zu verspeisen, das in seiner Religion neben dem Schwein als besonders unrein gelte. Das Foto sei aktueller Informationsträger und erfülle eine nachrichtliche Funktion. Das blutige Ritual zeige, zu welchen Taten Soldaten im Krieg — namentlich, wenn er von Glaubensgegensätzen begleitet werde — fähig seien. Dies dürfe die Berichterstattung aufgreifen. Sie solle weder verschleiern, noch verharmlosen, sondern die Wirklichkeit so abbilden, wie sie sei.

Der Hass eines Moslems? Ein Krieg, der von Glaubensgegensätzen begleitet wird? Und all diese Informationen und Hintergründe entdecken erfahrene “Bild”-Leser zwischen den gerade einmal 20 Zeilen eines Artikels, in dem von Glauben und Religion nicht einmal die Rede ist?

Der Presserat sieht in den Fotos kein “zeitgeschichtliches Dokument”: “Es scheint sich hier um einen sehr speziellen Einzelfall zu handeln.” Das Veröffentlichen brutaler Bilder sei zwar ausnahmsweise zulässig, wenn sie zu einer politischen Debatte beitragen. Ein solches öffentliches Interesse sei aber nicht zu erkennen; die Darstellung sei unangemessen sensationell. Der Presserat sprach einen “Hinweis” aus.

Franz Josef Wagner und die “Monster” in der Psychiatrie

Und dann hatten die Mitglieder des ersten Beschwerdeausschusses des Presserates noch eine Aufgabe, um die man sie wirklich nicht beneiden kann: Sie mussten versuchen herauszufinden, was Franz Josef Wagner in einer seiner “Bild”-Kolumnen eigentlich sagen wollte. Am 26. März 2008 schrieb er an den damals noch unbekannten Täter, der einen schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg geworfen und damit eine Frau getötet hatte. Unter der zu seinem Markenzeichen gewordenen Umgehung von grammatischen und logischen Regeln formulierte Wagner:

Mehrere Menschen, darunter Vertreter sozialpsychiatrischer Einrichtungen und Verbände, beschwerten sich beim Presserat darüber, dass Wagner psychisch kranke Menschen als “Monster” bezeichne. Einer fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, zumal schon am Beginn des Beitrages von einer Art Sippenhaft gesprochen werde; ein anderer sah in Wagners Text eine menschenverachtende Diffamierung von Personen, die psychisch krank sind und Hilfe in psychiatrischen Einrichtungen suchen.

Die Rechtsabteilung der “Bild”-Zeitung hatte für die insgesamt vier Beschwerdeführer eine überraschende Antwort: Wagner habe gerade nicht psychisch kranke Menschen, sondern Kriminelle als “Monster” bezeichnet. Die Justiziare verstiegen sich sogar zu der — vermutlich auch für Wagner selbst überraschenden — These, seine Kolumne habe einen gedanklichen “roten Faden”: Der Autor beklage, dass selbst Straftäter, die gröbste Verbrechen begehen, immer irgendwie durch “mildernde Umstände” exkulpiert würden. Erwachsene Täter, die man aufgrund ihrer Verbrechen nur noch als “Monster” bezeichnen könne, schicke man nicht ins Gefängnis, sondern zur Behandlung in die Psychiatrie. Wagners Fazit laute: Verbrechen wie die des “Holzklotzwerfers” würden nicht wirksam bekämpft; ein nächster Fall sei zu befürchten. Dass einige der Beschwerdeführer die räumliche Nähe der Begriffe “Monster” und “Psychiatrie” in dem Kommentar als Erinnerung an die Nazi-Zeit “hochschraubten”, betrachte man als polemische Übertreibung im Rahmen ihrer politischen Agitation, erklärte die Rechtsabteilung des Verlages, den man ja in Sachen “politischer Agitation” getrost als Experten betrachten darf.

Und der Presserat? Er hält den Nazi-Vorwurf für überzogen und stellt sicherheitshalber fest, dass Wagners Text mehrere Deutungsmöglichkeiten habe und man deshalb nicht zwingend davon ausgehen könne, dass Wagner alle Patienten einer Psychiatrie als “Monster” bezeichnet habe:

Eine weitere Deutungsmöglichkeit ist jedoch, dass hier nur Menschen als “Monster” bezeichnet werden, die monströse Taten begehen. Ein so monströses Verbrechen wie der Holzklotzanschlag auf eine Familie kann umgangssprachlich durchaus einem “Monster” zugeordnet werden. Die Feststellung des Autoren, “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt”, ist anders zu beurteilen. Dies ist eine falsche Tatsachenbehauptung. Die Feststellung, dass Kranke in der Psychiatrie gefesselt würden, ist in dieser pauschalen Form falsch und verletzt Ziffer 2 des Pressekodex (Journalistische Sorgfaltspflicht). Sie kommt einer Schmähung der Institution Psychiatrie gleich und zieht einen Hinweis nach sich.

Der Presserat erklärt also Wagners Satz “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt” für sachlich falsch und diffamierend, indem er das Wort “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” interpretiert, glaubt aber nicht, dass Wagner “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” gebraucht habe. Irre.

Bild  

Den Falschen zum Todesschützen gemacht

Nicht weniger als drei Autorenkürzel stehen unter dem “Bild”-Artikel über das Familiendrama, bei dem ein Mann am vergangenen Samstag in Sundern seine Frau auf offener Straße erschoss. Aber es waren entweder nicht genug — oder einfach zu viele “Bild”-Autoren beteiligt, um einen gravierenden Fehler zu verhindern: Den Täter mit seinem Bruder zu verwechseln.

“Bild” hat zwar den Nachnamen der Eheleute abgekürzt, aber sich — wie üblich — keine Mühe gemacht, die Beteiligten tatsächlich zu anonymisieren. Das Blatt nennt den ungewöhnlichen Vornamen des vermeintlichen Täters, schreibt, wo er arbeitet und zeigt ein Foto des Hauses der Familie.

Das ist in diesem Fall besonders dramatisch, denn die Namen sind nicht die von Täter und Opfer, sondern vom Bruder des Täters und seiner Frau. Auch die “Hintergründe” des Artikels basieren teilweise auf dem Leben des Bruders.

Man kann sich ausmalen, wie sehr das das Leid der überlebenden Verwandten vergrößert hat, dass sie in ihrer Situation nun auch noch als Täter und Todesopfer dargestellt wurden. Und das nur, weil eine große Boulevardzeitung nicht anonymisieren will und nicht recherchieren kann.

PS: Heute korrigiert sich “Bild” am Ende eines weiteren Artikels zum Thema:

Durch eine bedauerliche Namensverwechslung war der engagierte Trainer des Fußballvereins […] bei BILD.de als Täter und seine Frau als Opfer bezeichnet worden. Beide haben mit dem Verbrechen nichts zu tun.

Der Horror-Sturz-Horror

Nach dem 5:0-Auswärtssieg des FC St. Pauli bei Alemannia Aachen am Montagabend ist ein St.-Pauli-Fan sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und ist offenbar noch nicht außer Lebensgefahr.

Weil man sich vielleicht nicht so gut vorstellen kann, wie es aussieht, wenn ein Mensch gerade sechs Meter tief aufs Betonpflaster gefallen ist, oder einfach, weil Fotos des Opfers auf dem Markt waren, veröffentlichten Bild.de und Express.de Bilder, die den Fan in einer Blutlache zeigten. Bei Bild.de war er auf dem Bauch liegend von der Seite zu sehen, auf dem Foto bei Express.de lag er auf der Seite, die Tätowierungen auf seinem der Kamera zugekehrten Rücken waren gut zu sehen.

Beide Bilder sind inzwischen aus den Artikeln verschwunden, was unmittelbar mit dem zusammenhängen dürfte, was die “Aachener Nachrichten” gestern schrieben:

Die Alemannia stellt der Familie [des Mannes] nach Angaben von Pressesprecher Thorsten Pracht “einen renommierten Hamburger Medienanwalt” auf Vereinskosten zur Verfügung, der zunächst auf Unterlassung der Veröffentlichung der Bilder des gestürzten Mannes klagen soll, die im Internetauftritt von zwei Boulevardzeitungen zu sehen sind.

St. Pauli betet für diesen FanDas rigorose Vorgehen gegen die Konkurrenz hielt die “Hamburger Morgenpost” aber offensichtlich nicht davon ab, heute ein Drittel ihrer Titelseite mit dem gleichen Foto zu füllen, das Express.de verwendet hatte. Direkt darüber: Ein Foto des Mannes vor dem Unfall, darunter sein Spitzname.

Im Innenteil der “Morgenpost” findet sich dann ein Foto des Fanblocks, in dem das Opfer als einzige von etwa 50 Personen notdürftig anonymisiert wurde — und gleich daneben eine unverpixelte Nahaufnahme, die den Fan beim Feiern zeigt.

St. Pauli-Fan ringt mit dem Tod

Im Artikel unterhalb des Fotos erklärt die “Morgenpost”:

Gestern bat der Klub darum, die Profis nicht zu den Vorfällen zu befragen. Die MOPO kam dieser Bitte selbstverständlich nach.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 17:15 Uhr: Die Unterseite im Internetauftritt der “Hamburger Morgenpost”, auf der man sonst jeden Tag das aktuelle Titelbild in zweifacher Ausführung betrachten kann, sieht seit dem Nachmittag so aus:

Kein Titelbild bei der "Hamburger Morgenpost".

2. Nachtrag, 20. August: Auf ihrer Internetseite veröffentlicht die “Morgenpost” heute mehrere erboste Leserbriefe, in denen die Veröffentlichung des Fotos vom Unfallort scharf kritisiert wird.

Darüber schreibt die Redaktion:

Liebe Leser, das Titelfoto vom verunglückten St. Pauli-Fan […] löste bei den Anhängern teilweise heftige Reaktionen aus. Es war nicht unsere Absicht, Gefühle zu verletzen. Wir wünschen […] gute Besserung und seiner Familie viel Kraft. DIE REDAKTION

Gefühle wollte man also nicht verletzen — mit den Persönlichkeitsrechten sah es da offenbar etwas anders aus.

Urheberrecht, WIB, Postjournalismus

1. “Ich bin Opfer einer Urheberrechtsverletzung geworden”

(dirkvongehlen.de)

Dirk von Gehlen entdeckt beim Spaziergang durch die Innenstadt von München – “ein Ort, von dem ich bisher dachte, er sei keinesfalls ein rechtsfreier Raum” – wie ein Bekleidungsgeschäft sein geistiges Eigentum zur Umsatzsteigerung nutzt.

2. Projekt Postjournalismus

(betathoughts.wordpress.com, Michel Reimon)

Angelehnt an das Buch “Postdemokratie” von Colin Crouch startet Michel Reimon “das Recherche- und Forschungsprojekt ‘Postjournalismus'”, ein “Langzeitprojekt mit niedriger Intensität”.

3. “Boulevard aus dem Osten”

(taz.de, Daniel Bouhs)

“Wie tickt der Osten? Wer das wissen will, kommt an ‘SuperIllu’ und ‘Brisant’ nicht vorbei. Zwei Redaktionsbesuche.”

4. “Ein Magazin für Wirtschaftsfrauen”

(werbewoche.ch, Markus Knöpfli)

“Mitten in der Krise wagt der Basler Kleinverleger Dominique Hiltbrunner einen grossen Schritt: Er lanciert Ende August das Frauenmagazin Women in Business mit einer Auflage von 25‘000 Exemplaren.”

5. “Home Story 33/09”

(jungle-world.com)

“Und auch wenn es uns selbstverständlich nicht um Klickzahlen geht: Besuchen Sie unsere Homepage! Klicken Sie! Klicken Sie, was das Zeug hält! (…) Denn glauben Sie uns: Auf Papier ist die Jungle World einfach schöner.”

6. “I am loving this trip, Erica”

(mcsweeneys.net, Colin Nissan)

“IT’S WEIRD | TO THINK | THAT ONE DAY | I’LL PHOTOSHOP | YOU OUT OF | THESE VERY | VACATION PHOTOS.”

Crash Test Dummies

Irgendeinen Grund wird Bild.de sicherlich gehabt haben, ausgerechnet jetzt mit einer solchen Geschichte anzukommen:

Der Tod fährt mit: Der schlimmste Crashtest aller Zeiten

Im Zweifelsfall war es einfach mal eine schöne Möglichkeit, ein beeindruckendes Video (ein “Fundstück”) zu zeigen, in dem ein Auto wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet wird:

Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Holden Commodore der ersten Generation von 1978 zu Testzwecken gegen die Wand fährt.

Der schlimmste Crashtest aller Zeiten! […]

Der Hammer: Beim Aufprall mit rund 60 km/h auf das feststehende Hindernis bricht die gesamte Konstruktion komplett zusammen.

Sucht man bei YouTube nach “worst car crash ever”, findet man unter den ersten Treffern ein Video, in dem ein Holden Commodore gegen eine Wand fährt. Also genauer: Das gleiche Video, das auch Bild.de zeigt, nur mit anderem Ton, ohne Off-Sprecher und natürlich ohne Bild.de-Logo oben rechts in der Ecke, hochgeladen am 11. Oktober 2008. (Wir kennen das ja: Das Internet ist ein rechtsfreier Raum.)

Bild.de scheint sich nur das Video bei YouTube besorgt zu haben, ignorierte aber die Fakten, die daneben stehen:

Der Test wurde 1992 durchgeführt und war Teil einer Serie von Tests um unsere Crashtest-Anlage in Betrieb zu nehmen. Es war ein Test des Fahrsystems, nicht des Autos.

Das Auto war ein Standard-Gebrauchtwagen, außer dass die Antriebswelle entfernt worden war, 300 kg Sandballast wurden im Fußraum und im Kofferraum platziert und ein Ballast-Dummy (75 kg) saß auf dem Rücksitz.

(Übersetzung von uns.)

Die Angaben erscheinen zumindest insofern vertrauenswürdig, als im Video kurz das Datum 09/06/92 auf der Testanlage zu sehen ist.

Dass es sich also um einen Test der Crashtest-Anlage mit einem älteren Gebrauchtwagen gehandelt hat, wäre ja vielleicht nicht ganz uninteressant zur Einschätzung der Bilder.

Noch interessanter wäre es natürlich, wenn die Leser von Bild.de wüssten, was noch bei YouTube steht:

Die Testgeschwindigkeit betrug 100 km/h in einen massiven Betonblock.

(Übersetzung von uns.)

Ganz “rund 60 km/h” also.

Mit Dank an Ingo H.

Nachtrag, 16:30 Uhr: Dank weiterer Leserhinweise hätten wir jetzt zwei Theorien.

Die eine betrifft die Frage, warum Bild.de das Video ausgerechnet jetzt online stellt: Das macht nämlich seit einigen Tagen die Runde durch diverse Autoblogs.

Die andere erklärt, wie Bild.de auf “rund 60 km/h” kommt: In einem amerikanischen Blog hatte man die 100 km/h in Meilen pro Stunde (mph) umgerechent:

The Commodore was reportedly crashed at 62 mph back in 1992 to to test the vehicle’s drive system, and not the car itself.

Und wenn man da nicht genau auf die Einheit achtet, hat man schnell einen Wert von “rund 60”. Nur halt nicht km/h.

Nachtrag, 10. Juli: Im Fließtext bei Bild.de ist jetzt von “rund 60 Meilen” die Rede (wobei Physiker sicherlich anmerken würden, dass das eine Strecke und keine Geschwindigkeit sei), im Video immer noch von “60 km/h”.

Bild  etc.

Die Gewalt-Fest-Spiele von Winnenden

Nicolaus Fest weiß, dass die “Bild”-Zeitung nach dem Amoklauf von Winnenden nichts Unzulässiges gemacht hat, und er kann es auch beweisen: “Kein einziges presserechtliches Verfahren” habe es gegen die Berichterstattung des Blattes gegeben. So.

Nicolaus Fest ist Mitglied der Chefredaktion von “Bild”. Gisela Mayer ist die Mutter einer jungen Frau, die bei dem Amoklauf getötet wurde. Sie sagt, dass ein Foto ihrer Tochter, das in den Medien gezeigt wurde, von deren jüngerer Schwester in einem ganz privaten Rahmen gemacht worden sei. Die Familie habe nicht eingewilligt, dass es veröffentlicht wurde. “Es war uns bewusst, dass wir einen Anwalt beauftragen könnten, um dagegen vorzugehen”, sagt sie. “Aber wir waren zu schwach, trauerten, waren menschlich am Ende.”

von links nach rechts: Nicolaus Fest ("Bild"), Manfred Protze (Deutscher Presserat), Frank Nipkau ("Winnender Zeitung"), Kuno Haberbusch ("Zapp"), Gisela Mayer (Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden), Hans Müller-Jahns ("Brisant"), Georg Mascolo ("Spiegel")
Nonverbale Kommunikation: N. Fest (links). Foto: © Sozialgeschnatter.de

Beide sitzen nur wenige Meter auseinander auf dem Podium der Tagung des “Netzwerks Recherche”, das am vergangenen Samstag über die Grenzüberschreitungen bei der Berichterstattung über den Amoklauf diskutiert. “Geklaute Fotos, verletzte Intimsphäre — Medien ohne Moral?” ist der Titel, und Nicolaus Fest hängt in einer Weise in seinen Stuhl, dass sein ganzer Körper demonstriert, wie sehr ihn die Diskussion langweilt und nervt.

Eigentlich hätte er stattdessen zum Thema “Leser-Reporter” diskutieren sollen, aber in der Runde ist auch der ehemalige BILDblogger Christoph Schultheis, und Fest weigert sich, mit ihm auf einem Podium zu sitzen.

Frank Nipkau, der Chefredakteur der “Winnender Zeitung”, gibt sich große Mühe, Fest nicht anzusehen, wenn er erzählt von der “Jagd auf die Opfer” und davon, dass sogar Polizeistreifen nötig waren, um Angehörige vor Journalisten zu schützen. Seine Zeitung habe sich von einfachen Regeln leiten lassen: keine Opferfotos, keine Berichte von Beerdigungen, Vorsicht mit Stellungnahmen traumatisierter Kinder. “Es war eine einfache Haltung”, sagt Nipkau, “aber schon die erregte bundesweite Aufmerksamkeit.”

Nicolaus Fest hält das alles für “standeswidrige Verlogenheit”: “Es ist unsere Aufgabe, Informationen zu sammeln und zu berichten. Dass dabei manchmal Fehler passieren, ist sicher richtig. Aber bei einem so wichtigen Zeitereignis wie diesem überwiegt das Berichterstattungsinteresse der Öffentlichkeit die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.” Die “Bild”-Zeitung habe sich von mehreren, auch externen, juristischen Experten beraten lassen, ob die Veröffentlichung der Fotos der (teils minderjährigen) Opfer erlaubt sei. Keiner habe Bedenken gehabt, sagt Fest. Andere Medienvertreter auf dem Podium sind erstaunt.

Manche Argumente versteht Fest einfach nicht. Von Gisela Mayer will er wissen, ob sie denn nun für oder gegen die Veröffentlichung von Fotos der Opfer sei, die Fronten seien ihm da nicht ganz klar. Sie erklärt ihm dann geduldig, aber vermutlich vergeblich, dass es auf den Kontext ankomme: Die Fotos der Opfer, wie sie der “Focus” auf seinem Titel gezeigt habe, seien für sie eine Art Traueranzeige und ein respektvoller Umgang gewesen. Unzulässig sei es dagegen, die Bilder zu benutzen, um sensationsheischend und falsch zu berichten.

Fest kann auch nicht nachvollziehen, warum man die riesige Fotomontage von “Bild”, die den Amokläufer in Kampfmontur zeigte, für eine unzulässige “Heroisierung” hält: Mitglieder von Truppen wie der GSG9 oder der KSK zeige man doch auch regelmäßig in solchen Posen. Dieses Missverständnis lässt sich auf dem Podium nicht ausräumen, aber immerhin gelingt es mehreren Teilnehmern mit vereinten Kräften, Fest darauf aufmerksam zu machen, dass der Amokläufer eine solche Kampfuniform nicht einmal getragen habe (vgl. BILDblog vom 13. März 2009). Fest sagt, das höre er gerade zum ersten Mal, aber wenn das stimme, müsse er dem Sprecher des Presserats, der neben ihm sitzt und die entsprechende Rüge für “Bild” erläutert hat, recht geben — “so schwer mir das fällt”.

Dennoch: “Hier wird eine Selbstskandalisierung betrieben, die wirklich Quatsch ist”, meint Fest. Natürlich gebe es Anlässe, bei denen Medien versagt hätten, der Fall Sebnitz zum Beispiel. Aber Winnenden gehöre wirklich nicht dazu. Er habe Verständnis dafür, dass die Berichterstattung für Frau Mayer schmerzhaft gewesen sei — “ja, das wühlt noch mal auf”, wenn man die Bilder und Berichte über die getötete Tochter sehen müsse — “aber wenn man eine Presse haben will, die diesen Namen verdient, muss man das leider in Kauf nehmen.” Und wenn man die Veröffentlichung von Fotos jugendlicher Täter oder Opfer von der Zustimmung der Eltern abhängig machen wolle, “dann kann man den Journalismus gleich vergessen.”

Journalismus? Frank Nipkau bestreitet, dass es darum bei vielen Berichten über Winnenden überhaupt ging: “Das war teilweise Gewaltpornographie. Das hat mit unserem Informationsauftrag nichts zu tun.”

Die Mutter Gisela Mayer kritisiert auch die Aufmerksamkeit, die viele Medien dem Amokläufer hätten zukommen lassen. Dieser Nachruhm sei Teil dessen, was Amokläufer antreibt. Den Täter groß in Szene zu setzen, wie dies geschah, könne nachweislich Nachahmungstäter animieren. “Schwachsinn, Schwachsinn, Schwachsinn”, zischt Nicolaus Fest an dieser Stelle vor sich hin.

Bild  etc.

Der Amokläufer als Held – und andere Rügen

“Unangemessen sensationell” hat die “Bild”-Zeitung über den Amoklauf von Winnenden berichtet und mehrfach die Persönlichkeitsrechte von Opfern und Betroffenen verletzt. Zu diesem Urteil ist jetzt auch der Deutsche Presserat gekommen. Er sprach deshalb drei Rügen gegen “Bild” und Bild.de aus.

Der Beschwerdeausschuss beanstandete u.a. die “Bild”-Fotomontage, die den Amokläufer in Postergröße in einer Heldenpose zeigt. Eine weitere drastische Grafik, in der der “Bild”-Zeichner sich und den Lesern ausmalte, wie das ausgesehen haben könnte im Klassenzimmer, als Tim K. in seiner schwarzen Rächeruniform gerade eine Lehrerin erschoss, verstieß ebenfalls gegen den Pressekodex:

Diese Darstellung der Tötung, gezeigt durch das Nach-Hinten-Überkippen der Lehrerin, hält der Ausschuss mit Blick auf die Hinterbliebenen der Getöteten für eine unangemessen sensationelle Darstellung.

Aus dem Pressekodex

Richtlinie 8.1:
Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (…) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. (…) Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 11.1:
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.

Der Presserat verurteilte u.a. auch, dass “Bild” das Porträtbild eines einzelnen Opfers hervorhob und eine Jugendliche erkennbar zeigte, die gerade von einer Betreuerin getröstet wurde. Bild.de nannte unter der Überschrift “Diese jungen Leben hat er ausgelöscht” zudem die vollen Namen mehrerer Opfer und verletzte damit nach Ansicht des Presserates die Persönlichkeitsrechte der Getöteten und Hinterbliebenen. Die Berichterstattung habe gegen die Ziffern 8 und 11 verstoßen.

Das Blatt kassierte eine weitere Rüge für seine Berichterstattung im Sommer 2008 über den Prozess gegen einen Mann, der seine schwangere Frau getötet hatte. “In […] ist […] (36) als Faschingsprinz beliebt — doch er ist ein eiskalter Killer”, begann die “Bild”-Zeitung ihren Artikel. Der Angeklagte hatte zwar zugegeben, seine Freundin getötet zu haben. Der Vorsatz, den “Bild” unterstellte, war aber nicht erwiesen. Die Formulierung stelle eine unzulässige Vorverurteilung dar, urteilte der Presserat. Dadurch, dass “Bild” (wie üblich) Fotos von Opfer und Täter zeigte, habe das Blatt zudem ihre Persönlichkeitsrechte verletzt.

Gerügt wurde schließlich auch der “Bild”-Bericht über einen Mann, der sich unter falschem Vorwand in eine Schule in Marktredwitz eingeschlichten hatte. Der Artikel entsprach nach Ansicht des Polizeisprechers “nicht mal ansatzweise der Wahrheit”. “Bild” zitierte ohne Quellenangabe auch eine (veraltete) Äußerung der Schulleiterin, obwohl die (aus gutem Grund) nicht mit “Bild” reden wollte. Der Presserat stellte einen Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht fest.

 
Weitere Rügen sprach der Presserat aus gegen:

  • die Zeitschrift “In”, weil sie Schleichwerbung für eine neue Kosmetikserie von Verona Pooth betrieben habe.
  • die Zeitschrift “Myself”, weil sie ohne “redaktionellen Anlass” im Zusammenhang mit Frisuren-Stylings zwei Pflegemittel mit Abbildung und Preisangaben vorstellte.
  • die Programmbeilage “Prisma”, weil sie ein Interview mit einem scheinbar unabhängigen “Experten für Pflanzenheilkunde” veröffentlichte, der darin für ein bestimmtes Präparat und eine Homepage wirbt, auf der er das Mittel selbst vertreibt.
  • die “Sächsische Zeitung”, weil sie den vollen Namen und das Foto eines Mannes veröffentlichte, der gestanden hatte, ein achtjähriges Mädchen getötet zu haben.
  • die “taz”, weil sie einseitig über einen Sorgerechtsstreit berichtete, ohne den Vater zu den Vorwürfen der Mutter befragt zu haben und ihn und die Familie identifizierbar machte.

Zur Pressemitteilung des Presserates.

Netzwerk Recherche

Am Montag hatten wir darüber berichtet, wie StudiVZ darauf reagiert, dass sich Medienvertreter in dem sozialen Netzwerk mit Fotos und Informationen über Jugendliche eindecken.

Logo der StudiVZ-Gruppe "Wenn ich tot bin, soll mein Bild nicht in die Bild-Zeitung!"Im Anschluss daran schrieben uns Leser, die fragten, wie sie einem solchen Bilderklau Vorschub leisten könnten (Korrektur von 16:19 Uhr: BILDblogger scheitert an der deutschen Sprache) einen solchen Bilderklau verhindern könnten. Eine richtige Antwort darauf hatten wir auch nicht, bis uns ein weiterer Leser schrieb, er habe gerade eine neue Gruppe bei StudiVZ gegründet: “Wenn ich tot bin, soll mein Bild nicht in die Bild-Zeitung!” Eine vielleicht etwas hilflose und symbolische Aktion, die aber immerhin auf das Problem aufmerksam macht.

Der folgende Tag allerdings zeigte, dass das Problem der Recherche in Sozialen Netzwerken kein “Bild”-spezifisches ist — und dass man nicht unbedingt tot sein muss, um unfreiwillig seine privaten Fotos in der Boulevardpresse wiederzufinden:

In Sankt Augustin hatte eine Schülerin offenbar einen Brandanschlag auf ihr Gymnasium geplant. Eine Mitschülerin stellte sich ihr in den Weg und wurde mit einem Messer verletzt. “Bild” berichtete am Dienstag groß über die “Heldin” und veröffentlichte dabei eine Kurz-Charakterisierung, die sich liest, als sei sie direkt aus dem Profil einen Sozialen Netzwerks zusammenkopiert:

Wer ist die hübsche Schülerin? Sie geht in die 11. Klasse und möchte später gerne in Paris studieren. Dennoch ist Ankes Lieblingsfach Englisch. Die begeisterte Tennis-Spielerin geht gerne shoppen, liest und reist viel. Raucher mag sie dagegen überhaupt nicht.

Auch der “Express” überrascht mit erstaunlichem Faktenwissen:

Ihr Opfer Janine, die davon träumt an der Sorbonne in Paris zu studieren, ist inzwischen in der Uni-Klinik notoperiert worden.

Beide Zeitungen haben nach eigenen Angaben den Namen der Verletzten geändert. Ihre Berichte sind mit Fotos des Mädchens garniert, auf denen das Gesicht verpixelt wurde. Es sieht ganz danach aus, dass sie aus dem Profil des Mädchens in einem Sozialen Netzwerk entnommen wurden. Auf Nachfrage erklärte SchuelerVZ, man prüfe gerade, ob die Fotos aus dem eigenen Angebot stammen.

Einen besonderen Einblick in den Arbeitsalltag von Boulevardjournalisten liefert ein Artikel in der “Rheinischen Post” (die in ihrer Printausgabe sogar den vollen Namen der 16-jährigen Tatverdächtigen angegeben hatte). Man meint, dem Autor Jürgen Stock seine Enttäuschung regelrecht anmerken zu können:

Alternativ hätte sie der “Rheinischen Post” kurz vor ihrem geplanten Amoklauf vielleicht auch einfach kurz ein paar biographische Notizen faxen können — das hätte Herrn Stock auch viel Zeit gespart.

Mit Dank auch an Falk E., Leonard E., Birgit H. und Fabian P.

Was Bilderdieben bei StudiVZ droht

Es ist längst Routine: Wenn irgendwo junge Leute sterben, gehen Journalisten ins Internet und suchen dort nach Bildern der Toten. Meist werden sie in sozialen Netzwerken fündig, wo die jungen Leute, als sie noch lebten, Fotos von sich hochgeladen haben — damit ihre Freunde diese sehen können, mutmaßlich nicht, damit diese posthum in die Öffentlichkeit gezerrt werden.

Zu den größten Sozialen Netzwerken in Deutschland gehört StudiVZ mit nach eigenen Angaben 13 Millionen angemeldeten Mitgliedern. Schon vor gut einem Jahr hatte die “taz” über die neue Praxis der Bildbeschaffung berichtet und geschrieben, dass “Bild” und StudiVZ “wie für einander gemacht” seien.

Die Pressestelle von StudiVZ ließ sich damals wie folgt zitieren:

Die journalistische Verwertung von Bildern aus StudiVZ ist nicht in unserem Interesse. Das steht auch eindeutig in unseren AGB. Wird dennoch ein Foto von einem unserer Nutzer zu diesem Zweck unautorisiert verwendet, so handelt es sich hierbei um eine Verletzung der Urheberrechte. Der Nutzer kann gegen das entsprechende Medium vorgehen.

Das ist natürlich ein bisschen schwierig, wenn der Nutzer tot ist. Und auch die Angehörigen von Tätern und Opfern haben nach einem Schicksalsschlag meist andere Prioritäten als juristisch gegen Medien vorzugehen, die widerrechtlich private Fotos veröffentlicht haben. Für die Medien von “Bild” über den “Stern” bis zu RTL scheint das Internet so praktischerweise tatsächlich das zu sein, was sie sonst gerne anklagen: ein rechtsfreier Raum.

Die Pflicht, dagegen zu kämpfen, hätten vor allem die Betreiber der Netzwerke. Man sollte annehmen, dass sie sogar ein Interesse daran hätten, schon aus Verantwortung ihren Nutzern gegenüber. Doch der Gedanke täuscht. Wie egal es StudiVZ ist, ob ihre Plattform auf Kosten der junge Leute zu einem Selbstbedienungsladen für bildhungrige Sensationsjournalisten wird, zeigt diese Chronologie des Versuchs, eine Auskunft von dem Unternehmen zu bekommen, das mehrheitlich zur Verlagsgruppe Holtzbrinck (“Zeit”, “Tagesspiegel”) gehört.

Am 15. April rief ich bei Dirk Hensen, Leiter der Unternehmenskommunikation bei studiVZ Ltd. an. Er bat mich, die Fragen schriftlich einzureichen.

Ich fragte ihn, bezogen auf das “taz”-Zitat:

Viele Menschen, die es betrifft, sind in den jeweiligen Situationen nicht in der Lage oder haben nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Ist es nicht zynisch, die Verantwortung für die Einhaltung der Regeln auf diese Menschen zu schieben?

Eine andere Frage lautete:

Nach Einschätzung von Medienrechtsexperten sind die Betreiber der sozialen Netzwerke die einzigen, die verhindern können, dass es zur Regel wird, dass Medien sich auf diesem Weg private Fotos von Unfallopfern, Verdächtigen etc. besorgen. Ist sich StudiVZ dieser Verantwortung bewusst und wird entsprechend handeln?

Am 20. April fragte ich zum ersten Mal vorsichtig nach, bis wann mit einer Antwort zu rechnen sei. Hensen erklärte mir, da sich an der Rechtslage nichts geändert habe, sei die Stellungnahme aus der “taz” immer noch aktuell. Ich fragte (erst telefonisch, dann schriftlich) nach, ob StudiVZ dann nicht wenigstens seine Nutzer deutlich darauf hinweisen sollte, dass alles, was diese hochladen, im Zweifelsfall von den Medien ausgeschlachtet werden könnte.

In den nächsten Tagen ging bei StudiVZ niemand ans Telefon, am 28. April erklärte mir Herr Hensen, man müsse das weitere Vorgehen intern noch diskutieren, wolle sich aber bis zum Nachmittag des Folgetages melden. Ich rief immer mal wieder dort an, aber entweder ging niemand ran oder Herr Hensen war in einer Besprechung.

Am 7. Mai erreichte ich ihn endlich wieder. Er erklärte mir, eine Antwort-E-Mail sei bereits fertig vorbereitet, er habe bisher nur vergessen, diese auch abzuschicken, werde das aber sofort nachholen.

Eine Stunde später war es soweit: StudiVZ hatte es geschafft und sich zu einer wohlüberlegten Antwort auf unsere Fragen durchgerungen. Sie lautet in vollständiger Länge:

Hallo Herr Heinser,

das Statement, welches Sie bereits in Ihrer Mail verwendet haben hat aus unserer Sicht nach wie vor Gültigkeit.

“Die journalistische Verwertung von Bildern aus StudiVZ ist nicht in unserem Interesse. Das steht auch eindeutig in unseren AGB. Wird dennoch ein Foto von einem unserer Nutzer zu diesem Zweck unautorisiert verwendet, so handelt es sich hierbei um eine Verletzung der Urheberrechte. Der Nutzer kann gegen das entsprechende Medium vorgehen.”

Allerdings werden wir zukünftig die Verlage per Brief auf die Urheberrechtsverletzung hinweisen.

Vermutlich muss man das schon als Fortschritt bewerten — auch wenn anzunehmen ist, dass sich die Medien durch eine solche Ermahnung eher nicht beeindrucken lassen werden. Aber vielleicht kommt der Brief ja wenigstens zeitnah an.

Bildblog, Buchholz, Public Press

1. Interview mit Christoph Schultheis

(zeit.de, Sven Stockrahm)

Das Bildblog beschäftigt sich ab heute nicht mehr ausschliesslich mit der Bild-Zeitung, sondern nimmt sich neu auch anderer Medien an. Der abtretende Hauptblogger, Christoph Schultheis, spricht über seine viereinhalb Jahre bei Bildblog: “Ein Bild-Opfer hat mir beispielsweise mal glaubwürdig berichtet, es sei nach einem gewissenlosen Artikel in dem Blatt von Passanten auf der Straße angespuckt worden. Das wünsche ich niemandem.”

2. Interview mit Patrik Müller

(persoenlich.com, Matthias Ackeret)

Patrik Müller wurde mit 31 Jahren Chefredakteur des Sonntag, einer neuen Schweizer Sonntagszeitung aus der Vorstadt, die sich wider Erwarten anderer Journalisten einen Platz erkämpfen konnte. Mutige Personalentscheide bleiben aber die Ausnahme: “Bei Ringier habe ich erlebt, dass gewisse Chefs Angst haben, bessere Leute zu engagieren, weil ihnen diese gefährlich werden könnten.”

3. “Hoffentlich geht die Krise weiter”

(kress.de, Christian Meier)

Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer der taz, kommt die aktuelle Wirtschaftslage offenbar entgegen: “Man muss fast zynisch sagen: Hoffentlich geht die Krise weiter”. Dennoch sieht man sich als bürgerliche Zeitung: “Wir sind Teil einer bürgerlichen Gesellschaft, sind eine bürgerliche Zeitung. Aber das wissen nicht alle.“

4. Interview mit Bernd Buchholz

(sueddeutsche.de, Christopher Keil)

Der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, Bernd Buchholz, glaubt, dass sich einige Verlage “mit dem Schlucken unreifer Früchte den Magen verdorben” haben und meint damit die Internetstrategie. Auf die Frage, ob er Chef eines sterbenden Mediums geworden sei, sagt er: “So ein Quatsch.”

5. “Amerikanische Initiative will dem Tod der Tageszeitung trotzen”

(nzz.ch, Andrea Köhler)

Die NZZ stellt das Projekt The Public Press vor, das sich aus “Redaktoren, Reporter und Fotografen, die in der Zeitungskrise ihren Job verloren haben”, rekrutiert: “Die Nachrichtenredaktorin ist die einzige Festangestellte mit einem Gehalt, alle anderen arbeiten ohne Bezahlung. Neun feste Schreiber und drei Fotografen stellen den Kern; der Rest wird von Freien zugeliefert.”

6. “Ratloser Verlegerverbandspräsident”

(medienspiegel.ch, Video, 5 Minuten)

“Schon fast etwas gemein, wie Stephen Colbert hier den Vorsitzenden der Newspaper Association of America vorführt”.

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