Suchergebnisse für ‘Asyl’

Medienversagen, Mafia, Wakaliwood

1. Die US-Wahl, die Medien und ihre Vorhersagen (Links im Text)
(diverse)
In der Wahl von Donald Trump zum künftigen Präsidenten der USA sehen viele auch ein Versagen der Journalisten und ihrer Vorhersagen. Sascha Lobo schreibt in seiner Kolumne bei “Spiegel Online” vom Scheitern der Medien und Meinungsforscher “an den Mechanismen moderner Meinungsbildung” (“Wir müssen aus unseren Fehlern lernen. Sonst ist Trump unser kleinstes Problem”). Bei persoenlich.com sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, Trump sei der “grosse Profiteur einer veränderten Medienwelt” (“‘Trump hat von einer veränderten Medienwelt profitiert'”). Christian Jakubetz schreibt in seinem Blog von einer “bitteren Lektion” für “Journalisten, Medien und Social-Media-Enthusiasten” (“Eine Ohrfeige namens Trump”). Die Wahl von Donald Trump zeige, “wie sehr sich die Bürger von den klassischen Medien abgewandt haben — und andersherum”, so Julian Dörr bei sueddeutsche.de (“Trump und “Breitbart” triumphieren über das Establishment”). Joshua Benton analysiert bei “NiemanLab”, dass sowohl Journalisten als auch Facebook dazu beitrügen, dass sich die Gesellschaft in “two self-contained, never-overlapping sets of information” bewege (“The forces that drove this election’s media failure are likely to get worse”). Rasmus Kleis Nielsen denkt auf seiner Website darüber nach, was die Wahl für die Sozialwissenschaften bedeuten könnte (“‘A desk is a dangerous place from which to view the world.’ Social science and the 2016 elections”). Danah Boyd sagt klipp und klar “I blame the media” und kritisiert fehlende Selbstreflexion der Medien sowie ein mangelndes Verständnis der eigenen Schwächen (“Reality check: I blame the media.”). Jim Rutenberg und James Poniewozik fragen in der “New York Times”, ob sich die Medien von dieser Wahl wieder erholen können (“Can the Media Recover From This Election?”). Und Margaret Sullivan wirft den Journalisten in der “Washington Post” vor, dass sie nicht richtig hingehört und hingeschaut hätten (“The media didn’t want to believe Trump could win. So they looked the other way.”).

2. War das Volksverhetzung?
(faz.net, Michael Hanfeld)
Der Auftritt einer vollverschleierten Konvertitin in der Talkrunde von Anne Will am vergangenen Sonntag hat jetzt auch rechtliche Folgen — eine Rechtsanwältin aus Neuruppin soll Strafanzeige gestellt haben, “‘wegen aller in Frage kommenden Straftaten'”, schreibt Michael Handfeld. In einer Stellungnahme verteidigt “Anne Will”-Redaktionsleiter Andreas Schneider die Einladung der Frau: “Um das ganze Spektrum der Problematik abzubilden, die im Tatort [lief im Vorfeld der Sendung] angespielt wurde, war es Absicht der Redaktion, auch eine radikalisierte Person in die Gesprächsrunde zu laden.”

3. “Dort verkehren auch Politiker”
(taz.de, Ambros Waibel)
Gestern Abend lief beim “MDR” Ludwig Kendzias Reportage “Revier der Paten — Mafia in Mitteldeutschland” (Video, 29:45 Minuten). Im Interview mit der “taz” erklärt er, warum es schon rein rechtlich schwierig ist, über die Mafia zu berichten: “In Italien ist die nachgewiesene Zugehörigkeit zur Mafia strafbar. Das ist bei uns nicht so und macht es für Journalisten enorm schwierig, identifizierend zu berichten. Wir müssen uns aufs Allgemeine zurückziehen.”

4. O-Töne herstellen? Geht jetzt!
(radio-machen.de, Sandra Müller)
“Adobe”, die Firma, die auch Photoshop entwickelt hat, hat vor einigen Tagen Voco vorgestellt (Video, 7:20 Minuten). Damit kann man — kurz gesagt — am Computer durch die Eingabe oder das Löschen von Wörtern Sprachaufnahmen so verändern, dass ganz neue Aussagen entstehen. Sandra Müller warnt vor dieser “perfekten Audio-Manipulationsmaschine”.

5. Journalisten nicht ins Asylverfahren treiben
(reporter-ohne-grenzen.de)
Nachdem Michael Roth, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in einem Interview mit der “Welt” verfolgten türkischen Journalisten Asyl in Deutschland in Aussicht gestellt hatte, kritisieren die “Reporter ohne Grenzen”, dass Roths Angebot an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigehe: “Die weitaus meisten der türkischen Medienschaffenden, die sich mit der Bitte um Zuflucht in Deutschland an Reporter ohne Grenzen wenden, wollen weder politisches Asyl noch dauerhaft im Ausland bleiben. Ihnen geht es vielmehr um vorübergehende Zuflucht, bis sich die politische Situation in der Türkei beruhigt hat — und vor allem darum, ihre journalistische Arbeit fortzusetzen. Würden sie politisches Asyl beantragen, könnten sie jedoch während eines Verfahrens von ungewisser Dauer nur sehr schwer eine Arbeit aufnehmen und wären in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.”

6. Wakaliwood: Actionfilme aus Ugandas Slum
(ndr.de, Bastian Berbner, Video, 12:04 Minuten)
Isaac Nabwana braucht gerade mal ein Budget von 160 Dollar, um einen ganzen Spielfilm zu drehen. Nabwana ist Kameramann, Regisseur und die zentrale Person von Wakaliwood, Ugandas Film-Hotspot in Wakaliga. Bastian Berbner war im Slum in der Nähe der Hauptstadt Kampala dabei, als mit Hilfe von Kunstblut in Kondomen und Maschinengewehren aus Abwasserrohren ein neuer Actionfilm im typischen Wakaliwood-Stil entstanden ist.

Warum schaffen es viele Medien nicht, Oettinger einen Rassisten zu nennen?

Selbstverständlich hätte es in dieser Ausgabe der “Politically Correct!”-Kolumne eigentlich um Carolin Emcke gehen müssen, denn wann passiert in Deutschland schon mal so was wie diese Rede? Stattdessen müssen wir uns jetzt mit ihrem in jeder denkbaren Hinsicht diametralen Gegenstück befassen. Auch weil sie, die Oettinger-Rede, anders als die von Emcke nicht einmalig ist, sondern täglich so oder ähnlich tausende Male in Deutschland gehalten wird.

All das, was Theaterautor, Blogger und Marketingexperte Johannes Kram schon so gemacht hat, würde nicht in diese Box passen. Deswegen hier unvollständig und im Schnelldurchlauf: Nicht nur, aber auch wegen seiner Medien-Kampagne ist Guildo Horn zum “Eurovision Song Contest” gekommen. Den “Waldschlösschen-Appell” gegen Homophobie in Medien hat er initiiert. Sein “Nollendorfblog” bekam eine Nominierung für den “Grimme Online Award”. Und mit “Seite Eins — Theaterstück für einen Mann und ein Smartphone” hat er Boulevard-Kritik auf die Bühne gebracht. Dafür ein herzliches Dankeschön vom BILDblog.

Natürlich hat Günther Oettinger sich nicht rassistisch, homophob oder sonst wie herablassend geäußert. Würde er so was tun, wäre er schließlich nicht EU-Kommissar. Da er das aber ist — also nicht rassistisch, sondern EU-Kommissar –, müssen viele das irgendwie falsch verstanden, aus dem Zusammenhang gerissen, den ironischen Tonfall, die lockere Zunge nicht kapiert haben.

Wäre Oettinger AfD-Mitglied, wäre die Sache anders. Die AfD ist schließlich eine rassistische Partei, deswegen muss sie ja auch bekämpft werden. Im aktuellen “Spiegel” gibt es ein Essay darüber, “wie dafür gesorgt werden kann, dass die AfD Wähler verliert”.

Deutsche Medien geben sich sehr viel Mühe, die AfD zu “entlarven”, den Menschen zu erklären, dass die AfD eine Partei ist, die sie nicht wählen sollen. Es scheint fast so, als hätten wir weniger Rassismus in Deutschland, wenn es weniger AfD gäbe, als müsse man AfD-Wähler nur davon überzeugen, etwas Anderes zu wählen, damit sie weniger rassistisch sind.

Was deutsche Medien hingegen verblüffend selten zu entlarven versuchen, ist der Rassismus. Es scheint fast so, als müsse sich in Deutschland niemand einen Rassisten nennen lassen, solange er keine Asylbewerberheime anzündet, als hätte in einem Land, in dem sich nicht mal die Nazis als Nazis bezeichnen, die Aussage, “gegen Nazis” zu sein, schon irgendeinen Wert.

Als sei die Gesellschaft durch eine Mauer getrennt, die zwischen Rassisten und Nicht-Rassisten verläuft, so, als ob die einen sich alles vorwerfen lassen müssten und die anderen nichts, als ob es darum ginge, möglichst viele Menschen auf die gute Mauerseite zu ziehen, anstatt darum zu erklären, dass es diese Mauer gar nicht gibt.

So führen auch begründete Rassismusvorwürfe nicht dazu, über Rassismus zu reden. Hätte jener Tag, an dem Günther Oettinger sich per “Welt”-Interview als rassismusfrei erklärte, nicht der Tag sein müssen, an dem Medien zum Thema machen, dass das und warum das so einfach eben nicht geht?

Wäre es nicht Aufgabe deutscher Medien gewesen, den Erklärungsdruck zu erzeugen, der jetzt aus China kam und immerhin dazu geführt hat, dass Oettinger nicht weiter so tun kann, als sei in Wahrheit gar nichts passiert? Sahen nicht überraschend viele Medien Oettinger weniger als Täter, sondern als Opfer des nervigen deutschen Gutmenschentums?

An dem Tag, als Oettinger dachte, mit seinem “Welt”-Interview diese lästige Geschichte beenden zu können, sah das offensichtlich ein Großteil der Journalisten genauso. Nicht nur bei “Spiegel Online” waren die obersten Meldungen wieder irgendwas mit Trump. Eines der merkwürdigsten deutschen Medienphänomene zurzeit ist die Diskrepanz zwischen dem größtmögliche Staunen und Empören über das, was bei Trump als eindeutig rassistisch und abwertend benannt wird, und der Weigerung, ähnliche Maßstäbe bei der Betrachtung von Geschehnissen in Deutschland auch nur in Erwägung zu ziehen.

Ja, klar ist Oettinger auch ein notorischer Dummbrabbler, er hat versucht, lustig zu sein, seine Worte waren nicht für eine große Öffentlichkeit bestimmt. Ja, klar ist es gut, wenn ein Politiker auch mal “frei von der Leber” drauflosreden kann. Aber was davon relativiert seine Homophobie und seinen Rassismus?

“Wenn Sie sich rassistisch äußern, dann sind Sie verdammt noch mal ein Rassist”, sagt Dunja Hayali. Warum gilt das nicht für den EU-Kommissar?

Trauen sich viele Medien nicht, Oettinger einen Rassisten zu nennen, weil sie dann ihren Zuschauern und Lesern erklären müssten, dass sie es vielleicht auch sind? Oder sind der oettingersche Rassismus, sein Sexismus und seine Homophobie in Deutschland so alltäglich, so selbstverständlich, dass sie als solche kaum erkannt werden können?

Es stimmt einfach nicht, was in diesen Tagen so oft behauptet wird: Dass jede nicht politisch korrekte Äußerung in den Medien einen riesigen Shitstorm zur Folge hat. Es ist eher andersrum so, dass jeden Tag Erstaunliches gesendet und geschrieben wird, ohne dass jemand ernsthaft darüber staunt. Ist die Aufmerksamkeit vieler Medien so sehr darauf ausgerichtet, den Rassismus in der AfD aufzuzeigen, haben sie sich so sehr daran gewöhnt, Rassismus bei pöbelnden rechtschreibschwachen Menschen zu dokumentieren, dass sie ihn sich bei netten gebildeten Menschen ohne AfD-Hintergrund gar nicht mehr vorstellen können?

Wie zum Beispiel bei Luke Mockridge, der am letzten Sonntag in seiner “Sat.1”-Show wohl etwas Lustiges über Musicals sagen wollte, sich dann aber doch lieber auf einen altbewährten Brüller verließ:

Ich war bei “High School Musical”, hab’ ich mitgespielt, kanadische Bühnenproduktion, ich war der Schwarze, es wurde nach Penislänge gecastet, ich habe die Rolle be …

Weil das Publikum begeistert lacht, muss er seinen Satz nicht zu Ende sprechen. In dem Oettinger-Video kann man hören, wie gelacht wird, als er das Wort “Frau” benutzt.

Nach Mockridges Witz, der die Penislänge schwarzer Männer zur Pointe machte, gab es einen fünfminütigen Einspieler. Der Studiogast, der danach auftreten sollte, wird also schon hinter der Bühne gestanden haben, als er erzählt wurde, der Klassiker aller Rassistenwitze. Er durfte anhören, wie und worüber sich das Publikum beömmelte, das da wenige Meter entfernt vor der Bühne sitzt, und vor dem er sich gleich präsentieren würde. Der Gast war der Sternekoch Nelson Müller. Er ist schwarz.

Dieses Humorprinzip ist in deutschen Medien keine Ausnahme. Es findet ganz selbstverständlich in vielen Formaten statt, sogar in denen, die sich als besonders aufklärerisch empfinden. Dieter Nuhr erzählte im “Ersten” noch vor zwei Jahren sogar den uralten “Mainz bleibt Mainz”-Klopfer mit den Männern unter der Dusche, die warten, dass “einer die Seife fallen lässt”. Im Endeffekt ist die Pointe sehr verwandt mit der von Mockridge, nicht nur, weil sie das Geschlechtliche von Randgruppen ins Lächerliche zieht, sondern auch, weil sie einen Aspekt der Bedrohung insinuiert.


(Foto: Michael SchillingEigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link)

Ich bin mir sicher, dass dieses Muster nicht trotz, sondern wegen dieses Zusammenhanges immer wieder so gerne benutzt wird. Die “ARD” ist sich sicher, dass das nicht so ist. “Wir bedauern es, wenn Sie die Äußerungen Dieter Nuhrs als homophob empfanden”, antwortete sie einem Zuschauer, der entsprechend nachgefragt hatte. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die “ARD” den homophoben Kern dieses Witzes erkannt hätte, wenn er von Alexander Gauland erzählt worden wäre.

Es gibt außer Nelson Müller nicht viele Deutsche, die schwarz und erfolgreich und im Fernsehen sind. Was wäre wohl passiert, wenn Müller bei seinem Auftritt in der Mockridge-Show gesagt hätte, dass er den Witz nicht witzig findet, sondern diskriminierend? Hätte man ihn überhaupt verstanden? Und wäre er dann noch so oft im Fernsehen? Wäre Roberto Blanco auch so beliebt, wenn er nicht sagen würde, dass es ihn nicht stört, wenn ihn ein deutscher Minister einen “wunderbaren Neger” nennt?

Aber es ist nicht der vorrangige Job von Müller oder Blanco auf Rassismus hinzuweisen. Genauso wenig, wie es der “der Homosexuellen”, “der Feministinnen” oder “der Chinesen” ist zu erklären, was an Oettinger nicht geht.

Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule “Lobby” oder “Parallelgesellschaft”, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als “zornig” diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen Machismo und Sexismus engagieren, damit sie sie als “humorlos” abwerten können.

Ganz ohne Carolin Emcke geht es dann eben doch nicht. Was von dem, was sie sagt, ist eigentlich so schwer zu verstehen?

“Compact” könnte es besser wissen

Für seine Oktoberausgabe hat sich das “Compact”-Magazin mal wieder redlich Mühe gegeben, die Spitzenposition unter den Hetz- und Angstmacherblättern zu verteidigen:

Es gibt das volle Programm: Drohkulisse, AfD-Interviews und als Gastautor Martin Luther. Interessant ist vor allem aber das zwölfseitige Dossier, das “Compact” einem Teilbereich seines Lieblingsthemas widmet, den “Frauen in den Lügenmedien”. Eingeleitet wird es mit einer Fotomontage, die die “NDR”-Journalistin Anja Reschke als auf der Kanonenkugel reitenden Baron Münchhausen zeigt. Der Titel des Aufmachers: “Anja Reschke weiß alles besser”.

Außerdem bietet das Dossier:

  • “Wenn Journalistinnen baden gehen” (über die zahlreichen Burkini-Reportagen)
  • “Das Schweigen der Emanzen” (seichte Frauenmagazine wie “Brigitte” äußerten sich überraschenderweise weniger polarisierend zur Kölner Silvesternacht als die Feministin Alice Schwarzer)
  • “Das ist Genickschuss-Journalismus” (Ex-“Bild”-Chef Peter Bartels erzählt den gleichen Unsinn, den er schon in seinem beim “Kopp”-Verlag erschienenen Buch erzählt hat, dieses Mal aber am Beispiel von “Bild”-Chefin Tanit Koch)
  • “Ideologie knallt auf Realität” (die “Bundeszentrale für politische Bildung” wollte den Text einer Journalistin zur Kölner Silvesternacht nicht, die “Emma” hat ihn dann gedruckt)

Über Anja Reschke hat Hans-Hermann Gockel geschrieben. Der 62-Jährige hat mal beim Privatfernsehen gearbeitet, jetzt schreibt er für “Compact” und “Junge Freiheit”, spricht auf AfD-Veranstaltungen und gibt in seinem eigenen Verlag seine eigenen Bücher raus, in denen er den politischen Eliten “Gedankenfeigheit” vorwirft. In “Compact” findet er nun den Gedankenmut zu solchen Worten:

Das Wort “Lügenpresse” kommt nicht von ungefähr. Der Begriff “Lückenpresse” würde es vielleicht noch besser treffen. Man verschweigt. Man verharmlost. Man verdreht, ganz im Sinne der Willkommens-Politik.

Die Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim “NDR”, Anja Reschke, habe in “dieser elitären Welt der selbstherrlichen Besserwisser ihren festen Platz”:

Reschke ist eine Kollegin, die man schnell durchschaut. Flüchtlinge sind traditionell die Guten. Und die Rechten sind die Bösen. Deshalb weiß man bei ihren Sendungen vorher schon, was am Ende herauskommt. Bedauerlich jedoch, dass dafür immer öfter das Motto der Maurer und Zimmerleute herhalten muss: Was nicht passt, wird passend gemacht.

Für seine These zimmert sich Gockel zurecht, warum das von Reschke moderierte Magazin “Panorama” ein manipulatives Machwerk sein soll. Vor allem stört er sich an einem Beitrag vom 28. Juli, der der Frage nachgeht, ob es in deutschen Freibädern vermehrt zu sexuellen Belästigungen durch Flüchtlinge komme. Er wirft der Sendung vor, wichtige Fakten zu unterschlagen.

Gockels erstes Beispiel ist eine Mail der Düsseldorfer Polizei, in der es um einen “enormen Anstieg” der Sexualstraftaten gehe. Dass es sich dabei letztendlich nur um eine ziemlich aufgebauschte Geschichte der “Bild”-Zeitung handelt, ist Gockel keine Erwähnung wert. Wir hatten über den “Sex-Mob”-Artikel berichtet, und selbst “Bild” lieferte Zahlen nach, die die Geschichte wieder erdeten. Hans-Hermann Gockel unterschlägt, dass es im laufenden Jahr bis Anfang Juli in ganz Düsseldorf — nicht nur in Schwimm- und Freibädern — gerade mal acht Anzeigen in Bezug auf sexuelle Belästigung oder Übergriffe gab. Stattdessen behauptet er, “Panorama” erwähne die Fakten “mit keiner Silbe”.

Doch nicht mal das stimmt. Im Beitrag werden Zeitungsausrisse zu Meldungen über sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen in Schwimmbädern gezeigt, unter anderem auch die “Bild”-Schlagzeile zum “Sex-Mob-Alarm”:

Was “Panorama” zurecht nicht macht: die falsche Panik-Berichterstattung von “Bild” einfach zu übernehmen. Stattdessen fragt der Beitragssprecher nur: “Gibt es Anlass für den von ‘Bild’ so reißerisch ausgerufenen ‘Sex-Mob-Alarm im Schwimmbad’ oder ist eigentlich alles ganz normal?” Die “Panorama”-Redaktion bezeichnet ihren Beitrag selbst vorsichtig als “Versuch einer Bestandsaufnahme.”

Hans-Hermann Gockel zählt im Artikel einzelne Fälle von sexueller Belästigung auf, bei denen Asylbewerber tatverdächtig seien. “Die Liste der Übergriffe in NRW ist lang. Sehr lang”, schreibt Gockel, verrät aber nicht, wie lang sie nun genau ist, sondern nur: “In Panorama davon kein Wort …” Er selbst verliert dabei kein Wort darüber, dass in dem “Panorama”-Beitrag eine Mutter davon erzählt, dass ihre elfjährigen Töchter von einem Flüchtling sexuell belästigt worden seien.

Um weiter zu suggerieren, dass sexuelle Übergriffe besonders durch Flüchtlinge begangen würden, druckt “Compact” diese Grafik neben dem Artikel:

Wir haben keine Ahnung, woher diese Statistik stammt.* Ganz sicher stammt sie aber nicht, wie von “Compact” angegeben, vom “Pew Reserch Center” (was ein Schreibfehler ist, denn eigentlich heißt das Forschungszentrum “Pew Research Center”). Für das amerikanische Meinungsforschungsinstitut wäre es ein völlig neues Feld, wenn es auf einmal deutsche Kriminalitätsstatistiken anfertigte. Diese erstellt hierzulande in der Regel das Bundeskriminalamt. Die Tatverdächtigen der “Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” sind in einer Statistik (PDF, Seite 70) aufgeführt, allerdings nur in den Unterkategorien “Tatverdächtige insgesamt”, “nichtdeutsche” und “Zuwanderer”.

Wie “Compact” auf die Unterteilung nach “Volksgruppen” kommt, ist nicht nachvollziehbar. “Volksgruppe” ist kein Unterscheidungskriterium offizieller Statistiken. Wenn überhaupt, würden diese von Staatsangehörigkeiten sprechen.

Von der fragwürdigen Quellenangabe mal abgesehen, präsentiert “Compact” die Zahlen auf spezielle Art und Weise und ohne jeglichen Zusammenhang. Gezeigt werden Tatverdächtige pro 10.000 Mitglieder einer Nationalität. Es handelt sich also um Promillewerte, die “Compact” allerdings deutlich größer wirken lässt. Auf die 36 tatverdächtigen — also nicht verurteilten — Algerier kommen 9964, die nicht verdächtigt werden. Was außerdem unter den Tisch fällt: In Deutschland lebten 2015 laut “Statistischem Bundesamt” (PDF, Seite 39) nur 20.505 Algerier. Das sind weniger als die absolute Zahl deutscher Tatverdächtiger bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, von denen es laut BKA vergangenes Jahr 25.487 gab. Für eine “Multikulti-Vergewaltigungswelle”, die “Compact” herbeischreiben will, würden die Zahlen also noch nicht einmal dann genügen, wenn sie denn aus einer seriösen Quelle stammten.

Zurück zu Hans-Hermann Gockel. Der behauptet, dass “Panorama” auch “die Tatsache, dass die Bäder an Rhein und Ruhr ihr Sicherheitspersonal in diesem Jahr verstärken mussten”, verschweige. Das stimmt sogar. Die Bäder an diesen beiden Flüssen kommen nicht vor. Mitglieder des “Panorama”-Teams haben nämlich stattdessen ein Freibad besucht, das an einem etwas weniger prominenten Fluss liegt, an der Hunte bei Oldenburg. Sie finden auch dort einen Zeugen dafür, dass es inzwischen mehr Sicherheitsleute in Schwimmbädern gibt. Das wiederum verschweigt nun Gockel, vielleicht auch deshalb, weil der Zeuge von “Panorama” der “Compact”-These von der Vergewaltigungswelle widerspricht.

Abgesehen von dem konkreten “Panorama”-Beitrag wirft Hans-Hermann Gockel Anja Reschke ihre grundsätzliche persönliche Haltung vor:

Schon am 5. August 2015 hatte Reschke in einem Tagesthemen-Kommentar einen neuen “Aufstand der Anständigen” gegen rechts propagiert: “dagegen halten, Mund aufmachen. Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.”

Seine eigene Haltung versteckt Gockel lieber hinter anderen:

Wer diesen Kommentar heute im Internet aufruft, gewinnt schnell den Eindruck, dass er mit heißer Nadel gestrickt ist. Mancher nennt die Art des Vortrags sogar hysterisch.

Wer diesen Kommentar heute tatsächlich im Internet aufruft, wird schnell merken, dass Gockel das Zitat von Reschke verkürzt wiedergibt; möglicherweise, um zu suggerieren, Reschke rufe zum Vorgehen gegen sämtliche Meinungsäußerungen rechts der Mitte auf. Ihr volles Zitat lautet:

Wenn man also nicht der Meinung, ist, dass alle Flüchtlinge Schmarotzer sind, die verjagt, verbrannt oder vergast werden sollten, dann sollte man das ganz deutlich kundtun, dagegen halten, Mund aufmachen, Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.

Anja Reschke spricht also nicht einfach nur von “rechts”, sondern von strafbaren rechtsextremen Äußerungen und Handlungen.

Und so scheint es, als würde Hans-Hermann Gockel nichts finden, das er Anja Reschke vorwerfen könnte, ohne seinerseits die Tatsachen zu verdrehen. Am Ende kommt er nur auf die dünne Anklage, dass Reschke bei einem Auftritt in der Sendung “Hart aber fair” Moderator Frank Plasberg spontan nicht genau sagen konnte, woher ein paar Sekunden Bildmaterials eines “Panorama”-Beitrags über Flüchtlinge stammen:

Die Leiterin einer Redaktion weiß nicht, wie ein Bilder-Teppich in ihrer Sendung zustande kommt? So viel Ahnungslosigkeit dürfte einmalig sein im deutschen Fernsehgeschäft!

Was Hans-Hermann Gockel offenbar nicht merkt: Mit diesem Urteil nimmt ausgerechnet er, der “Lügenpresse”-Rufer, das gesamte deutsche Fernsehen in Schutz. Eine solch positive Meinung übers deutsche TV dürfte einmalig sein unter “Compacts” Medienkritikern.

*Nachtrag, 19. Oktober: Inzwischen sind wir uns ziemlich sicher, woher die “Compact”-Redaktion die Zahlen aus der “Frau, komm!”-Grafik hat: vom Bundeskriminalamt (Tabelle 62). Dort findet man jedenfalls die Rohdaten, noch nicht “auf je 10.000 Mitglieder folgender Volksgruppen” heruntergerechnet. Diese Zahlen findet man in einer Grafik, die beim Hoster “Imgur” hochgeladen wurde und die sich auf die BKA-Zahlen beruft.

Die Zahlen, die “Compact” verwendet, beziehen sich also auf 2014 und nicht, wie von der Redaktion behauptet, auf 2015. Und sie stammen eben nicht vom “Pew Reserch Center” beziehungsweise vom “Pew Research Center”. Von den amerikanischen Forschern haben wir inzwischen ebenfalls eine Bestätigung bekommen, dass die Zahlen nicht von ihnen veröffentlicht wurden:

Dass wir fälschlicherweise als Quelle angegeben werden, oder bei vagen Aussagen als Quelle herhalten müssen, ist für uns inzwischen fast schon zur Gewohnheit geworden. Dass dieses Phänomen nun auch jenseits des Atlantiks auftritt, ist allerdings eine neue Erfahrung für uns.

Mit Dank an Hauke H. und @griboe für die Hinweise!

“Wir helfen” – beim rechten Verwirrspiel

Anfang des Monats, am 5. September, feierten die “Bild”-Redaktionen ein Jubiläum: “Ein Jahr ‘Wir helfen'”. Was als Reaktion auf die positive Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den ankommenden Geflüchteten im Spätsommer 2015 begann und schnell zur “Bild”Werbekampagne mit prominenter Unterstützung aus Showbusiness, Politik und Fußballbundesliga wurde, fand nach einigen Monaten überhaupt nicht mehr statt. Die “Wir helfen”-Badges verschwanden aus den Twitter-Profilbildern der “Bild”-Mitarbeiter, der Ton in der Berichterstattung über Geflüchtete und Asylbewerber und Migranten wurde wieder rauer.

Heute kann man gut sehen, dass “Bild” zu alten Mustern zurückgekehrt ist. Auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe steht es riesengroß:

Der Artikel von Zahlenverdreher Dirk Hoeren und Franz Solms-Laubach basiert auf Daten der Bundesregierung, die damit auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion geantwortet hatte. Zusammengefasst sagt der Artikel: In Deutschland leben — Stand Ende Juni 2016 — 549.209 abgelehnte Asylbewerber. 406.065 davon sind seit mehr als sechs Jahren hier. Von den knapp 549.209 abgelehnten Asylbewerbern haben 46,6 Prozent ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Von diesen Zahlen unabhängig leben 168.212 Ausländer mit einer Duldung in Deutschland. Die Gründe dafür, dass sie nicht abgeschoben werden, sind sehr unterschiedlich: Manche haben keinen Pass (37.020), bei anderen ist die Situation im Heimatland zu unsicher (10.620), wieder andere können nicht ausreisen, weil hier gegen sie aktuell ein Strafverfahren läuft (440).

Schaut man sich die 60-seitige Antwort der Bundesregierung (PDF) mal genauer an, wird einem recht schnell klar, dass eine differenzierte Betrachtung der Zahlen zwingend nötig ist, um dem Thema gerecht zu werden. Denn hinter den 549.209 abgelehnten Asylbewerbern stecken Hunderttausende persönliche Schicksale und Geschichten, die völlig unterschiedlich sind. Das schafft der “Bild”-Artikel in weiten Teilen nicht.

Ein Beispiel: Zu den 549.209 abgelehnten Asylbewerbern zählt die Statistik auch 12.727 Polen. Die haben ihre Asylanträge natürlich nicht vor ein paar Monaten gestellt, sondern zu einer Zeit, in der Polen noch kein Mitglied der Europäischen Union war. Heute können diese 12.727 Menschen als EU-Bürger völlig legal hier leben. Ihr abgelehnter Asylantrag von damals hat heute keine Relevanz mehr, an eine Abschiebung ist nicht zu denken. Über diese Fälle verliert der “Bild”-Artikel kein Wort.

Ein anderes Beispiel: Ein großer Teil der 549.209 abgelehnten Asylbewerber lebt nicht nur seit “mehr als 6 Jahren” in Deutschland, wie “Bild” schreibt, sondern teilweise seit Jahrzehnten. Ihre Asylanträge stammen mitunter aus den 1980er-Jahren (4150). 170.166 von ihnen haben ihren Asylantrag noch im vergangenen Jahrtausend gestellt. Sie leben also schon über 16 Jahre in Deutschland. Auch darauf gehen die “Bild”-Autoren nicht detailliert ein.

Der “Bild”-Text erwähnt zwar die 46,6 Prozent abgelehnter Asylbewerber, die ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen. Was er aber nicht erwähnt: Daneben gibt es auch noch 34,8 Prozent mit einem befristeten Aufenthaltsrecht. Das heißt: 81,4 Prozent beziehungsweise 447.056 der 549.209 in Deutschland lebenden abgelehnten Asylbewerber haben ein Bleiberecht. Sie halten sich völlig legal in Deutschland auf und können rein rechtlich nicht abgeschoben werden. Unter den restlichen 102.153 abgelehnten Asylbewerbern (18,6 Prozent) gibt es einige mit einer Duldung, weil sie sich mitten in einer Ausbildung befinden oder krank sind oder einen Angehörigen pflegen und so weiter. Auch sie können aufgrund ihrer derzeitigen Situation nicht abgeschoben werden. Und so bleiben nicht mehr viele abgelehnte Asylbewerber übrig, die derzeit als “ausreisepflichtig” gelten. In der Statistik der Bundesregierung ist von 52.870 “ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung” die Rede, allerdings müssen nicht alle von ihnen abgelehnte Asylbewerber sein. Trotz dieser vergleichsweise geringen Zahl schreibt “Bild” vom “Neuen Irrsinn bei der Abschiebung”.

Was an dem “Irrsinn” so richtig “neu” sein soll, ist ebenfalls nicht ganz klar. Die Linksfraktion stellt ihre Kleine Anfrage jedes Jahr aufs Neue an die Bundesregierung. Vergangenes Jahr — Stand Ende Juni 2015, also vor der großen Zuwanderung durch Geflüchtete — lebten 538.057 abgelehnte Asylbewerber in Deutschland (PDF). Das sind gerade mal 11.152 weniger als 2016.

Dass die Abschiebungen aus Deutschland in den vergangenen Jahren stetig angestiegen sind, erwähnen Dirk Hoeren und Franz Solms-Laubach nicht. 2012 waren es knapp 8000 Menschen, die abgeschoben wurden, 2013 knapp 10.000, 2014 knapp 11.000, 2015 knapp 21.000. “Bild” nennt lediglich die Zahl aus diesem Jahr — ohne Vergleichswerte, dafür im Zusammenhang mit den abgelehnten Asylbewerbern:

Exakt 13 134 Ausländer haben die deutschten Behörden von Januar bis Ende Juli abgeschoben. Aber Hunderttausende abgelehnte Asylbewerber leben weiterhin in Deutschland!

Die “Bild”-Titelgeschichte drehte heute eine ordentliche Runde in der deutschen Medienlandschaft. Eine ganze Reihe von Redaktionen griffen die Geschichte auf …


(faz.net)

(“Focus Online”)

(“RP Online”)

… wohl auch, weil die “dpa” und andere Agenturen früh morgens eine Meldung dazu herausgaben. Inzwischen hat die “dpa” zwei deutlich differenziertere Stücke veröffentlicht. Die meisten Redaktionen haben die erste kurze Meldung durch einen der längeren Texte ersetzt.

Und auch von Politikern und Polizeigewerkschaftern gab es Reaktionen. Zum Abschluss des “Bild”-Artikels durfte sich Redaktionsliebling Rainer Wendt, Chef der “Deutschen Polizeigewerkschaft”, äußern (“Es gibt eine regelrechte Abschiebeverhinderungsindustrie. Das muss sich dringend ändern.”). Und auch CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich durfte was sagen (“Wer zulässt, dass abgelehnte Asylbewerber dem Staat derart auf der Nase herumtanzen, zerstört das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates.”).

Im Büro der Linken-Politikerin Ulla Jelpke hat die “Bild”-Zeitung natürlich kein Statement für ihren Artikel eingeholt. Dabei ist die Bundestagsabgeordnete federführend bei der jährlichen Kleinen Anfrage der Linksfraktion, auf die sich “Bild” stützt. Dirk Hoeren und Franz Solms-Laubach hätten Jelpke zum Beispiel hiermit zitieren können:

Seit Jahren ist aufgrund regelmäßiger Anfragen der Linksfraktion bekannt, wie viele Geflüchtete in Deutschland mit welchem Status leben. Dass auch viele abgelehnte Asylsuchende gute Gründe für einen Verbleib in Deutschland haben können und später eine befristete oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, ist deshalb nichts Neues. Zum Beispiel können humanitäre oder medizinische Abschiebungshindernisse vorliegen. Unter den Abgelehnten sind auch Geflüchtete aus Ländern wie Afghanistan, Syrien oder den Irak, die aus guten Gründen nicht abgeschoben werden. Nicht wenige Ablehnungen werden durch Verwaltungsgerichte aufgehoben. Das zu skandalisieren zeigt, wie verroht und vergiftet die Asyldebatte mittlerweile geführt wird.

Wie gefährlich der unsaubere Umgang mit Zahlen in der Flüchtlings-, Asyl- und Abschiebungsdebatte durch “Bild” sein kann, zeigt die Reaktion der AfD. Bundesvorstandsmitglied Georg Pazderski schrieb mit Bezug auf den Artikel in einer Presseerklärung:

Mehr als eine halbe Million abgelehnte Asylbewerber leben weiterhin unrechtmäßig in Deutschland, die große Mehrheit davon schon seit über sechs Jahren. Viele besitzen noch nicht einmal einen Pass.

Dass das “unrechtmäßig” inhaltlich völlig falsch ist, dringt wohl kaum bis zu den johlenden AfD-Anhängern durch. “Wir helfen”, “Bild”? Ja, den Rechtspopulisten bei ihrem Verwirrspiel.

Im Innern der Zeitung titelt “Bild” übrigens:

Noch einen “fußballspielenden, ministrierenden Senegalesen” dazu gedacht — und schon ist man gefährlich nah am Populismus eines Andreas Scheuer.

Das falsche Senegalesen-Zitat von Andreas Scheuer und die Medien

Mit seiner Aussage zum “fußballspielenden, ministrierenden Senegalesen” hat es Andreas Scheuer mal wieder in die Schlagzeilen geschafft. Ständig spricht der Generalsekretär der CSU bei seinen Auftritten oder in Facebook-Posts auch den rechtesten Rand seiner Wählerschaft an. Die Menge johlt dann zwar, für die ganz große mediale Aufmerksamkeit reicht es meistens aber nicht.

Bei Scheuers Äußerungen beim “Regensburger Presseclub” ist das anders. Angefangen hat alles mit einem Zitat in der “Mittelbayerischen Zeitung”:

“Das Schlimmste ist ein fußballspielender ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre in Deutschland — als Wirtschaftsflüchtling — den kriegen wir nie wieder los”, sagt Scheuer und spricht sich für eine geordnete und gesteuerte Zuwanderung nach dem Vorbild Kanadas aus.

Dafür gab es heftigen Widerspruch von allen Seiten — nicht nur, aber eben auch in vielen Medien. Die Empörung ist groß, Kommentatoren fordern Andreas Scheuer zum Rücktritt beziehungsweise seine CSU zum Rauswurf auf.

Nun stellt sich aber raus: In dieser Form hat es das Zitat nicht gegeben. Der “Bayerische Rundfunk” hat mittlerweile einen Mitschnitt von Scheuers Aussage veröffentlicht. Und dort hört man:

Weil wenn er mal über einen langen Zeitraum in den Verfahren herinnen ist, entschuldigen Sie die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist, weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern er ist Wirtschaftsflüchtling. Aber wir haben halt eine Gesellschaft, wo’s Du den Vereinsvorsitzenden, den Pfarrer, schlimmstenfalls den Landtagsabgeordneten, den Bundestagsabgeordneten, und wie sie alle heißen, findest, der sagt: “Alle müssen durch dieses strenge Verfahren, aber der, der hat sich so gut integriert.”

Interessanterweise hatte der “Bayerische Rundfunk” das falsche Scheuer-Zitat erst selbst verbreitet. Auf Nachfrage, wieso der “BR” ebenfalls das Zitat der “Mittelbayerischen Zeitung” verwendet hatte, obwohl doch ein Audiomitschnitt vorlag, erklärt Wolfgang Vichtl, Leiter der Redaktion “BR24”, dass die zeitliche Abfolge eine andere war:

Der BR ist in die Berichterstattung zum Thema eingestiegen, als Generalvikar Fuchs das in der Mittelbayerischen Zeitung vom 17.09.2016 veröffentlichte Zitat gelesen und auf Facebook seine Empörung darüber geäußert hatte. Was zu dem Zeitpunkt noch nicht klar war: Die “Mittelbayerische” hatte das Zitat nicht ganz korrekt wiedergegeben, dieses wurde aber im Übrigen auch von allen Nachrichten-Agenturen aufgenommen, die wiederum Quelle für die Redaktionen sind.

Erst nachdem sich der BR den Original-O-Ton aus Regensburg besorgt hatte, wurde die textliche Abweichung erkannt und das Zitat in der Berichterstattung umgehend korrigiert. Der BR hat dann das Zitat im Original-Ton gleich Montag früh für jedermann zugänglich gemacht.

Die “Mittelbayerische Zeitung” hat die Passage inzwischen auch korrigiert — zuerst klammheimlich, nach Kritik auch transparent. Ihr Politikchef Christian Kucznierz schreibt in einem Kommentar:

Es stimmt: Uns ist in unserer Berichterstattung ein Fehler im Zitat unterlaufen. Es ist dokumentiert, dass Scheuer über den hypothetischen Senegalesen sagte: “den wirst Du nie wieder abschieben”. Bei uns lautete das Zitat: “den kriegen wir nie wieder los”.

Natürlich bleibt die Aussage von Andreas Scheuer immer noch stramm rechts und unsäglich populistisch. Und natürlich kann man das immer noch als verachtend gegenüber dem Integrationswillen vieler Geflüchteter sehen und als Affront gegen Sportvereine und Kirchen und alle anderen Gruppen und Leute, die bei der Integration von Menschen helfen. Aber wenn man aufgrund eines Zitats einen Rücktritt fordert, dann sollte man sich dabei zumindest auf das richtige Zitat beziehen.

Live-Justiz, Aufmerksamkeitswellen, Cover

1. Live-Übertragung in Gerichten
(blog.tagesschau.de, Frank Bräutigam)
Die “FAZ” ist vor einigen Tagen unter der Überschrift “Recht im Zirkus” kritisch auf die Pläne für mehr Fernsehen im Gerichtssaal eingegangen. Reinhard Müller schrieb in seinem Kommentar: “Das wird zu einer Live-Justiz führen – mit Showmastern, Clowns und Opfern.” Der ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam sieht das anders und erläutert im Blog der “Tagesschau”, worum es aus seiner Sicht wirklich geht.

2. Kölner Sonderrolle in der medialen Eskalationsspirale
(welt.de, Christian Meier)
“Welt”-Medienredakteur Christian Meier hat sich mit den Aufmerksamkeitswellen nach Terroranschlägen oder anderen Schreckensnachrichten beschäftigt. Das mediale Interesse hielte normalerweise nicht lange an. Es gebe aber auch Ausnahmebeispiele wie die Kölner Silvesternacht. Generell warnt Meier vor einer medialen Eskalationsspirale. Es bestünde die große Gefahr, dass Ereignisse überinterpretiert werden würden. “Die Beschäftigung mit den laufenden Herausforderungen unserer Gesellschaft findet mittlerweile 24/7 statt, ohne Atempause. Das wird so bleiben. Dennoch ist eine Einsicht nötig: Überfordern wir uns nicht.”

3. Zunehmende Einflussnahme Chinas
(reporter-ohne-grenzen.de)
Anlässlich der bevorstehenden Wahl zum Legislativrat in Hongkong fordert “Reporter ohne Grenzen” die Behörden der chinesischen Sonderverwaltungszone zu einer Kehrtwende in Sachen Medienpolitik auf. Zensur, willkürliche Lizenzvergaben und die Benachteiligung unliebsamer Medien hätten zu einem stetigen Verfall der Pressefreiheit geführt. „Die Selbstzensur in Hongkongs Medien entsteht nicht im luftleeren Raum: Medieneigentümer, Chefredakteure und wichtige Anzeigenkunden schaffen ein Klima der Einschüchterung gegen kritische Journalisten“, so ROG-Vorstandssprecher Rediske. Die Hauptverantwortung für die Repressalien liege jedoch bei der politischen Führung in Peking, deren unsichtbare Hand immer öfter in Hongkonger Redaktionen hineinregiere.

4. Vorwürfe gegen Asylzentrum Kreuzlingen entkräftet
(srf.ch)
Auf der Webseite des “Schweizer Radio und Fernsehen” (SRF) wird über einen bereits des Längeren bekannten Vorgang berichtet, der mittlerweile von offizieller Stelle untersucht wurde. Ein deutscher Journalist hätte sich im Asylzentrum Kreuzlingen als Asylsuchender ausgegeben. Später hätte er die Zustände in einem Zeitungsartikel kritisiert, worauf das Staatssekretariat für Migration die Vorwürfe untersuchen ließ. Der offizielle Schlussbericht entlaste das Sicherheitspersonal, gebe aber auch Empfehlungen, z.B. zur Weiterbildung des Sicherheitspersonals.

5. Kritische Fragen nicht mehr zeitgemäß
(taz.de, Ralf Leonhard)
Seit 45 Jahren gibt es in Österreich das sogenannte “Pressefoyer”, bei dem Kanzler und Vizekanzler der Presse für Fragen jeder Art zur Verfügung standen. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) hat die Institution nun abgeschafft und will sie durch einen Blog ersetzen. Journalistengewerkschaft und Presseverbände würden die Entscheidung in einem gemeinsamen Kommuniqué bedauern, so Ralf Leonhard in der “taz”.

6. Lead Awards: Jury-Vorsitzender kritisiert Blattmacher
(rnd-news.de, Ulrike Simon)
Im Oktober werden wieder die Lead-Awards verliehen. In diesem Jahr sei es der Jury schwergefallen, überhaupt ein paar Magazin-Cover zu finden, die eine Nominierung verdient hätten. Im Haus der Photographie in Hamburg kann man sich auf 1.200 Quadratmeter Ausstellungsfläche alle von der Lead Academy nominierten Arbeiten ansehen. Ulrike Simon hat sich den Jury-Vorsitzenden und ehemaligen “Tempo”-Chef Markus Peichl für einen Rundgang geschnappt. Von einer “mauen Auswahl” und “Notlösung” ist die Rede und von den eigentlich notwendigen Tugenden von Covermachern: „Mut. Unverfrorenheit. Selbstvertrauen“.

“Bild” sucht den verschwundenen Chinesen. Wir suchen mit.

Lieber Junliang L.,

über Dich kursieren die unterschiedlichsten Pressemeldungen. Mal sollst Du ein chinesischer Tourist sein, der aus Versehen in die Mühlen der deutschen Asylbürokratie geraten ist, mal ein urplötzlich verschwundener Asylsuchender. (Sogar beim Namen gibt es Unklarheiten. Die “Bild”-Medien nennen Dich manchmal “Junliang” und manchmal “Jinliang”.)

Zu allem Überfluss hat Dich Bild.de nun zur inoffiziellen Fahndung ausgeschrieben und veröffentlicht, wenn man ihnen glauben mag, Teile des von Dir unterschriebenen Asylantrags. Zusammen mit einem persönlichen Aufruf:

Du kennst Dich wahrscheinlich nicht so gut mit der deutschen Sprache aus, zumal manches auch nur zwischen den Zeilen steht. Wir verraten Dir deshalb, was die Mitarbeiter von Bild.de meinen, wenn sie Dir zeigen wollen, “wie schön Deutschland wirklich ist”:

1.) Hier kann man schön unverpixelte Fotos von Tätern und Opfern veröffentlichen.
2.) Hier kann man schön Facebook-Profile plündern.
3.) Hier kann man schön den Pressekodex missachten.
4.) Hier kann man schön gegen den Presserat wettern.
5.) Hier kann man schön Krankenakten und persönliche Dokumente ausschlachten.
6.) Hier kann man schön Falschmeldungen in Umlauf bringen.
7.) Hier kann man schön Ressentiments schüren und Vorurteile verstärken.
8.) Hier kann man schön die niedersten Instinkte seiner Leser bedienen.
9.) Hier kann man schön Stimmung gegen Ausländer, Minderheiten und Benachteiligte machen.
10.) Hier kann man bei aufkommender Kritik schön patzig werden oder Nebelkerzen werfen und sich hinter Selbstironie verstecken.

Wenn Du all das erfahren willst, und zwar am eigenen Leib, dann melde Dich bei “Bild”. Die haben dort sicher schon Dutzende passender Schlagzeilen in der Schublade wie:

  • “Ein Chinese mit dem Kontrapass”
  • “Um lei Tung: Dieser Chinese kennt keine Abkürzungen”
  • “Junliang: Schlitzauge sei wachsam!”
  • “Kau der Welsch: Der Mann mit dem Mao-am-Anzug”
  • “Erst kam der Chinese, dann war der Hund weg!”
  • “Messer-und-Gabel-Allergie: Dieser Chinese isst Fisch nur mit (Fisch)stäbchen.”
  • Du kannst Dich aber auch statt bei “Bild” bei uns BILDbloggern melden. Wir können Dir zwar aus Zeitgründen momentan nicht zeigen, “wie schön Deutschland wirklich ist”, haben aber Tipps parat, was man machen kann, wenn die “Bild”-Zeitung unangekündigt bei einem vor der Tür steht.

    Deine BILDblogger

    “Zeit”-Digitalstrategie, Abgehörte Polizei, Chinesen-Versehen

    1. “Wir sind anders”
    (journalist.de, Matthias Daniel)
    Lesenswertes Interview mit dem Chefredakteur von “Zeit Online” Jochen Wegner, in dem dieser sehr offen Fragen zur Digitalstrategie der “Zeit” beantwortet und sich nicht hinter den üblichen Allgemeinplätzen versteckt. Anders als in manch abstrakten Artikeln und Podiumsgesprächen werden hier die Problemfelder und Chancen des Onlinejournalismus nicht langatmig ausgewalzt, sondern am konkreten Beispiel benannt und mit Erfahrungen und Zahlen unterfüttert.

    2. Attacke auf deutschen Journalisten in Istanbul
    (ndr.de, Anne Hoecker Escuti)
    In Istanbul ist ein deutscher Kameramann erst überraschend beschimpft und dann tätlich angegriffen worden. In der Türkei würden deutsche Journalisten zunehmend skeptisch bis unfreundlich behandelt werden. Der Grund sei die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages und das sogenannte Schmähgedicht von Jan Böhmermann, so ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten.

    3. Letzte Inseln der Medienfreiheit”
    (de.ejo-online.eu, Gemma Pörzgen)
    Die Spielräume für Journalisten und Medien in Russland werden immer kleiner, so die Osteuropaspezialistin und “Reporter ohne Grenzen”-Vorstand Gemma Pörzgen. Schon seit Jahren sei die Übermacht der staatlichen Medien so groß, dass unabhängige Stimmen in der russischen Medienlandschaft eher ein Nischendasein führen würden.

    4. Polizisten durchsuchen Wohnungen von RTL-Reportern
    (abendblatt.de)
    Es ist ein ziemlich starker Vorwurf, den der Kölner Polizeipräsident und die Ermittlungsbehörden dem Privatsender RTL machen: Der Sender habe im Zusammenspiel mit einer 26-jährigen Polizistin, die zu einer in der Nähe von Köln stationierten Einsatzhundertschaft gehörte, monatelang Polizisten im Dienst mit versteckten Kameras gefilmt und dabei dienstliche und private Gespräche mit getarnten Mikrofonen mitgeschnitten. Die Beamtin wurde suspendiert und die Privatwohnungen der Reporter und der Polizistin durchsucht. RTL habe der Polizei nach eigener Auskunft sämtliches Material ausgehändigt

    5. SPD-Innenpolitiker legt Maaßen den Rücktritt nahe
    (mdr.de, Video, 6:44 Min.)
    Wenn es nach dem Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen geht, handelt es sich bei Whistleblower Edward Snowden um einen russischen Spion. Belege will er jedoch nicht dafür nennen. Die “Fakt”-Redaktion des “MDR” sieht “hinter dieser Art Äußerungen über Snowden eine Kommunikationsoffensive, an der unter anderem die Boulevard-Zeitung “Bild” über ihr Online-Portal bild.de beteiligt sind”.

    6. Chinese soll aus Versehen zum Flüchtling geworden sein (Update)
    (rnz.de, Holger Buchwald)
    Sie haben vielleicht von der Meldung gehört, nach der ein chinesischer Tourist beim Versuch eine Diebstahlsanzeige aufzugeben in die Mühlen der deutschen Bürokratie geraten und fälschlicherweise als Asylbewerber registriert und aufgenommen wurde? Nun denn, ganz so einfach war war es wohl nicht…

    Vollkommen normale Katastrophen

    Mal angenommen, man würde einen ziemlich spektakulären Betrug planen. Wie ginge man vor?

    Am wichtigsten wäre wohl, dass man nicht auffällt. Man müsste wie jemand erscheinen, der in ganz normaler Absicht ganz normale Dinge erledigt. Man müsste sich perfekt an die Umgebung anpassen, wie ein Schauspieler in eine Rolle schlüpfen und sich mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit so verhalten, dass der Betrogene keine Chance hat, auch nur irgendeinen Verdacht zu schöpfen.

    Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst — Perlen des Lokaljournalismus”. Im August erscheint von Daniel Wichmann und ihm “Hier ist alles Banane — Erich Honeckers geheime Tagebücher 1994 – 2015”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
    (Foto: Jean-Marie Tronquet)

    In Amberg in der Oberpfalz ist ein 43-jähriger Mann am vergangenen Freitag in eine Bank gegangen, hat einen Barscheck über 150 Millionen Euro auf den Tisch gelegt und den Bankangestellten angewiesen, das Geld auf mehrere Konten im Ausland zu verteilen.

    Als wäre das nicht schon genug, standen auf dem Scheck laut “Mittelbayerischer Zeitung” auch noch die gefälschten Unterschriften zweier Vorstände der Deutschen Bank. Man hätte von fast 82 Millionen Menschen in Deutschland einen beliebigen fragen können, wie dieser Fall ausgehen wird, und alle hätte richtig gelegen. Nur dieser eine Mann nicht. Und ausgerechnet der hatte den Scheck dabei.

    Aber es ist ja nicht nur bei Betrügereien, sondern eigentlich immer sehr wichtig, dass man den Anschein von Normalität erweckt. Sonst können schlimme Dinge passieren. Diese Annahme ist jedenfalls weit verbreitet.

    Ich weiß nicht genau, was Pressesprecher in ihrer Ausbildung lernen, aber ich stelle mir vor, dass in jeder Pressesprecher-Ausbildung irgendwann auch Situationen auf dem Lehrplan stehen, in denen man einfach nicht mehr weiter weiß. Irgendwas ist schiefgelaufen, das nicht nur auf den ersten Blick nach heilloser Trotteligkeit aussieht. Jemand aus der Belegschaft hat etwas von großer öffentlicher Wirkung angestellt, das schon im eigenen Laden niemand versteht. Oder ganz allgemein: Es ist etwas passiert, das kein Mensch, schon gar nicht man selbst erklären kann.

    In diesen Situationen gibt es immer noch eine letzte Rettung. Dann sagt man einfach: “Es handelt sich um einen ganz normalen Vorgang.”

    In Erharting sollten in dieser Woche zwei Polizisten einen Pflegeheim-Besucher begleiten. Letztlich haben sie ihn erschossen. Der “Münchner Merkur” zitiert den Polizei-Sprecher mit dem Satz:

    Das Zitat bezieht sich darauf, dass die Staatsanwaltschaft nun prüft, ob die Polizisten richtig gehandelt haben.* Es können die größten Katastrophen passieren, trotzdem geht alles unbeirrbar seinen ganz normalen Gang. Außerirdische landen am Brandenburger Tor? Dass die Polizei da mal vorbeifährt, ist ja wohl ein ganz normaler Vorgang.

    Die Formulierung ist so etwas wie das “Bitte gehen Sie weiter”-Schild der Kommunikationsbranche. Sie ist mittlerweile sehr populär, auch jenseits von Pressestellen.

    Wenn ein Trainer nach zwei gewonnenen Spielen zurücktritt, Archäologen in einem Neubaugebiet auf ein 7000 Jahre altes Haus stoßen, oder Polizisten bei einem Kollegen 25.000 Kinderporno-Bilder finden, kann man sich ziemlich sicher sein, dass das alles letztlich nur Folge eines ganz normalen Vorgangs ist.

    Deswegen habe ich mich auch sehr gewundert, dass die Formulierung fehlte, als am Montag die Meldung von dem Chinesen die Runde machte, der angeblich nur einen Diebstahl melden wollte, aber aus Versehen einen Asylantrag unterschrieb.

    Es ist ja nicht das erste Mal, dass jemand Dokumente ungelesen unterzeichnet und sich nachher wundert, was er damit angerichtet hat. Ging Franz Beckenbauer damals wahrscheinlich ganz ähnlich. Plötzlich hat man die WM im eigenen Land.

    Jetzt habe ich gerade mal gesucht. Und tatsächlich:

    “Damals war das für uns ein ganz normaler Vorgang, weil wir dieses Konto von der Firma genannt bekommen haben, die damals das Ticketbüro der Fifa betrieb”, sagte der frühere DFB-Generalsekretär der Deutschen Presse-Agentur.

    Aber noch mal zu dem Chinesen. Wer schon die Geschichte selbst unglaublich fand, hat die Bebilderung bei “Focus Online” wahrscheinlich noch nicht gesehen:

    Schade eigentlich, dass die Leute bei “Focus Online” so wenig auf Zack sind. Mit dem Bild hätte sich aus der Story ja noch viel mehr machen lassen: Schnell alternder Chinese (31) unterschreibt aus Versehen Asylantrag und flüchtet auf fahrendem Koffer aus Flüchtlingsheim.

    Das klingt doch gleich noch besser. Vielleicht hätte der Sachverhalt dann auch endlich alle Voraussetzungen erfüllt, um als ganz normaler Vorgang abgestempelt zu werden.

    Diese Chance ist wohl vertan. Aber ich hätte hier noch was anderes. Das klingt jetzt wahrscheinlich weit hergeholt, aber haben Sie schon mal einen Seehund gefunden? Einen jungen Seehund?

    Man weiß ja gar nicht, wie man sich verhalten soll, wenn so ein hilfloses Tier vor einem auf dem Boden liegt. Muss man es mitnehmen? Verhungert es sonst? Was, wenn die Mutter zurückkommt? So ein Seehund kann ja recht groß werden und ist wahrscheinlich auch nicht ungefährlich, wenn es um den Nachwuchs geht.

    Aber das Baby einfach liegen lassen? Kann man das machen? Auf Anhieb schwer zu sagen. Doch keine Sorge. Die Polizeidirektion Osnabrück hat dazu am Montag eine Pressemitteilung herausgegeben:

    Es ist natürlich alles ganz einfach. Fassen Sie den Seehund nicht an. Wählen Sie die Nummer der Seehundstation, wenn Sie sich nicht sicher sind, ob er Hilfe braucht, aber auf keinen Fall den Notruf, denn dazu gibt es keinen Anlass. Höchstwahrscheinlich ist alles in Ordnung. Vermutlich ist die Mutter nur schnell was zu essen holen und wird bald mit frischem Fisch zurück sein. Um es in den Worten der Osnabrücker Polizei zu sagen: “Es ist ein ganz normaler Vorgang”.

    *Korrektur: Ursprünglich stand im Text, das Zitat des Polizeisprechers aus dem “Münchner Merkur” (“Ein ganz normaler Vorgang in einem solchen Fall”) beziehe sich darauf, dass die Polizisten sich gewehrt und geschossen haben. Es bezieht sich allerdings darauf, dass die Staatsanwaltschaft den Fall nun untersucht. Wir haben das korrigiert. Pardon für den Fehler!

    Überschriften sind kein Kinderspiel

    Der “Steiner Anzeiger” ist eine kleine Wochenzeitung aus der Schweiz, die Auflage liegt bei knapp über 1000, einmal im Monat, wenn die “Großauflage” ansteht, sogar bei über 4000. Als “amtliches Publikationsorgan der Gemeinde Stein am Rhein” spiegele das Blatt “das facettenreiche Leben im ‘Städtli’ und in den umliegenden Gemeinden” wider: Meldungen aus den Vereinen, Ankündigungen für Festivitäten, Berichte über die Lokalpolitik, sowas halt.

    Neulich ging es in einem kurzen Text um einen größeren Einsatz der Polizei im angrenzenden Gailingen:

    Am vergangenen Mittwoch hatte eine Anruferin der Polizei gemeldet, dass vor der Asylunterkunft in Gailingen 12 bis 15 Personen mit Pistolen rumliefen. Eine hätte sogar auf sie gezielt. Daraufhin rückten 20 Polizisten aus, welche mit Schutzausrüstung die Unterkunft durchsuchten. Dabei fanden sie fünf kleine Softairpistolen, welche frei verkäufliche Spielzeugwaffen sind. Zudem ergaben Ermittlungen, dass Kinder der Asylunterkunft mit den Spielzeugwaffen vor dem Gebäude gespielt hatten.

    20 Polizisten, voll ausgerüstet, Durchsuchung — klar, dass der “Steiner Anzeiger” da berichtet.

    Fehlt nur noch eine Überschrift, die den Fehlalarm gut wiedergibt …

    Mit Dank an @gabrielvetter für den Screenshot!

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