“NZZ” zieht blank

Jetzt hat auch die Schweiz ihren eigenen Sommerloch-Twitter-Porno-Skandal. Die “Neue Zürcher Zeitung” berichtete heute Morgen über …

Nach “Recherchen der NZZ”, heißt es dort, mache eine Sekretärin des Bundeshauses in ihrem Büro regelmäßig Nacktfotos von sich und veröffentliche diese auf ihrem Twitter-Profil.

Dass diese Bilder früher oder später jemand sehen könnte, mit dem sie beruflich zu tun hat, ist ihr bewusst. «Das Thema beschäftigt mich ständig», sagt die Frau, der auf Twitter über 11 000 Nutzer folgen, auf Anfrage. Da die Aufnahmen jedoch Teil ihres Privatlebens seien, sehe sie keinen Interessenkonflikt mit ihrer beruflichen Funktion.

Ob sie damit falschliegt, konnte die “NZZ” nicht sagen. Und auch sonst war sich die Zeitung offensichtlich nicht sicher, was sie der Frau nun eigentlich vorwerfen soll. Sie schreibt lediglich, dass “der Sachverhalt” nicht “ganz so einfach” sei — “immerhin sind auf den Bildern die Büroräumlichkeiten erkennbar”.

Das Eidgenössische Personalamt (EPA) wollte sich gegenüber der Zeitung nicht dazu äußern, weil jede Verwaltungseinheit die Regeln im Umgang mit den Sozialen Medien selbständig umsetze.

Das EPA verwies jedoch auf den Verhaltenskodex der Bundesverwaltung, der vorsieht, dass Angestellte auch im Privatleben darauf achten sollten, den guten Ruf und das Ansehen des Bundes nicht zu beeinträchtigen. Ob dies durch Nacktaufnahmen am Arbeitsplatz geschieht, ist eine Interpretationssache.

Ein von der “NZZ” zitierter Arbeitsrechtler hegt jedoch starke Zweifel daran, dass die Frau mit einer Kündigung rechnen muss:

«Es sei denn, der Arbeitgeber stuft die Tätigkeit als Sicherheitsrisiko ein» (…). Dies könnte der Fall sein, wenn der Arbeitgeber zum Schluss kommt, die Angestellte könnte durch die Bilder erpressbar werden.

Die Schweizer Boulevardmedien jedenfalls fanden die Sache auch so skandalös genug und sprangen eifrig mit auf. Zum Beispiel die Online-Ausgabe des Gratisblatts “20 Minuten”:

Dass die Fotos “während ihrer Arbeit” veröffentlicht wurden, hatte die “NZZ” übrigens nie behauptet.

Und weil das Blatt auch weder den richtigen noch den Twitter-Namen noch sonst irgendwelche persönlichen Informationen der Sekretärin verraten hatte, begann sogleich die Jagd nach ihrer Identität — und natürlich: nach ihren Fotos.

Kleine Auswahl aus den Kommentaren bei “20min.ch”:

Auch die Journalisten wollten unbedingt mehr wissen, darum bat “20 Minuten” die Leser sogar um sachdienliche Hinweise:

Die “NZZ” versuchte zwar noch, die von ihr ausgelösten Wogen zu glätten…

… doch der Zwischenruf verhallte im tosenden Sturm der Sekretärinnenjäger.

Kurze Zeit später tauchten dann auch die ersten (halbherzig verpixelten) Fotos auf. Der Schweizer “Blick” zeigt sie online, inklusive abgekürztem Namen der Frau:

(Unkenntlichmachung von uns.)

Auch 20min.ch konnte nun endlich verkünden:

… und den Lesern in einer Klickstrecke die lang ersehnten Nacktfotos zeigen.

Inzwischen hat der “Skandal” einen eigenen Namen (natürlich: “Selfiegate”), der Account ist gelöscht, die Identität der “Porno-Sekretärin” weitestgehend bekannt, die ersten Politiker fordern die Kündigung der Dame und Journalisten wie Leser machen sich weiterhin empört aber sabbernd über die Fotos her. Und uns bleibt nur der Verweis auf den Schweizer Presserat, der mal geschrieben hat:

Auch Amtspersonen haben ein Recht darauf, dass ihre Privatsphäre respektiert wird. Wenn Medien darüber berichten, dass von einer solchen Personen Sexbilder im Internet abgerufen werden können, befriedigt das allenfalls die Neugier des Publikums. Ein schützenswertes öffentliches Interesse an solchen Informationen gibt es in der Regel nicht – selbst dann nicht, wenn die Amtsperson eine hohe Stellung hat oder prominent ist.

Mit Dank an Flavio F.

Filterblasen, Allan Nairn, Tatort

1. “Statistik: Wo verkauft sich Bild am besten – wo am schlechtesten?”
(meedia.de, Jens Schröder)
Am besten verkauft sich “Bild” nach einer “Meedia”-Auswertung in den Städten Halle, Frankfurt und Neumünster sowie in den Landkreisen Stormarn, Leipzig und Pinneberg. Am schlechtesten in den Städten Berlin, Bonn und Köln sowie in den Landkreisen Märkisch-Oderland, Tübingen und Oberhavel.

2. “‘Dieses Recht ist völlig verrückt'”
(nzz.ch, Stefan Betschon)
Bezüglich des durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geschaffenen Rechts auf Vergessenwerden hat Google bisher “mehr als 91 000 Anträge auf die Entfernung von insgesamt 328 000 Verweisen auf Web-Seiten (URL) erhalten. Am meisten Anträge kamen aus Frankreich (17,500 Anträge mit 58,000 URL), Deutschland (16,500, 57,000 URLs) und Grossbritannien (12,000, 44,000). Mit Bezug auf die URL wurden mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Löschanträge ausgeführt, die entsprechenden Suchanfragen führen nun bei Google ins Leere.” Siehe dazu auch “Wikipedia link to be hidden in Google under ‘right to be forgotten’ law” (theguardian.com, Juliette Garside, englisch).

3. “Israel, Gaza, Krieg & Daten – Die Kunst, Propaganda zu personalisieren”
(de.globalvoicesonline.org, Gilad Lotan)
Eine Übersetzung des Texts “Israel, Gaza, War & Data” (medium.com, englisch), in dem Gilad Lotan über Propaganda und Filterblasen schreibt.

4. “Spy Agency Stole Scoop From Media Outlet And Handed It To The AP”
(huffingtonpost.com, Ryan Grim, englisch)
Die Exklusivität der Story “Barack Obama’s Secret Terrorist-Tracking System, by the Numbers” (firstlook.org/theintercept) wird von der US-Regierung hintertrieben. “The government’s decision to spoil a story on the topic of national security is especially unusual, given that it has a significant interest in earning the trust of national security reporters so that it can make its case that certain information should remain private.”

5. “Dürfen wir vorstellen: der Journalist, der Kriegsverbrecher vernichtet”
(vice.com, Max Metzger, englisch)
Max Metzger spricht mit Investigativjournalist Allan Nairn: “Oftmals besteht die Ironie darin, dass die Leute, die Nairn anprangert, ihn nicht töten oder foltern können, denn er ist US-Staatsbürger—das würde die amerikanische Förderung und Unterstützung gefährden.”

6. “‘Eine Leiche ist ausreichend'”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Susanne Schneider und Alexandros Stefanidis)
Ein Interview mit fünf “Tatort”-Kommissaren. Klaus J. Behrendt: “Wenn wir die Polizeiarbeit eins zu eins abbilden müssten, würden wir von den 90 Filmminuten etwa 70 oder 80 im Büro verbringen, in den Computer glotzen oder Akten lesen.”

Bild, dpa  

Angehörige sollen Fotografen verprügelt haben

In Freiburg ist vor zwei Wochen die Leiche eines achtjährigen Jungen gefunden worden. Die Ermittler gehen von einem Verbrechen aus.

Das Medieninteresse an dem Fall ist so enorm, dass das Ordnungsamt vor der Beerdigung des Kindes eine Verfügung verhängen musste, um Fotos und Filmaufnahmen während der Trauerfeier zu verhindern. Der Friedhof wurde so gut es ging abgeschirmt, Kameraleute mussten draußen bleiben.

Einige Journalisten warteten jedoch, bis die Beisetzung vorbei war, gingen auf den Friedhof und knipsten dann.

“Bild” druckte in der Stuttgarter Ausgabe ein Foto, auf dem (aus einiger Entfernung) zu sehen ist, wie das Grab des Jungen zugeschaufelt wird. Online ist außerdem ein riesiges Foto erschienen, auf dem man die Trauerkränze und das Grabkreuz sieht.

Wie die “Stuttgarter Nachrichten” berichten, hat noch ein weiterer Journalist auf dem Friedhof fotografiert — und ist daraufhin von Angehörigen des Jungen krankenhausreif geprügelt worden.

Familienangehörige des ermordeten Achtjährigen haben einen Pressefotografen zusammengeschlagen, weil er das Grab des Jungen fotografiert hat. Das Opfer erlitt massive Gesichtsverletzungen und musste stationär in einem Krankenhaus behandelt werden. Das bestätigte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Freiburg (…).

Der Fotograf habe mehrere Stunden nach der Beerdigung Fotos vom Grab des Jungen gemacht, sich damit aber “rein rechtlich” nichts zu Schulden kommen lassen, zitiert die Zeitung eine Polizeisprecherin.

Als er sich weigerte, den Angehörigen die Speicherkarte zu geben, soll ein Familienmitglied

ausgerastet sein und derart brutal auf den Mann eingeprügelt haben, dass dieser einen Kiefer- und einen Augenhöhlenbruch erlitt.

Weil dem Fotografen zudem die Speicherkarte abgenommen worden sei, ermittle die Staatsanwaltschaft jetzt gegen zwei Angehörige wegen Körperverletzung und räuberischen Diebstahls.

Weder die Staatsanwaltschaft noch die Polizei hatten den Fall öffentlich gemacht. „Auf ausdrücklichen Wunsch des Opfers“, wie es heißt.

Nach unseren Informationen war der Fotograf im Auftrag der dpa unterwegs. Die Agentur wollte sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht zu der Sache äußern.

Karl Dall, Native Advertising, Gutmenschen

1. “Mitten im Propaganda-Krieg – ohne es zu wissen”
(heute.de, Video, 3:33 Minuten)
Manipulierte Videos und verfälschte Meldungen im Propagandakrieg: “Wenn die Story gut ist und Emotionen schürt, trägt sie weit.”

2. “Vermitteln deutsche Medien ein extrem einseitiges, negatives Israel-Bild?”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier zweifelt daran, dass “kein anderes Land der Welt” in deutschen Medien so oft und scharf kritisiert werde wie Israel – so hatte es Stern.de mit Bezug auf eine noch nicht veröffentliche Studie dargestellt.

3. “Ermittlungen gegen Karl Dall beendet”
(handelsblatt.com/AFP)
Erhebt die Staatsanwaltschaft Zürich Anklage gegen Karl Dall, wie “Bild” berichtet? “Die entsprechende Meldung der „Bild“-Zeitung vom Montag sei ‘nicht korrekt’, sagte die Sprecherin der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Corinne Bouvard, am Montag der Nachrichtenagentur AFP. Es sei noch keine formelle Entscheidung gefallen.”

4. “Männer gestehen sich ihre sanfte Seite nicht ein”
(planet-interview.de, Jakob Buhre und Lovis-Marie Trummer)
Matthias Reim spricht über die Herzkatheter-Untersuchung, aus der “Bild” eine “heimliche Herz-OP” (“sechsstündiger Eingriff am Herzen”) machte (BILDblog berichtete).

5. “Politische Korrektheit: Wider den Aufstand der Gutmenschen”
(novo-argumente.com, Günter Ropohl)
Ein “Diktat eines kleinbürgerlichen Moralismus” durch politisch korrekte Sprache fürchtet Technikphilosoph Günter Ropohl in einem Beitrag zur Debatte über sogenannte Gutmenschen: “Natürlich möchten wir alle, dass die Welt gut wäre. Wo sie es nicht ist, müssen alle mit persönlichen und politischen Anstrengungen daran arbeiten, sie besser zu machen. Aber es hilft nicht, sie bloß gut zu reden. In der eskapistischen Version ist solche Moralrhetorik bestenfalls Gesinnungspflege zur Beruhigung des eigenen Gewissens, in der kategorischen Form kann sie schlimmstenfalls in Tugendterror ausarten. Daher rühren die Vorbehalte gegen die Gutmenschen, nicht daher, dass sie linke Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verträten. Gutmenschen sind nicht ‘links’, sie sind Moralisten.” Siehe dazu auch “Linke Heuchler” (faz.net, Reinhard Mohr).

6. “Last Week Tonight with John Oliver: Native Advertising (HBO)”
(youtube.com, Video, 11:22 Minuten, englisch)

Der doch nicht letzte Bulle

Bis vergangenen Sonntag war nicht klar, wie es mit der Sat.1-Serie “Der letzte Bulle” weitergehen würde. Doch dann verkündete die “Bild am Sonntag” exklusiv:

Dort heißt es:

“Das war es jetzt für mich”, bestätigte Henning Baum (…) gegenüber BILD am SONNTAG. “Ich wollte eigentlich schon mit der vierten Staffel aufhören.”

Die Nachricht vom Serien-Aus verbreitete sich schnell — doch kurz darauf meldete sich der “letzte Bulle” persönlich zu Wort:

Sein Management bekräftigt auf Anfrage: Das Zitat in der “BamS” sei frei erfunden. Henning Baum habe dem Blatt zwar ein Interview gegeben, doch dieses Statement sei definitiv nicht dabei gewesen.

Auch Sat.1 teilte uns mit:

Wir sind nach wie vor in Gesprächen mit Henning Baum. Wenn es eine Stoff-Idee gibt, die uns und Henning gleichermaßen gefällt, dann kann es durchaus noch mal weitergehen.

Und schwupps:

Jetzt macht der „Mick Brisgau“-Darsteller auf seiner Facebook-Seite den Fans der Serie wieder Hoffnung!

„Es gibt aktuell keine konkreten Pläne zum ,Bullen‘ oder andren Projekten“, ließ der dort am Sonntagabend verlauten.

Den Satz davor haben sie natürlich weggelassen.

Mit Dank an Lisa H.

Entfolgungswahn um Homer Simpson

Die Nachricht des Tages kommt von der Agentur AFP und lautet vollständig so:

Kanadas Premier Harper folgt Homer Simpson nicht länger auf Twitter
Politiker hat selbst fast eine halbe Million Follower

Montréal (AFP) – Kanadas Premierminister Stephen Harper folgt dem Zeichentrickstar Homer Simpson nicht länger auf Twitter. Harper meldete sich am Sonntag als Follower des Oberhauptes der Comic-Familie ab. Kurz zuvor war ein Artikel auf der Website des Fernsehsenders CBC erschienen, der die Interessen des konservativen Politikers auf Twitter aufzeigte. Demnach folgt Harper 223 anderen Twitter-Nutzern. Er selbst ist mit fast einer halben Million Followern der beliebteste “zwitschernde” Parteichef in Kanada.

Ist das nicht interessant?

Doch, ist es:

“Focus Online” informierte seine Leser noch in der Nacht über diese aktuelle Entwicklung:

Ein Twitter-Follower weniger - Kanadas Premier Harper folgt Homer Simpson nicht mehr

Auch der “Donaukurier” staunte und berichtete:

Kanadas Premier kein Follower mehr von Homer Simpson

Die österreichische Nachrichtenagentur APA entschied sich, dass das Thema in Österreich auch nicht weniger relevant ist als in Deutschland, und reichte die Meldung an ihre eigenen Abonnenten durch.

Nun könnte man all das an sich schon als Ausweis eines größeren Irrsinns sehen. Die Meldungen sind aber nicht nur bekloppt, sondern auch noch falsch. Jedenfalls folgt @PMHarper aktuell durchaus @HomerJSimpson. (Es gab da sogar vor eineinhalb Jahren mal einen Tweetwechsel zwischen den beiden.)

Angesichts der Gefahr, dass da eine Falschmeldung die Runde macht und Menschen in aller Welt nun von ihren Medien informiert werden, dass der Parteichef-Zwitscherkönig Kanadas nicht mehr Homer Simpson folgt, obwohl er Homer Simpson folgt, haben wir natürlich sofort bei der Agentur AFP nachgefragt, was da los ist.

Daniel Jahn, der Chefredakteur von AFP in Deutschland, antwortet:  

Unsere Meldung über Stephen Harper und Homer Simpson basiert auf einer Meldung des AFP-Büros in Montreal. Wir versuchen derzeit, durch Kontaktaufnahme mit den dortigen Kollegen herauszufinden, wie die Meldung zustande gekommen ist. Dies ist wegen des Zeitunterschieds leider nicht auf die Schnelle möglich, das Büro ist derzeit nicht besetzt. Es ist nicht auszuschließen, dass Harper zwischenzeitlich Simpson “entfolgt” ist, um ihm wenig später wieder zu folgen. Wenn ich Näheres weiß, melde ich mich wieder bei Ihnen.

Wir werden eine eventuelle Antwort hier natürlich zeitnah weiterreichen, auch wenn unsere Kapazitäten — anders als offenbar die von AFP — vermutlich nicht ausreichen, jeden möglichen Statuswechsel im Twitter-Verhältnis zwischen kanadischen Politikern und amerikanischen Comicfiguren bekannt zu geben.

Die andere Frage, die wir AFP gestellt hatten, blieb übrigens unbeantwortet: Welchen Nachrichtenwert die Meldung erfüllt. Ist vielleicht auch eine aufwändigere Recherche.

PS: Unter dem “Focus Online”-Artikel findet sich der folgende Leserkommentar:

Mit Dank an Boris R.!

Nachtrag, 19:00 Uhr. Der “Donaukurier” hat sich korrigiert und meldet nun: “Kanadas Premier ist nach wie vor Follower von Homer Simpson”.

Nachtrag, 21:45 Uhr. AFP hat die Meldung zurückgezogen:

Montréal (AFP) – Der kanadische Regierungschef Stephen Harper hat nicht aufgehört, dem Zeichentrickstar Homer Simpson auf Twitter zu folgen. AFP hatte für die Meldung irrtümlich den französischsprachigen Twitter-Account von Harper eingesehen, der sich aber von seinem englischen Account stark unterscheidet. Im französischen Account ist Harper der Cartoonfigur nie gefolgt, im englischen Account folgt er ihr ohne Unterbrechungen weiterhin.

Nachtrag, 5. August. Der verwirrende Stand der Dinge auf “Zeit Online”:

Verfassungsschutz, Israelkritik, NDR

1. “Geschreddert, vergessen, geschlossen”
(journalist.de, Michael Kraske)
Im Bundesamt für Verfassungsschutz wurden “zwischen dem 4. November 2011 und dem 4. Juli 2012 insgesamt 310 Akten über Rechtsextremisten geschreddert, bevor ein genereller Vernichtungsstopp erging”. Michael Kraske geht der Frage nach, warum die Vertuschungsaktionen des Verfassungsschutzes rund um die NSU in den Medien mehrheitlich versandet sind: “Tageszeitungen haben immer wieder Beteuerungen von Verfassungsschützern verbreitet: kein NSU-Bezug bei vernichteten Akten, fast alles rekonstruierbar. Dass es dann doch relevante Bezüge gab und etliche Akten nicht rekonstruierbar waren, ging unter. Da Medien meistens anlassbezogen berichten, fällt es häufig schwer, Prozesse abzubilden und Fehler zu korrigieren.”

2. “Ein Leben für diese Bilder”
(zeit.de, Bastian Berbner)
Bastian Berbner schreibt über den Tod von Molhem Barakat, der auch dann noch als Kriegsfotograf in Syrien arbeitete, als die ausländischen Reporter längst das Land verlassen hatten: “Niemand wird zu diesem Job gezwungen. Aber in einem Land, in dem es kaum noch einheimische Arbeitgeber gibt, herrschen dennoch Zwänge. Molhem kann das Geld gut gebrauchen. Sein Vater ist arbeitslos, sein Bruder kämpft für die Rebellen. Der Teenager ernährt jetzt seine ganze Familie.”

3. “Die Mär von der verbotenen Israelkritik”
(stern.de, Mareike Enghusen)
Mareike Enghusen stellt vorläufige Ergebnisse einer Studie über die deutsche Berichterstattung zur Nahostpolitik vor: “Kein anderes Land der Welt wird in deutschen Medien so oft und scharf kritisiert wie Israel.”

4. “Pförtner des NDR beweist größere News Kompetenz als Tagesschau Redaktion”
(martin-lejeune.tumblr.com)
Journalist Martin Leujeune, der derzeit bei einer Familie im Gazastreifen wohnt, beklagt, dass er vom NDR ignoriert wird: “Der einzige, der sich im NDR für meine Schilderung und Erlebnisse interessierte, war der Pförtner, bei dem ich landete als ich um ein Uhr Nachts die Nummer der Zentrale wählte.”

5. “Ukraine-Reporter: ‘Wir sind Detektive'”
(ostpol.de, Sonja Volkmann-Schluck und Stefan Günther)
Fünf Korrespondenten schätzen die russischen und ukrainischen Medien ein und erzählen, wie sie arbeiten.

6. “Tote im SPIEGEL-BILD”
(lto.de, Markus Kompa)
Die rechtliche Seite der Fotos der mit dem Flug MH017 zu Tode gekommenen Menschen, die der “Spiegel” auf seiner Titelseite rund um die Schlagzeile “Stoppt Putin jetzt!” veröffentlicht hatte.

Die Grenzen der Anreißerei

Wer “Bild-Plus” lesen will, muss zahlen. Wer nicht zahlt, bekommt nur kurze Anreißertexte zu lesen, die meistens ungefähr so klingen:

Da bleibt jeder Mutter das Herz stehen: Melanie E. (23) musste mitansehen, wie der Kinderwagen mit ihrem Baby von einem Auto mitgerissen wurde! Lesen Sie hier die ganze Geschichte!

Ein paar Andeutungen als Köder, den Rest gibt es erst hinter der Paywall. (Mutter und Kind geht es übrigens gut.)

Das ist kein neues Prinzip, aber seitdem der “Heftig”-Wahn um sich greift, sind die Teaser noch eine Spur dümmlicher plakativer geworden (übrigens nicht nur bei “Bild-Plus”). In bestimmten Fällen könnte sich das aber ändern.

Vor zwei Wochen ist der ehemalige Landtagsabgeordnete Daniel Mack, dem bei “Bild-Plus” ein “Schwarzfahr-Skandal” vorgeworfen wurde, gegen die Berichterstattung vorgegangen — und zwar ausdrücklich gegen den Artikel und den Anreißer.

Letzterer las sich so:

Grünen-Politiker soll Bahn-Ticket gefälscht haben

Peinlich, peinlich, Herr Politiker! Kontrolleure erwischten den ehemaligen Grünen-Landtagsabgeordneten Daniel Mack (27) als Schwarzfahrer. Doch dabei bleibt’s nicht – jetzt ermittelt die Frankfurter Polizei gegen den Kommunikationsberater.

Im Antrag auf die Verfügung kritisiert Macks Anwalt Ralf Höcker vor allem, dass die Redaktion im Anreißer nur die Vorwürfe, aber keinen der entlastenden Umstände genannte habe. Das Landgericht Köln folgte dem Antrag und erließ eine einstweilige Verfügung gegen beide Fassungen. “Bild” hat sie inzwischen gelöscht.

Laut Höcker hat damit zum ersten Mal ein Gericht anerkannt, …

dass für die Leser, die keine zahlenden Kunden sind, der Kurztext für sich allein steht. Das heißt, dass schon die Anreißer ausgewogen formuliert sein müssen und nicht mit dem Argument, im Haupttext werde ja differenziert, unzulässig zugespitzt werden dürfen.

Nachtrag, 5. März 2015: Inzwischen wurde das Verfahren gegen Daniel Mack nach § 153a StPO gegen Zahlung von 1500 Euro eingestellt. Doch darüber hat die “Bild”-Zeitung natürlich nicht mehr berichtet, “obwohl sie nachweislich seit Langem davon weiß”, wie uns Ralf Höcker mitteilte.

Korrektur, 6. März 2015: “Bild” hatte gegen die einstweilige Verfügung keinen Widerspruch eingelegt, wie wir zunächst geschrieben hatten, sondern “Herrn Mack gleich zur Erhebung der Hauptsacheklage aufgefordert”, erklärte uns Macks Anwalt. “Wir haben die Klage für Herrn Mack eingereicht, und das Landgericht Köln bestätigte mit Urteil vom 25. Februar 2015 (Az: 28 O 402/14) das bereits per einstweiliger Verfügung ausgesprochene Verbot.”

Bild  

Mach’s noch einmal, Vrabec

Zum Auftakt der 2. Bundesliga ist am Freitag in “Bild Hamburg” ein großes “Start-Interview” mit dem Trainer von St. Pauli erschienen:

Interessanterweise decken sich die Antworten aber ziemlich genau mit dem, was Vrabec schon am Tag zuvor auf einer Pressekonferenz gesagt hatte (Vergleich).

Hat der Trainer also alles zweimal erzählt? Einmal für alle und dann noch einmal, ganz persönlich nur für “Bild”?

Nein. Der Pressesprecher des Vereins erklärte uns auf Anfrage, dass “Bild” kein Extra-Interview bekommen habe. “Bild”-Reporter Thomas Dierenga tut einfach nur so, als hätte er alleine mit dem Trainer gesprochen. Auch die Fragen der anderen Journalisten gibt er als die seinen aus. So ist “Bild” vor einigen Jahren auch schon mal an ein “Exklusiv”-“Interview” mit Ronaldo gekommen.

Im “Interview” mit Vrabec findet sich nur eine Aussage, die nicht in der PK vorgekommen ist. Laut Pressesprecher Christoph Pieper stand der Trainer nach der Konferenz noch kurz mit einigen Journalisten zusammen, vielleicht sei die Aussage dort gefallen. Möglicherweise habe der Reporter sie auch in einem anderen Interview oder während des Trainigslagers aufgeschnappt. Klar ist jedenfalls: Das Interview, das “Bild” vorgibt geführt zu haben, gab es nicht.

So etwas komme durchaus vor, sagt Pieper, aber das sei kein “Bild”-spezifisches Phänomen. Auch andere Medien würden Pressekonferenzen als eigene Interviews verkaufen, übrigens nicht nur im Sportbereich. Für ihn sei aber der Inhalt entscheidender, nicht die Form der Präsentation. Weil das vermeintliche Interview “inhaltlich so weit okay” gewesen sei, sei die Sache auch “kein extremer Aufreger” für ihn. Zumindest in seiner Funktion als Pressesprecher. Er persönlich sehe diese Praxis aber schon problematisch, weil “dem Leser dort eine Form von Exklusivität vorgegaukelt wird, die es so nie gegeben hat.”

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Die “Selbstkritik” der “Bild am Sonntag”

Heute hat die “Bild am Sonntag” auf zwei Doppelseiten Reaktionen zum Hass-Kommentar von Nicolaus Fest abgedruckt. Chefredakteurin Marion Horn schreibt dazu:

am vergangenen Sonntag haben wir an dieser Stelle einen kritischen Kommentar gedruckt. (…) Noch nie bekamen wir so viele Leserbriefe. Bestürzte, wütende, zustimmende. Heute drucken wir eine Auswahl, die die Reaktionen ausgewogen abbilden soll.

Sie bedauert erneut, dass der “Eindruck entstanden” sei, dass sich die “BamS” gegen den Islam stelle. “Das ist nicht so!”

Wir – und dabei spreche ich für die gesamte Redaktion von BILD am SONNTAG – achten und respektieren jede Religion.

Wenn das auch für Nicolaus Fest gilt — wieso hat er sich dann nicht einfach selbst entschuldigt? Sein Kommentar hat schließlich nicht bloß den “Eindruck” erweckt, islamfeindlich zu sein, er war es. Ganz einfach.

Stattdessen versucht es jetzt die Chefredakteurin mit einer nachträglichen Verklärung “Einordnung”:

Es ist schlecht, wenn man einen Kommentar hinterher einordnen muss. Ich versuche es trotzdem: Dem Autor ging es darum, Verbrechen zu kritisieren, die im Namen des Islam begangen werden, zum Beispiel gegen Frauen und Schwule. Und er plädiert dafür, dies beim Thema Einwanderung und Asyl zu berücksichtigen.

Es dürfte schwierig werden, eine noch harmlosere Interpretation von Fests Worten zu finden.

Und was natürlich nicht fehlen darf: Meinungsfreiheit!

Diese Meinung muss man nicht teilen. Es findet aus gutem Grund kein Gewissens-Check am Zoll statt!

Aber in unserem Verlag ist es möglich, unterschiedliche Meinungen zu haben. Deshalb habe ich mich als Chefredakteurin für den Abdruck entschieden. Wohl eine Fehleinschätzung, denn wir haben mit diesem Kommentar viele Menschen verletzt.

Das kann man wohl sagen.

Mittlerweile bin ich dankbar für die heftigen Reaktionen, die wir ausgelöst haben. In der Öffentlichkeit, in Politik, Verlag, in unserer Redaktion, in unseren Familien. Lange ist über dieses wichtige Thema nicht mehr so offen und kontrovers diskutiert worden.

Vielleicht sorgt unser Kommentar am Ende dafür, dass Missverständnisse ausgeräumt werden und wir lernen, eine offene Debattenkultur zu entwickeln. Das muss unsere demokratische Gesellschaft aushalten, das muss BILD am SONNTAG aushalten.

Wenn wir das alles richtig verstehen, ist die “Bild am Sonntag” nicht islamfeindlich, aber für den islamfeindlichen Kommentar will sich trotzdem niemand entschuldigen, weil erstens Meinungsfreiheit und zweitens wollte er damit ja auch eigentlich etwas ganz anderes sagen, als er gesagt hat. Und im Grunde sollten wir Nicolaus Fest auch dankbar sein, weil dieses “wichtige Thema” seinetwegen so “kontrovers” diskutiert wird. Na schönen Dank.

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