Die “Bild”-Redaktion hatte in der vergangenen Woche einen tollen Einfall, wie sie ihre Abneigung gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ihre Abneigung gegen die Grünen in nur einem Artikel ausleben kann:
Ralf Schuler, Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros, schreibt:
Eigentlich sollen sie nur das Wetter der nächsten Tage vorhersagen. Doch seit einiger Zeit erklären die Wettermoderatoren im Fernsehen immer öfter ausführlich die Temperaturkurven der letzten Jahre und den Klimawandel.
Als Beispiele nennt Schuler lediglich die Wettermoderatoren Karsten Schwanke (ARD) und Özden Terli (ZDF). Und fragt: “Sachliche Aufklärung oder heimlicher Klima-Wahlkampf?”
Die Antwort lässt er Hermann Binkert geben, einst selbst CDU-Politiker, zwischenzeitlich Mitglied der “Werteunion”, laut “Zeit Online” AfD-Spender und Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA:
Fakt ist: “Je stärker das Thema Klimaschutz im Bewusstsein der Bevölkerung ist, desto eher werden die Grünen von der Kompetenz, die man ihnen hier zuspricht, profitieren”, sagt INSA-Chef Hermann Binkert.
Dazu drei Nebengedanken: 1. Wäre dann eine Zeitung, die ständig jene Themen auf der Titelseite platziert, die Rechtspopulisten in die Karten spielen, nicht genauso ein Wahlkampfblatt für die AfD? 2. Das klingt ja fast so, als würden die Grünen laut “Bild” als einzige Partei Antworten auf den Klimawandel haben. Und 3. Wenn Schuler nebulös von “seit einiger Zeit” spricht, ist schwer zu sagen, was er damit genau meint. Karsten Schwanke zum Beispiel hat im November 2018 für die ARD sehr anschaulich die Folgen des Klimawandels erklärt (und dafür eine Grimme-Preis-Nominierung erhalten). Damals war der Wahlkampf für die Bundestagswahl im September 2021 noch nicht so richtig im Gange.
Aber nehmen wir die “Bild”-Logik mal so hin.
Für unser Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” haben wir uns durch das gesamte Œuvre von Julian Reichelt gewühlt. Und dabei überraschende Seiten entdeckt. Denn vor einigen Jahren machte der heutige “Bild”-Chefredakteur und damalige “Bild”-Reporter Reichelt – jedenfalls nach “Bild”-Logik – selbst noch kräftig Wahlkampf für die Grünen. Am 10. April 2007 beispielsweise erschien in “Bild” dieser Artikel:
Schon nach dem Lesen des Einstiegs kann man gar nicht anders, als das Kreuz bei den Grünen zu setzten:
Durch arktischen Schnee, der unter meinen Polarstiefeln knirscht, stapfe ich auf ein Wunder zu.
Das Wunder des Lebens, das der eisigen Kälte trotzt (minus 20 Grad). 100 Meter schwere Schritte, 50 Meter, 10 Meter – und dann stehe ich vor ihnen. Zwei junge Eisbärbabys, die sich ins Fell ihrer Mutter kuscheln. Ich sehe das Blinzeln ihrer schwarzen Augen, die wie kleine Kohlestücke sind. Ich sehe das Zittern ihrer Nasen. Ich sehe, wie sich der Körper ihrer Mutter hebt und senkt.
Ich sehe den ganzen überwältigenden Zauber der Natur, der in den Händen des Menschen liegt. Den Zauber, den wir erhalten MÜSSEN.
Reichelts damalige “Lektion aus dem Eis”:
Die globale Erwärmung bedroht das, was unseren Planeten so einzigartig macht!
Warum überhaupt der Besuch beim Eisbär?
Weil sein Lebensraum langsam schmilzt, wurde der Eisbär zum traurigen Wappentier der Erderwärmung. Zum einsamen Helden der Klimakatastrophe. Deswegen hat BILD ihn besucht. Um zu zeigen, welch fantastische Natur wir riskieren, weil wir schneller Auto fahren, öfter fliegen, das Licht in der Wohnung länger brennen lassen wollen.
Als hätte er es direkt aus dem Wahlprogramm der Grünen abgeschrieben. Und so gibt es am Ende des Artikels noch mal einen eindringlichen Appell:
Aber schon am nächsten Tag werden wir eine Eisbärin ohne Junge finden. Ich werde mit meinen Händen das Fell berühren. Die dicken Strähnen, die rau sind vom Meerwasser.
Ich werde berühren, was wir bewahren müssen.
Acht Monate später legte Reichelt mit dem “erschütternden BILD-Report” nach:
Die “Bild”-Redaktion startete zeitgleich die Aktion “RETTET UNSERE ERDE”, in Kooperation mit Greenpeace, dem BUND und WWF: “Darum müssen wir endlich handeln! ES GEHT UM DIE RETTUNG DER ERDE!”
Viel ist von alldem heute nicht mehr übrig. Stattdessen machen “Bild” und Julian Reichelt es nun schon zum Skandal, wenn Wettermoderatoren “ausführlich die Temperaturkurven der letzten Jahre” erklären.