Archiv für September 1st, 2021

Baden-Württemberg führt nicht die “Steuer-Stasi” ein

Auf der “Bild”-Titelseite gibt es heute große “Stasi”-Aufregung:

Ausriss Bild-Titelseite - Bürger sollen Nachbarn denunzieren - Grünen-Minister führt Steuer-Stasi ein

Genauso auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Bürger sollen Nachbarn denunzieren - Grünen-Minister führt Steuer-Stasi ein

Im Artikel heißt es dazu:

Die Grünen in Baden-Württemberg haben offenbar keine hohe Meinung von ihren Steuerzahlern: Finanzminister Danyal Bayaz (37, Grüne) führt einen neuen Steuerpranger ein!

Über das “anonyme Hinweisgeberportal für Finanzämter” sollen Baden-Württemberger künftig Bekannte, Nachbarn, Kollegen etc. anschwärzen.

“Bürgerinnen und Bürger können damit sicher und anonym Verstöße gegen Straf- und Steuergesetze melden”, heißt es zur Begründung. Mit dem Portal, dem Ersten bundesweit, könne Steuerbetrug (z. B. Putzfrau, Handwerker schwarz beschäftigen) “künftig noch besser verfolgt werden”.

Das Sprachliche ist an diesem “Bild”-Beitrag vermutlich das kleinste Problem. Aber fangen wir dennoch mit der sprachlichen Ebene an, weil die Art und Weise, wie die “Bild”-Redaktion diese Geschichte erzählt, gut zeigt, welchen Spin sie ihr zu geben versucht.

Da ist zum Beispiel das Wort “Steuerpranger”, das schlicht falsch ist in diesem Zusammenhang. Ein Pranger dient laut Duden dem öffentlichen Verächtlichmachen. Das neue Onlineportal in Baden-Württemberg soll aber niemanden öffentlich als Steuersünder zur Schau stellen. Es geht um die nicht-öffentliche Übermittlung von Anzeigen an die Steuerverwaltung.

Und natürlich geht es den Grünen in Baden-Württemberg nicht um “ihre Steuerzahler”, von denen sie laut “Bild” “keine hohe Meinung” haben sollen, sondern gerade um die Nicht-Steuerzahler, von denen man aus guten Gründen keine hohe Meinung haben kann.

Außerdem ist es höchst tendenziös, dass “Bild” im gesamten Artikel lediglich zwei Beispiele einer möglichen Steuerhinterziehung nennt: “z. B. Putzfrau, Handwerker schwarz beschäftigen”. Natürlich ist die Meldung solcher Fälle über das neue Portal möglich (auch wenn fraglich sein dürfte, ob die Steuerfahndung bei derartigen Kleinigkeiten und entsprechenden Summen, um die es dabei geht, wirklich loslegt). Dass das neue Portal auch die Möglichkeit bietet, Steuerhinterziehung im größeren oder ganz großen Rahmen zu melden, bei denen der Allgemeinheit Millionen Euro flöten gehen, findet bei “Bild” keine Erwähnung.

In eine ähnliche Richtung geht die “Bild”-Aussage, dass Baden-Württemberger “künftig Bekannte, Nachbarn, Kollegen etc.” anschwärzen “sollen”. Dabei geht es vielmehr ums können. Es gibt keine Aufforderung des Ministeriums im Sinne von: “Bitte schwärzen Sie jetzt hier endlich ihre Bekannten, Nachbarn und Kollegen an!” Das Portal bietet eine weitere Möglichkeit, anonym eine Steuerhinterziehung zu melden, egal um wen es dabei geht.

Und damit sind wir bereits beim Inhaltlichen. Denn: Dass Bürgerinnen und Bürger anonym eine Steuerhinterziehung anzeigen können, ist mitnichten etwas Neues. Seit vielen Jahren geht das per Telefon, per Brief oder per E-Mail. Es ist rein technisch zwar richtig, wenn “Bild” mit Blick auf das Portal in Baden-Württemberg von “dem Ersten bundesweit” spricht. Wirklich neu ist daran aber nur, dass es nun diesen zusätzlichen Weg für eine Anzeige gibt, nicht die anonyme Anzeige an sich.

Dennoch hat es die “Bild”-Redaktion geschafft, empörte Politiker-Zitate einzusammeln:

Baden-Württemberg führt die Steuer-Stasi ein!

Politiker sind empört! FDP-Vize Wolfgang Kubicki (69) zu BILD: “Dieses Portal zeigt, was uns droht, wenn Grüne ihre moralischen Vorstellungen über Recht und Gesetz stellen und in staatliches Handeln gießen – und die CDU dem nichts entgegensetzt.”

Fraktionskollege Michael Theurer (54) spricht von “Blockwart-Mentalität”. Für Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann (44) säen die Grünen “noch mehr Misstrauen”.

Linnemann zu BILD: “Es wäre verheerend, wenn ein grüner Finanzminister so etwas bundesweit umsetzen würde.”

Das Echauffieren von Kubicki, Theurer und Linnemann ist bemerkenswert bigott. In Schleswig-Holstein, wo Wolfgang Kubicki seinen Wahlkreis hat, und wo Kubickis FDP mit in der Regierung sitzt, ist es ebenfalls möglich, Steuerhinterziehung anonym anzuzeigen:

Bei Verdacht einer Steuerhinterziehung kann jeder gegenüber der Steuerfahndung Anzeige erstatten. Auch anonyme Anzeigen sind möglich.

In Nordrhein-Westfalen, wo Carsten Linnemann seinen Wahlkreis hat, und wo Linnemanns CDU den Ministerpräsidenten stellt, ist es ebenfalls möglich, Steuerhinterziehung anonym anzuzeigen:

Geht das Finanzamt auch einer anonymen Anzeige nach?

Ja. Aber namentliche Anzeigen besitzen in der Regel größere Bedeutung, weil sie Rückfragen ermöglichen.

Und auch in Baden-Württemberg, wo Michael Theurer seinen Wahlkreis hat, und wo Theurers FDP viele Jahre Teil der Landesregierung war, gab es schon lange vor dem neuen Portal die Möglichkeit anonymer Anzeigen bei Steuerhinterziehung.

Auch in anderen Bundesländer ist das möglich, völlig unabhängig davon, ob dort nun Grüne in der Regierung sitzen oder nicht, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, in Bayern, in Niedersachsen, in Berlin. Der einzige Unterschied zwischen all diesen Bundesländern und Baden-Württemberg: In Baden-Württemberg gibt es jetzt eine weitere Möglichkeit der Anzeigenübermittlung.

Und damit eine nicht ganz unwesentliche Weiterentwicklung: Die Steuerfahnder können mit dem Hinweisgeber, trotz Anonymität, weiter in Kontakt bleiben und beispielsweise Nachfragen stellen, wenn dieser einverstanden ist. Das gibt Whistleblowern zusätzliche Möglichkeiten (David Böcking weist beim “Spiegel” völlig zu Recht darauf hin, dass Wolfgang Kubickis FDP sich in ihrem Wahlprogramm (PDF) ausdrücklich zum Schutz von Whistleblowern bekennt). Und erhöht die Chance auf eine erfolgreiche Ermittlung. Nicht ohne Grund schreibt etwa die Finanzverwaltung Schleswig-Holsteins: “Namentliche Anzeigen besitzen in der Regel aber höhere Erfolgsaussichten, weil sie Rückfragen ermöglichen.”

Zum Schluss noch einmal zurück zum Sprachlichen: Wenn die “Bild”-Redaktion aus all dem eine neue Stasi macht, und Politiker das willfährig weiterdrehen zu NS-Vergleichen (“Blockwart-Mentalität”), dann verharmlosen sie geschichtsvergessen die Situation in der DDR beziehungsweise im Nationalsozialismus.

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Zurückgelassen in Kabul, Kein Sack Reis, Deutscher Klimajournalismus

1. Zurückgelassen in Kabul
(reporter-ohne-grenzen.de)
Gestern hat die US-Armee ihre letzten Einsatzkräfte aus Afghanistan abgezogen. Nun wird die Bedrohungslage für Journalistinnen und Journalisten vor Ort immer größer, so Reporter ohne Grenzen. Die Organisation fordert die Bundesregierung auf, eine Grundsatzentscheidung für Visa für in Drittstaaten gestrandete, bedrohte Medienschaffende zu treffen, anstatt weiterhin nach Einzelfällen zu entscheiden.
Weiterer Lesehinweis: “Nach dem Abzug der letzten US-Soldaten mussten auch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan zurückbleiben. Er wisse von Fällen, die nun ‘von Haus zu Haus fliehen’, sagt der Journalist und Afghanistan-Kenner Marc Thörner im Deutschlandfunk. Diejenigen, die noch arbeiten, würden versuchen, “tastend weiterzumachen”.

2. “Es wird erst dann interessant, wenn man Widersprüche akzeptiert”
(journalist.de, Thilo Komma-Pöllath)
Die freie Journalistin und Umweltaktivistin Leonie Sontheimer und der journalistisch ausgebildete Sprecher des Lobbyverbands der deutschen Gaswirtschaft, Charlie Grüneberg, diskutieren über das Selbstverständnis im deutschen Klima­journalismus. In dem Interview steckt mehr drin als der Streit um Wahrheit und Deutungshoheit. Es liefert Stoff für eine gesellschaftliche Debatte, der man sich in den nächsten Jahren kaum entziehen können wird.

3. Kein Sack Reis in China umgefallen
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Stefan Niggemeier schreibt in einer Glosse über ein merkwürdiges Genre im Politikjournalismus: Die Berichte darüber, “dass wichtige Parteimenschen exakt das sagen, was von ihnen in dieser Situation erwartet wird”.

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4. Wenn Influencerinnen Politik machen
(deutschlandfunk.de, Michael Meyer, Audio: 5:25 Minuten)
In Sachen Politik halten sich Influencerinnen und Influencer in Deutschland in der Regel eher zurück. Es gibt jedoch auch Instagram- und Youtube-Größen, die sich im weitesten Sinn politisch betätigen, darunter Louisa Dellert und Marvin Neumann. Der Politberater Martin Fuchs unterstreicht und relativiert den Einfluss dieser Personen: “Das heißt also, diese Multiplikator*innen sind schon nicht uninteressant für Parteien. Man muss aber das Big Picture sehen: Und da sind die jungen Wähler*innen eine vernachlässigbare kleine Gruppe, die nicht ganz entscheidend im Fokus der Parteien steht.”
Weiterer Lesehinweis: Ab heute gibt es beim Deutschlandfunk in einem Live-Blog Neues zur Bundestagswahl in leichter Sprache.

5. Der “80 Prozent-Corona-Tote”-Fake: Häussler distanziert sich von “falscher” Welt-Schlagzeile
(volksverpetzer.de, Thomas Laschyk)
Die “Welt” titelte online, dass 80 Prozent der Covid-Toten wohl nicht an Corona gestorben seien. Auf Anfrage distanzierte sich ihre Quelle von der Aussage: Diese Überschrift sei “in ihrer Allgemeinheit falsch und würde von uns niemals so vertreten werden.” Thomas Laschyk hat am Ende seiner Ausführungen einen Tipp für alle Experten und Expertinnen, die ähnliche Anfragen von der “Welt” bekommen: “Das sollte eine Lehre für alle Wissenschaftler:innen sein, sich nicht von der WELT für deren skrupellose Profitmache einspannen zu lassen, die gerade jetzt vor einem Delta-Winter mit weiterhin vielen Ungeimpften für viele ihrer neuen (und alten) Leser:innen tödlich enden kann.”

6. Ist das so okay für dich?
(taz.de, Emeli Glaser)
“In­ti­mi­täts­ko­or­di­na­to­r:in­nen sorgen dafür, dass der Dreh respektvoll und einvernehmlich verläuft, wenn sich Schau­spie­le­r:in­nen vor der Kamera körperlich nahekommen müssen. Denn bei schlechter Kommunikation oder unsensiblem Verhalten können Traumata entstehen. Und das passiert beim Dreh häufiger, als man vielleicht vermuten würde.” Emeli Glaser berichtet über einen Berufsstand, der sich mit dem wachsenden Bewusstsein für die Problematik auch in Deutschland allmählich etabliert.