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Entscheide ich mich für ja, nein, ich mein’ jein!

Die Frage, ob man beim aktuellen Referendum in der Türkei mit “ja” oder “nein” stimmt, mit “evet” oder “hayir”, kann mitunter Familien spalten und alte Freundschaften aus­ei­n­an­der­bre­chen lassen. Durchaus mutig also, dass einige (Deutsch-)Türken ganz offen von ihrer Entscheidung erzählen und diese dann auch einer Zeitung verraten. Blöd nur, wenn diese Zeitung die “Bild”-Zeitung ist, und deren Redaktion es nicht hinbekommt, die Aussage unfallfrei wiederzugeben.

Am vergangenen Dienstag druckte “Bild” einen Artikel, in dem fünf “Türken in Deutschland” sagen: “So haben wir gewählt”. Darunter auch Selahattin aus dem baden-württembergischen Calw:

Selahattin (57, aus Calw): „Die Türkei braucht einen starken Mann. Deshalb habe ich mit Ja gestimmt. Erdogan wir uns eine echte Demokratie bringen, auch wenn das eventuell einige Jahre dauern wird“

Das Problem dabei: Das ist gar nicht Selahattins Aussage. Er hat nicht mit “ja” gestimmt, sondern mit “nein”. Und er hält den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auch überhaupt nicht für denjenigen, der den Türken “eine echte Demokratie bringen” wird. Stattdessen sieht er bei dem Referendum die Gefahr, dass ein “Ja” “die Türen für ein offizielles Ein-Mann-Regime öffnen” könnte.

Am vergangenen Freitag veröffentlichte “Bild” eine Richtigstellung:

Richtigstellung - In unserer Ausgabe vom 28. März haben wir im Artikel „Türken in Deutschland - so haben wir gewählt“ Selahattin (57, Foto) irrtümlich ein falsches Zitat zugeordnet. Tatsächlich sagte er: „Ich bin für ein Nein und haben natürlich auch mit einem Nein abgestimmt, da ich für eine parlamentarische Demokratie mit einer gesunden Gewaltenteilung bin. Ein Ja wird meiner Meinung nach die Türen für ein offizielles Ein-Mann-Regime öffnen und zu noch mehr wirtschaftlicher Instabilität führen.“ Wir bedauern die Verwechslung.

Und auch Bild.de hat den Artikel korrigiert.

Eine Frage bleibt bei Korrekturen und Richtigstellungen aber immer: Wie viele Leute, die die Ursprungsnachricht gelesen und sich womöglich darüber geärgert oder gefreut haben, bekommen ein paar Tage später mit, dass damit etwas nicht gestimmt hat?

Schwere Geburt einer internationalen Ente

Manchmal ist es ja schon verblüffend, wie der Blick von außen dabei helfen kann, Dinge zu sehen, die man sonst nicht wahrnimmt. Da entdeckt zum Beispiel ein beachtlicher Teil der Weltpresse einen Babyboom auf Island, ziemlich genau neun Monate nach einem tollen Sieg der isländischen Fußballnationalmannschaft, zwinkerzwinker. Und die Isländer selbst bekommen das vor Ort gar nicht mit.

Doch der Reihe nach: Bei der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich im vergangenen Jahr besiegte das isländische Team im Achtelfinale am 27. Juni England mit 2:1. Ein ziemlich überraschender Erfolg. Und vor drei Tagen, am 28. März und somit fast exakt neun Monaten nach dem isländischen Triumph, melden Medien weltweit: Auf Island gibt es einen Babyboom, angeblich ausgelöst durch wilde Liebesnächte nach dem Erfolg bei der EM.

Medien aus Spanien berichten:

Aus Nordirland:

Aus den USA:

Aus Neuseeland:

Aus England:

Selbst die BBC produziert ein Video, in dem Comicbabys aus einem isländischen Geysir geschossen kommen:

Und auch deutsche Medien greifen die Geschichte auf. Bild.de zum Beispiel:

“Focus Online”:

Tagesspiegel.de:

Derwesten.de:

Der SWR:

Gala.de:

“RP Online”:

Und, und, und.

Nur: Die Sache mit dem Babyboom auf Island stimmt wohl nicht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunksender RÚV schreibt von “Falskar fréttir” und berichtet, dass in den Geburtskliniken in den vergangenen Tagen alles ganz normal gewesen sei. Das Portal “Nútíminn” fragt bei einigen Hebammen nach, und auch die sagen: alles wie immer. Und auf der Seite “The Reykjavík Grapevine” heißt es schon in der Überschrift: “No, There’s No Football-Fueled Baby Boom in Iceland”.

Aber wie kommt dann die Nachricht der isländischen Fußballbabys in die internationalen Titelzeilen? Viele der Seiten, die eine Quelle angeben, berufen sich auf die isländische Website “Visir”. Der dortige Artikel basiert lediglich auf einer einzigen Quelle: dem Tweet eines Mannes, der offenbar Arzt ist und von einem Rekord bei den Periduralanästhesien auf der Entbindungsstation seines Krankenhauses am vergangenen Wochenende schreibt, “neun Monate nach dem 2-1 Sieg gegen England”. Sein Tweet beginnt mit einem “hehehe” und endet mit einem Zwinkersmiley:

Das ist dann auch schon alles, worauf sich die Meldungen aus der ganzen Welt stützen: einen Zwinkertweet.

Mit Dank an Timm F. für den Hinweis!

Polizei und Medien gehen mit Bushido auf Verbrecherjagd

In Buxtehude gab es einen Raub. Schon vor einigen Tagen überfielen zwei Männer eine Frau und nahmen ihr Geld und Handy ab. Die zuständige Polizeiinspektion Stade hat in einer Pressemitteilung nun ein paar Details zu einem der Täter veröffentlicht:

Männlich — nicht über 30 Jahre — 190-200cm groß, sportlich schlank — südländisches Erscheinungsbild — kräftiger Vollbart – sprach gebrochenes deutsch – dunkelrotes Basecap mit einem silbernen Button an der Unterseite der Schirms

Und, noch besser, es gibt auch ein Phantombild:

Viele lokale, aber auch überregionale Medien berichten über die Suche der Polizei. Zum Beispiel die Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung heute:

Oder Bild.de bereits gestern Abend:

Das Onlineportal des “Hamburger Abendblatts” mit leicht verzerrtem Phantombild:

“Focus Online” berichtet ebenfalls:

Und die Onlineredaktion der “Hamburger Morgenpost”:

Wir haben eine gute Nachricht: Die Polizei kann die Suche einstellen. Wir wissen nämlich, wer der Mann auf dem Foto ist: der Rapper Bushido. Gewisse Zweifel, dass er etwas mit dem Raubüberfall in Buxtehude zu tun hat, haben wir durchaus. Aber: Das auf dem Foto ist Bushido.

Die Polizeiinspektion Stade hat offenbar ein Foto des Rappers genommen …

… es gespiegelt …

… das Foto leicht verzerrt, einen fancy Filter über das Bild gelegt, Bushidos Kette wegretuschiert, seinen Bart verlängert, ein paar Punkte und Striche in sein Gesicht gemalt, ihm ein Käppi aufgesetzt. Und schon war das Phantombild fertig:

Für eine größere Version einfach auf die Collage klicken. Dann erkennt man auch drei besonders prägnante Stellen: ein helles Haar in der Augenbraue, ein rausstehendes Nasenhaar und die Spuren der wegretuschierten Kette am Kragen des T-Shirts.

Mit Dank an Sebastian für den Hinweis!

Nachtrag, 13:14 Uhr: Laut tageblatt.de beruft sich die Polizeiinspektion Stade darauf, dass es sich um eine “‘zufällige Ähnlichkeit'” handelt. Das Phantombild sei von einem Zeichner des Landeskriminalamtes nach Angaben einer Zeugin angefertigt worden.

Und Bushido will sich demnächst “ein rotes Cap” zulegen.

Nachtrag, 31. März: Laut kreiszeitung.de gibt inzwischen auch das fürs Phantombild zuständige Landeskriminalamt Niedersachsen zu, dass das Bushido-Foto als Grundlage für die Zeichnung diente. Die Polizeiinspektion Stade bestritt gestern noch einen Zusammenhang und sprach von einem “Zufall”.

Nachtrag, 18. April: Anfangs bedankte sich Bushido zwar noch für den Modetipp bei der Polizei, ganz so lustig fand er die Verwendung seines Fotos als Vorlage für das Phantombild dann aber offenbar doch nicht. Denn inzwischen hat der Rapper Anzeige erstattet, wegen Verleumdung und Verfolgung Unschuldiger.

Bild.de treibt Schindlerluder mit Edward Snowdens Hotelaufenthalt

Es gibt neue Dokumente zu Edward Snowden, die eine Frage beantworten, die seine Kritiker seit einigen Jahren gerne stellen: Wo wohnte Snowden die ersten Tage nach seiner Ankunft in Hongkong? Ihre Überlegung: Keine Belege, wo der Whistleblower vom 21. bis 31. Mai 2013 unterkam — kein Beweis, dass er in dieser Zeit nicht einen Deal mit den Geheimdiensten von Russland und/oder China aushandelte. Vergangene Woche präsentierte der Journalist Glenn Greenwald auf seiner Seite “The Intercept” Rechnungen, die zeigen: Edward Snowden war genau dort, wo er auf Nachfrage immer behauptet hatte — im Hotel “Mira”.

Einer der Snowden-Kritiker, die der festen Überzeugung sind, dass es sich bei Snowden um einen Überläufer handelt, ist John R. Schindler. Der ehemalige NSA-Mitarbeiter darf im Auftrag seines Fanboys Julian Reichelt bei Bild.de seine Gedanken zu verschiedenen Themen aufschreiben. Vor einem Dreivierteljahr erklärte Schindler der Weltöffentlichkeit der “Bild”-Leserschaft den “Bild plus”-Abonnenten:

Schindler schrieb:

Drei Jahre, nachdem Edward Snowden — der amerikanische IT-Dienstleister, aus dem ein weltbekannter Prominenter wurde — in Hongkong zum ersten Mal vor die Medien trat, ist immer noch unklar, was sich wirklich in dieser aufsehenerregenden Affäre abgespielt hat.

Der ungefähre Ablauf ist bekannt. Im Mai 2013 verließ Snowden seinen Job bei der National Security Agency auf Hawaii und tauchte am 1. Juni im Hotel Mira in Hongkong auf. (…)

Doch einige wichtige Fragen sind noch offen.

Wo war Snowden vom 21. bis 31. Mai 2013?

Schindlers Aussage bei Bild.de, Snowden sei erst am 1. Juni im Hotel “Mira” aufgetaucht, stimmt nicht. Die neuen Unterlagen, die Snowdens Anwälte in Hongkong besorgt haben und die Glenn Greenwald nun veröffentlicht hat, zeigen, dass der Whistleblower bereits am 21. Mai im “Mira” eingecheckt hat — unter seinem eigenen Namen, bezahlt mit seiner eigenen Kreditkarte. Diese erste Buchung geht bis zum 30. Mai. Bereits am 29. Mai bucht Snowden zwei weitere Nächte, bis zum 1. Juni, und direkt hinterher noch mal neun weitere Nächte bis zum 10. Juni. Am 2. Juni kommen dann Greenwald und Laura Poitras, die einen ersten Teil von Snowdens Enthüllungen veröffentlichen. Der Journalist Charlie Savage hat alle Hotelabrechnungen auf seiner Seite veröffentlicht (auch eine weitere Buchung durch Snowden im “Mira” bis zum 18. Juni sowie eine frühere Buchung im Hotel “Icon”, in dem Snowden für seine erste Nacht in Hongkong am 20. Mai eingecheckt hatte).

Wie zentral die Frage nach Snowdens ersten Tagen in Hongkong für Schindler und seine Ausführungen ist, zeigt, dass dieser sie immer wieder stellt. Bereits im Sommer 2015 fragte er bei Bild.de:

Wo war Snowden während der zehn Tage im Mai 2013, nachdem er Hawaii verlassen und bevor er am 1. Juni im Hongkonger Hotel “Mira” eincheckte?

Und auch bei Twitter lässt ihn das Thema nicht los:



Jetzt hat er eine Antwort bekommen (die er natürlich nicht glaubt). Da diese Dokumente noch nicht öffentlich zugänglich waren, als John R. Schindler seinen Bild.de-Artikel geschrieben hat, kann man ihm nicht vorwerfen, davon nichts gewusst zu haben. Er konnte aber wissen, dass Edward Snowden stets beteuert hat, sich auch schon vor dem 1. Juni im “Mira” aufgehalten zu haben. Schindler hat diese Aussage einfach nicht glauben wollen oder ignoriert und das Gegenteil behauptet, was auch viel besser in seine Überläufer-Theorie passt. Julian Reichelt und Bild.de boten ihm dafür eine Plattform.

Ob Edward Snowden ein russischer Spion ist? Keine Ahnung.

Ob Edward Snowden in Hongkong Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes besucht oder sie im Hotel empfangen hat? Keine Ahnung.

Ob John R. Schindler und Bild.de eine falsche Behauptung aufgestellt haben? Scheint ganz so.

Sehen alle gleich aus (15)

Fotos, auf denen zwei Personen zu sehen sind, sind für Bild.de-Mitarbeiter immer doppelt gefährlich, weil sie dann gleich doppelt danebenliegen können. Wäre schließlich zweifach doof, wenn das Portal — mal als theoretisches Beispiel — ein Foto von Mick Jagger und Paul McCartney veröffentlicht, und in der Bildunterschrift steht dann: “Treffen zweier Musikgiganten: Florian Silbereisen und DJ Ötzi”.

Deswegen erst einmal ein großes Lob von uns: Toll, liebe Bild.de-Promierspäher, dass ihr Spielerberater Mino Raiola auf diesem Foto auf Anhieb erkannt habt.

Berater Raiola (r.) hat auch den bisher teuersten Fußballer der Welt, Paul Pogba, unter Vertrag

Und selbst die Info, dass Mino Raiola der Berater von Fußballprofi Paul Pogba ist, stimmt. Links im Bild ist aber gar nicht der französische Nationalspieler Pogba zu sehen — es handelt sich um den Italiener Mario Balotelli, der ebenfalls zu Raiolas Klienten zählt.

Das hätten die Mitarbeiter von Bild.de auch herausfinden können, wenn sie sich 15 Sekunden Mühe gegeben und sich die Fotobeschreibung der Agentur “Getty Images” angeschaut hätten. Denn dort steht:

Agent Mino Raiola and Mario balotelli are seen on March 5, 2013 in Milan, Italy.

Mit Dank an Andi F. für den Hinweis!

Nachtrag, 15:12 Uhr: Manche Leser haben uns darauf hingewiesen, dass die Bild.de-Redaktion in der Bildunterschrift gar nicht explizit — etwa durch ein “(l.)” — schreibt, dass sie den abgebildeten Mario Balotelli für Paul Pogba hält. Wir sind hingegen der Meinung, dass bei einem Foto, das nur zwei Personen zeigt und bei dem durch “(r.)” bereits klar ist, wer wer ist, das “(l.)” aufgrund des Ausschlussprinzips nicht zwingend nötig ist.

In der Zwischenzeit hat Bild.de die Bildunterschrift geändert. Nun wird klar, dass auf dem Foto Balotelli zu sehen ist. Dafür hat das Portal, entgegen unserer Annahme, ein “(l.)” verwendet:

Berater Raiola (r.) hat auch Stars wie Mario Balotelli (l.) oder den teuersten Fußballer der Welt, Paul Pogba, unter Vertrag

Im Trüben fischen

Am Ende kann die Onlineredaktion der “Hamburger Morgenpost” sagen: “Na also, lagen wir doch richtig.” Und schon wirkt es gar nicht mehr so schlimm, wie die “Mopo”-Mitarbeiter vor zwei Tagen über den möglichen Tod eines Menschen spekuliert haben.

Donnerstagmorgen entdeckte der Schiffsführer einer Fähre im Hamburger Hafen einen leblosen Körper. Die Polizei barg die Wasserleiche, untersuchte ihr Gebiss und stellte fest, dass es sich um den seit elf Wochen vermissten Timo K. handelt. Gestern präsentierten die Beamten die Obduktionsergebnisse, es gab Gewissheit. Überregional hatten Medien seit Januar über K.s Verschwinden und die Suche nach ihm berichtet, nicht nur, aber auch weil er beim Fußballverein HSV arbeitete.

Bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden des Leichenfunds begann bei mopo.de die Spekulation, ob es sich um Timo K. handeln könnte. Die Redaktion schlagzeilte am Donnerstagvormittag:


(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Artikel durch uns.)

Zu diesem Zeitpunkt stand noch nichts fest. Es gab Vermutungen, schließlich wurde K. ganz in der Nähe zum letzten Mal gesehen. Doch es gab auch Informationen, die gegen diese Vermutungen sprachen. “MOPO-Informationen”:

Nach ersten MOPO-Informationen sei allerdings unwahrscheinlich, dass es sich bei der Wasserleiche um K[.] handle. Kleidung und Erscheinungsbild würden laut Feuerwehrsprecher nicht zu dem Vermissten passen.

Diese Passage stammt aus demselben Artikel, der in der Überschrift noch rätselt, ob “der Tote der verschwundene HSV-Manager” ist. Die Redaktion widersprach sich selbst.

Gut anderthalb Stunden später berichtete auch “Focus Online” über den Fund im Hamburger Hafen. Dort wussten die Mitarbeiter zwar genauso wenig wie ihre “Mopo”-Kollegen, wählten für die Optik aber ein Foto von K. und brachten so seinen möglichen Tod ins Spiel:

Nach ersten Untersuchungen hatte die Polizei dann doch Hinweise gefunden, dass es sich bei der Wasserleiche um K. handeln könnte, dessen Personalausweis zum Beispiel. Bei mopo.de gab es nach Mutmaßüberschrift und Widerlegung im Text die nächste Wendung:

Die Onlineredaktion des “Hamburger Abendblatts” schrieb zwar, dass sich die Polizei nur “nahezu sicher” sei — für die Tatsachenbehauptung, dass man die “Leiche von Timo K[.] gefunden” habe, reichte das aber offenbar:

Inzwischen ist sich die Polizei also komplett sicher, dass es sich bei der Wasserleiche um Timo K. handelt. Die Medien lagen mit ihren Anfangsspekulationen richtig, ohne dass sie dafür eindeutige Anhaltspunkte hatten. Bei ihren redaktionellen Entscheidungen, ob sie eine vermisste Person mit dem Fund einer Wasserleiche in Verbindung bringen, obwohl noch nichts feststeht, scheint die mögliche Wirkung auf die Familie des Vermissten, auf dessen Freunde und Kollegen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Hauptsache eine gut klickende Titelzeile.

Vor einigen Wochen gab es bei Bild.de diese Schlagzeile:

Am Ende stellte sich raus: Es stand nicht mal fest, ob das gesichtete Objekt überhaupt eine Wasserleiche war.

Mit Dank an Matthias H., Günther T. und @dermobby für die Hinweise!

“Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist”

Morgen jährt sich zum zweiten Mal der Absturz des “Germanwings”-Flugs 4U9525. 150 Menschen sind damals in den französischen Alpen ums Leben gekommen, darunter auch Co-Pilot Andreas Lubitz, der die Maschine bewusst zum Absturz gebracht haben soll. Während viele der Hinterbliebenen sich treffen und gemeinsam trauern werden, werden Lubitz’ Eltern in Berlin bei einer eigens organisierten Pressekonferenz sitzen. Sie wollen ein Gutachten präsentieren, in dem es um Zweifel an den offiziellen Ermittlungen zur Absturzursache gehen soll.

In der “Zeit” von heute ist ein lesenswertes Stück von Petra Sorge zum Thema erschienen (hier eine Zusammenfassung von “Zeit Online”). Sie hat sich mit Günter Lubitz, dem Vater von Andreas, getroffen und mit ihm über verschiedene Gutachten, Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft, seine Motivation gesprochen:


Der Text handelt auch von der Berichterstattung rund um den “Germanwings”-Absturz. Es geht um ein brennendes Grab, um herumschleichende Reporter, um möglicherweise erfundene Interviewaussagen. Es geht vor allem um die “Springer”-Blätter “Bild” und “Welt am Sonntag”.

***

Da ist zum Beispiel der “Bild”-Bericht über das Grab von Andreas Lubitz. In der Print-Ausgabe und online hatten die “Bild”-Redaktionen Ende Juni 2015 groß auf der Titel- beziehungsweise Startseite über die Beerdigung des “Germanwings”-Co-Piloten berichtet …


… und dabei auch dessen Grab, niedergelegte Kränze, letzte Grüße von Freunden gezeigt.

Petra Sorge schreibt in ihrem “Zeit”-Artikel:

Kurz nach der Beerdigung von Andreas Lubitz gelangte ein Reporter auf den Friedhof. Er fotografierte das Grab: Kränze, die letzte Widmung der Familie. Bild veröffentlichte das Foto. Kurze zeit später setzte jemand das Grab in Brand. Der Brandstifter wurde nie gefunden.

Wegen der Veröffentlichung des Fotos folgte ein Gerichtsverfahren, das noch immer nicht endgültig entschieden ist. Inzwischen liegt der Fall beim Bundesgerichtshof:

Das Kammergericht Berlin untersagte den Abdruck des Fotos schließlich, mit der Begründung, die Berichterstattung stelle “einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte” der Kläger dar. Der Springer-Verlag hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Über die Frage von Pietät, Persönlichkeitsrecht und Grenzen der Pressefreiheit muss nun der Bundesgerichtshof entscheiden.

Nun kann man über einen direkten Zusammenhang von Bericht und Feuer nur mutmaßen. Die Tatsache aber, dass “Bild” und Bild.de trotz des Brandes und der möglichen Gefahr einer weiteren Brandstiftung im vergangenen August wieder mit großen Fotos über das Grab von Andreas Lubitz und den neuen Grabstein dort berichtet haben, wird vor diesem Hintergrund noch ekliger als es eh schon ist.

***

Direkt im Anschluss schreibt Petra Sorge:

Günter Lubitz hat lange überlegt, ob er mit der ZEIT sprechen soll. Mehrmals stand das Treffen auf der Kippe, besonders nachdem im Februar zwei Journalisten nahe dem Haus waren und danach behauptet hatten, die Familie habe sich erstmals öffentlich geäußert. Diese aus dem Zusammenhang gerissene “Äußerung” stammte aus einem Antwortschreiben, mit dem Günter Lubitz schon im November 2016 auf die Bitte um ein Interview reagiert hatte.

Bei den “zwei Journalisten” dürfte es sich um Mitarbeiter der “Welt am Sonntag” handeln. Die Wochenzeitung hatte vor gut einem Monat, am 26. Februar, vier Seiten über den “Germanwings”-Absturz veröffentlicht. In dem langen Text findet sich auch diese Passage:

Erstmals überhaupt haben sich die Eltern nun zu Wort gemeldet. Auf Anfrage der “Welt am Sonntag” schrieben sie: “Zum Absturz des Germanwings-Fluges 9525 ergeben sich auch für uns noch viele unbeantwortete Fragen, merkwürdige Sachverhalte und Zweifel am bisher kommunizierten Unfallhergang. Wir sind momentan selber noch am Recherchieren.” Zu dem “völlig falsch gezeichneten Bild” ihres Sohnes wollen sie sich momentan aber noch nicht äußern.

Ein “Unfallhergang”? Ein “völlig falsch gezeichnetes Bild” ihres Sohnes?

Aus einer E-Mail-Absage auf eine Interview-Anfrage vom November 2016 macht die “Welt am Sonntag” im Februar 2017 also die exklusive Nachricht, dass Lubitz’ Eltern sich “erstmals überhaupt” geäußert hätten.

“Bild” und Bild.de griffen das Thema direkt auf:


Franz Josef Wagner schrieb einen Brief an die Eltern von Andreas Lubitz.

***

Der dritte Abschnitt im “Zeit”-Artikel zur Berichterstattung über die “Germanwings”-Katastrophe ist der brisanteste. Es geht um ein Interview von “Bild”-Reporter John Puthenpurackal aus dem März 2015:



Die Aussagen der angeblichen “Ex-Freundin” über Lubitz’ angebliche Ausraster und seine angeblichen Ankündigungen waren nur wenige Tage nach dem Unglück entscheidende Bausteine bei der medialen Konstruktion eines Psychogramms.

“Bild” schreibt in dem Artikel:

Die Stewardess Maria W. (26) war eine zeitlang die Freundin von Todes-Pilot Andreas Lubitz (27).

Fünf Monate lang flogen sie im vergangenen Jahr zusammen durch Europa und übernachteten heimlich gemeinsam in Hotels.

BILD-Reporter John Puthenpurackal hat ihre Identität überprüft. Er ließ sich u.a. ein Foto zeigen, das die Stewardess und den Amok-Piloten bei einem Flug in derselben Crew zeigt.

Wir haben den Namen auf ihren Wunsch geändert, sie so fotografiert, dass sie nicht erkannt werden kann. In BILD spricht jetzt die Frau, die diesem Mann sehr, sehr nah war.

Trotz Identitätsprüfung durch Reporter Puthenpurackal und Foto-zeigen-lassen glaubt Staatsanwalt Christoph Kumpa laut “Zeit” inzwischen, dass die Aussagen in dem “Bild”-Artikel erfunden seien. Petra Sorge schreibt:

Und dann ist da die Sache mit der angeblichen Ex-Freundin seines Sohnes, der Stewardess Maria W. Bild druckte im März 2015 ein Interview mit ihr, wonach Andreas Lubitz angekündigt haben soll: “Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.” Maria W. habe sich wegen seiner Probleme von ihm getrennt: “Er ist in Gesprächen plötzlich ausgerastet und schrie mich an. Ich hatte Angst. Er hat sich einmal sogar für längere Zeit im Badezimmer eingesperrt.” Das Interview schien genau jenes Puzzleteilchen zu liefern, das noch fehlte zum Bild eines Wahnsinnigen. Als die Staatsanwaltschaft einen Zeugenaufruf startete, meldete sich aber keine Maria W. Staatsanwalt Kumpa erklärt jetzt auf ZEIT-Anfrage: “Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist.”

“Bild” wehrt sich im “Zeit”-Artikel gegen diesen Vorwurf.

Darf man Sie beschimpfen?

Bild.de war mal wieder mutig. “BILD FRAGT FRAGEN, DIE SICH KEINER ZU STELLEN TRAUT” steht seit gestern über einem Artikel, und damit ist nicht etwa die “Bild”-Witwenschüttler-Frage “Haben Sie ein Foto Ihres gerade verstorbenen Kindes für uns?” gemeint.

Es geht um Fragen an einen Mann mit Trisomie 21, also dem dreifachen Vorhandensein des Chromosoms 21, häufig auch Down-Syndrom genannt. Zum gestrigen “Tag des Down-Syndroms” hat Bild.de Sebastian Urbanski, einen Schauspieler mit Down-Syndrom, interviewt und ihm fragen gestellt, “die man sonst nicht zu stellen wagt”. Gleich zu Beginn zum Beispiel diese hier:

Darf man Mongo oder Downi sagen?

Urbanski: “Beides ist nicht okay. Mongo ist eine echte Beschimpfung. Auch Downi ist eine Beleidigung, obwohl manche Leute finden, das ist nett. Ich bin ein Mensch mit Down-Syndrom, so soll man es auch sagen.”

Unter der Voraussetzung, dass Urbanski vorher zugestimmt hat, dass in dem Interview alles und ohne Umschweife zum Thema angesprochen werden kann, finden wir die Frage zumindest in Ordnung, auch wenn sie das üble Schimpfwort “Mongo” beinhaltet. Die Kombination aus Frage und Antwort hat immerhin einen aufklärerischen Ansatz.

Die — auch und gerade für Journalisten — sehr lesenswerte Seite Leidmedien.de klärt in ihrem Glossar “Begriffe über Behinderung von A bis Z” ganz ähnlich über die Beleidigung “Mongo” auf:

Auch “Mongo” und “mongoloid” ist veraltet und diskriminierend: zum einen behindertenfeindlich gegenüber Menschen mit Trisomie 21 / Down-Syndrom; zum anderen rassistisch, da es eine Anspielung auf die angeblich “asiatische” Augenform von Menschen mit Trisomie 21 ist.

Nun mag die Frageform von Bild.de direkter und knalliger sein. Es handelt sich aber eben auch um Boulevardjournalismus.

Was wir hingegen völlig daneben finden, ist die Art, mit der die Redaktion den Artikel auf ihrer Startseite angeteasert hat:

Bild.de hat also im Interview von Sebastian Urbanski erfahren, dass “Mongo” eine schlimme Beleidigung ist. Und zieht daraus nicht die Konsequenz, dass diese in der Überschrift nichts verloren hat? Wenn diese direkten Fragen, die sich sonst “keiner zu stellen traut”, einen Sinn haben sollen, dann doch nur, wenn man die Antworten auch zur Kenntnis nimmt — zum Beispiel beim Präsentieren des Artikels.

Die Bild.de-Redaktion aber reproduziert und verbreitet lediglich das Schimpfwort “Mongo” auf ihrer Startseite, ohne irgendeinen Kontext zu bieten. Das ist nicht mehr mutig, sondern nur noch ein billiger Klickfänger ohne Anstand, und hat mit Aufklärung nichts zu tun.

Zum Vergleich ein anderer Fall: Natürlich ist es in Ordnung, wenn das Team von “Hyperbole” in seiner Videoserie “Frag ein Klischee” eine Afro-Deutsche fragt, was sie davon halte, wenn Leute das Wort “Neger” benutzen. Schließlich gibt es immer noch reichlich Menschen, die die Verwendung des Begriffs ganz normal finden (gleiches gilt auch für das Wort “Mongo”). Diese Aufklärung ist wichtig. Es ist aber etwas völlig anderes, wenn man das Video irgendwo mit “Darf man Negerin zu Ihnen sagen?” bewirbt, ohne die wichtige ablehnende Antwort dazu zu liefern.

Was im Fall von Bild.de dazukommt und besonders grässlich ist: Es handelt sich um einen kostenpflichtigen “Bild plus”-Artikel. Das Schimpfwort “Mongo” sehen also Millionen Menschen, die täglich bei Bild.de vorbeischauen. Die Antwort, dass dessen Verwendung überhaupt nicht okay ist, erreicht nur die paar Hunderttausend, die “Bild plus” abonniert haben.

Mit Dank an @WaywardKitten93, @SusannahWinter und Mark P. für die Hinweise!

Kalter Kaffee & paste

In der “Bild”-Zeitung von heute findet man eine ganze Seite über die Türkei und Präsident Recep Tayyip Erdogan:

Einer der sieben Artikel fragt “WER IST WER IM ERDOCLAN?” und gibt ein paar kurze Informationen über Erdogans Ehefrau, seine Kinder und Vertraute. Bei Bild.de ist der Text in einer ausführlicheren Version erschienen. Auch dort die Frage:

Wer gehört zu seinem engsten Kreis? BILD erklärt den Erdogan-Clan

Ein Abschnitt befasst sich mit der ältesten Tochter des türkischen Präsidenten, Esra Erdogan, und ihrem Ehemann Berat Albayrak:

Esra Erdogan (35) und Berat Albayrak (39)

Ein enger Vertrauter Erdogans ist sein Schwiegersohn und gleichzeitig Energieminister.

Albayrak ist seit 2004 mit der ältesten Erdogan-Tochter Esra verheiratet, gilt als glühender Verehrer seines Schwiegervaters.

Esra Erdogan sitzt neben ihrem Bruder Necmettin Bilal Erdogan im Vorstand der dubiosen Türgev-Stiftung. Ihr Mann könnte nach dem Davutoglu-Rücktritt neuer türkischer Ministerpräsident werden.

Nun ist Ahmet Davutoglu schon längst als Ministerpräsident der Türkei zurückgetreten, seit dem 22. Mai 2016 ist er nicht mehr im Amt. Sein Nachfolger steht seit dem gleichen Tag fest: Binali Yildirim. Berat Albayrak, der Ehemann von Esra Erdogan, kann also gar nicht mehr “nach dem Davutoglu-Rücktritt neuer türkischer Ministerpräsident werden.”

Der Fehler von Bild.de ist ziemlich einfach zu erklären: Faulheit. Das Portal veröffentlichte am 7. Mai vergangenen Jahres bereits einen Artikel mit der Überschrift “Erdogans schillernder Clan”. Darin diese Passage über Esra Erdogan und Berat Albayrak:

Sie sitzt neben ihrem Bruder im Vorstand der dubiosen Türgev-Stiftung.

Ihr Mann könnte nach dem Davutoglu-Rücktritt neuer türkischer Ministerpräsident werden.

Die Bild.de-Kopierer haben ganze Absätze aus dem alten Artikel übernommen, sie teilweise neu zusammengesetzt, dabei aber nicht überprüft, ob die Informationen noch aktuell sind.

Mit Dank an Savas D. für den Hinweis!

Diese Recherche wurde inszeniert

Im US-Bundesstaat Pennsylvania ist vor wenigen Tagen ein kleines Mädchen bei einem Brand gestorben. Vermutlich hat sich ein Hoverboard beim Aufladen entzündet, die Wohnung der Familie ging daraufhin in Flammen auf, das Mädchen konnte nicht mehr gerettet werden.

Nun war das nicht der erste Vorfall, bei dem ein Hoverboard abbrannte und dadurch für eine gefährliche Situation sorgte. Immer wieder gibt es solche Meldungen. Deswegen brachte Bild.de gestern einen Artikel, der nicht nur von dem tragischen Unfall in den USA handelt, sondern auch von der allgemeinen Gefahr, die von Hoverboards ausgehen kann:

Am Ende des Textes schreibt das Portal:

Doch nicht nur schadhafte Akkus machen den Hoverboard-Spaß zur Gefahr: Auch während der Fahrt können sich Geräte automatisch nach 20 Minuten wegen Überhitzungsgefahr abschalten, die Räder blockieren — im Straßenverkehr kann das tödlich enden.

Was ohne diese Not-Abschaltung passiert, zeigen zahlreiche YouTube-Videos.

Von den “zahlreichen YouTube-Videos” hat Bild.de exemplarisch dieses ausgewählt und in den Artikel eingebettet:

Die Aufnahmen stammen von dem YouTuber “Bule British”, dessen Videos in der Regel zwischen 2000 und 20.000 Aufrufe haben. Sein 5:31-Minuten-Clip mit dem Hoverboard wurde bisher 6,6 Millionen Mal aufgerufen.

Das Blöde für Bild.de: Auch wenn der Titel des Videos es in Großbuchstaben verspricht — es zeigt gar kein “FIRE EXPLODING HOVERBOARD”. Also, klar, es sind durchaus Flammen zu sehen und auch ein Hoverboard. Aber YouTuber “Bule British” schreibt extra:

This Video was staged the hoverboard did not really explode. You can now stop with the comments about how it is not turned on or that i overcharged it. Thank You

Mit zwanzig Sekunden Recherche hätten die Mitarbeiter von Bild.de diesen Hinweis ebenfalls gefunden und ihren Leser nicht ein Fake-Video präsentiert.

Mit Dank an Wolf D. für den Hinweis!

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