In der Pressemitteilung, die die Bundesanwaltschaft gestern zur Festnahme des möglichen Attentäters von Dortmund rausgegeben hat, findet man auch einige Informationen zu den Sprengsätzen, die vor elf Tagen neben dem BVB-Mannschaftsbus explodiert waren:
Die drei Sprengsätze waren über eine Länge von 12 Metern in einer Hecke entlang der Fahrstrecke des Mannschaftsbusses angebracht. Die Sprengwirkung der Sprengsätze war auf den Bus ausgerichtet. Die Sprengsätze wurden zeitlich optimal gezündet. Der vordere und der hintere Sprengsatz waren in Bodennähe platziert. Der Mittlere befand sich in einer Höhe von etwa einem Meter. Damit war er zu hoch angebracht, um seine Wirkung voll entfalten zu können.
Auch Bild.de berichtete gestern über diese neuen Erkenntnisse. Die “SEKUNDEN-THEORIE” sei “WIDERLEGT”, schreibt die Redaktion:
Im Text steht unter anderem:
Die Sprengsätze wurden zeitlich optimal gezündet, heißt es in der Mitteilung. Denn zunächst hatte es geheißen, dass die Bomben eine Sekunde zu spät detonierten.
“Zunächst hatte es geheißen”? Wer hat sowas denn verbreitet? Das hier ist die Titelseite der “Bild am Sonntag” vom vergangenen Sonntag:
Der Artikel im Blatt beginnt so:
Es war wohl nur eine Sekunde, die beim Bombenanschlag in Dortmund über Leben und Tod entschieden hat. (…)
Jetzt kommt raus: Es hätte noch viel, viel Schlimmeres passieren können!
Ein Ermittler zu BamS: “Wären die Splitterbomben nur eine Sekunde früher gezündet worden, hätte der Bus eine regelrechte Breitseite bekommen. Es hätte dann bestimmt viele Schwerverletzte und möglicherweise auch Tote gegeben.”
Wer auch immer dieser “Ermittler” ist, den “Bild am Sonntag” da aufgetan hat — er verfügte offenbar über ganz andere Ermittlungsergebnisse als die Bundesanwaltschaft.
Andere Medien und Agenturen griffen die exklusive “BamS”-Titelgeschichte auf und berichteten ebenfalls über die “Sekunde, die beim Bombenanschlag in Dortmund” wohl “über Leben und Tod entschieden hat”. Die “Bild am Sonntag” (Leitspruch: “Immer einen Schritt voraus”) ist ziemlich stolz darauf, die “meist zitierte Sonntagszeitung” (PDF) Deutschlands zu sein.
Morgen jährt sich zum zweiten Mal der Absturz des “Germanwings”-Flugs 4U9525. 150 Menschen sind damals in den französischen Alpen ums Leben gekommen, darunter auch Co-Pilot Andreas Lubitz, der die Maschine bewusst zum Absturz gebracht haben soll. Während viele der Hinterbliebenen sich treffen und gemeinsam trauern werden, werden Lubitz’ Eltern in Berlin bei einer eigens organisierten Pressekonferenz sitzen. Sie wollen ein Gutachten präsentieren, in dem es um Zweifel an den offiziellen Ermittlungen zur Absturzursache gehen soll.
In der “Zeit” von heute ist ein lesenswertes Stück von Petra Sorge zum Thema erschienen (hier eine Zusammenfassung von “Zeit Online”). Sie hat sich mit Günter Lubitz, dem Vater von Andreas, getroffen und mit ihm über verschiedene Gutachten, Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft, seine Motivation gesprochen:
Der Text handelt auch von der Berichterstattung rund um den “Germanwings”-Absturz. Es geht um ein brennendes Grab, um herumschleichende Reporter, um möglicherweise erfundene Interviewaussagen. Es geht vor allem um die “Springer”-Blätter “Bild” und “Welt am Sonntag”.
***
Da ist zum Beispiel der “Bild”-Bericht über das Grab von Andreas Lubitz. In der Print-Ausgabe und online hatten die “Bild”-Redaktionen Ende Juni 2015 groß auf der Titel- beziehungsweise Startseite über die Beerdigung des “Germanwings”-Co-Piloten berichtet …
… und dabei auch dessen Grab, niedergelegte Kränze, letzte Grüße von Freunden gezeigt.
Petra Sorge schreibt in ihrem “Zeit”-Artikel:
Kurz nach der Beerdigung von Andreas Lubitz gelangte ein Reporter auf den Friedhof. Er fotografierte das Grab: Kränze, die letzte Widmung der Familie. Bild veröffentlichte das Foto. Kurze zeit später setzte jemand das Grab in Brand. Der Brandstifter wurde nie gefunden.
Zur Berichterstattung über den Germanwings-Absturz:
Wegen der Veröffentlichung des Fotos folgte ein Gerichtsverfahren, das noch immer nicht endgültig entschieden ist. Inzwischen liegt der Fall beim Bundesgerichtshof:
Das Kammergericht Berlin untersagte den Abdruck des Fotos schließlich, mit der Begründung, die Berichterstattung stelle “einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte” der Kläger dar. Der Springer-Verlag hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Über die Frage von Pietät, Persönlichkeitsrecht und Grenzen der Pressefreiheit muss nun der Bundesgerichtshof entscheiden.
Nun kann man über einen direkten Zusammenhang von Bericht und Feuer nur mutmaßen. Die Tatsache aber, dass “Bild” und Bild.de trotz des Brandes und der möglichen Gefahr einer weiteren Brandstiftung im vergangenen August wieder mit großen Fotos über das Grab von Andreas Lubitz und den neuen Grabstein dort berichtet haben, wird vor diesem Hintergrund noch ekliger als es eh schon ist.
***
Direkt im Anschluss schreibt Petra Sorge:
Günter Lubitz hat lange überlegt, ob er mit der ZEIT sprechen soll. Mehrmals stand das Treffen auf der Kippe, besonders nachdem im Februar zwei Journalisten nahe dem Haus waren und danach behauptet hatten, die Familie habe sich erstmals öffentlich geäußert. Diese aus dem Zusammenhang gerissene “Äußerung” stammte aus einem Antwortschreiben, mit dem Günter Lubitz schon im November 2016 auf die Bitte um ein Interview reagiert hatte.
Bei den “zwei Journalisten” dürfte es sich um Mitarbeiter der “Welt am Sonntag” handeln. Die Wochenzeitung hatte vor gut einem Monat, am 26. Februar, vier Seiten über den “Germanwings”-Absturz veröffentlicht. In dem langen Text findet sich auch diese Passage:
Erstmals überhaupt haben sich die Eltern nun zu Wort gemeldet. Auf Anfrage der “Welt am Sonntag” schrieben sie: “Zum Absturz des Germanwings-Fluges 9525 ergeben sich auch für uns noch viele unbeantwortete Fragen, merkwürdige Sachverhalte und Zweifel am bisher kommunizierten Unfallhergang. Wir sind momentan selber noch am Recherchieren.” Zu dem “völlig falsch gezeichneten Bild” ihres Sohnes wollen sie sich momentan aber noch nicht äußern.
Ein “Unfallhergang”? Ein “völlig falsch gezeichnetes Bild” ihres Sohnes?
Aus einer E-Mail-Absage auf eine Interview-Anfrage vom November 2016 macht die “Welt am Sonntag” im Februar 2017 also die exklusive Nachricht, dass Lubitz’ Eltern sich “erstmals überhaupt” geäußert hätten.
Die Aussagen der angeblichen “Ex-Freundin” über Lubitz’ angebliche Ausraster und seine angeblichen Ankündigungen waren nur wenige Tage nach dem Unglück entscheidende Bausteine bei der medialen Konstruktion eines Psychogramms.
“Bild” schreibt in dem Artikel:
Die Stewardess Maria W. (26) war eine zeitlang die Freundin von Todes-Pilot Andreas Lubitz (27).
Fünf Monate lang flogen sie im vergangenen Jahr zusammen durch Europa und übernachteten heimlich gemeinsam in Hotels.
BILD-Reporter John Puthenpurackal hat ihre Identität überprüft. Er ließ sich u.a. ein Foto zeigen, das die Stewardess und den Amok-Piloten bei einem Flug in derselben Crew zeigt.
Wir haben den Namen auf ihren Wunsch geändert, sie so fotografiert, dass sie nicht erkannt werden kann. In BILD spricht jetzt die Frau, die diesem Mann sehr, sehr nah war.
Trotz Identitätsprüfung durch Reporter Puthenpurackal und Foto-zeigen-lassen glaubt Staatsanwalt Christoph Kumpa laut “Zeit” inzwischen, dass die Aussagen in dem “Bild”-Artikel erfunden seien. Petra Sorge schreibt:
Und dann ist da die Sache mit der angeblichen Ex-Freundin seines Sohnes, der Stewardess Maria W. Bild druckte im März 2015 ein Interview mit ihr, wonach Andreas Lubitz angekündigt haben soll: “Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.” Maria W. habe sich wegen seiner Probleme von ihm getrennt: “Er ist in Gesprächen plötzlich ausgerastet und schrie mich an. Ich hatte Angst. Er hat sich einmal sogar für längere Zeit im Badezimmer eingesperrt.” Das Interview schien genau jenes Puzzleteilchen zu liefern, das noch fehlte zum Bild eines Wahnsinnigen. Als die Staatsanwaltschaft einen Zeugenaufruf startete, meldete sich aber keine Maria W. Staatsanwalt Kumpa erklärt jetzt auf ZEIT-Anfrage: “Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist.”
“Bild” wehrt sich im “Zeit”-Artikel gegen diesen Vorwurf.
Ernst Elitz ist Ombudsmann der “Bild”-Zeitung. Er schaltet sich ein, wenn Leser ihre politischen Ansichten falsch oder verzerrt dargestellt finden. Aber auch, wenn sie Zweifel an Fakten haben.
Seine erste Kolumne erschien am Donnerstag. Am Wochenende schrieb er gleich die nächste. Diesmal fand er sogar einen berechtigten Kritikpunkt. Nur leider schickte er die fertige Kolumne an die falsche E-Mail-Adresse. Sie landete bei uns. Wir veröffentlichen sie hier. Exklusiv bei BILDblog.
Liebe BILD-Leser,
zunächst muss ich Ihnen sagen: Julian Reichelt hat mich für meine erste Kolumne sehr gelobt. Darüber freue ich mich ganz besonders. Denn das zeigt: Er nimmt die kritische Auseinandersetzung mit BILD ernst. Aber kommen wir gleich zu den Zuschriften.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Ich bin den folgenden Fällen nachgegangen.
► BILD-Leser Maik Warschnitz schreibt: “Ich habe von verschiedenen Seiten gehört: Zu Karneval sind mehrere Pärchen in der Öffentlichkeit beim Liebesspiel gefilmt worden. Warum finde ich die Videos nicht bei Bild.de?”
Meine Antwort: Dafür habe ich leider keine Erklärung. Wir haben alle Aufnahmen veröffentlicht. Prominent auf unserer Startseite. Ich habe in der Chefredaktion recherchiert. Der Browser-Verlauf zeigt: Auch dort wurden sie gefunden.
Mein Urteil: BILD ist hier nichts vorzuwerfen.
► BILD-Leser Ferdinand Huhn fragt: “Früher habe ich immer gern die BILD-Korrekturspalte gelesen. Leider finde ich sie nicht mehr. Warum hat die Redaktion sie abgeschafft?”
Die Redaktion sagt: “Diese Frage hören wir oft. Die Antwort überrascht viele Leser: Wir haben die Korrekturspalte nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Oft würden wir Fehler gern berichtigen. Aber leider ist unser Platz begrenzt. Unsere Aufgabe ist es, die wichtigsten Themen des Tages auszuwählen. Wenn dazu unserer Meinung nach ein Fehler zählt, werden wir die Korrekturspalte auch weiterhin nutzen. Sie bleibt also ein ebenso fester Bestandteil der BILD wie das kritische Urteil von Ernst Elitz.”
Mein Urteil: Stark!
► Bei der Berichterstattung über Verbrechen wirft BILD-Leser Gisbert Holunder uns vor, oft einen Teil der Wahrheit zu verschweigen. So würden in vielen Fällen lediglich Fotos veröffentlicht, die das Opfer vor der Tat zeigen.
Meine Antwort: BILD-Reporter sind auch nur Menschen. Sie können nicht gleichzeitig überall sein. Vor allem bei Verbrechen sind wir auf Augenzeugen angewiesen. Und dabei dürfen wir nicht vergessen: Das sind keine Profis. Diese Menschen sind meistens von der Situation überfordert. In ihrer Panik vergessen sie, vom Tatort ein Foto zu machen. Und oft holen sie zunächst Hilfe, statt unsere Reporter zu kontaktieren.
Mein Urteil: BILD trifft keine Schuld!
► BILD-Leser und Türkei-Kenner Hans-Eberhard Müller aus Torgau (Sachsen) fordert “deutliche Worte” zu den “Mätzchen” des türkischen Präsidenten Erdogan.
Meine Antwort: BILD hat dazu deutliche Worte gefunden. Wir werden auch weiter über die Türkei und Präsident Erdogan berichten.
Mein Urteil: BILD hat alles richtig gemacht.
► BILD-Leser Kevin Knoblikowsky möchte wissen: “Warum hat das BILD-Girl eine Hose an?”
Meine Antwort: Sie haben vollkommen Recht. Das muss nicht sein! BILD steht für transparenten Journalismus. Diese Frage müssen wir uns gefallen lassen.
Die Redaktion sagt: “Die Fotos werden uns zugeliefert. Mit Photoshop ist da nichts zu machen. Aber wir bleiben an der Sache dran.”
Mein Urteil: Hier muss sich dringend etwas ändern.
► Stichwort Kommentar!
Manche Leser sind unzufrieden mit Berichten und Formulierungen, die ihrer eigenen Vorstellung von Anstand und Redlichkeit zuwiderlaufen.
1. Keine Zeit für den Fascho-Check (taz.de, Dinah Riese)
Eine verurteilte Volksverhetzerin postet bei Instagram ein Foto von sich mit einer Cola in der Hand und hinterlässt einen freundlichen Spruch. Das Social-Media-Team des Hamburger Brauseherstellers antwortet nett zurück, ohne zu wissen, um wen es sich auf dem Foto handelt — und bekommt dafür ordentlich Online-Haue. Dinah Riese fragt: Zu Recht? Zu Unrecht? “Gehört es zu den grundlegenden Kompetenzen von Social-Media-Redakteur*innen, Mitglieder der rechten Szene zu erkennen?”
2. Zahal, Dschihad und anderes (juedische-allgemeine.de, Daniel Killy)
Die Vorwürfe, die Daniel Killy bei der “Jüdischen Allgemeinen” in Richtung “DRadio Wissen” schickt, haben es in sich: Der Sender habe einen Beitrag über zwei junge Jüdinnen verhindert, weil er nicht Israel-kritisch genug gewesen sei. “DRadio Wissen” hat inzwischen auf die Anschuldigungen geantwortet: Anders als die “Jüdische Allgemeine” suggeriere, “wurde der fragliche Beitrag nicht aus inhaltlichen, sondern aus handwerklichen Gründen von der Redaktion abgelehnt.”
3. Deutsche rechnen mit Fake News — und informieren sich vor allem im Fernsehen (horizont.net, Marco Saal)
In einer “Exklusivumfrage zur Bundestagswahl” hat “Horizont” herausfinden lassen, auf welchem Wege sich die Deutschen zu politischen Themen informieren (Junge: Internet, Alte: Fernsehen). In die Überschrift hat es allerdings ein anderes Umfrage-Thema geschafft: “Fake News”. “Deutsche rechnen mit Fake News”, steht über dem Text von Marco Saal. Das stimmt schon, aber nicht die Mehrheit, sondern 44 Prozent. Der größere Teil der Befragten, 51 Prozent, glaubt hingegen, dass Falschmeldungen im Bundestagswahlkampf keine Rolle spielen werden (wobei man die Gleichsetzung von “Fake News” und “Falschmeldungen” durch “Horizont” sicher kritisch sehen kann).
4. Millionäre lieben Deutschland — und wandern nicht aus (indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
“Tausende Millionäre verlassen Deutschland”, schreibt das “Manager Magazin”. “Business Insider” alarmt: “Massen-Auswanderung”. Und “Sputnik” fragt in freudiger Endzeitstimmung: “Sinkt das Schiff?” Thomas Knüwer hat sich die Zahlen, die eine südafrikanische Beratungsgesellschaft namens “New World Wealth” veröffentlicht hat, und aus denen einige Medien in Deutschland Artikel gebaut haben, genauer angeschaut. Er klingt selbst ein wenig überrascht, wie viele Zweifel er “mit nur einer Viertelstunde googlen” erzeugen konnte.
5. Wie die Medien zu Parteien wurden (wolfgangmichal.de)
Wolfgang Michal beobachtet, dass Medienunternehmen “zu politisch-idealistischen Kampfgruppen” würden, “die die Richtung der Politik bestimmen wollen und können”: “So wurden die großen Medien, die ‘dem Internet’ vor Jahren noch erzählten, was guter und verantwortungsvoller Journalismus ist (nämlich professionelle Zurückhaltung), im Verlauf eines knappen Jahrzehnts zu Parteien, die für die gute Sache kämpfen — so wie politische Parteien, Internet-Konzerne oder NGOs seit jeher für sich in Anspruch nehmen, für die gute Sache zu kämpfen: To Make The World A Better Place.” Das sei “nicht die schlechteste Entwicklung”, findet Michal.
6. Haben Sie’s gelesen? (sueddeutsche.de, Silke Bigalke)
Nun gibt es hier im BILDblog keine Kommentarfunktion. Aber wenn es sie gäbe, und Sie kommentieren wollten, dann müssten Sie erstmal eine Frage beantworten, die mit diesem Blogpost zu tun hätte. Zum Beispiel: Wie heißt die südafrikanische Beratungsfirma, deren Zahlen Thomas Knüwer hinterfragt? So macht es jedenfalls das norwegische Technik-Blog “NRKbeta”, das zum staatlichen Sender “NRK” gehört: Wer kommentieren will, muss vorher drei simple Fragen beantworten, die sich auf den Text beziehen, den man kommentieren möchte. Das soll Hitzköpfe ausschließen, die nur rumpöblen wollen. Und funktioniert in den ersten Testwochen recht gut.
So richtig rund scheint es nicht zu laufen mit der neuen “Fußball Bild”. Seit Ende Januar liegt die tägliche “Springer”-Fußball-Zeitung bundesweit an den Kiosken (zuvor hatte der Verlag das Projekt schon in Stuttgart und München getestet), ein Mix aus zusammengewürfelten Berichten der “Bild”-Regionalausgaben und ein paar Exklusiv-Inhalten. “Meedia” berichtete vor knapp zwei Wochen, dass pro Tag “im Schnitt zwischen 48.000 und 55.000 Exemplare” verkauft würden. Der Plan, die sinkende “Bild”-Auflage durch “Fußball Bild” auszugleichen, gehe bisher nicht auf.
Und so versucht “Fußball Bild” aktuell einiges, um gemocht zu werden. Zwölf Tage kann man sie kostenlos testen, ab heute gibt es das Blatt im Abo und für die “333 schnellsten Besteller” verspricht die Redaktion sogar “einen FUSSBALL BILD Kaffeebecher” gratis.
Ein neues Werbevideo gibt es auch:
Der 20-Sekunden-Clip ist seit vorgestern online und zeigt, wie “Bild” von VfL-Bochum-Trainer Gertjan Verbeek “beschimpft” wird (von der Beliebtheit bei den Fans ist hingegen nichts zu sehen, doch dazu später mehr):
Verbeek sagt in dem “Fußball Bild”-Werbespot:
“Bild”. Nee. Warum schreibt ihr dann immer solche Scheiße? Warum spielt ihr immer zwei Parteien gegeneinander aus? Ihr seid ja Arschlocher. Das seid ihr.
Vielleicht erinnern Sie sich: Die Aussage stammt aus einer Pressekonferenz des VfL Bochum, die im September 2015 stattfand. Wir hatten damals auch hier im BILDblog darüber berichtet. Das “Arschlocher” von Gertjan Verbeek ging an “Bild”-Reporter Joachim Droll, der zuvor über angebliche Meisterambitionen Verbeeks berichtet hatte. Später entschuldigten sich der Trainer und der Vereinsvorstand für die Wortwahl, von Verbeeks Kernaussagen wollte sich der Verein hingegen nicht distanzieren.
“Fußball Bild” schnappte sich also — mit Genehmigung des VfL Bochum — die kurze Passage aus der knapp 20-minütigen Pressekonferenz (ab Minute 4:05 wird’s interessant) und fügte diese zwei Texttafeln ein, die zwischendrin eingeblendet werden:
Die Aussage soll wohl sein: Ist das nicht toll, liebe Fans, wie wir uns für euch solchen Biestern wie Gertjan Verbeek stellen und uns von ihnen sogar beschimpfen lassen? Dafür müsst ihr uns doch lieb haben.
Die erste Tafel (“VON TRAINERN BESCHIMPFT.”) gibt “Fußball Bild” allerdings auch die Möglichkeit, die Originalaufnahme zu schneiden, ohne dass man es auf Anhieb merkt. Verbeeks Kritik hatte nämlich durchaus Inhalt. Er kritisierte in einem Satz, den “Fußball Bild” weggelassen hat, die “Bild”-Berichterstattung über Flüchtlinge. Der VfL-Trainer sagte damals in voller Länge:
“Bild”. Nee. Warum schreibt ihr dann immer solche Scheiße? Warum spielt ihr immer zwei Parteien gegeneinander aus? Selbst mit Flüchtlingen dazwischen. Ihr seid ja Arschlocher. Das seid ihr.
Ein bisschen Kritik an “Bild” ist für “Bild” also in Ordnung. Richtige Kritik wird aber doch lieber rausgeschnitten.
Und dann ist da ja noch die Behauptung, dass “Bild” beziehungsweise “Fußball Bild” “von den Fans geliebt” werde. Ebenfalls im September 2015, als die “Bild”-Zeitung auf dem Höhepunkt ihrer “Wir helfen”-Imagekampagne an einem Spieltag der 1. und 2. Bundesliga “Wir helfen”-Aufnäher auf den Trikotärmeln aller 36 Mannschaften platzieren wollte, reagierten die Fans vieler Vereine in den Stadien mit “Bild”-Kritik.
Zum Beispiel die des BVB:
Und des 1. FC Köln:
Und des Karlsruher SC:
Und des FSV Mainz 05:
Und des FC Ingolstadt:
Und des SV Darmstadt 98:
Und des VfB Stuttgart:
Und des 1. FC Nürnberg:
Und des SC Freiburg:
Und des FC Schalke 04:
Und von Fortuna Düsseldorf:
Und des TSV 1860 München:
Und von Hertha BSC:
Und von Union Berlin:
Und von der SpVgg Greuther Fürth:
Und auch die Fans des VfL Bochum, für die sich “Bild” und “Fußball Bild” ja von Trainer Gertjan Verbeek heldenhaft beschimpfen lassen, schlossen sich #BILDnotwelcome an:
Als es Ende Oktober 2010 mal wieder eng wurde für “Bild”, war Ernst Elitz direkt zur Stelle. Damals verurteilte das Amtsgericht München einen früheren Redakteur des Blatts zur Zahlung von 14.400 Euro an den Schauspieler Ottfried Fischer. Der Mann, zu der Zeit noch “Bild”-Mitarbeiter, hatte ein illegal aufgenommenes Video gekauft, das Fischer beim Sex zeigen sollte. Er meldete sich bei Fischers PR-Agentin, erwähnte das Sextape und bekam ein Exklusiv-Interview mit dem Schauspieler. Fischer wehrte sich später, sprach von Nötigung. Und das Münchner Amtsgericht gab ihm Recht. Es sah in der Erwähnung des Videos eine konkludente Drohung des “Bild”-Mitarbeiters; eine explizite Drohung, dass man die Aufnahmen anderenfalls veröffentliche könne, sei nicht nötig gewesen.
Zwei Tage später äußerte sich Ernst Elitz zu dem Urteil. Der einstige “Deutschlandradio”-Intendant kommentierte damals schon seit einiger Zeit alles Mögliche in “Bild”. Für das Urteil aus München hatte er überhaupt kein Verständnis:
Elitz schrieb:
Darf ein Journalist mit keinem mehr sprechen, über den er mehr weiß, als dem Angesprochenen lieb sein kann? Das ist bei jeder professionellen Recherche so. Das verletzt keine Grenze.
Und:
Auch mit diesem Urteil wurden Grenzen verletzt. Ein Journalist, der Betroffene mit Recherche-Ergebnissen konfrontiert, nötigt nicht. Er schafft klare Verhältnisse. Unabhängig davon, ob es um einen groß angelegten Betrugsfall oder um ein Sexvideo geht.
Der Ankauf von illegalen Aufnahmen aus dem höchstpersönlichen Bereich und das Unterdrucksetzen mit diesen Aufnahmen sei also “Profi-Recherche”, schrieb Ernst Elitz über die Methoden eines “Bild”-Mitarbeiters in “Bild”.
Zwei Jahre zuvor verteidigte Elitz schon einmal die Arbeitsweise des Boulevardblatts. Damals war er noch Intendant des “Deutschlandradios”, seine regelmäßigen “Bild”-Kommentare gab es noch nicht. Der Deutsche Presserat rügte im Dezember 2008 die “Bild”-Berichterstattung über einen Flugzeugabsturz in Nepal. Auf der Titelseite waren “verkohlte Leichen” zu sehen, im Innenteil unverfremdete Fotos von sechs der zwölf deutschen Opfer.
Ernst Elitz war zufällig Blattkritiker an dem Tag, als “Bild” über den Absturz berichtete. Damals nannte er die Aufmachung “eine akzeptable Lösung”. Als der Presserat dann die Rüge aussprach, äußerte er sich, zusammen mit Kai Diekmann, in einer Pressemitteilung des Axel-Springer-Verlags kritisch zu dieser Entscheidung und verteidigte “Bild”.
Und auch sonst gab sich Elitz stets Mühe, alles super zu finden, was die “Bild”-Zeitung so macht, und ihre Schweinereien als ganz normalen Journalismus zu bezeichnen: Die Griechenland-Hetze der Redaktion war für ihn “keine Griechenland-Hetze”, ein juristischer Sieg für “Bild” war gleich ein “Sieg für die Pressefreiheit”.
Dieser Mann, der sich gern mal an falsche oder einseitige Berichte dranhängt und wiederholt null Verständnis für Kritik an “Bild”-Methoden zeigte, ist neuerdings Ombudsmann bei der “Bild”-Zeitung. Das verkünden das Blatt …
In seiner neuen Rolle soll Elitz die Schnittstelle zwischen Redaktion und Lesern sein, schreiben “Bild”-Chefredakteurin Tanit Koch und “Bild”-Oberchefredakteur Julian Reichelt:
Wir schaffen die Stelle des Ombudsmannes. Ernst Elitz ist ab sofort Ansprechpartner für Sie! (…)
Sie können ihn kontaktieren, wenn Sie Ihre politische Ansicht oder eine Debatte falsch oder verzerrt dargestellt finden. Aber auch, wenn Sie Zweifel an Fakten haben oder Fragen zu unserer Quellenlage. Er darf in Ihrem Auftrag bei uns in der Chefredaktion recherchieren, ob wir falsch gelegen haben. Wir werden keinen Einfluss auf sein Urteil nehmen und es veröffentlichen, wann immer er es von uns verlangt.
Ja, “wann immer er es von uns verlangt.” Aber dafür müsste erstmal ein Wille da sein, “Bild” kritisch zu betrachten. Zumindest bei der Nötigung von Ottfried Fischer und den “verkohlten Leichen” aus Nepal wären die Zuschriften aus Ernst Elitz’ Posteingang vermutlich direkt in den Papierkorb gewandert — war schließlich alles tiptop.
Joar, Mensch, das ist ja mal gar nicht schlecht, dass das “Abendblatt” dabei war, “als die finnische Fluggesellschaft ‘Finnair’ als erste Fluggesellschaft den Airbus A350 übernahm.” Glückwunsch!
Warum das überhaupt bemerkenswert ist? Weil dieser Screenshot nicht von abendblatt.de stammt, sondern von Bild.de:
Das Portal berichtet heute über einen “SONDERFLUG DES LUFT-GIGANTEN”, denn der “Mega-Airbus besucht Hamburg”:
Der neue Lufthansa-Airbus A350-900, das weltweit modernste Langstreckenflugzeug, besuchte am Donnerstag-Vormittag mit einem Sonderflug die Hansestadt.
Wie da nun die frohe “Abendblatt”-Kunde reingerutscht ist? Vermutlich hat irgendein Bild.de-Mitarbeiter beim Text-Klauen nicht aufgepasst und beim Copyandpasten eben auch die Passage mit “Finnair” übernommen. Auf abendblatt.de steht nämlich ebenfalls (Link mit Bezahlschranke):
Für die Lufthansa sei der Neuzugang eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres. Die A350-900 für 293 Passagiere sei das modernste und umweltfreundlichste Langsteckenflugzeug. Es verbrauche 25 Prozent weniger Treibstoff und sei beim Start wesentlich leiser als vergleichbare Flugzeugtypen.
Das Abendblatt war dabei, als die finnische Fluggesellschaft Finnair als erste Fluggesellschaft den Airbus A350 übernahm.
Die Bild.de-Redaktion mopst also einfach zwei Absätze beim “Abendblatt”, inklusive Rechtschreibfehler (“Langsteckenflugzeug”), und vergisst, die Spur zu verwischen. Wir wollen an dieser Stelle nur noch mal daran erinnern: Bild.de geht derzeit mit einer wettbewerbs- und urheberrechtlichen Klage gegen “Focus Online” vor, weil man sich nicht länger bieten lassen wolle, dass das “Burda”-Portal “systematisch exklusive Bezahl-Inhalte von BILDplus abschreibt”. Nun ist das Ausmaß, mit dem “Focus Online” sich bei “Bild plus” bedient, sicher noch mal ein anderes. Aber auch bei den zwei “Abendblatt”-Absätzen handelt es sich um Bezahl-Inhalte. Und abschreiben bleibt abschreiben.
Anfang Januar jubelte die “Bild”-Redaktion auf ihrer Titelseite:
Ein ziemlich enges Rennen zwischen “Bild” und dem “Spiegel”, 1253 Zitate versus 1252 Zitate. Dass Redaktionen und Journalisten sich freuen, wenn Kollegen ihre “exklusiven Nachrichten, Berichte, Interviews etc.” übernehmen und — mit Nennung des Mediums, das das Exklusivmaterial veröffentlicht hat — über das gleiche Thema berichten, kann man gut verstehen.
Der “Spiegel” hat in seiner aktuellen Ausgabe unter anderem so ein Thema. Es geht um Fußballstar David Beckham:
Der Artikel gehört zur Reihe “Football Leaks”, die der “Spiegel” im vergangenen Jahr gestartet hat. Die gleichnamige Enthüllungsplattform hatte der Redaktion zahlreiche Verträge, E-Mails, Informationen aus der Fußballbranche zugespielt. Gemeinsam mit anderen Redaktionen der “European Investigative Collaborations” hat ein “Spiegel”-Team dieses ganze Material ausgewertet; nun veröffentlicht das Magazin peu à peu neue Enthüllungen.
Die Geschichte über David Beckham basiert auf Millionen E-Mails, die Hacker gestohlen haben. Sie zeigen, dass der frühere Mittelfeldspieler ganz heiß darauf war, von der Queen zum Ritter geschlagen zu werden. Und dass er ganz jähzornig und ausfallend wurde, als das nicht geklappt hat. Außerdem lassen die Mails daran zweifeln, dass Beckham sich völlig uneigennützig für “Unicef” engagiert. Vielmehr scheint dieses Engagement ein wichtiger Baustein seiner Selbstvermarktung und der wertvollen Marke “David Beckham” zu sein.
Die “Spiegel”-Autoren Peter Ahrens, Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp, Christoph Henrichs und Jörg Schmitt hätten sich sicher gefreut, wenn Bild.de ihr Magazin als Quelle genannt hätte. Stattdessen bezieht sich das Portal aber auf das britische Knallblatt “The Sun”:
In einer seiner E-Mails schrieb er dazu laut “The Sun”
“Bis es keine Ritterschaft ist, fuck off”, schrieb er laut der Zeitung “The Sun”.
In den Texten von “Spiegel”, Bild.de und “The Sun” geht es um die gleichen Aspekte zum gleichen Thema mit den gleichen Zitaten.
Einer der “Spiegel”-Autoren, Jörg Schmitt, wandte sich heute per Twitter an “Bild” und Julian Reichelt, der seit einigen Tagen nicht mehr nur Bild.de-Chefredakteur ist, sondern auch Vorsitzender der Chefredakteure der “Bild”-Gruppe:
Reichelt hatte darauf gleich so viel zu erwidern, dass er drei Tweets benötigte:
Nun hat niemand behauptet, dass “The Sun” den “Spiegel” “beklaut” hätte. Und auch die Mitarbeiter der “Sun” selbst tun wahrlich nicht so, als würde die gesamte Beckham-Story von ihnen stammen (auch wenn — und darauf bezieht sich Reichelt — das Boulevardblatt auf seiner Titelseite ein “EXCLUSIVE” gedruckt hat). Ganz im Gegenteil: “The Sun” nennt im Artikel sauber den “Spiegel” als Quelle. Das hätte auch Julian Reichelt rausfinden können, wenn er vor dem Drauflostwittern den “Sun”-Text gelesen hätte, den seine eigene Redaktion gleich zweimal verlinkt hat. Dort steht:
Und auch in all ihren anderen Artikeln zu den Beckham-E-Mails gibt “The Sun” den “Spiegel” als Quelle an. Hier zum Beispiel:
Was jetzt genau Edward Snowden mit David Beckham zu tun hat, ist nicht ganz klar. Und seit wann der Geschmack entscheidet, von wem eine Geschichte stammt, auch nicht. Aber mit solchen Details hält sich Julian Reichelt auch nicht lange auf. Stattdessen gleich die nächste Nebelkerze:
Rafael Buschmann versucht es dann noch einmal sachlich und weist Julian Reichelt auf einen faktischen Fehler im Bild.de-Artikel hin. Dort steht nämlich, dass die Website “Football Leaks” die E-Mails von David Beckham veröffentlicht habe — was nicht stimmt. “Football Leaks” hat sie weitergeleitet, verschiedene Medien haben daraus dann Artikel gemacht:
Gebracht hat all das nichts. In dem Bild.de-Artikel wird der “Spiegel” weiterhin mit keinem Wort erwähnt.
Vor knapp drei Wochen, als bekannt wurde, dass “Bild” wegen “Inhalte-Diebstahls” gegen “Focus Online” klagt, sagte Julian Reichelt:
“Für uns geht es hier um das Wertvollste, was wir als journalistische Marke haben: unsere mit eigenen Ressourcen recherchierten Inhalte.”
Dass andere Redaktionen für ihre “mit eigenen Ressourcen recherchierten Inhalte” gerne den Credit bekommen würden — dafür hat Julian Reichelt dann aber kein Verständnis.
Der Pressekodex sieht vor, dass Journalisten die Wahrheit achten, die Menschenwürde wahren und die Öffentlichkeit wahrhaftig informieren. Das steht ganz am Anfang des Regel-Katalogs. Alles weitere wird unter 16 Ziffern in aller Ausführlichkeit erklärt. Und dann gibt es noch ein paar ungeschriebene Gesetze, die man eigentlich auch noch anfügen wollte, aus zwei Gründen aber doch weggelassen hat. Zum einen dachten die Verfasser: Diese Regeln kennt ja nun wirklich eh jeder Journalist. Zum anderen war es schon Freitag und gerade 14 Uhr durch.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Inzwischen gibt es Zweifel daran, ob diese Entscheidung richtig war. Heute würden viele Menschen lieber einem mehrfach vorbestraften Trickbetrüger ihre gesamten Ersparnisse anvertrauen als einem Journalisten eine wichtige Information. Um das Vertrauen zurückzugewinnen, müssen Journalisten die Regeln, nach denen sie arbeiten, transparent machen. Und weil alle anderen Kollegen gerade mit “wichtigen Recherchen” beschäftigt sind, blieb am Ende nur ich für diese undankbare Aufgabe.
Leider kenne ich selbst gar nicht alle ungeschriebenen Gesetz und auch nicht die richtige Reihenfolge. Daher kann ich hier nur einige vorstellen. Aber ein Kollege sagte mir: Vieles kann man sich herleiten, wenn man nur einfach mal hinsieht. Und das stimmt. Diese Regel hier ist nun ziemlich offensichtlich:
Leser sind grundsätzlich nicht in der Lage, die Qualität des vor ihnen liegenden Produkts selbst zu erkennen. Deswegen muss man sie auf vorhandene Qualität hinweisen, wo immer es möglich ist. Wichtig: Vorhandene Qualität ist keine Voraussetzung für den Hinweis. Und: Der Hinweis kann auf unterschiedliche Weise erfolgen:
a) durch vom eigenen Haus, Berufsverbände oder andere Institutionen in Auftrag gegebene Studien, die absichtlich oder zufällig zu dem Ergebnis kommen, dass Print-Produkte sich weiterhin größter Glaubwürdigkeit und Beliebtheit erfreuen. Bei Studien mit einem gegenteiligen Ergebnis ist im Sinne des Pressewesens von der Veröffentlichung abzusehen.
b) durch den Hinweis auf Exklusivität. Wenn Journalisten früher als andere an eine Information gelangen, sollten sie das unabhängig von der Wichtigkeit der Information deutlich hervorheben. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Leser den Hinweis erst bei der dritten Erwähnung wahrnehmen. Daher sollte sichergestellt sein, dass im Text ausreichend oft auf die Exklusivität hingewiesen wird.
Man muss allerdings dazusagen: Dieses Forschungsergebnis ist höchst umstritten. Viele Journalisten wissen das und beschränken sich daher in ihren Artikeln nicht auf die empfohlenen drei Erwähnungen.
Neben diesem sehr allgemeinen ehemals ungeschriebenen Gesetz gibt es aber auch sehr spezielle Regeln. Zum Beispiel diese hier:
Wenn ein Pressesprecher, der mit vollem Namen im Text erscheint, während des Gesprächs den Satz gesagt hat “Aber das haben Sie jetzt nicht von mir”, dann ist der Journalist dazu angehalten, die nach dem Satz gesagte Information im Artikel unterzubringen, und zwar unter Verweis auf “Insider-Kreise”.
Das ist aus gleich mehreren Gründen sinnvoll. Zum einen liegt diese Erwähnung im Interesse des Verlages, denn durch den Eindruck, der Journalist hätte die Fakten in einer umfangreichen Recherche bei top-geheimen Quellen verifiziert, gewinnt sein Artikel an Glaubwürdigkeit. Und das bei gleichbleibenden Kosten. Das sichert die Existenz des Unternehmens und damit auch die des im Interesse des Gemeinwohls stehenden Pressewesens.
Gleichzeitig — und das darf man hier auch ruhig erwähnen — hat es angenehme Nebeneffekte für den Journalisten. Sein Ansehen unter Lesern und Kollegen wächst. Und das bei gleichbleibender Arbeitszeit. Die Kollegen, die wirklich mit top-geheimen Quellen sprechen, bringen ihre Informationen nämlich auf die gleiche Weise in ihren Artikeln unter, gehen aber zwei Stunden später nach Hause. Das wiederum schadet dem Verlag, denn früher oder später fallen sie mit der Diagnose Burnout für mehrere Wochen aus, während ihre Bezüge weiter fällig werden.
Vor allem diese Regel macht deutlich, dass Journalisten heute auch wirtschaftliche Verantwortung tragen. In ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Allgemeinheit sind sie dazu verpflichtet, sich selbst zu einer Marke zu transformieren. Darauf zielt das folgende in diesem Augenblick noch ungeschriebene Gesetz ab:
Mit der Nominierung zu einem Journalistenpreis, dem Beginn eines Buchprojekts oder der schriftlichen Zusage für ein beliebiges Stipendium (möglichst im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit) tritt unverzüglich die zeitgeschichtliche Bedeutung des Journalisten ein. Dadurch ergibt sich unmittelbar die Notwendigkeit eines eigenen “Wikipedia”-Eintrags. Wenn sich niemand dazu bereiterklärt, einen solchen zu verfassen, ist der Journalist selbst dazu verpflichtet, dies zu übernehmen. Im Falle von bedeutsamen Ereignissen (Auslandsaufenthalte, weitere Nominierungen, kontroverse Meinungen zu irgendwelchen Themen) hat der Journalist die Pflicht, seinen Eintrag innerhalb eines Tages zu aktualisieren.
Die erschreckend geringe Anzahl von Journalisten mit eigenem Wikipedia-Eintrag zeigt, dass einige der ungeschriebenen Gesetze, anders als von den Verfassern des Pressekodexes angenommen, noch immer erstaunlich unbekannt sind.
Andere dagegen haben sich erfreulicherweise etabliert, ohne je niedergeschrieben worden zu sein. Zum Beispiel das heute in nahezu jeder Redaktion bekannte Gesetz vom Texteinstieg bei einem vertrauten Ereignis:
Die goldene Regel zur Ereignissimulation in statischen Gesprächssituationen:
Und, vielleicht am bekanntesten von allen bis gerade noch ungeschriebenen Gesetzen: das Gebot vom ersten Satz einer Ärgernis-Berichterstattung in Verbindung mit dem Geheiß einer nachgestellten Verstärkung.
Vorhin, um 11:48 Uhr, hatte Bild.de ganz exklusive Neuigkeiten zu “AfD”-Rechtsaußen Björn Höcke:
Und in einem Teaser hieß es:
Höcke hatte vergangene Woche bei einer Rede in Dresden gesagt, dass Deutschland sich ein “Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt” habe, und meinte damit wohl das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Daraufhin gab es berechtigterweise massive Kritik.
Eine Minute nach der Veröffentlichung des Bild.de-Artikels schickte die “Tagesschau” eine Eilmeldung raus:
Kurze Zeit später sah der Artikel bei Bild.de dann so aus:
Dass die Redaktion kurz zuvor noch etwas völlig anderes behauptet hat, wird nirgends erwähnt.