Rolling Stone, Apple Watch, BFM TV

1. “Rolling Stone and UVA: The Columbia University Graduate School of Journalism Report”
(rollingstone.com, englisch)
Die Zeitschrift “Rolling Stone” zieht einen Artikel zurück und beauftragt drei Mitarbeiter der “Columbia Journalism Review”, einen Bericht über die falschen eigenen Recherchen zu verfassen. In der Einleitung zum Bericht schreibt Will Dana: “This report was painful reading, to me personally and to all of us at Rolling Stone. It is also, in its own way, a fascinating document ­— a piece of journalism, as Coll describes it, about a failure of journalism.”

2. “‘Rolling Stone’: Bittere Analyse des Versagens”
(medienblog.blog.nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler schreibt zum Bericht: “Der Artikel sei nicht wegen mangelnder redaktioneller Ressourcen misslungen, hält der Expertenbericht fest. Vielmehr hätten mehrere ‘Rolling Stone’-Mitarbeiter mit Jahrzehnten kollektiver Berufserfahrung dabei versagt, die richtigen Fragen zu stellen. Kritische Anmerkungen, die eine Kollegin der Abteilung für Faktenüberprüfung gemacht habe, seien ignoriert worden.”

3. “Falschmeldung: Apple Watch und das Schweizer Patent”
(steigerlegal.ch)
Die Meldung, Apple könne die Apple Watch in der Schweiz nicht verkaufen, sei falsch, stellt Martin Steiger fest: “In der Schweiz besteht – soweit ersichtlich – bislang kein Verkaufsverbot für die neue Apple Watch, schon gar nicht wegen einem Patent!”

4. “Harte Kritik an Berichterstattung”
(orf.at)
Betroffene der Geiselnahme in einem Supermarkt im Januar in Paris klagen gegen den TV-Sender BFM TV: “BFMTV brachte damals noch während des laufenden Anti-Terror-Einsatzes Telefoninterviews, sowohl mit Coulibaly als auch mit dem ‘Charlie Hebdo’-Attentäter Cherif Kouachi, in denen sie ihre Motive und Verbindungen zu den internationalen Terrorvereinigungen Al-Kaida und IS bestätigten. (…) Der Anwalt der Kläger sagte der Nachrichtenagentur AFP nun, das Leben seiner Mandanten wäre gefährdet gewesen, ‘wenn Coulibaly in Echtzeit von der von BFMTV verbreiteten Nachricht erfahren hätte’.”

5. “Extremismus der Erregung”
(zeit.de, Bernhard Pörksen)
Eine “elementare Ungewissheit bei gleichzeitig gefordertem Sofort-Sendezwang” habe nach dem Absturz von Germanwings-Flug 9525 zu einem vierfachen Informationsvakuum geführt, analysiert Bernhard Pörksen.

6. “Das Flugzeugunglück”
(taz.de, Bernd Gieseking, 1. April)

Rutesheim, Montabaur, Griechenland

1. “Gefühlter Journalismus”
(wolfgangmichal.de)
Eine “Emotionalisierungswelle” erfasse den Journalismus, schreibt Wolfgang Michal. Wichtig sei es dem gefühlten Journalismus, den Leser und Zuschauer emotional zu beschäftigen und in tiefer Besorgnis zu wiegen. “Scheitert der Euro? Breitet sich Ebola aus? Gibt es Krieg in Europa? Michael Moores auf die USA gemünzte These, die Aufgabe heutiger Massenmedien sei es, die Gesellschaft in ständiger Angst zu halten, wird hier und heute verwirklicht. Jedes Unglück, jedes Attentat, jedes Unwetter, jede Terrordrohung wird zur existenziellen Verunsicherung, der man nur mit mehr Sicherheit und ständiger Selbstprüfung entkommen kann.”

2. “Rutesheim sorgt bundesweit für Aufsehen”
(leonberger-kreiszeitung.de, Ulrike Otto)
Ulrike Otto besucht Petra und Kai Oberst in der Postagentur Rutesheim, in der “Bild” nicht mehr verkauft wird: “Die Berichterstattung über den Germanwings-Absturz, über Griechenland und vieles andere, der Eindruck, viele nehmen die Bild-Zeitung als feste Institution, als Macht-Medium einfach hin und finden sich damit ab. ‘Ist das die richtige Art des Journalismus?’, fragt Kai Oberst, der nicht glaubt, dass die Bild das Sprachrohr der Deutschen ist, zu dem sie sich selbst gern aufschwinge.” Siehe dazu auch “Wie weit…” (shopblogger.de, Björn Harste).

3. “Draufhalten: Medien in Montabaur”
(ndr.de, Video, 6:32 Minuten)
Nach dem Absturz von Germanwings-Flug 9525 versammeln sich in Montabaur internationale Medienteams.

4. “Germanwings: Ungefilterte Welt”
(persoenlich.com, René Zeyer)
Journalismus “filtert nicht mehr”, stellt René Zeyer fest: “Selbst wenn man das alte Kriterium anwendet, die Grösse einer News über Todesfälle ist proportional zur Entfernung des Lesers oder Zuschauers zum Tatort, wobei davon betroffene Staatsangehörige des Zielpublikums Extrapunkte geben, findet hier mal wieder Jämmerliches statt.”

5. “Die Sache mit dem Namen”
(medienwoche.ch, Rico Bandle)
Rico Bandle gibt zu bedenken, dass der Journalismus früher Namen und Adressen von Privatpersonen genannt hat: “Es ist ein interessantes Paradoxon: Je mehr die Leute freiwillig von ihrem Privatleben preisgeben, desto restriktiver sollen die Medien damit umgehen. Als wollte man die eigene Freizügigkeit kompensieren, indem man die Medien einzuschränken versucht.”

6. “Die andere Seite”
(journalist.de, Michalis Pantelouris)
Im Umgang der deutschen Medien mit Griechenland sieht Michalis Pantelouris drei Grundfehler: “Da ist erstens die Tatsache, dass Konfrontation spannender ist als Kooperation. Zweitens werden Zitate nicht daraufhin untersucht, was in ihnen steckt, sondern darauf, was man zugespitzt aus ihnen machen kann. Und drittens haben viele Medien das Problem, Fehler nicht eingestehen zu können oder zu wollen.”

Trauer, Traum, Prognosen

1. “Andreas L., aber Amedy Coulibaly”
(kleinerdrei.org, Hakan)
Der Umgang mit Namen im Fall Charlie Hebdo und im Fall von Flug 4U 9525.

2. “‘Trauer ist ja eigentlich still'”
(sueddeutsche.de, Video, 4:15 Minuten)
Heribert Prantl stellt im Umgang mit dem Absturz von Germanwings-Flug 9525 vier Regeln auf: “1. Man darf Trauernde nicht bedrängen, 2. Man darf Nachahmungstäter nicht publizistisch provozieren, 3. Man muss den Ermittlungsbehörden Zeit lassen, 4. Man darf jetzt nicht so tun, als würden psychische Leiden zum Massenmord prädestinieren.”

3. “Meine Mail von Freitag an Kai Diekmann”
(facebook.com, Andy Neumann)
Andy Neumann, der Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter im Bundeskriminalamt, schreibt an “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann.

4. “Ein verendeter Traum”
(kiwein.wordpress.com)
Eine Ex-Journalistin blickt “mit Scham, Zorn und Ratlosigkeit auf das, was sich mal Journalismus nannte”, zurück: “Das ist nicht der Journalismus, den ich mir vorstellte. Der, den ich mir ausmalte, als ich mit 14 nichts anderes als Journalistin werden wollte, war respektvoll im Umgang mit Toten, hintergründig, informativ, höflich, aber bestimmt, klar, ehrlich und sich selbst treu. Davon ist nichts übriggeblieben. Selbst Medien, die ich als seriös bezeichnen würde, sind auf den Zug aufgesprungen. Ich stehe sprachlos daneben, schaue mir das alles an und weiß nur eins: Ich will nie mehr zurück.”

5. “Das Internet ist so gut wie erledigt”
(tagesspiegel.de, Sebastian Leber)
Aussagen über die Zukunft des Internets: “Womöglich zeichnen sich echte Internetkenner am ehesten dadurch aus, dass sie wildes Prognostizieren einfach bleiben lassen und Vermutungen nicht als Gewissheiten verkaufen.”

6. “Gefährlicher Einsatz – Wenn Reporter über Krisen berichten”
(wdr.de, Video, 74:30 Minuten)

Quelle: Pizzabäcker

Die „Spurensuche“ läuft auf Hochtouren: Dutzende, vielleicht Hunderte Journalisten durchforsten gerade das private Umfeld von Andreas L., dem Co-Piloten, der unter Verdacht steht, die Germanwings-Maschine 4U9525 absichtlich zum Absturz gebracht zu haben, und versuchen vor allem, mit Menschen zu sprechen, die (fast) mal was ihm zu tun hatten.

Als erfahrene Katastrophenjournalisten sind die Leute von „Bild“ im Auftreiben solcher Zitategeber natürlich besonders talentiert, darum konnte die „Bild“-Zeitung zum Beispiel schon diesen Mann hier präsentieren:

Und diesen:

Und sie veröffentlichte ein Interview mit Frank Woiton, einem weiteren Piloten, der in den sozialen Netzwerken von einigen als Held gefeiert wird, weil er, als er zwei Tage nach dem Unglück freiwillig als Pilot einsprang, alle Passagiere vor dem Flug persönlich begrüßte und in einer Ansage versprach, dass er alles dafür tun werde, sie sicher ans Ziel zu bringen, und dass auch er eine Familie habe, die er abends wieder in die Arme schließen wolle. Ein Fluggast hatte sich via Facebook bei dem Piloten bedankt, darum wurde er ein bisschen berühmt und von “Bild” interviewt. Das Interview trägt die Überschrift:

Hö?

Dachte sich vermutlich auch Frank Woiton, der noch in der Nacht bei Facebook schrieb:

Derweil versuchen viele Journalisten fiebrig, auch mit Verwandten, Freunden und Kollegen des Co-Piloten Andreas L. zu sprechen, aber weil zurzeit offenbar die meisten von denen mit so albernen Dingen wie Trauern beschäftigt sind, ziehen viele Reporter durch den Heimatort des Co-Piloten und befragen halt den Pizzabäcker um die Ecke.

Im Ernst:

Dass sich [Andreas L. und seine Freundin] getrennt haben könnten, schließt auch Pizzabäcker Habib Hassani (53) nicht aus. Zu ihm kamen die beiden immer ein- bis zweimal die Woche. “Sie waren immer freundlich und nett und bestellten meistens das gleiche: Pizza mit Schinken, Brokkoli und Zwiebeln.” Doch in den Wochen vor dem Absturz sei fast nur noch Andreas L. zu ihm gekommen – aber auch das nur noch sehr selten.

Erschienen ist dieser Absatz in der „Rheinischen Post“ und auf dem dazugehörigen Internetportal „RP Online“.

Die RP-Leute waren aber nicht die einzigen, die es für eine gute Idee hielten, den Pizzabäcker als Informanten heranzuziehen: Inzwischen ist er sogar eine der am häufigsten zitierten Quellen, wenn es um den Beziehungsstatus und den psychischen Zustand des Co-Piloten Andreas L. geht.

Er wurde bereits von „Bild“ zitiert …

Habibalah Hassani (53), der die Pizzeria in Düsseldorf betreibt, die ganz in der Nähe [von Andreas L.s] Zweitwohnung liegt, sagt, er habe ihn öfter mit einer Freundin gesehen.

… vom „Berliner Kurier“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53) erinnert sich an L. als einen gut gelaunten, freundlichen Kunden. „Ich habe ihn manchmal zweimal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu.“

… vom „Stern“ …

Es ist eine ruhige Gegend mit Apotheke und Bäcker und der Pizzabude Da Paolo, 210 Meter entfernt von seiner Wohnung. Der Besitzer Habib Hassani hat [L.] oft bedient, machte ihm Pizza, immer mit Brokkoli, Schinken, Paprika, Zwiebeln, zum Mitnehmen. Zwei Stück. Eine für [L.] und eine für seine Freundin. Manchmal begleitete ihn die Freundin auch. Dunkelhaarig sei sie gewesen, kräftig und nett. Herr Hassani sagt: „Das war ein guter Junge. Manchmal hat er vom Fliegen erzählt. Hat gesagt: ‘Für mich scheint immer die Sonne – über den Wolken.’ Und dass er es liebt.“

… von der „Westdeutschen Zeitung“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53): “Ich habe ihn manchmal zweimal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu. Er war immer freundlich, gut gelaunt.” Die letzten zwei Monate sei er aber nicht mehr gekommen.

… von der „Hamburger Morgenpost“ und dem „Express“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53) erinnert sich an [L.] als einen freundlichen Kunden, der einen älteren Fiat fuhr. “Ich habe ihn manchmal zwei Mal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu.”

… von „Mail Online“ …

Habibalah Hassani, 53, who runs a pizza restaurant close to their flat said he had often seen them together. 
‘They were a very nice, friendly young couple. She was a polite and attractive woman. They would come in once maybe twice a week. ‘He used to tip well, he was very generous. He had told me about his trip to San Francisco. I hadn’t seen them for a couple of months before this happened.’ 

… von der „Mail on Sunday“, die es sogar schafft, die Wahl des Pizzabelags als Symptom einer angeblichen Kontrollsucht zu deuten …

His obsessive need to be in charge extended even to fast food. Habib Hassani, who runs a pizza restaurant near [L.]’s Dusseldorf home, said: ‘He was extremely particular about pizza toppings. He wasn’t interested in what was on the menu. It was often paprika, ham, onion and broccoli. He had to have it his way. He was compulsive about it.’

… von Telegraph.co.uk …

Local pizza shop owner Habibalah Hassani who knew [L.] refused to accept that he could have had a serious psychological condition […].

… von der „Financial Times“ …

Habib Hassani, owner of a pizza parlour close to [L.]’s home, was baffled as to why his regular customer might have taken such a step. “He was completely normal, always laughing, always nice,” he said.

… sowie von amerikanischen, kenianischen, ecuadorianischen, malaysischen, spanischen, neuseeländischen, indonesischen, französischen, honduranischen, estnischen, vietnamesischen, polnischen und unzähligen weiteren Medien.

Der „Financial Times“ sagte er übrigens noch:

“It’s impossible to believe he did this. But you can never know what’s happening inside someone’s head.”

Tja. Noch nicht mal als Pizzabäcker.

PS: Ziemlich genau eine Stunde bevor bei „RP Online“ die Aussagen des Pizzamanns erschienen waren, hatte RP-Chefredakteur Michael Bröcker „In eigener Sache“ geschrieben:

Glaubwürdigkeit bleibt gerade im Dauerfeuer der elektronischen Eilmeldungen das höchste Gut des Journalismus. Deshalb diskutieren wir bei jedem Foto, bei jeder Nachricht, bei jeder noch so kleinen Information: Kann das stimmen? Können wir das schon veröffentlichen? Trägt das Bild zum Verständnis des Unfassbaren bei oder ist es bloß voyeuristisch? Wir wägen ab, wir ringen mit uns. Eine tägliche Herkulesaufgabe. Sie gelingt sicher nicht immer.

In der Tat.

Mit Dank auch an Martin F., Christoph W., und S.!

Haltern, Montabaur, Crowdfunding

1. “Umgang der Medien mit Schülern und Angehörigen in Haltern”
(meistergedanke.de, Mika Baumeister)
Mika Baumeister schildert den Aufmarsch der Presse in Haltern am See – eine Schulklasse aus dem Ort starb beim Absturz von Germanwings-Flug 9525: “Geld für Interviews oder Aufzeichnungen der Gespräche in den ersten Stunden des Mittwochs wurden ebenfalls geboten. Das besthonorierte vor-Ort-Interview wäre wohl bei etwa 80€ dotiert gewesen, soweit ich weiß, gab es auch Einladungen zu Talkshows mit höheren Vergütungen. Diese Interviewanfragen gingen aber nicht immer an halbwegs reife Personen aus der Oberstufe, sondern auch an unschuldige Seelen aus den Klassen 5-7. Mit 10-13 Jahren alten Personen solche Deals zu machen, ist nicht mehr fragwürdig, sondern grenzt an krimineller Energie.”

2. “Dann gehen sie wieder”
(taz.de, Saskia Hödl)
Vor Ort in Montabaur war Saskia Hödl: “Die Herren in den Vierzigern sprechen so laut, dass es der ganze Raum mitbekommt. Man habe einer Kollegin vorgegaukelt, die Freundin des Copiloten hätte schon ausgepackt und hätte gesagt, der Ex habe einen kleinen Penis gehabt. Sie habe es kurz geglaubt. Lautes Gelächter.”

3. “4U9525 als Newsredakteur: Eine kaum zu ertragende Nachrichtenlage”
(kosmos.welt.de)
Die Nachricht über den Flugzeugabsturz in der Nachrichtenredaktion: “Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren.”

4. “Böhmermann überführt!! Der Videobeweis”
(krautreporter.de, Frederik Fischer)
Das #varoufake-Video in der Analyse von Videoforensikern.

5. “Social Media auf der nächsten Ebene – mein Langstecke-Crowdfunding-Fazit”
(dirkvongehlen.de)
Dirk Von Gehlen glaubt, die grosse Zeit von Crowdfunding komme erst: “Als die heute großen Social-Media-Plattformen aufkamen, wurden die ersten Nutzer verlacht oder zumindest naserümpfend angesehen. Ähnlich verhält es sich gerade mit dem allgemeinen Blick auf das Phänomen ‘Crowdfunding’, es wird als Randthema wahrgenommen. Als eine Bezahlmethode für diejenigen, die es im klassischen Betrieb nicht schaffen. Ich glaube, dass dies ein Trugschluss ist. Die Vorstellung von Crowdfunding wird sich in den nächsten Jahren radikal verändern.”

6. “Oje, wenn die Bild über ein Akademie-Gespräch schreibt”
(katharinagreve.de)

Bild  

Einzelhändler sagen Nein zu “Bild”

Vor drei Wochen haben wir hier ein Interview mit Winfried Buck veröffentlicht, der in seinem Hamburger Kiosk seit fünf Jahren keine “Bild”-Zeitung mehr verkauft.

Inzwischen gibt es noch mehr Verkaufsstellen, die sich dazu entschlossen haben, “Bild” aus dem Sortiment zu nehmen:

Eine Tankstelle in Bendorf (Rheinland-Pfalz):

Ein Zeitschriftenladen in Rutesheim (Baden-Württemberg):

Eine Tankstelle in Papenburg (Niedersachsen):

Und ein Supermarkt in Chemnitz:

Nachtrag, 31. März: Dieser Späti in Marburg ist fortan ebenfalls “Bild”-frei:

In diesem Laden in Stuttgart wird schon länger keine “Bild”-Zeitung verkauft:

Und dieser Kiosk in Hannover boykottiert “Bild” seit 2010:

Nachtrag, 1. April (keine Sorge, ist ernst gemeint): Auch dieser Supermarkt in Bremen ist nun “Bild”-frei (und hier hat der Besitzer ein paar Gedanken zum Boykott aufgeschrieben). Nachtrag, 13. April: Inzwischen hat er “Bild” wieder ins Sortiment genommen.

Nachtrag, 2. April: Im Wittener Stadtteil Bommern haben sich gleich vier Einzelhändler dazu entschlossen, “Bild” bis auf Weiteres zu verbannen: ein Supermarkt (Edeka Schwalemeyer), zwei Kioske (Trinkhalle Bonema & Kiosk Auf dem Brenschen) und eine Bäckerei (Elberfelder Straße).

Ein Supermarkt in Lübz (Mecklenburg-Vorpommern) tut sich derweil etwas schwer mit dem Boykott-Gedanken, hat sich aber einen anderen Weg überlegt, gegen die Berichterstattung zu protestieren:

Mit Dank an Chris W., Thomas, Henning M., Michael, Michael B., Michael S., Sandra H., Björn H., Klaus W., Jascha G., Raphael F. und Daniel D.!

Sollten Sie noch mehr Geschäfte kennen, die keine “Bild”-Zeitung mehr anbieten, freuen wir uns über einen Hinweis.

Falschmeldungen, Heftig.co, 4U9525

1. “Wie Falschmeldungen im Netz entstehen”
(medium.com, Jan Tißler)
Jan Tißler denkt darüber nach, wie Falschmeldungen im Netz entstehen: “Wenn jeder Klick Geld bringt, gewinnt man als Betreiber nun einmal nicht dadurch, dass man seine Leser besonders gut informiert, sondern allein dadurch, dass man sie auf die eigene Seite lockt. Entsprechend ändern sich wie erläutert die Prioritäten bei der Themenauswahl, beim Schreiben und bei der Überschriftenfindung. Prominente Namen sind dann wichtiger als der eigentliche Nachrichtenwert. Sensationen sind wichtiger als die Wahrheit. Schnelligkeit ist wichtiger als Genauigkeit.”

2. “Wie die Macher von heftig.co gegen den Relevanzverlust ankämpfen”
(onlinemarketingrockstars.de, Roland Eisenbrand)
Wie DS Ventures versucht, Wachstum und Interaktionen bei Heftig.co hochzuhalten.

3. “‘Die Hölle, das sind die anderen'”
(imageandview.com, Heike Rost)
Die Berichterstattung zu Germanwings-Flug 9525: “Zwischen Controllern, Juristen, Zeitungssterben und kaputt gesparten Redaktionen einerseits, dem Ringen um Auflagen und Quote andererseits ist das Mitgefühl auf der Strecke geblieben: Vor allem der Berichterstattung, die aus der Kenntnis eigener Grenzen die Grenzen anderer respektiert – und innehält. Schweigt, wo es nichts zu sagen gibt außer unbestätigten Meldungen und Vermutungen.”

4. “Die verlorene Ehre der schreibenden Zunft”
(fraumeike.de)
Auf der Suche nach Fakten stößt Frau Meike auf “Spekulationen, Sensationsgier und eine abgrundtiefe Menschenverachtung”: “Bis jetzt gibt es ausschließlich die Aussagen des Marseiller Staatsanwaltes, die sämtlich Interpretationen der Tonaufnahmen aus dem Cockpit sind.”

5. “FLUG 4U9525 – Ein Vor-Ort-Bericht aus Montabaur”
(f1rstlife.de, Daniel Schüler)
Daniel Schüler berichtet, wie Journalisten aus Montabaur berichten: “Es ist falsch, auf alle Journalisten einzuprügeln, die berichten (wollen). Einige verhalten sich angemessen, denken über das nach, was sie machen sollen, reflektieren. Und: Wir dürfen nun nicht automatisch die Fähigkeit und Eigenarten der Menschen hinterfragen und dabei vergessen, dass wir selbst welche sind.”

6. “Und was, wenn ich nichts fühle?”
(hermsfarm.de)
Die Trauer um die Opfer des Unglücks in Sozialen Medien: “Es fühlt sich an, als würde alle Welt um mich herum im digitalen Raum plötzlich einen schwarzen Trauerflor tragen, Und das nicht still und leise, sondern aktiv und laut. Es scheint, als müsse Trauer möglichst plakativ gezeigt werden.” Siehe dazu auch “Acht Arten, im Internet zu trauern” (boess.welt.de, Gideon Böss).

Andreas L.

Vorab eine kurze persönliche Anmerkung. Ich bin jetzt seit drei Jahren beim BILDblog und habe schon viele krasse Sachen gesehen. Aber die letzten Tage haben mich wirklich fertiggemacht. Gerade gestern*, als ich mitansehen musste, wie sich immer mehr Medien reflexartig und bar jeden Anstands auf einen Menschen und dessen Familie stürzten, habe ich mich so ohnmächtig und verzweifelt gefühlt wie lange nicht mehr. Dennoch, oder gerade deshalb, will ich versuchen, mich im Folgenden einigermaßen sachlich mit den Ereignissen auseinanderzusetzen, und ich hoffe sehr, dass diese ganze Tragödie wenigstens dazu führt, dass einige Journalisten ihr eigenes Handeln zumindest ein kleines bisschen überdenken.

***

Was in den vergangenen Tagen passiert ist, ist in weiten Teilen, in sehr weiten Teilen kein Journalismus mehr, sondern eine Jagd. Eine Jagd nach Informationen und Bildern, die für das Verständnis des Geschehens komplett irrelevant sind.

Um eines gleich ganz klar zu sagen: Selbstverständlich muss über ein solches Geschehen berichtet werden. Meinetwegen auch schnell und laut und in hoher Frequenz. Aber es gibt eine Grenze zwischen der Versorgung mit relevanten Informationen und dem Bedienen voyeuristischer Interessen. Diese Grenze wurde in den letzten Stunden und Tagen auf übelste Weise überschritten, und ich glaube, dass die allermeisten Journalisten ganz genau wissen, wann sie das tun — was es nur noch viel trauriger macht.

Ob die identifizierende Berichterstattung über den Co-Piloten eine solche Grenzüberschreitung ist, darüber sind sich die Medien bemerkenswert uneinig. Viele Journalisten diskutieren derzeit darüber, ob man seinen vollständigen Namen nennen und sein Foto unverpixelt zeigen darf und soll, einige Medien haben (was so gut wie nie vorkommt) Begründungen für ihre jeweiligen Entscheidungen veröffentlicht, das Portal watson.ch ließ sogar seine Nutzer darüber abstimmen, ob es den Namen nennen solle (die meisten stimmten für Nein, das Portal nennt ihn trotzdem), und Kai Biermann von „Zeit Online“ hat sich beim Presserat über sich selbst beschwert, um herauszufinden, ob er mit der Nennung des Namens gegen den Pressekodex verstoßen hat.

Ich persönlich finde, dass man durchaus auf die Identifizierung verzichten kann. Es macht für mich keinen Unterschied, ob ich einen Artikel lese, in dem der Mann zu erkennen ist, oder einen, in dem er anonym bleibt. Es lässt mich das Geschehen weder mehr noch weniger begreifen, darum kann man, finde ich, seine Identität auch weglassen.

„Spiegel Online“ sieht sah es ähnlich und schrieb gestern:

FAZ.net hingegen nennt seinen vollständigen Namen und zeigt sein Foto ohne Unkenntlichmachung. In der Begründung, die FAZ.net-Digitalchef Mathias Müller von Blumencron heute veröffentlicht hat, heißt es:

Es ist ein schrecklicher Unfall, ausgelöst durch das Verhalten des Kopiloten. Die Opfer und die Öffentlichkeit haben ein Recht darauf zu erfahren, wer das Unglück ausgelöst hat. […] Im Zentrum der Erklärung steht ein Mensch, genauer sein Kopf, sein möglicherweise irregeleitetes Gehirn. Das ist das Unerklärliche, was uns soviel Schwierigkeiten bereitet: Es ist die Psyche von Andreas [L.], die Unfassbares verursacht hat. Die Lösung ist nach gegenwärtigem Stand nur in der Person des Kopiloten zu finden. Wir müssen uns mit ihm beschäftigen, wir müssen ihn ansehen, wir dürfen ihn sehen.

Deshalb hat FAZ.NET das Foto von Andreas [L.] gezeigt.

Soll, wenn ich das richtig verstanden habe, heißen: Weil der Kopf des Co-Piloten des Rätsels Lösung ist, dürfen wir ihn uns auch angucken. Oder wie?

Dagegen klingt sogar die Begründung der „Bild“-Zeitung nachvollziehbar: Weil Andreas L. einen „Ritualmord“ begangen habe (ja, das steht da wirklich), mache ihn das zu einer Person der Zeitgeschichte, darum müsse er auch im Tod „hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht.“

Es kann durchaus sein, dass Gerichte das ähnlich bewerten würden; rechtlich gesehen ist es vermutlich in Ordnung, den Namen auszuschreiben. Medienanwalt Dominik Höch schreibt dazu in einem lesenswerten Beitrag:

Die Gerichte haben in der Vergangenheit entschieden, dass der Name des Betroffenen nicht tabu sein muss, wenn der Verdachtsgrad hoch genug ist und es um eine die Öffentlichkeit besonders berührende Angelegenheit geht. Beides dürfte hier vorliegen.

Er schreibt aber auch, dass man letztlich fragen müsse:

Welcher Mehrwert an Information ergibt sich durch die Namensnennung wirklich? Ist es wirklich zwingend ihn zu nennen?

Denn, und diesen Punkt vermisse ich in den meisten Diskussionen zu diesem Thema:

Durch die Nennung des Namens und des Wohnortes dürften [die Eltern und anderen Angehörigen des Co-Piloten] für eine Vielzahl von Personen erkennbar sein. Sie sind schuldlos an der Katastrophe und müssen nun neben dem Verlust des Kindes mit den neueren Erkenntnissen leben. Sie müssen außerdem erhebliche Anfeindungen befürchten; sie müssen eine – unzulässige – Durchleuchtung ihres Privatlebens durch Medien befürchten. Davor sind sie zu schützen. Ihr Allgemeines Persönlichkeitsrecht verleiht Ihnen das Recht auf Privatsphäre. Sie sind  eigentlich – vereinfacht gesprochen – nicht Teil eines zeitgeschichtlichen Ereignisses. Das ist ein hohes Schutzgut.

Und dieses Schutzgut finde ich wichtiger als das Wissen um den Nachnamen des Mannes. Wenn ich zum Beispiel vom “Amokläufer Tim K.” spreche, wissen Sie sicher alle, wen ich meine und welche Geschichte dahinter steckt — ohne den vollen Namen zu nennen. Und wenn das den Angehörigen viel Leid erspart, dann kann ich getrost auf den Namen verzichten.

Es geht in diesem Fall aber nicht nur um das Ob. Sondern auch — und vor allem — um das Wie. “Bild” und “Express” zum Beispiel bezeichnen den Mann heute als “Amok-Piloten” und zeigen ihn, wie auch andere Medien, riesengroß auf der Titelseite (Ausrisse siehe ganz oben). Wenn man als Medium aber schon von einer “Amok”-Tat ausgeht, darf man, um Nachahmungstaten zu vermeiden, den Täter umso weniger in Postergröße auf der Titelseite abbilden. Schon nach dem Amoklauf in Winnenden zitierte der Presserat in einem Leitfaden für die Berichterstattung über Amokläufe (PDF) einen Psychologen mit den Worten, bei Berichten über den Täter sei Zurückhaltung geboten, weil eine gewisse Form der Berichterstattung mögliche Nachahmungstäter bestärken könne:

“Nicht den Täter und seine Motive in den Vordergrund rücken, sondern die Tat, keine Klischees fördern, keine Bilder vom Täter zeigen und keine Namen nennen”, sagte [Prof. Dr. Herbert] Scheithauer. Bei allem legitimen öffentlichen Interesse sollten sich Journalisten stets die Frage stellen, wie ihre Beiträge auf potenzielle Täter wirken könnten.

Auch im Fall des Co-Piloten besteht eine solche Nachahmungsgefahr. Prof. Dr. Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie sagte heute im “Mittagsmagazin”:

“Man muss damit rechnen, dass bei einem so spektakulären Ereignis es auch Nachahmer findet. Sicherlich ist es eine extreme Form, sich umzubringen, und es werden nur wenige bereit dazu sein, aber es könnte für manche doch dazu gereichen, diese Tat mit diesem spektakulären Aspekt durchzuziehen.”

Aber lassen wir den Punkt erst einmal beiseite.

Sofort nachdem bekannt geworden war, dass der Co-Pilot die Maschine möglicherweise absichtlich in den Berg geflogen hat, begaben sich ganze Heerscharen von Journalisten auf Spurensuche: Sie belagerten das Elternhaus des Mannes, befragten seine angeblichen Freunde („Spiegel Online“), Nachbarn (Stern.de), Bekannten („Focus Online“), Weggefährten („Passauer Neue Presse“), die Mutter einer ehemaligen Klassenkameradin (FAZ.net) und den Besitzer der Pizzeria in der Nähe seiner Zweitwohnung („Bild“), sie durchwühlten sein Umfeld, seine Facebookseite, seine Krankenakte.

Dagegen ist auch erstmal nichts zu sagen. Es kommt darauf an, wie die Medien dabei vorgehen und was sie daraus machen. Wenn aber eigentlich nichts dabei rauskommt, die Nicht-Erkenntnisse aber trotzdem mit übertriebener Bedeutung aufgeladen werden, wenn also beispielsweise FAZ.net schreibt …

„Das war ein lieber Junge“, sagte die Mutter einer Klassenkameradin gegenüber FAZ.NET. Ihre Tochter ist in Tränen aufgelöst und steht für Gespräche vorerst nicht zur Verfügung. „Er hatte gute familiäre Hintergründe“, sagt sie. Allerdings habe sich Andreas [L.] ihrer Tochter vor einigen Jahren anvertraut mit dem Hinweis, er habe in seiner Ausbildung eine Auszeit genommen: „Offenbar hatte er ein Burnout, eine Depression“. Die Tochter habe ihn zuletzt vor Weihnachten gesehen, da habe er ganz normal gewirkt.

… dann trägt das nicht zur Wahrheitsfindung bei, sondern heizt allenfalls die unsinnigen Spekulationen an.

Und ich frage mich jedes Mal: Werden die Ereignisse für mich als Leser in irgendeiner Art greifbarer, wenn ich erfahre, in welchem Haus der Co-Pilot gewohnt hat und was der Schwippschwager der Nachbarin eines Bekannten von ihm hielt? Wenn ich weiß, welche Musik er gerne hörte („Focus Online“), welche Marathon-Zeit er gelaufen ist („Bild“), welchen Beruf seine Eltern ausüben („Blick“) oder in welches Fastfood-Restaurant er am liebsten ging („Welt“)? Und die einzige Antwort, die ich jedes Mal finde, ist: Nein.

In einigen Fällen sind die so zutage geförderten Dinge aber nicht nur belang- und geschmacklos, sondern schlichtweg falsch. In vielen Medien wurde zum Beispiel dieses Foto veröffentlicht, das den Co-Piloten Andreas L. zeigen soll:

Tatsächlich zeigt es aber Andreas G., der mit der Sache gar nichts zu tun hat, wie das Portal tio.ch schreibt:

(Unkenntlichmachung des rechten Fotos von uns. Den Artikel haben wir per Google Translator übersetzt. Da im Original das Gesicht des „echten“ Co-Piloten zu erkennen ist, haben wir auf einen Link verzichtet.)

Neben der „Kronen Zeitung“ hat auch „Österreich“ das Foto heute auf der Titelseite abgedruckt (via Kobuk):

Hierzulande wurde das falsche Foto unter anderem von den „Tagesthemen“ und „ZDF heute“ veröffentlicht (immerhin: verpixelt), beide Redaktionen haben sich inzwischen dafür entschuldigt.

Was für Folgen eine solche Verwechslung haben kann, lässt sich heute in der „Rhein-Zeitung“ (Abo-Link) nachlesen. In einem Restaurant sei die Freundin von Andreas G. von Journalisten förmlich überfallen worden:

„Sie saß bei einem Geschäftsessen“, berichtet Andreas [G.] unserer Zeitung. „Plötzlich kommen 20 Journalisten rein und sie wird vor laufender Kamera mit der Frage bombardiert, wie sie sich fühlt, mit einem Mörder zusammen gelebt zu haben.“ Die Freundin ist offenbar so leicht nicht zu erschüttern: „Sie konnte dann schnell aufklären, dass ich gar nicht Pilot bin“, so der im Stromhandel tätige Deutsche. „Die Journalisten sind dann wieder weg.“

„Witwenschütteln“ nennt man diese furchtbare Praxis (hier ein eindrucksvoller Erfahrungsbericht zu diesem Thema, den wir heute auch bei „6 vor 9“ verlinkt haben), und die Freundin des falschen Piloten war nicht die einzige, die dermaßen von Reportern belästigt wurde. Vor allem die Mitschüler der bei dem Unglück gestorbenen Kinder aus Haltern am See haben in den letzten Tagen unglaubliche Dinge erlebt. In einem Post bei Facebook heißt es:

Wer zum Gedenken eine Kerze abstellen oder einen Moment an der Treppe zum Gymnasium innehalten möchte, fühlt sich wie im Zoo oder auf einem Laufsteg:

Vor einer Front aus teilweise über 50 Kameras wird jeder Emotionsausbruch von den geifernden Kameraleuten schnell eingefangen und geht kurz darauf um die Welt und wird von distanzierten Stimmen kommentiert.

Als ob man nicht sehen würde, dass es den Menschen hier schlecht geht!

Selbstverständlich besteht ein großes Interesse der Öffentlichkeit aufgrund der Dimension dieses Unglücks.
Die internationale Anteilnahme berührt uns natürlich sehr. Es tut gut, so viele Trost spendenden Stimmen aus der ganzen Welt zu lesen und zu hören.

In Momenten aber, in denen Eure Kollegen KINDERN GELD dafür anbieten, Informationen preiszugeben oder VORGEGEBENE SÄTZE in die Kameras zu sprechen ODER sich eine Fotografenmeute auf einen Mann stürzt, der vor Kummer in der Fußgängerzone zusammenbricht, WIRD HALTERN AM SEE ZUSAMMENHALTEN UND EUCH IN EURE SCHRANKEN VERWEISEN!

Dass Kindern Geld für Informationen angeboten wurde, ist uns von mehreren Quellen aus Haltern am See bestätigt worden. Die „Ruhrnachrichten“ schreiben außerdem:

Bürgermeister Bodo Klimpel berichtet von einer erschreckenden Situation am Bahnhof. Ein ausländisches Reporterteam soll dort einem Jugendlichen ein lukratives Honorar angeboten haben. Als Gegenleistung sollte der Schüler mit seinem Handy Aufnahmen von der internen, nicht-öffentlichen Trauerveranstaltung, die im Joseph-König-Gymnasium stattfindet, machen.

So bleibt für mich am Ende die — aus journalistischer Sicht — traurigste Erkenntnis aus diesem ganzen Unglück: Dass viele Journalisten, die ja eigentlich dazu beitragen sollten, dass wir die Welt besser verstehen und dass in Zukunft weniger schlimme Dinge passieren, im Moment viel eher damit beschäftigt sind, das Leid noch zu vergrößern.

Mit Dank auch an die vielen, vielen Hinweisgeber!

*Nachtrag, 29. März: Hier stand zunächst ein sprachliches Bild (der Co-Pilot sei “zum Abschuss freigegeben” worden), das von einigen Lesern zurecht kritisiert wurde, weil es natürlich nicht besonders glücklich gewählt war. Ich habe es daher gestrichen und bitte um Entschuldigung!

Schnelligkeit, Spekulation, Witwenschütteln

1. “Der Aufstieg des Lesers”
(freitag.de, Katharine Viner)
Eine Rede von Katharine Viner, der designierten “Guardian”-Chefredakteurin: “Von der Frage, wozu Journalismus dient, hängt alles ab. Wenn man findet, er soll außerhalb der Macht stehen und den Mächtigen die Wahrheit sagen, wird man für das offene Netz eintreten, den offenen Journalismus, den freien Fluss von Engagement, Kritik und Debatte mit den Leuten, die früher Publikum genannt wurden. Wenn man aber meint, Journalismus solle dazu dienen, zwischen der Macht und den Bürgern zu vermitteln, Einfluss zu nehmen und Herrschaft zu festigen, so wird man das Netz so weit wie möglich eindämmen und die Debatten auf ein Minimum beschränken.”

2. “Guter Journalismus macht keine Kompromisse”
(spiegel.de, Florian Harms)
“Spiegel Online” setzt sich neue Ziele: “Früher lautete unser Leitspruch ‘Schneller wissen, was wichtig ist.’ Aber Schnelligkeit ist für sich allein genommen inzwischen kein Mehrwert mehr. Schnelle Informationen finden Sie heute im Internet überall, leider allzu oft eher halbrichtig als wirklich stimmig – oder sogar ganz falsch. Das ist nicht unser Weg. Unser Anspruch ist es, jeden Tag, auch unter dem Zeitdruck eines minutenaktuellen Mediums, so exakt, ausgewogen, transparent und wahrhaftig wie irgend möglich zu berichten. Damit Sie nicht nur eine einseitige oder verkürzte Darstellung von Ereignissen bekommen, sondern sich anhand verlässlicher, häufig investigativ recherchierter Nachrichten, kundiger Erläuterungen und pointierter Meinungsbeiträge aus unterschiedlichen Perspektiven Ihr eigenes Bild von der Welt machen können.”

3. “An die Medienvertreter”
(facebook.com/Welovehalternamsee)
Menschen in der von Reportern belagerten Ortschaft Haltern am See fühlen sich nach dem Absturz von Germanwings-Flug 9525 in ihrer Trauer gestört: “Wer zum Gedenken eine Kerze abstellen oder einen Moment an der Treppe zum Gymnasium innehalten möchte, fühlt sich wie im Zoo oder auf einem Laufsteg: Vor einer Front aus teilweise über 50 Kameras wird jeder Emotionsausbruch von den geifernden Kameraleuten schnell eingefangen und geht kurz darauf um die Welt und wird von distanzierten Stimmen kommentiert.” Siehe dazu auch “Es gibt Tage, da schäme ich mich Journalist zu sein” (facebook.com/bjvde, Michael Busch).

4. “Appell an die Chefredaktionen: Witwenschütteln – Das wollt Ihr alle nicht erleben”
(facebook.com, Sandra Schink)
“Lasst die Menschen einfach trauern”, bittet Sandra Schink und erzählt, wie ihre Familie 1982 von Mitarbeitern einer Boulevardzeitung besucht wurde: “Viele Jahre später führte mich das Schicksal in die Branche und die Redaktionen, für die die Männer von damals arbeiteten. Ich begegnete beiden wieder, und ich stellte beide zur Rede. Keiner konnte sich an ‘diesen Fall’ erinnern. Vielleicht wollte sich auch keiner erinnern. Und während der eine, der mit der sonoren Stimme, empört bestritt jemals ‘so etwas’ getan zu haben, wurde der andere sehr still, als ich ihn fragte, wie oft er diesen Job gemacht hat in seinem Leben.”

5. “Livejournalismus zu 4U9525: Warum wir nicht innehalten”
(n-tv.de, Christoph Herwartz)
Christoph Herwartz verteidigt den Versuch, “dem grenzenlosen Informationsbedürfnis der Leser hinterherzukommen”: “Wenn Menschen am Düsseldorfer Flughafen von dem Absturz erfahren und sich weinend in den Armen liegen, dann kann man davon in einem Liveticker genauso gut berichten wie in einer Reportage. Ein Liveticker ist nicht per se anrüchig. Und eine Zeitung ist nicht per se taktvoll.”

6. “Wir wollen nicht spekulieren…”
(youtube.com, Video, 5;54 Minuten)
TV-Ausschnitte, in denen “nicht spekuliert” wird. Und ein Pro und Contra zum Umgang mit dem Unglück.

Kai Diekmann und Julian Reichelt diskutieren über Opferfotos

Und das Elend geht weiter.

Wie zu erwarten war, hat die „Bild“-Zeitung heute auf einer ganzen Seite die ersten (natürlich: unverpixelten) Opferfotos des Germanwings-Unglücks veröffentlicht:

[Ganze Seite der 'Bild'-Zeitung; große Überschrift: 'L[...]s letzte Fotos aus Barcelona'; dazu viele Fotos von Opfern des Absturzes; etwas kleiner unten auf der Seite: 'Stewardessen weinen um ihre Kollegen'; dazu ein Foto der trauernden Stewardessen, die Kerzen aufstellen

Wie die Zeitung an die Fotos rangekommen ist, wissen wir nicht, wir können es uns aber denken. Die Quellen hat sie zwar nicht angegeben (in der Print-Ausgabe steht bloß: „Privat“), aber sie schreibt zum Beispiel:

Gestern postete eine Freundin von […] dieses Foto …

Im Feuerwehrhaus der Stadt steht ein Bild des Verstorbenen …

Dieses Gruppen-Selfie der Verstorbenen wurden [sic] auf dem Marktplatz in […] aufgehängt …

Dieser Bilderrahmen ist ein Dokument der Trauer. Er steht in einem Versicherungsbüro auf dem Arbeitsplatz von …

Heute Mittag haben wir Sandra Petersen, die für „Bild“ zuständige Sprecherin des Axel-Springer-Verlags, gefragt, ob die Angehörigen der Opfer der Veröffentlichung zugestimmt haben. Fünf Stunden und mehrere Nachfragen später haben wir tatsächlich eine Antwort bekommen. Sie lautet:

Lieber Herr Schönauer,

Kai Diekmann und Julian Reichelt diskutieren auf Twitter zu dem Thema, wir verweisen auf die Kommentare dort.

Viele Grüße, Sandra Petersen

Darum haben wir im Folgenden sämtliche Tweets von “Bild”-Chef Kai Diekmann und “Bild”-Online-Chef Julian Reichelt zu diesem Thema dokumentiert:
 
 
 
Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

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