Schauen Sie mal, was man so alles im Internet findet:
“Heilige Scheiße”, ruft der junge Mann im Video.
“Geiler Scheiß”, mögen die Leute bei Bild.de gedacht haben. Sie schnitten das Video neu zusammen und legten einen erläuternden Text darunter:
Das hält selbst der stärkste Bus nicht aus: Eine 2.500 Kilo schwere Betonplatte kracht mit voller Wucht auf das Fahrzeug, fallengelassen von einem Kran im Amsterdamer Stadtzentrum. Schrecksekunde für den Skater, der seinem filmenden Kumpel eigentlich nur seine neuesten Tricks zeigen wollte — doch dann passiert das! Verletzt wurde bei dem Unfall glücklicherweise niemand. Leidtragender nur der Bus, der jetzt mit einem Totalschaden dasteht.
Leidtragende sind allerdings auch die Besucher von Bild.de, denen die Redaktion dieses Video als Dokument eines echten Unfalls verkauft.
In Wahrheit handelt es sich – man hätte es ahnenkönnen – um ein gestelltes Video, wie verschiedene belgischeWebseiten seit heute Mittag berichten:
Dass eine Kamera bereitstand und dass der Skater Jaasir Linger Zeuge des Unfalls war, ist kein Zufall. Der ganze Film ist inszeniert. Er ist der Start einer Kampagne gegen die Unsicherheit auf Baustellen in den Niederlanden.
(Übersetzung von uns.)
Weiter heißt es in den Artikeln, dass die Macher der Kampagne jetzt Ärger mit der Verkehrsgesellschaft hätten: Die hatte den Bus abgeschrieben und verkauft, im Video ist aber noch ihr Logo zu sehen, das die Käufer hätten entfernen müssen.
Dass Bild.de wegen der Geschichte Ärger bekommt, ist eher unwahrscheinlich.
Mit Dank an “Mutti”.
Nachtrag, 16. Juli: Auch der Online-Video-Dienst “Zoom In” verkauft seinen Zuschauern den Unfall als echt — zumindest denen, die beim Off-Kommentar nicht sofort eingeschlafen sind. Zu sehen z.B. auf t-online.de.
Gestern wurden bei einem Lawinenabgang am Mont Blanc neun Bergsteiger getötet. Das ZDF hat zu diesem Thema deshalb heute Morgen im Morgenmagazin Arved Fuchs befragt, den Moderator Cherno Jobatey konsequent als “erfahrener Bergsteiger” bezeichnete.
Fuchs sah in diesen Momenten immer ein bisschen gequält aus:
Arved Fuchs ist als Polarforscher, Expeditionsteilnehmer und “Abenteurer” bekannt geworden — unter anderem durch die erste komplette Durchquerung des antarktischen Kontinents mit dem tatsächlichen Alpinisten Reinhold Messner. Im Porträt auf seiner offiziellen Website und in seinem Wikipedia-Eintrag finden sich keine Hinweise, dass Fuchs auch als Bergsteiger, “Extrembergsteiger” gar, aktiv war.
Das disqualifiziert ihn nicht, im Frühstücksfernsehen den Massentourismus auf alpinen Gipfeln zu kritisieren, aber es macht ihn nicht zum Bergsteiger. Das hat die ZDF-Redaktion übernommen, die ihn auch in der Einblendung als solchen bezeichnet.
Übernommen haben dies die Nachrichtenagenturen dapd und dpa.
Kurz nach Fuchs’ TV-Auftritt tickerte dapd:
Bergsteiger Arved Fuchs rät bei mangelnder Erfahrung von alpiner Trophäenjagd ab. “Niemand muss auf den Mont Blanc”, sagte er nach dem Lawinentod von neun Bergsteigern am Freitag im ZDF-“Morgenmagazin”.
Und dpa vermeldete:
Extrembergsteiger Fuchs kritisiert Massentourismus auf Gipfeln
Berlin (dpa) – Nach dem Lawinenunglück am Montblanc mit neun toten Bergsteigern hat der Abenteurer Arved Fuchs den Massentourismus auf alpinen Gipfeln kritisiert.
In einem weiteren Artikel am Mittag über den Lawinenabgang schrieb die Deutsche Presseagentur:
Kritik am Massentourismus auf alpinen Gipfeln kam vom Extrembergsteiger Arved Fuchs (59). “Die Natur wird degradiert zu einer Art Freizeitpark”, sagte der Deutsche am Freitag im ZDF-Morgenmagazin.
Bei der dpa ist der Fehler immerhin jemandem aufgefallen: Sie verschickte um 13.33 Uhr eine “Berichtigung”, in der sie Fuchs’ Berufsbezeichnung in “Abenteurer” bzw. “Polarfahrer und Abenteurer” änderte. Bei zahlreichen Online-Medien, die die dpa-Meldung übernommen hatten, steht freilichimmernoch“Extrembergsteiger”.
dapd hat den Fehler bisher nicht korrigiert.
Nachtrag, 18.50 Uhr: dapd hat nun auch eine Berichtigung des Fehlers verschickt.
Das Foto zeigt einen Vater, der weinend auf der Straße hockt und Abschied nimmt von seinem Sohn, der an dieser Stelle gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Die “Bild am Sonntag” stellte diesen intimen Moment groß aus; die “Bild”-Zeitung zeigte das Foto am nächsten Tag noch einmal (BILDblog berichtete). Sie taten das angeblich nicht, um die Schaulust zu befriedigen, sondern um die Zahl der Opfer von alkoholisierten Autofahrern zu reduzieren.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Der Presserat missbilligte ihre Berichterstattung trotzdem.
Mehrere Menschen hatten sich über “Bild am Sonntag” und “Bild” beschwert. Sie hätten die Betroffenen ein zweites Mal zu Opfern gemacht und ihre Gefühle der Angehörigen nicht respektiert.
Das Justiziariat der Axel Springer AG erwiderte, die ausschließliche Motivation der Berichterstattung sei es gewesen, auf die schrecklichen Folgen von Alkoholmissbrauch am Steuer hinzuweisen. Es sei unstreitig, dass weniger Unfälle passieren würden, wenn Verkehrsteilnehmern diese Folgen deutlich gemacht würden — auch die Deutsche Verkehrswacht nutze Plakate mit drastischen Darstellungen.
Außerdem sei die Leiche abgedeckt und keiner der Beteiligten identifizierbar.
Der Presserat sah in den Veröffentlichungen zwar keinen Verstoß gegen die Menschenwürde (Ziffer 1 des Pressekodex) und auch keine unangemessen sensationelle Darstellung von Leid (Ziffer 11). “Bild am Sonntag” habe aber die Privatheit der Opfer missachtet (Ziffer 8). In Richtlinie 8.3 heißt es:
Bei Familienangehörigen und sonstigen durch die Veröffentlichung mittelbar Betroffenen, die mit dem Unglücksfall oder der Straftat nichts zu tun haben, sind Namensnennung und Abbildung grundsätzlich unzulässig.
Die Familie sei aufgrund vieler Details identifizierbar. Ihre private Trauer werde einer großen Öffentlichkeit gezeigt. Wenn die Zeitung auf die Gefahren von Alkohol am Steuer hinweisen wollte, hätte sie über den Unfall auch in anderer Form berichten können. “Bild am Sonntag” habe die Betroffenen “instrumentalisiert”.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Redigier-Praxis: Bitte mit Feile statt Meißel!” (mediummagazin.de, Eckhard Stengel)
Wie Redaktionen beim Redigieren Fehler in die Texte von freien Mitarbeitern einbauen: “Seit über 30 Jahren schreibe ich als freier Korrespondent für diverse Zeitungen, und nach jedem Produktionstag frage ich mich bei der Morgenlektüre: Welche Patzer haben sie diesmal eingebaut?”
3. “WDR Markt verwechselt Extraenergie GmbH mit ExtraEnergy e.V.” (extraenergy.org, Angela Budde)
Die Sendung “WDR Markt” verwechselt den Stromanbieter ExtraEnergie GmbH mit dem Verein ExtraEnergy (Video und Korrektur auf wdr.de): “Fast täglich erhält das ExtraEnergy Team Anrufe von Stromkunden, die ihren Vertrag lösen oder ändern möchten. (…) Verstehen kann der ExtraEnergy e.V., der seit 20 Jahren im Sinne des Verbraucherschutzes arbeitet, insbesondere die mangelhafte Recherche des WDR Markt Teams nicht.”
4. “Freemium – wie funktioniert’s?” (blog.echo-online.de, Jörg Riebartsch)
Gemäß Jörg Riebartsch, Chefredakteur der Echo Zeitungen in Darmstadt, hat die Einführung einer Bezahlschranke zu keinem Rückgang der Nutzerzahlen bei Echo-online.de geführt. “Wer beispielsweise nur jeweils die Hauptnachrichten auf der Homepage von EOL liest, kommt mit der Bezahlschranke gar nicht in Berührung. Er wird denken: Nanu, die haben gar keine Bezahlschranke. Die Bezahlschranke greift dort, wo wir originäre lokale Informationen haben, von denen wir sicher sind, dass wir diese exklusiv haben.”
5. “Bitte, verharmlost Alzheimer nicht!” (katrinhilger.wordpress.com)
Katrin Hilger liest auf “Focus Online” einen Artikel zu einer Diskussion über Alzheimer: “Jetzt haben auch pflegende Angehörige den gleichen schwarzen Peter gezogen wie Eltern mit schwierigeren Kindern. Nämlich, dass man nur mit genügend Optimismus und positiver Einstellung rangehen muss, dann ist das alles gar nicht so schlimm und eigentlich ganz dufte. (…) Alzheimer ist grausam und furchtbar und entsetzlich, meine Mutter hat sich von einer fröhlichen Frau in ein Wrack verwandelt, das vor sich hinbrabbelt und Verwünschungen ausstößt. Egal, wie positiv ich das sehe.”
Seit die Menschheit denken kann, wird sie von existenziellen Fragen gequält: “Was ist der Sinn des Lebens?”, “Gibt es ein Leben nach dem Tod?”, “Was ist in der Big-Mac-Sauce eigentlich drin?”, …
Immerhin auf eine dieser Fragen hat Bild.de die Antwort gefunden:
Millionen Hamburger-Fans wollten es schon immer mal wissen: Was ist in der Big-Mac-Sauce eigentlich drin? Nun erreichte diese Frage auch McDonald’s in Kanada — und die Antwort gibt es per Video im Netz: Der Chef persönlich steht in der Küche und erklärt, dass es eigentlich gar kein Geheimrezept ist, denn alles stehe schon lange im Internet.
Mal davon ab, dass die genaue Zusammensetzung der Sauce auch nach dem Betrachten des Videos ein Betriebsgeheimnis bleibt: Der Mann ist nicht “der Chef persönlich” — jedenfalls nicht das, was man in Deutschland gemeinhin unter dem Chef eines Unternehmens versteht.
Wenn Sie mal schauen wollen:
In der Bauchbinde des Videos steht zwar “executive chef”, aber das ist ein “falscher Freund”. Machen wir doch einfache eine kurze Reise durch verschiedene Sprachen, Jahrhunderte und Küchen:
Das französische “chef” (abgeleitet vom lateinischen “caput” = “Kopf”), das im 17. Jahrhundert ins Deutsche übernommen wurde, steht für einen Vorgesetzten oder Leiter einer Organisation. Der “chef de cuisine” ist entsprechend der “Leiter der Küche”. Dieser Begriff wurde im Englischen auf “chef” gekürzt, so dass “chef” dort nun sehr allgemein für “Koch” steht.
Dan Coudreaut, der Mann im Video, ist der “executive chef”, also der leitende Koch, von McDonald’s in Nordamerika. Er ist verantwortlich für die Entwicklung neuer Produkte und Rezepte.
Mit Dank an KiMasterLian und Andreas H.
Nachtrag, 13. Juli: Bild.de hat Dan Coudreaut im Text und in der Überschrift zum “Koch” gemacht, im Video ist er immer noch “Chef”. (In der URL war interessanterweise von Anfang an von einem “Koch” die Rede.)
Die Menschen im vorpommerschen Karlsburg können stolz sein auf ihr örtliches Klinikum:
Die Klinik für Diabetes und Stoffwechselerkrankungen in Karlsburg ist führend auf diesem Gebiet. Jetzt haben sich sogar Ärzte aus den Golfstaaten bei ihren Kollegen hier umgeschaut, um Tipps für die Behandlung in ihrer Region zu erhalten. Vor allem die Arbeit mit Kindern hat die Mediziner aus Dubai beeindruckt.
Das schreibt der lokale “Nordkurier” über den Besuch einer Delegation am vergangenen Wochenende.
Und weiter:
Das Klinikum Karlsburg zählt mit seiner über 80-jährigen Diabeteseinrichtung weltweit zu den ältesten. In Vorpommern wurde 1930 durch Prof. Gerhardt Katsch (1887 – 1961) die Diabetologie mitbegründet. Schon in den 70- und 80er Jahren fanden Mitglieder der Herrscherfamilie aus den Emiraten den Weg nach Karlsburg. “Jetzt knüpfen wir an diese Traditionen an. Im Herbst kommen erste Patienten aus den Golfstaaten” kündigt Prof. Motz an. Das Klinikum will sich international stärker engagieren, sich auch Patienten aus dem Ostseeraum öffnen. “Das wird sich positiv auf die Menschen in unserer Region auswirken”, sagt Prof. Motz. Nicht nur wegen der Arbeitsplätze. Ein höherer Klinikstandard komme allen zugute.
Der Artikel ist “von unserer Mitarbeiterin Anette Pröber”, wie der “Nordkurier” in der Autorenzeile schreibt. Eine Frau, die sich zweifellos in der Materie auskennen muss, denn die von ihr geführte Medienagentur macht auch die Öffentlichkeitsarbeit für das Klinikum Karlsburg — also jenes Krankenhaus, in dem der hohe Besuch aus Nahost zu Gast war.
Jürgen Mladek, Leiter der Regionalausgabe des “Nordkuriers”, erklärte uns den Einsatz von Frau Pröber in dieser ungewöhnlichen Doppelfunktion wie folgt: Man habe einen eigenen Reporter auf Usedom mit einem Bericht über den Besuch der Delegation betraut. Der so entstandene Artikel habe allerdings nicht den Vorstellungen der Redaktion entsprochen und so habe die Redaktion auf einen Text zurückgegriffen, den sie zuvor ebenfalls bei Frau Pröber angefordert hatte, quasi als Ergänzung und Faktensammlung zum eigenen Artikel.
Obwohl im jetzt veröffentlichten Text die Fakten “unstrittig” seien, habe der “Nordkurier” seine eigenen journalistischen Standards nicht eingehalten. Der Leser hätte auf die Doppelfunktion hingewiesen werden müssen.
Nach unserem Telefonat mit der Redaktion hat der “Nordkurier” in der Online-Fassung des Artikels die Formulierung “von unserer Mitarbeiterin” entfernt und durch den Hinweis “Die Autorin arbeitet als Sprecherin des Klinikums Karlsburg” am Ende des Artikels ersetzt.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Diese Bilder waren zu hart” (nzz.ch, hes./nic.)
Unter der Überschrift “So geil ist der Fussball-Sommer” veröffentlicht “Blick” Fotos von Fußballer Mario Götze, auf denen er mit einer Erektion zu sehen ist.
2. “‘Dies ist das wahre Geheimnis des Fußballs'” (zeit.de, Harald Martenstein)
Harald Martenstein über Fußballexperten: “Wenn eine Mannschaft vier Mal gut gespielt hat, wird einem mit vielen Details von den Experten erklärt, warum die Weltklasse sind. Dann verlieren sie ein Mal, und derselbe Experte kann einem mit noch mehr Expertendetails erklären, warum die von Weltklasse meilenweit entfernt sind. (…) Die Arbeit eines Fußballexperten besteht darin, Ereignisse, die zum Teil mit Zufall zusammenhängen, hinterher als unvermeidliche Folge von Fehlentscheidungen des Trainers darzustellen.”
3. “Rassismus im deutschen Kinderfernsehen” (scilogs.de, Joe Dramiga)
Joe Dramiga thematisiert das Samstagvormittagsprogramm der Öffentlich-Rechtlichen in den Jahren 2001 bis 2006: “Beschämend, wie unsere Steuergelder dafür verwendet werden, den Kids auf mehr oder weniger subtile Weise einzuhämmern, dass Schwarze ‘Misfits’ – also nicht gesellschaftsfähig – sind.”
4. “Inside the BBC’s Verification Hub” (nieman.harvard.edu, David Turner, englisch)
Die Verifikation von Inhalten bei der BBC: “The golden rule, say Hub veterans, is to get on the phone whoever has posted the material.”
5. “Kein schöner Lanz” (stefan-niggemeier.de, Videos)
Stefan Niggemeier untermauert seinen “Spiegel”-Artikel über Markus Lanz mit zwei Zusammenschnitten.
6. “Öffentlichkeitsarbeit? Pfui!” (scienceblogs.de/naklar, Florian Aigner)
Universitäten gehörten zu den Guten, schreibt Florian Aigner, der bei der Unternehmenskommunikation zu differenzieren versucht. “Wenn wir an den Universitäten Forschungserfolge nach außen tragen wollen, dann produzieren wir Information, keine Werbung.”
Als der damalige Bundespräsident Christian Wulff dem “Bild”-Chefredakteur auf die Mailbox quatschte, ließen sich Kai Diekmann und seine Redaktion nicht von einer Veröffentlichung eines geplanten Artikels über Wulffs private Hausfinanzierung abbringen. Nun ist es offenbar einigen rangniederen Politikern gelungen, einen auf den ersten Blick deutlich weniger brisanten Artikel, der bereits auf Bild.de erschienen war, wieder löschen zu lassen. Das behauptet zumindest der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm.
Dehm ist nicht nur Politiker der Partei Die Linke, sondern auch Musiker, Komponist und Produzent. In dieser Funktion (und der des “Kondom-Erfinders”) hat ihn die “Bild”-Redakteurin Angi Baldauf anlässlich der Veröffentlichung seiner neuen CD “Grosse Liebe. Reloaded” für die Zeitung porträtiert. Ihr Artikel erschien am Samstagabend auf Bild.de:
Etwa 18 Stunden später war der Artikel wieder verschwunden, ist aber auf Dehms Internetpräsenz noch nachzulesen (PDF).
Es spricht wenig dafür, dass der Artikel bei Bild.de versehentlich veröffentlicht und dann wieder zurückgezogen wurde. Bild.de hatte ihn über den offiziellen Twitter-Account beworben:
Diether Dehm – Dieser Linke ist der 1. Popstar im Bundestag on.bild.de/Ne9IVH
Frau Steinbach und Herrn Dehm verbindet eine Jahrzehnte alte Feindschaft: 1990 hatte Steinbach behauptet, Dehm sei vor Jahren Stasi-Mitarbeiter gewesen. Dehm ließ diese Behauptung gerichtlich verbieten, doch 1996 tauchte eine Stasi-Akte auf, aus der hervorging, dass Dehm als von 1971 bis 1978 als Informeller Mitarbeiter die Staatssischerheit der DDR mit Informationen aus seinem Umfeld versorgt hatte. Es folgte eine längere Auseinandersetzung, die mit der Feststellung endete, dass Steinbach Dehm als “Stasispitzel” bezeichnen darf.
Dehm war von 1976 bis 1988 Manager des Liedermachers Wolf Biermann gewesen. Biermann hatte hinterher behauptet, Dehm habe sich ihm gegenüber 1988 als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter offenbart, weswegen er ihn als seinen Manager entlassen habe.
Ein Vorfall, der auch im Bild.de-Artikel thematisiert wurde:
Den Vorwurf seines ehemaligen Liedermacher-Mitstreiters Wolf Biermann, er habe ihn bei der Stasi verpfiffen, hält er triumphierend das Dokument der Stasi selbst entgegen. Danach hatte die Stasi versucht, ihn als 24-Jährigen anzuwerben. Als Dehm aber 1977 Biermanns Manager geworden war und in Ostberlin sein Protestflugblatt gegen dessen Ausbürgerung verteilt hatte, stempelte die Stasi den “Perspektiv-IM” zum DDR-Staatsfeind. Sogar mit Fahndungsbefehl, welcher heute eingerahmt neben den neun goldenen und vier Platin-LPs hängt.
Diether Dehm hält es dann auch für möglich, dass sich einige politische Gegner daran störten, “dass ausgerechnet ‘Bild’ das entlastende Dokument erwähnt”.
Beschwert haben sich offenbar einige, wenn auch niemand so öffentlich wie Erika Steinbach. Im vom Liedermacher Konstantin Wecker herausgegebenen Blog “Hinter den Schlagzeilen” heißt es:
Dann prasselte der Druck auf die Redaktion. Aus höchsten Kreisen von CDU, SPD, FDP usw.
Die Bildspitze wurde zur Ordnung gerufen. Zur herrschenden Ordnung.
Diether Dehm selbst erklärte uns auf Anfrage, ihm seien inzwischen Namen “aus den Fraktionsspitzen der drei Parteien” zu Ohren gekommen, die am Sonntag bei “Bild” “vorstellig geworden” sein sollen, um sich über die positive Berichterstattung über Dehm und seine neue CD zu beschweren.
Dass Bild.de den Artikel dann wieder offline genommen habe, sieht Dehm als Teil einer Kampagne gegen seine Partei, wie er uns schreibt:
Es ist nicht nur “Bild”, sondern das Gros der Verlagskonzerne, die LINKE nur skandalisiert in ihre Blätter lassen. Wir erleben gerade eine Auferstehung von Zensur a la McCarthy und Berlusconi, damit um Gotteswillen die Wut über die Zockerbanken in der Eurokrise nicht nach links geht.
Das treffe dann sogar seine “kleine, ziemlich unverdächtige Liebeslieder-CD”.
Die Pressestelle der Axel Springer AG antwortete auf unsere Anfrage, wir wüssten ja, dass der Verlag “zu Redaktionsinterna keine Auskunft” gebe. So sei es auch in diesem Fall.
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1. “‘Im Zug des Lebens in Fahrtrichtung'” (faz.net, Werner D’Inka und Peter Lückemeier) Steffen Seibert, Ex-Journalist und aktuell Regierungssprecher, im ausführlichen Interview: “Wer sagt, es lasse ihn kalt, Herrn Obama, Herrn Putin oder Herrn Hollande so gegenüberzusitzen, wie ich es jetzt erlebe, der lügt. Journalisten kommen immer nur bis zu einem gewissen Punkt, dann schließt sich die Tür. Kann auch sein, dass dieser Abstand für die Berichterstattung hilfreich ist. Ich stelle fest, auf der anderen Seite der Tür dabei zu sein ist faszinierend. Und es hilft mir viel besser zu verstehen, warum Regierungen so oder so handeln.”
2. “Die Mühlen der PR” (weltraumer.de, Daniel Raumer)
Das Bild des Pressesprechers als “Nicht-mit-Presse-Sprecher”: “Ich habe es erlebt, dass Pressesprecher ohne Skrupel bei meinem Vorgesetzten anriefen und sich beschwerten, weil ich seriös um eine Stellungnahme gebeten hatte und auch nach mehrfachem telefonischem Abwimmeln durch die Assistentin hartnäckig blieb. Ein Pressesprecher, der sich echauffiert, weil die Presse mit ihm sprechen will, offenbart eine erstaunlich von meinem Verständnis abweichende Interpretation seines Berufs.” Siehe dazu auch “SPD: Pressesprecher will privat bleiben” (blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser).
3. “Ein offener Brief an Martin Kölling, Japan-Korrespondent des Handelsblatts” (schnellinterkulturell.de, Marco)
Marco Damm fragt den “Handelsblatt”-Japan-Korrespondenten, ob er, als er über den am 5. Juli veröffentlichten Bericht der NAIIC schrieb, “den Wortlaut der japanischen Fassung mit dem der englischen Fassung” verglichen habe. “Falls ja, haben Sie übersehen, dass der, an das internationale Publikum gerichtete, englische Report völlig anders formuliert ist und das Reaktorunglück ganz bequem als ‘made in Japan’ tituliert und den Zwischenfall somit auf schwammige kulturelle Besonderheiten und Einzigartigkeiten der japanischen Obrigkeitshörigkeit, etc. schiebt? Der japanische Report enthält dagegen keinerlei ‘made in Japan’ Formulierungen, sondern legt den Fokus viel mehr auf das zu enge Verhältnis zwischen Industrie und Politik. Auch hier ist Aussparung des ‘made in Japan’ wohl überlegt.”
4. “RTL News statt Tagesschau” (fr-online.de, Peer Schader)
Peer Schader schaut “RTL 2 News”: “Regelmäßige Zuschauer der ‘RTL 2 News’ wissen aus den vergangenen beiden Wochen, dass in Ecuador ein Hochhaus gebrannt hat, dass sich auf einer chinesischen Autobahn ein riesiges Loch aufgetan hat und dass in Budapest eine Wasserleitung geplatzt ist – aber nichts über den IWF-Jahresbericht zur US-Wirtschaft und fast gar nichts zur Arbeit des NSU-Ermittlungsausschusses.”
5. “Intern: Wenn aus Bildern Brötchen werden” (iphone-ticker.de)
Die “Wirtschaftswoche” übernimmt ein Bild von ifun.de. “24 Stunden und zwei freundliche eMails später ist die Geschichte nun aus der Welt. Unkompliziert und ohne einen Anruf beim Anwalt, spendet die WiWo jetzt 100€ an den Bundesverband Deutsche Tafel e.V. – und auch wir legen noch mal 100€ drauf.”
Pünktlich zum Beginn des Sommerlochs der Sommerferien titelte die jüngste Ausgabe der “Bild am Sonntag”:
Er ist eine süße, versteckte Droge, die wir jeden Tag mit unserer Nahrung aufnehmen: Zucker! Inzwischen verzehrt jeder Deutsche rund 35 Kilo im Jahr. Denn in vielen Getränken und Lebensmitteln ist weit mehr Zucker, als wir vermuten.
Gut, so was erzählen Zahnärzte und Mütter seit Jahrzehnten. Jetzt sind es also die Enthüllungsjournalisten von der “BamS”, die dieser Zucker-Sache mal auf den Grund gehen:
Bild am Sonntag enthüllt, wie viel Zucker wirklich in unseren Lebensmitteln steckt.
BILD am SONNTAG hat 55 Lebensmittel auf ihren Zuckergehalt untersucht und in Zuckerwürfel umgerechnet.
Mit “untersucht” ist offenbar nichts anderes gemeint, als dass die Leute von “Bild am Sonntag” die Nährwert-Angaben von den Verpackungen abgelesen haben. Dabei haben sie festgestellt:
Die Ergebnisse (…) machen mitunter fassungslos.
In der Tat.
So sieht nach “Bild”-Umrechnung zum Beispiel der Zuckergehalt von Marmelade aus:
Über 60 Würfel! Im Gegensatz dazu wirkt das Nutella, das mit weniger als drei kleinen Würfelchen irgendwo zwischen Bauerntopf und Müsli auftaucht, geradezu gesund:
Allerdings liegt das nicht an der guten Milch und den Nüssen. Es liegt daran, dass die “Bild am Sonntag” völlig unterschiedliche Bezugsgrößen verwendet hat: Während sich der Zuckergehalt bei der Marmelade auf das ganze Glas bezieht, wird er bei Nutella nur für einen einzigen Esslöffel angegeben. Auf die gleiche Menge wie die Marmelade (350 Gramm) hochgerechnet, enthielte Nutella 65,3 Würfel Zucker, auf ein normales Nutella-Glas (450 Gramm) bezogen stolze 84. Damit wäre der bei “Bild” sonst so populäre Brotaufstrich mit Abstand das Produkt mit dem höchsten Zuckergehalt.
Überhaupt hat sich “Bild am Sonntag” große Mühe gegeben, die verschiedenen Produkte für den Leser möglichst schlecht vergleichbar zu gestalten: Da trifft “ein Glas Fanta” (0,25 Liter, 8 Würfel Zucker) auf eine “halbe Flasche Coca-Cola” (0,5 Liter, 17,7 Würfel) und “eine Flasche BioZisch von Voelkela Zitrone” (0,33 Liter, 9,3 Würfel), “ein Riegel Yogurette” (12,5 Gramm, 2,3 Würfel Zucker) auf “eine halbe Tüte Haribo Goldbären” (keine genauere Mengenangabe, 15,2 Würfel) und “ein Glas Apfelkompott von Spreewaldhof” (360 Gramm, 20,52 Würfel) und bei den Frühstücksflocken werden mal Portionen von 30, mal von 40 Gramm herangezogen.
Wenn Sie demnächst also im Freibad sitzen und eine Mutter beobachten, die ihrem Kind die Wassermelone (“133 Würfel Zucker”) aus der Hand schlägt und stattdessen ein Glas Nutella reicht, wissen Sie, woran das liegen könnte.