Archiv für Oktober, 2020

“Bild” auf Sündenbock-Suche im Berchtesgadener Land

“Sie kriegen Ihre Schlagzeile von mir nicht”, sagte Bernhard Kern vorgestern auf einer Pressekonferenz. Dort, wo Kern Landrat ist, im Berchtesgadener Land, ist die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Anzahl der nachgewiesenen Corona-Fälle der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner, besonders hoch. Gestern lag sie laut Robert-Koch-Institut (PDF) bei 262,4 – der höchste Wert in ganz Deutschland. Bei der Pressekonferenz sagte Kern dazu:

Ob jetzt letztlich eine Feier, die im Landkreis Berchtesgadener Land, stattgefunden hat, letztlich der Auslöser für das Ganze war, ist sicherlich nicht der Fall. Und ich habe vorher schon erwähnt, ganz zum Anfang: Wir haben ein diffuses Geschehen im Landkreis Berchtesgadener Land, daher ist es nicht zurückzuführen auf eine einzelne Feierlichkeit, die stattgefunden hat.

Seine Botschaft an die anwesenden Journalistinnen und Journalisten: Für die Schlagzeile, dass das Infektionsgeschehen im Landkreis durch eine Party ausgelöst wurde, liefert er nicht das nötige Statement, weil es aus seiner Sicht schlicht nicht stimmt.

Genauso sieht das Wolfgang Krämer, der Leiter des zuständigen Gesundheitsamtes. Er ergänzte bei der Pressekonferenz, dass die Corona-Fälle auf den gesamten Landkreis verteilt seien. Man könne daher nicht von einem oder zwei Herden ausgehen, die für den hohen Inzidenzwert ursächlich seien. Die Frage nach einer Party als Ursache habe er erwartet, so Krämer, “weil es sich schön lesen würde, wenn wir einen Schuldigen hätten, den wir irgendwo hinstellen können”.

Und damit wären wir auch schon bei der Berichterstattung der “Bild”-Redaktion. Die sucht fleißig nach einem Sündenbock:

Screenshot Bild.de - Corona-Hochburg Berchtesgadener Land - Garagen-Party schuld am Lockdown?

Und wenn schon nicht die Feiernden der “Garagen-Party” oder die einer “Molkerei-Party”, die eine “Bild TV”-Moderatorin ins Spiel bringt, dann sind doch bestimmt die Besucher einer Shishabar schuld:

Screenshot Bild.de - Bild im Berchtesgadener Land - Feierten mehr als 100 Leute in einer Shishabar?

Das würde auch viel besser zum aktuellen Versuch der “Bild”-Redaktion passen, die Schuld an den steigenden Corona-Infektionszahlen bei gewissen “Clan-Hochzeiten” zu suchen und zu finden. Getreu der Blattlinie Die Ausländer waren’s, ließ “Bild” gestern erneut einen Keil zwischen die und uns treiben:

Ausriss Bild-Zeitung - Islamismus-Experte Ahmad Mansour über Clan-Hochzeiten - Minderheit gefährdet mit ihrem Verhalten uns alle

Wir erinnern gern noch einmal an die Aussage von Gesundheitsamtsleiter Wolfgang Krämer: “weil es sich schön lesen würde, wenn wir einen Schuldigen hätten, den wir irgendwo hinstellen können”.

Mit Dank an Andreas für den Hinweis!

Bildblog unterstuetzen

Carolin Emcke ist auch müde, Deftiges Minus, Kartellklage gegen Google

1. Ich bin auch müde
(sueddeutsche.de, Carolin Emcke)
Carolin Emcke hat eine Entgegnung auf den “SZ”-Artikel über den Pianisten Igor Levit vom 16. Oktober geschrieben. In dem herausragenden Text stecken viele kluge Fragen und Gedanken. Ein Einwurf, den man gerne auch ein zweites Mal liest, weil er nicht nur den konkreten Fall, sondern Grundsätzliches berührt.

2. “Die Zeit” bleibt im Aufwind, dickes Minus für “Die Welt”
(dwdl.de, Alexander Krei)
Auch das dritte Quartal bescherte der Print-Branche deftige Minuszahlen. Besonders schwer erwischte es die Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Auflage mit kostenlosen Bordexemplaren aufhübschen: Da der Flugverkehr coronabedingt weitgehend zusammengebrochen ist, ging auch die Verbreitung der in Flugzeugen verteilten Exemplare zurück, teilweise dramatisch. Beim “Focus” ging es von über 64.000 Heften im Sturzflug auf gerade mal 408 herunter, ein Minus von über 99 Prozent. Auch die “Bild”-Zeitung hat den Bordexemplar-Effekt zu spüren bekommen. Dort fehlten ebenfalls mehr als 60.000 Exemplare, insgesamt lag das Auflagen-Minus von “Bild” sogar bei fast 200.000, was einem Rückgang von 14 Prozent entspricht.

3. Wer, wenn nicht Google?
(spiegel.de, Max Hoppenstedt & Benjamin Bidder & Patrick Beuth & Malin Möller)
Das US-Justizministerium hat eine Kartellklage gegen den Suchmaschinenkonzern Google angestrengt. Damit könnten Alternativen zu Google interessant werden. Die 64-seitige Klageschrift nenne einige davon als Konkurrenten im US-Suchmaschinenmarkt: darunter Bing aus dem Hause Microsoft, das datenschutzfreundliche DuckDuckGo sowie die russische Suchmaschine Yandex. Der “Spiegel” ordnet Eigenschaften und Chancen der Google-Alternativen ein.

Bildblog unterstuetzen

4. Jetzt mit Arsch in der Hose
(taz.de, Steffen Grimberg)
“USA Today” ist eine der auflagenstärksten Zeitungen in den USA und hat noch nie eine Wahlempfehlung gegeben, obwohl das dort üblich sei. Doch dieses Jahr ist alles anders: “Elect Joe Biden. Reject Donald Trump”, titelte das Blatt. Endlich, findet Steffen Grimberg: “Bei den letzten Wahlen war Trump USA Today zwar auch schon reichlich suspekt. Aber zu einem klaren Bekenntnis fehlte es 2016 noch an Arsch in der Hose.”

5. Corona-Bundeshilfen für privaten Hörfunk
(blmplus.de, Lisa Priller Gebhardt)
Private Radiosender leiden in der Corona-Krise unter erheblichen Einnahmeausfällen durch entgangene Werbeeinnahmen. Von bis zu 40 Prozent Umsatzeinbußen ist zumindest in Bayern die Rede. Dort soll es nun neben Geldern aus dem Bundesprogramm Neustart Kultur auch Landeshilfen geben. Die werden wohl dringend benötigt, denn neben dem klassischen On-Air-Geschäft fallen auch Events, Spot-Produktionen für Firmenkunden sowie Konzerte als Einnahmequellen weg.

6. Zäh wie erkaltetes Kaugummi
(deutschlandfunk.de, Arno Orzessek, Audio: 4:25 Minuten)
Angesichts des bevorstehenden TV-Duells zwischen US-Präsident Donald Trump und Herausforderer Joe Biden erinnert Arno Orzessek an einige große Redeschlachten der Fernsehgeschichte. Die seien jedoch alle nichts gegen Trump: “Dass man ihm im zweiten TV-Duell mit Joe Biden das Maul per Stummschaltung stopfen will, zeugt von jener tiefen Verzweiflung, die Donalds Schwester Maryanne Trump Barry in unvergängliche Worte gekleidet hat: ‘Das Ändern der Geschichten. Die fehlende Vorbereitung. Das Lügen. Heilige Scheisse.'”

“Focus”-Sprachmüll, “Süddeutsche” bittet um Entschuldigung, US-Wahl

1. Chefredaktion bittet Igor Levit und SZ-Leser um Entschuldigung
(sueddeutsche.de, Wolfgang Krach & Judith Wittwer)
In der “Süddeutschen Zeitung” erschien vor wenigen Tagen ein Text über den Pianisten Igor Levit. Darin ging es auch um Levits politisches Engagement und seine Äußerungen in Sozialen Netzwerken. Der Text stieß vor allem in den Sozialen Medien auf breite Ablehnung. Nach einer anfänglich noch deutlich anders klingenden Stellungnahme bittet die “SZ”-Chefredaktion Levit und die “SZ”-Leserschaft nun um Entschuldigung.
Weiterer Lesetipp: Eine gute Zusammenfassung zu den Hintergründen gibt es bei BR-Klassik: Auch Levit nimmt Stellung (br-klassik.de, René Gröger).

2. “Focus”-Seminar: Wie man eine Titel­geschichte aus altem Sprachmüll bastelt
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Der “Focus” hat in seiner aktuellen Titelgeschichte auf sieben Seiten ausgebreitet, was man angeblich alles nicht sagen darf, und dabei die verschiedensten Begriffe miteinander verrührt. Boris Rosenkranz erklärt auf ironische Weise und anhand konkreter Beispiele, wie man sich eine ähnliche Empör-Story zusammenbasteln kann. Er hat sogar einen Tipp, was man machen kann, wenn das Echo darauf nicht so gut ausfallen sollte: “Seien Sie abschließend überrascht, dass sich die neue Gegenöffentlichkeit nicht an die alten Regeln hält und auch diesem Text widerspricht. Nehmen Sie das als Beweis und lassen Sie sich Ihre Deutungshoheit nicht nehmen. Bleiben Sie tapfer!”

3. Ist das Journalismus?
(deutschlandfunk.de, Burkhard Schäfers, Audio: 5:32 Minuten)
Job-Netzwerke wie LinkedIn und Xing leisten sich den Luxus eigener Redaktionen oder lassen ihre Nutzer und Nutzerinnen über Themen schreiben. Bei “Xing News” arbeiten rund 20 Journalistinnen und Journalisten an Newslettern und Beiträgen. Beim deutschsprachigen LinkedIn sind es immerhin vier Personen in der Redaktion, die dort für Inhalte sorgen. Wie verfahren sie bei der Auswahl der Inhalte und der Experten? Was unterscheidet die Plattformen von klassischen Medien? Und worin besteht der Mehrwert?

Bildblog unterstuetzen

4. US-Wahl 2020: Eine Wahlnacht wie noch nie zuvor
(ndr.de, Sinje Stadtlich)
Die US-Präsidentschaftswahl am 3. November stellt sowohl die klassischen als auch die neuen Medien in den USA vor gewaltige Herausforderungen. Im Vorfeld haben es die Journalistinnen und Journalisten mit Donald Trumps andauerndem Medienbashing zu tun, müssen Falschinformationen richtigstellen und dabei nach Möglichkeit sachlich bleiben. Doch der Wahlabend selbst werde noch einmal alles übertreffen, so MaryAlice Parks, stellvertretende Politik-Chefin beim Sender ABC News: “Wir müssen hier alle mal einen Moment durchatmen und uns klarmachen, dass wir einfach nicht wissen, wie es an dem Abend ablaufen wird. Und darauf müssen wir auch unser Publikum vorbereiten.”
Weitere Lesehinweise: “Wie sich Forscher und sogar die angesehensten wissenschaftlichen Fachzeitschriften in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf einmischen, ist ungewöhnlich und bemerkenswert.” Forscher im US-Wahlkampf: Mittendrin statt nur dabei (de.ejo-online.eu, Stephan Russ-Mohl).
Und außerdem: “Die geplante Kürzung der Visa-Dauer für deutsche Journalisten mache eine kontinuierliche Berichterstattung unmöglich, kritisieren führende Journalisten- und Medienverbände”: Arbeitsfähigkeit von Korrespondenten in den USA bedroht (meedia.de).

5. Die Freienbibel 2
(startnext.com, Jakob Vicari & Jens Eber & Anja Reiter & Jan Schwenkenbecher & Oliver Eberhardt & Katharina Jakob)
Der Berufsverband Freischreiber setzt sich für die Belange freier Journalisten und Journalistinnen sowie die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit ein. Nun starten die Freischreiber das Crowdfunding für die zweite Ausgabe ihrer “Freienbibel”: Wie schreibt man das unwiderstehliche Exposé? Wie macht man sich unabhängig von Verlagen? Woraus kann Journalismus heute und in Zukunft bestehen? Auf der Kampgagnenseite stellt der Verband das Projekt vor, für dessen Verwirklichung die Unterstützung von mindestens 308 Personen benötigt wird.

6. Rassismus in Disney-Filmen: Konzern blendet künftig Hinweise ein – eine gute Idee
(rnd.de, Imre Grimm)
In alten Disney-Filmen gibt es hin und wieder problematische, anachronistische oder verletzende Szenen, die so heute vermutlich nicht mehr in den Werken unterkämen. Nun will der Konzern bei seinem Streamingdienst Disney+ Warnhinweise einblenden: “Dieses Programm enthält negative Darstellungen und/oder Misshandlungen von Völkern oder Kulturen. Diese Stereotype waren damals falsch und sind heute falsch. Anstatt diese Inhalte zu entfernen, wollen wir ihre verletzende Wirkung anerkennen, daraus lernen und das Gespräch darüber anregen, um gemeinsam eine inklusivere Zukunft zu erreichen.” Ein sinnvoller Kompromiss, wie Imre Grimm findet.

Jetzt mal “Klartext”: “Bild” reißt ordentlich aus dem Zusammenhang

Karl Lauterbach war gestern zu Gast in der “Bild”-Sendung “Die richtigen Fragen”. Und natürlich könnte man nun einfach mit den Schultern zucken und sagen: “Tja, selbst schuld”. Doch wie die “Bild”-Redaktion in diesem Fall Aussagen des SPD-Gesundheitsexperten aus dem Kontext reißt, Versatzstücke neu zusammenwürfelt und es am Ende so wirken lässt, als wäre Lauterbach zum “Klartext”-Politiker mutiert, der gegen arabische Großfamilien poltert, ist schon besonders frech.

Screenshot Bild.de - Explodierende Corona-Infektionszahlen - Lauterbach spricht Klartext über Clan-Hochzeiten

titelt gestern Abend Bild.de auf der Startseite und heute die gedruckte “Bild” auf Seite 3. Die Kombination aus Dach- und Schlagzeile lässt nicht viel Spielraum für Interpretationen: Karl Lauterbach klartextet, dass die “Clan-Hochzeiten” schuld seien an den “explodierenden Corona-Infektionszahlen”. Nur sowas hat Lauterbach in der “Bild”-Sendung nicht gesagt.

Das Thema an sich brachte auch nicht Lauterbach in die Gesprächsrunde ein, sondern der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer. Als Moderator fragte Ronzheimer erst den per Videostream zugeschalteten FDP-Politiker Wolfgang Kubicki:

Wir reden viel über Feiern. Herr Kubicki, eine Frage an Sie gerichtet: Wenn man über diese Feiern spricht, was ist aus Ihrer Sicht da der tatsächliche Hintergrund? Und was bedeutet es eigentlich, dass jetzt die Kanzlerin und der Regierungssprecher aktuell zum Beispiel in einer Videobotschaft auch vermehrt mit arabischen Untertiteln arbeiten, um sozusagen auch Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen? Sehen Sie da eine Problematik, die bislang zumindest in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wurde?

Feiern, arabische Untertitel, zwinkerzwinker, sagen Sie doch mal, Herr Kubicki, was ist da der “tatsächliche Hintergrund”?

Anschließend wandte sich Ronzheimer an Karl Lauterbach:

Herr Lauterbach, sehen Sie, ähnlich wie Herr Kubicki, ein besonderes Problem und die Frage, ob es einer besonderen Aufklärung bedarf für Menschen mit Migrationshintergrund? Oder ist das Quatsch?

Das sind eigentlich drei Fragen auf einmal: 1. “besonderes Problem”, 2. “besondere Aufklärung” und 3. “Quatsch”. Lauterbach scheint auf die Fragen 2 und 3 zu antworten:

Das ist kein Quatsch. Das muss man schon natürlich einräumen, weil kulturelle Unterschiede und auch Sprachbarrieren bei der Ansprache spielen hier natürlich eine große Rolle. Von daher wäre es falsch, das nicht einzuräumen.

Es geht ihm offenbar um die gesonderte Aufklärung über die Corona-Pandemie für Menschen, die kaum oder gar nicht Deutsch sprechen.

Dann kommt der “Klartext”. Lauterbach sagt direkt im Anschluss:

Ich will aber in einem Punkt hier Klartext sprechen. Der Punkt, wo wir das noch in den Griff hätten bekommen können, also wir kämen aus dem exponentiellen Wachstum raus, indem wir einfach nur die Feiern verbieten, der ist leider weg. Das hätte man vor zwei oder drei Wochen vielleicht noch machen können.

Er erwähnt an dieser Stelle also nicht “Clan-Hochzeiten”, sondern “Feiern” allgemein. Und er sagt: Das Verbieten von Feiern ist heute schon gar nicht mehr das entscheidende Thema:

Daher hat Merkel Recht gehabt, indem sie auf die Kontakte abgehoben hat. Vor zwei, drei Wochen hätte es wahrscheinlich noch gereicht, wenn wir einfach die Feiern, die privaten Feiern begrenzt hätten. Da gab es Modellierungen auf 25 Leute maximal. Das wäre möglicherweise noch gegangen. Aber jetzt haben wir so viele Fälle in der breiten Bevölkerung, dass die ganz gewöhnlichen Kontakte, am Arbeitsplatz, im Restaurant, dass die auch schon reichen, sozusagen die Pandemie zu unterhalten.

Auch hier: keine explizite Erwähnung der “Clan-Hochzeiten”, sondern “Feiern, die privaten Feiern”. Paul Ronzheimer grätscht dazwischen:

Das heißt, Sie wollen wieder alles dichtmachen?

Lauterbachs Antwort:

Nein, das will ich nicht. Ich will nur erklären, dass wir jetzt, jeder Einzelne, die Kontakte reduzieren müssen. Und ich halte es für extrem gefährlich, also folgenden Irrgedanken zu haben. Das wäre, sagen wir mal, ein Fehler. So könnte man falsch denken. Falsches Denken wäre in diesem Moment wie folgt: Ich mache keine privaten Feiern, ich bin nicht betroffen. Ich gehe zu keiner Hochzeitsfeier. Ich kann das machen, was ich in den letzten drei Wochen gemacht habe. Ich verändere mich nicht. Ich gehöre nicht zu diesen Großfeiern und so weiter. Vor ein paar Wochen hätte das gereicht. Die Zeit ist vorbei, das ist abgefahren. Also jetzt ist die Zahl mittlerweile so hoch, und es hat sich so stark verbreitet, dass wir jetzt tatsächlich an die, ich sag’ mal, Nicht-Feier-Kontakte ran müssen. Und das müssen wir schnell machen. Solche Feiern sind in Frankreich schon lange verboten. Und trotzdem sind die mehr oder weniger im Lockdown. Weil wenn ich einmal eine gewisse Zahl von Infizierten erreicht habe, dann sind die Früchte, die tief hängen, der Ökonom spricht ja von den tiefhängenden Früchten, die tiefhängenden Früchte, die Feiern, also die Großveranstaltungen und so weiter, die Clan-Hochzeiten, die tief hängenden Früchte, die sind jetzt alle nicht mehr relevant. Jetzt muss ich an die höheren Früchte ran. Und daher wird das schwieriger werden. Und ich will einfach der Illusion entgegenwirken, dass wir jetzt sagen können: Wenn die Feiern jetzt erstmal beendet sind, dann sind wir aus dem Schneider. Der Punkt ist nicht mehr.

Nun also die “Clan-Hochzeiten”. Weit entfernt vom “Klartext” und nur als ein Beispiel neben “Feiern” und “Großveranstaltungen”. Vor allem aber: Das alles sei jetzt “nicht mehr relevant”, denn eine Begrenzung oder ein Verbot von Feiern griffe viel zu kurz. Weitergehende Maßnahmen wären stattdessen nötig.

Bildblog unterstuetzen

Von dieser Forderung ist in den Artikeln der “Bild”-Medien nichts zu lesen (bei Bild.de ist auch kein Video mit den im Beitrag thematisierten Zitaten Lauterbachs eingebettet). Stattdessen würfelt die Redaktion die Aussagen Lauterbachs zusammen:

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (57) spricht sogar offen aus, dass Clan-Hochzeiten mitverantwortlich für den rasanten Anstieg der Corona-Infizierten sind.

Im BILD-Talk “Die richtigen Fragen” sagte Lauterbach über die steigenden Zahlen: “Der Punkt, wo wir das noch hätten in den Griff bekommen können, indem wir einfach nur Feiern verbieten, ist leider weg. Das hätte man vor zwei oder drei Wochen vielleicht noch machen können.” Die “kulturellen Unterschiede” und “Sprachbarrieren” spielten natürlich eine Rolle.

Das geschickte Zusammensetzen lässt es für die Leserinnen und Leser so wirken, als bezöge Lauterbach die “kulturellen Unterschiede” und die “Sprachbarrieren” auf die Feiern, wodurch sich der Rückschluss auf die “Clan-Hochzeiten” ergibt. Er erwähnte sie aber im Zusammenhang mit der besonderen Aufklärung über die Corona-Pandemie – siehe oben.

Im selben Artikel schicken die “Bild”-Autoren Ralf Schuler und Sebastian Geisler neben Karl Lauterbach übrigens auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die ganze Bundesregierung in den Kampf gegen “große Familienfeiern” von Türken und Arabern:

Die Videobotschaft von Kanzlerin Angela Merkel (66, CDU) am vergangenen Wochenende wurde mit Untertiteln gezeigt: auf Türkisch und Arabisch. Damit gibt auch die Regierung zu, dass große Familienfeiern Ursache zahlreicher Masseninfektionen waren und sind.

Diese bewusst hergestellte falsche Kausalität und die Verdrehungen zu Karl Lauterbachs Aussagen passen wunderbar zur Linie, die die “Bild”-Redaktion und ihr Chef Julian Reichelt in letzter Zeit verfolgen. Vor eineinhalb Wochen schrieb Reichelt in einem Kommentar zu den Corona-Maßnahmen:

Wir erleben keine Explosion der Unvernunft in Deutschland, sondern immer noch vermeintlich coole Partys in Berlin-Mitte und Familienfeste, die dann Millionen Menschen in Restriktionen zwingen. Bei den “Familienfesten” geht es viel zu oft um eben jene Hochzeiten, die vor Corona durch Autocorsos und Tänze auf Kreuzungen und In-die-Luft-Schießen deutlich machten, dass sie von Regeln des Zusammenlebens nichts halten.

Es ist schon erstaunlich, wie viele Zeilen Julian Reichelt braucht, um seine simple wie gefährliche Botschaft loszuwerden: Die Ausländer sind schuld.

Dazu auch:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Bildblog unterstuetzen

Respekt geht anders, Fischer trennt sich von Maron, Neue BBC-Konkurrenz

1. Gabriele Krone-Schmalz im Gespräch auf der ARD-Buchmessenbühne
(youtube.com, Hessischer Rundfunk, Video: 20:47 Minuten)
In ihrem neuen Buch “Respekt geht anders” macht sich Gabriele Krone-Schmalz Gedanken über die derzeitige Streit- und Debattenkultur. Deutschland sei “im Kampfmodus”. Andersdenkende würden oftmals verunglimpft, und statt aufeinander zuzugehen, breite sich in der Öffentlichkeit ein aggressives Klima der Intoleranz aus. Auf der ARD-Buchmessenbühne unterhält sich die Radiomoderatorin Marion Kuchenny mit Krone-Schmalz darüber, wie sich zielführender und respektvoller miteinander streiten lässt.
Weiterer Lesetipp: Thematisch passend dazu, schreibt Kuchenny in einem Thread über die Debattenkultur auf Twitter: “Diese Mischung aus permanenter Aufregung, großer Empfindlichkeit bei den eigenen Themen und gleichzeitig einer kompletten Hemmungslosigkeit im unerbittlichen Umgang mit den Themen und Argumenten anderer scheint ein Markenkern dieser Plattform zu sein.”

2. Wenn Bildredaktionen und Kompetenz fehlen
(mmm.verdi.de, Felix Koltermann)
Das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die journalistische Berichterstattung über Osteuropa zu verbessern. Der Kommunikationswissenschaftler und Journalist Felix Koltermann hat mit Stefan Günther gesprochen, der bei n-ost als Bildredakteur arbeitet. In dem Interview geht es um den fotografischen Auslandsjournalismus und die bildredaktionelle Praxis von Medien allgemein.

3. Neue Konkurrenz für die BBC
(deutschlandfunk.de, Christine Heuer, Audio: 5:20 Minuten)
Wer an das britische Fernsehen denkt, denkt zunächst vermutlich an die BBC, die mehrere Fernseh- und auch Hörfunkprogramme sowie eine Nachrichtenwebsite betreibt. Doch mit GB News und News UK stehen zwei Konkurrenten in den Startblöcken, die nicht nur für Konkurrenz, sondern auch für eine Polarisierung der britischen Medien sorgen könnten.

Bildblog unterstuetzen

4. Das sind die Podcast-Tipps im Oktober
(sueddeutsche.de, Elisa Britzelmeier & Aurelie von Blazekovic & Stefan Fischer & Marlene Knobloch & Harald Hordych)
In den Podcast-Tipps für den Oktober verraten “SZ”-Autoren und -Autorinnen ihre derzeitigen Lieblings-Hörtipps. Mit dabei: ein Nachrichtenpodcast (“0630”), die “Kohl Kids”, ein Polit-Thriller (“Der V-Komplex”), ein von Frauen präsentierter Tech-Podcast (“She Likes Tech”) und der “sportstudio-Podcast” des ZDF.

5. Zu “rechts”? Fischer-Verlag trennt sich von Autorin Monika Maron
(br.de, Peter Jungblut, Audio: 2:03 Minuten)
Nach vierzigjähriger Zusammenarbeit trennt sich der Fischer-Verlag von seiner Autorin Monika Maron. Die verlegerische Geschäftsführerin des Verlages habe sich in einer kurzen Pressemitteilung zu den Gründen geäußert: “Man kann nicht bei S. Fischer und gleichzeitig im Buchhaus Loschwitz publizieren, das mit dem Antaios Verlag kooperiert.” Anmerkung des “6 vor 9”-Kurators: Das Buchhaus Loschwitz gilt als pegida-nah, Antaios wird dem Netzwerk der Neuen Rechten zugeordnet.
Weiterer Lesehinweis: Kein Platz für Maron (sueddeutsche.de, Hilmar Klute).

6. Deswegen wurde 14 Jahre lang gebaut
(interaktiv.tagesspiegel.de)
Keine explizite Medienmeldung, aber ein tolles Beispiel für innovative Darstellungsformen im Journalismus: Der “Tagesspiegel” zeigt (wieder einmal) eindrucksvoll, wie sich eine Reportage interaktiv und multimedial aufbereiten lässt, ohne dabei in reine Technik-Spielerei abzugleiten.

Reizdarm Pro reagiert gereizt, Wenig reizende Fragen, Große Gereiztheit

1. Das Dilemma mit kritischen Fragen
(taz.de, Anne Fromm)
Die Medizinerin Sandra Ciesek tritt seit einiger Zeit im Wechsel mit Christian Drosten im Corona-Podcast des NDR auf. Ciesek ist als Professorin für Virologie und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie in Frankfurt mehr als qualifiziert für diese Aufgabe, wurde jedoch in einem “Spiegel”-Interview mit merkwürdigen Fragen konfrontiert. Die Redaktion verteidigte die Fragen auf Twitter als “kritisch”, “frech” und “provokant”. Anne Fromm hat sich angeschaut, wie dieselben “Spiegel”-Redakteurinnen im Mai mit Cieseks Kollegen Drosten umgegangen sind: “Da ist wenig Provokantes, Freches, Kritisches drin. Das liest sich eher wie Heldenverehrung. Der Spiegel konkretisierte nach der aktuellen Kritik eine Frage an Sandra Ciesek in der Onlineversion des Interviews. Eine der Interviewerinnen schob die Verantwortung für die Fragen dennoch Ciesek selbst zu, die doch bitte im Interview hätte deutlich machen sollen, dass sie mit den Fragen nicht einverstanden sei.”

2. Balance zwischen Empathie und Distanz
(journalist.de, Marianna Deinyan)
Marianna Deinyan gibt zehn Tipps, wie Journalistinnen und Journalisten im Interview mit Personen umgehen können, die Terroranschläge, Naturkatastrophen oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Es sind gute und sensible Ratschläge, die von Verantwortung für die Gesprächspartner zeugen und die man allerhöchstens mit einem elften Ratschlag ergänzen könnte: Es im Zweifel sein zu lassen.

3. Die Krise der Kommunikation – Die große Gereiztheit unserer digitalen Gegenwart (1/2)
(swr.de, Bernhard Pörksen, Audio: 29:56 Minuten)
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen macht sich Gedanken zur Reizüberflutung durch fragwürdige Nachrichten. All die Falschmeldungen, Verschwörungsmythen und Empörungstexte würden zu einer neuen Gereiztheit führen, die symptomatisch für eine neue Kommunikationskultur sei: “Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.” Pörksens Ausführungen können auch im Manuskript (PDF) nachgelesen werden.

Bildblog unterstuetzen

4. Kijimea Reizdarm Pro: Anbieter droht dem Arznei Telegramm
(arznei-telegramm.de)
Seit mehr als 50 Jahren versorgt das unabhängige “arznei-telegramm” Ärztinnen, Apotheker und Medizininteressierte mit Informationen zu Arzneimitteln. Um unabhängig zu sein, erfolgt die Finanzierung ausschließlich über Abonnements – Werbung gibt es nicht. Nun habe die Redaktion Anwaltspost bekommen, “die wir als unzulässigen Versuch empfinden, durch bloße Drohgebärde unsere redaktionellen Recherchen und Veröffentlichungen zu beeinflussen.”

5. Was hat Sucharit Bhakdi als Experte im Programm der ARD zu suchen?
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier & Holger Klein, Audio: 42:26 Minuten)
Im neuen “Übermedien”-Podcast unterhalten sich Stefan Niggemeier und Holger Klein über die Bhakdi-Panne der ARD. Vergangene Woche hatten MDR und hr-Info den emeritierten Epidemiologen Sucharit Bhakdi unhinterfragt in einem Interview zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass sich Bhakdi außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses bewegt.

6. Was besser wäre, als Pornoseiten zu sperren
(netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Um Kinder vor verstörenden Inhalten zu schützen, will die nordrhein-westfälische Medienaufsichtsbehörde die großen Porno-Portale dazu zwingen, ihre Inhalte erst nach einer Altersverifikation preiszugeben, und droht ihnen bei Nichtbefolgung mit Netzsperren. Marie Bröckling hat sich bei Medienpädagoginnen und Fachleuten aus der Praxis umgehört, was diese von den Ausweiskontrollen halten und welche anderen Möglichkeiten es gibt, mit dem Thema umzugehen.

7. #Bild verfolgt in Sachen Corona eine besorgniserregende Agenda
(twitter.com, Lorenz Meyer)
Zusätzlicher Link, da aus der Feder des “6 vor 9”-Kurators: Auf Twitter habe ich den Corona-Kommentar des “Bild”-Mitarbeiters Filipp Piatov analysiert. Eine der Erkenntnisse: “‘Bild’ agiert wie der Brand-Gaffer, der nicht nur die Löscharbeiten behindert, sondern die Besitzer des brennenden Hauses mit Hinweisen auf die Gefahren durch Löschwasser verunsichert. Wohlwissend, dass nicht das Wasser das Problem ist, sondern das um sich greifende Feuer.”

Döpfners Steuercoup, Superspreader Facebook, Perverses Armuts-TV

1. Aktiengeschenk: Döpfners Steuercoup
(mmm.verdi.de, Gert Hautsch)
Die Springer-Erbin Friede Springer hat dem Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner einen großen Teil ihrer Springer-Aktien geschenkt. Normalerweise wären dafür hohe Einkommen- und Schenkungssteuern fällig. Doch durch ein raffiniertes Ausnutzen des Steuerrechts werde der Fiskus wahrscheinlich weitgehend leer ausgehen, so Gert Hautsch.

2. Facebook ist Superspreader
(taz.de, Steffen Grimberg)
Das International Center for Journalists und das Tow Center for Digital Journalism an der New Yorker Columbia-Universität haben die Wechselwirkungen zwischen Journalismus und Corona-Pandemie untersucht. Das für Facebook niederschmetternde Ergebnis: Das Soziale Netzwerk sei “weltweit der Superspreader von Desinformation über Covid-19”, so die Zusammenfassung von Steffen Grimberg. Er kommentiert: “Um so dringlicher ist, dass Facebook & Co. endlich ernst machen und selbst energischer gegen Desinformationsspreader und Verschwörungsmaschinen in ihren Diensten vorgehen.”

3. Wie ServusTV seinen Ruf in der Coronakrise ruiniert
(dwdl.de, Timo Niemeier)
Der österreichische Sender ServusTV bietet mit dem “Corona-Quartett” ein neues Talk-Format an, bei dem die Corona-Leugner Sucharit Bhakdi und Stefan Homburg mitmischen. Timo Niemeier hält die Sendung für gefährlich: “Denn immer schwingt mit: Alle Maßnahmen sind sinnlos und übertrieben. Pandemie? Was für eine Pandemie? Damit wird so getan, als verfolgen etliche Regierungen auf dieser Welt ein ‘höheres Ziel’ und würden einfach so und ohne Grund ihre Wirtschaft in Teilen lahm legen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Telegram-Spinner und sonstigen Covidioten, die solche Thesen regelmäßig in die Welt posaunen.”

Bildblog unterstuetzen

4. Wut schlägt Wahrheit
(zeit.de, Bernhard Pörksen)
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschäftigt sich mit der Entwicklung des US-amerikanischen Fernsehsenders Fox News. Dieser habe sich schrittweise radikalisiert mit dem vorläufigen Endpunkt einer extremen Trump-Fixierung. Pörksen führt dies auf ein “ein Zusammenspiel von individueller Skrupellosigkeit und stramm konservativer Ideologie” zurück und bezeichnet die Fox-Agenda als ein Gemisch aus Quoten- und Erregungsgier: “Man kooperiert in dem Wissen, dass man einander braucht. Und Trump ist jetzt zweierlei: ein Geschöpf und eine Art Programmdirektor des Senders, Hybridfigur aus Reality-TV-Star und Internet-Troll, skrupellos, verlogen, aber mit wunderbaren Quoten, gefeiert von Journalisten, die keine mehr sind und die die Ideale ihrer Profession verachten.”

5. Corona-Verschwörungen vom Fitnesscoach
(deutschlandfunk.de, Mirjam Kid)
Fitness-Influencer “Coach Cecil” versorgt seine mehr als 200.000 Zuschauer und Zuschauerinnen normalerweise mit Vorschlägen für Sportübungen und Ernährungstipps. Doch seit Ausbruch der Corona-Pandemie äußere er sich auch politisch, verharmlose die Krankheit und hetze gegen Journalisten, Wissenschaftlerinnern oder Politiker. Der Deutschlandfunk hat sich mit der Journalistin Karolin Schwarz über den umtriebigen Youtuber unterhalten, hinter dessen Verschwörungserzählungen auch geschäftliche Interessen stecken würden.

6. Armut am TV: Die perverse «Reality» der Privatsender
(medienwoche.ch, Marko Ković & Christian Caspar, Audio: 27:44 Minuten)
Marko Ković und Christian Caspar sprechen in ihrem Podcast über die vermeintlichen Sozialreportagen der Privatsender, in denen Hartz-IV-Empfänger vorgeführt werden. “Sie geben vor, den Lebensalltag von Menschen zu dokumentieren, die von Arbeitslosengeld leben. Doch das Ziel dieser Formate ist nicht, den Betroffenen und ihrer Situation mit Empathie und Wohlwollen zu begegnen. Stattdessen geht es darum, die Betroffenen als faul, undiszipliniert, irrational, und als Sozialschmarotzer zu inszenieren.”

Sendezeit für Corona-Leugner, Streecks Irritationen, G20-Urteil

1. Falschaussagen: Bhakdi darf im MDR und HR Corona-Fakes verbreiten
(volksverpetzer.de, Thomas Laschyk)
Die Thesen von Prof. Sucharit Bhakdi zum Coronavirus gelten in der Fachwelt als unwissenschaftlich und wurden in Faktenchecks wiederholt als falsch (ZDF/SWR3) oder unbelegt (“Correctiv”) entlarvt. Obwohl dies allgemein bekannt ist, haben der MDR und später der der Hessische Rundfunk (hr) ein Interview mit dem Corona-Leugner gesendet und dabei dessen Falschbehauptungen unwidersprochen verbreitet. Thomas Laschyk vom “Volksverpetzer” hat den Vorgang aufgearbeitet und kommentiert: “Es ist richtig, dass man auch die Thesen der Pandemie-Leugner:innen debattieren und diskutieren muss, es ist jedoch höchst fatal, wenn in der Wissenschaft diskreditierte Fake-Verbreiter wie Bhakdi einfach ihre falschen Thesen auf einer derart prominenten Plattform verbreiten dürfen. Ohne dass die Behauptungen live kritisch hinterfragt werden oder zumindest mitsamt Faktencheck präsentiert werden.”
Weiterer Lesehinweis: Bei netzpolitik.org kommentiert Jana Ballweber: “Man kann nicht erwarten, dass Laien zwischen der Glaubwürdigkeit von Virologe Christian Drosten und Epidemiologe Sucharit Bhakdi unterscheiden können. Und genau das ist die entscheidende Aufgabe der Medien in derartigen Krisensituationen. Einschätzen, einordnen, informieren. Ich muss mich als Laie darauf verlassen können, dass ein Wissenschaftler, der von seriösen Journalist:innen interviewt wird und dessen Thesen in diesem Interview unwidersprochen und unwiderlegt bleiben, keinen Mist verzapft. Es ist der Job der Redaktion, so etwas vorher zu prüfen.” Anmerkung des Kurators: Mittlerweile hat sich zusätzlich herausgestellt, dass der hr die Fragen des MDR-Interviews neu eingesprochen und seinen Hörern und Hörerinnen als eigenes Live-Gespräch untergeschoben hat. Der Sender hat jedoch einen Faktencheck zu den Aussagen Bhakdis nachgeliefert (Audio, 7:06 Minuten).

2. Über ein erstaunlich veränderliches Interview mit Hendrik Streeck
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Immer wieder gibt es Diskussionen um die Autorisierung von Interviews. Häufig wollen die Interviewten nachträglich ihre Antworten ändern. Im vorliegenden Fall habe der Virologe Hendrik Streeck vom Magazin “Cicero” zusätzlich verlangt, nachträglich die Fragen zu ändern. Medienjournalist Stefan Niggemeier hat den bemerkenswerten Vorgang auseinandergedröselt.
Weiterer Lesehinweis: Auf Facebook kommentiert Dirk Specht die jüngsten Streeck-Aussagen bei n-tv: “Es ist sehr ärgerlich, dass er immer wieder seine Statements abgeben darf, denen zu folge dieses oder jenes übertrieben ist, wir lernen müssten, mit dem Virus zu leben – und kein Journalist fragt ihn mal glasklar, welche Strategie er denn konkret für richtig hält und welche Ergebnisse er dabei erwartet. So kommt er immer smart vom Hof, indem er sich als der alle beruhigende Anti-Paniker geriert, der genau genommen immer nur opportunistisch die leichten Dinge äußert, nämlich, welche Unannehmlichkeiten man seiner Ansicht nach nicht braucht.”
Zusätzlicher Guckhinweis: Beim “Maischberger”-Talk findet Hendrik Streeck es “müßig, über Todesfälle zu reden” (twitter.com, Video: 0:41 Minuten).

3. Auf Facebook geht es um Leben und Tod
(spiegel.de, Patrick Beuth)
Facebook hat lange Zeit nach Meinung vieler Kritikerinnen und Kritiker zu wenig gegen Falschnachrichten und Hetze unternommen, doch nun legt das Unternehmen ein geradezu schwindelerregendes Tempo vor. Innerhalb einer Woche ging es gegen den Verschwörungskult QAnon vor, verbot die Holocaustleugung auf der eigenen Plattform und akzeptiert nun keine Anzeigen von Impfgegnern mehr. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel? Und warum ausgerechnet jetzt, drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA? Patrick Beuth versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Bildblog unterstuetzen

4. Vertrauen in Medien steigt, Misstrauen auch
(deutschlandfunk.de, Samira El Ouassil)
Deutschlandfunk-Kolumnistin und Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Ouassil stellt ein zunächst paradox klingendes Phänomen fest: Das Vertrauen in die Medien sei merklich gestiegen. Gleichzeitig habe sich “eine Art nutzergenerierte Gegenkultur der Desinformationsvermittlung” entwickelt, die sich auf Plätzen wie Telegram und WhatsApp breitmache: “Je mehr es Rezipienten leicht fallen kann, den Medien Vertrauen entgegen zu bringen, desto anfälliger für eine Gegenbewegung des Misstrauens sind die, die Politik und Medien sowieso nicht glauben.”

5. “Fahn­dungs­aufruf” der Bild-Zei­tung nach G20-Gipfel war recht­mäßig
(lto.de, Martin W. Huff)
Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017 hatte die “Bild”-Redaktion einen Fahndungsaufruf mit Fotos von Beteiligten veröffentlicht. Dagegen wehrte sich eine der abgebildeten Personen zunächst erfolgreich, unterlag nun jedoch vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Zu Recht, wie der Jurist Martin W. Huff findet: “Es handelte sich tatsächlich bei der gesamten Berichterstattung über den G20-Gipfel um ein Ereignis der Zeitgeschichte, bei dem auch die Wort-Berichterstattung mit Bildern versehen werden durfte. Dass die Klägerin unter Umständen von einem engen Personenkreis hätte identifiziert werden können, muss hier, so der BGH zu Recht, hinter dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit zurückstehen.”

6. Die Ehre genommen
(sueddeutsche.de, Moritz Fehrle)
Mit einer fünfteiligen Youtube-Miniserie will das Familienministerium junge Menschen für Pflegeberufe begeistern (Episode 1, Episode 2, Episode 3, Episode 4, Episode 5). Eine Aktion, die nach Moritz Fehrles Ansicht spektakulär misslungen ist: “Die Imagekampagne wagt nie den Versuch, ein realistisches Bild von Ausbildung und Beruf zu vermitteln, sondern bleibt ganz im Rahmen einer dumpfen Klassenzimmerkomödie.”
Weitere Guckempfehlung: Auch Philipp Walulis kann den Filmchen wenig abgewinnen – Teuer und peinlich: Netflix-Stars und Ministerium produzieren “Ehrenpflegas”-Serie (youtube.com, Video: 8:37 Minuten).

Steingarts “Spiegel”-Beef, Teure Auskunft, Bezahltdenken 711

1. Gabor Steingart vs. Der Spiegel vs. Die Transparenz
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Der “Spiegel” berichtete unlängst (nur mit Abo lesbar) über das Medien-Start-up seines früheren Angestellten Gabor Steingart und nannte dabei einige Kritikpunkte. Steingart, der zusammen mit dem Springer-Konzern ein Redaktionsschiff in Berlin betreibt, bezeichnet den Text als “eine Mischung aus Erfindungen, Gerüchten und Falschaussagen”. Thomas Knüwer hat sich die Antwort Steingarts genau durchgelesen und bewertet. Eine lohnende Lektüre für alle, die sich für das System Steingart interessieren. Außerdem wartet am Schluss eine hübsche Pointe mit Parmesan.

2. Die Erfolgsgeschichte eines Verlegers
(deutschlandfunk.de, Brigitte Baetz, Audio: 5:11 Minuten)
Der Verleger Dirk Ippen herrscht auch im Alter von 80 Jahren über ein Konglomerat aus lokalen Tageszeitungen und deren Online-Auftritten, aus Radiostationen und zahlreichen Anzeigenblättern. Zuletzt hatte die Ippen-Gruppe durch die Übernahme von “Buzzfeed Deutschland” von sich Reden gemacht. Der Deutschlandfunk zeichnet den Weg der kaufmännisch getriebenen Verleger-Persönlichkeit nach, die sich keine Illusionen über die (wenig rosige) Zukunft der gedruckten Presse mache.

3. Bundesverwaltungsgericht: Gebührenerhebung nicht rechtswidrig
(fragdenstaat.de, Arne Semsrott)
Das Informationsfreiheitsgesetz gewährt jeder Person einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht eine Entscheidung gefällt, die von der Transparenzinitiative “FragDenStaat” als “Richtungswechsel” bezeichnet wird. Demnach dürfen Behörden bei Bürger-Anfragen einen Teil ihres Aufwands in Rechnung stellen. Im vorliegenden Fall habe die Behörde erlaubterweise für eine Auskunft 235 Euro berechnet. “FragDenStaat” kann die Entscheidung des obersten Gerichts nicht nachvollziehen: “Das Urteil bekräftigt unsere Forderung nach einem bundesweiten Transparenzgesetz und einer Abschaffung von Gebühren für Auskünfte. Bürger:innen sollten nicht erneut für Informationen zahlen müssen, die mit Steuergeldern finanziert wurden.”

Bildblog unterstuetzen

4. Krise der Anzeigenblätter
(taz.de, Alexander Graf)
Anzeigenblätter verstehen sich als Teil der Presselandschaft. Dieses Selbstverständnis hat eine besondere Relevanz, wenn es um die geplante Presseförderung für die “digitale Transformation” geht: Der Staat will in den nächsten Jahren insgesamt 220 Millionen Euro an Verlage ausschütten, einen Teil davon wollen die Anzeigenblätter für sich beanspruchen. Doch sind diese tatsächlich ein Teil der Presse? Alexander Graf bejaht die Frage. Deutsche Gerichte würden den Pressebegriff sehr weit auslegen: “Für die Leser*innen wiederum scheint der journalistische Qualitätsbegriff ebenfalls sehr viel facettenreicher zu sein, als es so manche Edelfeder in den Büros der renommierten Verlage aus Hamburg oder Berlin gerne hätte. Immer wieder werden die Anzeigenblätter in Umfragen als verlässliche, glaubwürdige und häufig genutzte Quelle für lokale Nachrichten bezeichnet.”

5. dju zur Räumung der Liebigstraße 34: Massive Einschränkungen der Pressefreiheit durch die Polizei
(dju.verdi.de, Renate Gensch)
Im Zusammenhang mit der Räumung der Liebigstraße 34 in Berlin erhebt die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union schwere Vorwürfe gegen die Polizei: “Bei den Protesten wurden etwa 20 Journalist/inn/en geschubst, geschlagen, eingeschüchtert und ihnen gedroht, Speichermedien oder Kamera zu beschlagnahmen. Besonders eklatant ist die über 40 Stunden andauernde Einrichtung der Roten Zone im näheren Umfeld der Liebig34, in der faktisch die Bürgerrechte und Pressefreiheit ausgesetzt waren.” Wie die “Süddeutsche Zeitung” berichtet, weist die Polizei die Vorwürfe zurück: “Die Pressefreiheit war gewährleistet. Für Dutzende Journalisten war ein extra gesicherter Bereich in Sichtweite des Hauses eingerichtet, in dem sie sich frei bewegen konnten”.

6. Bußgeld gegen Regionalsender
(sueddeutsche.de, Aurelie von Blazekovic)
Die Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) sieht es als erwiesen an, dass der private Fernsehsender L-TV Sendezeit an die Corona-Leugner-Initiative “Querdenken 711” verkauft hat. Wegen des Verbots von politischer Werbung hat die Anstalt ein Bußgeld in Höhe von insgesamt 65.000 Euro gegen den Sender festgesetzt. Die LFK schreibt dazu in einer Pressemitteilung: “Aufgabe der Rundfunkveranstalter ist es, journalistisch-redaktionell zu berichten und dabei auch über abweichende, unbequeme Meinungen zu informieren und das Geschehen einzuordnen. Davon zu unterscheiden ist, wenn gegen Bezahlung Sendezeit zur Verfügung gestellt und damit eine reine Werbefläche für die politische Position einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen geschaffen wird.” Nach Informationen der “Süddeutschen Zeitung” wolle der Geschäftsführer des Senders den Bescheid akzeptieren.

Instagrams dunkle Seite, Was bleibt vom Hörspiel?, Holocaustleugnung

1. Die dunkle Seite von Instagram
(zeit.de, Amna Franzke & Lisa Hegemann)
Instagram genieße bei vielen den Ruf eines “Wohlfühlnetzwerks”, doch die Plattform werde zunehmend politisch genutzt – mit der damit einhergehenden Gefahr der Radikalisierung. Zur “dunklen Seite von Instagram” würden auch Verschwörungsideologien gehören. Amna Franzke und Lisa Hegemann ordnen die Problematik ein, die häufig noch gar nicht als solche wahrgenommen wird.
Weiterer Lesehinweis: Wie bereits vergangene Woche in den “6 vor 9” erwähnt, hat “Correctiv” über einen Zeitraum von mehreren Monaten untersucht, wie sich die rechte Szene auf Instagram vernetzt, und hat dazu rund 4.500 Accounts analysiert. Eine unbedingt lesenswerte Recherche, die zeigt, wie geschickt und planvoll dort hinsichtlich Propaganda und Neurekrutierung vorgegangen wird. Lohnenswert ist auch ein Blick in den Begleitartikel “So sind wir vorgegangen”, in dem genau beschrieben wird, wie die Datenrecherche im Einzelnen erfolgte.

2. Warum Facebook Holocaustleugnung weltweit löschen will
(sueddeutsche.de, Simon Hurtz)
Noch vor etwa zwei Jahren hatte Facebook-Chef Mark Zuckerberg es abgelehnt, Posts, in denen der Holocaust geleugnet wird, löschen zu lassen: “Ich finde das extrem abstoßend. Letztendlich glaube ich trotzdem nicht, dass unsere Plattform das löschen sollte.” Anscheinend hat beim Konzern ein Umdenken stattgefunden: Gestern erfolgte die Bekanntgabe, dass man zukünftig weltweit jegliche Inhalte verbiete, die den Holocaust leugnen oder verharmlosen.

3. Machs gut, altes Haus!
(taz.de)
Die “taz” ist vor einiger Zeit innerhalb Berlins umgezogen: Vom alten Standort in der Rudi-Dutschke-Straße ein paar hundert Meter weiter in einen Neubau in der Friedrichstraße. Nun* denken einige Autoren und Autorinnen nochmal an die alten Zeiten zurück. Rausgekommen ist eine wunderbar melancholische Sammlung ganz persönlicher Erinnerungsschnipsel.
*Nachtrag des Kurators: Zu Recht werde ich darauf hingewiesen, dass der Artikel bereits älter ist. Warum er dennoch in die heutigen “6 vor 9” gerutscht ist, kann ich mir nur mit frühmorgendlichem Koffeinmangel erklären und damit, dass ich ihn mir als besonders lesenswert gebookmarkt hatte.

Bildblog unterstuetzen

4. Was bleibt vom Hörspiel?
(mmm.verdi.de, Danilo Höpfner)
Podcasts erfreuen sich als Audioformat großer Beliebtheit, doch das klassische Hörspiel hat es immer schwerer. Die öffentlich-rechtlichen Sender hätten ihre Produktionen sukzessive heruntergefahren. Ins Privatradio hätten es Hörspiele, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eh nie geschafft. Die Öffentlich-Rechtlichen begännen nun, ihre vorhandenen Hörspiele ins Netz zu stellen. Dieses Vorhaben gestaltet sich jedoch aus rechtlichen Gründen als nicht so einfach, wie man es annehmen könnte.
Literaturtipp für Hörspiel-Interessierte: Die “Kleine Geschichte des Hörspiels” (Hans-Jürgen Krug, Halem Verlag).

5. Mehr Menschen halten Medien für glaubwürdig
(meedia.de)
Laut einer WDR-Studie würden zwei Drittel der befragten Personen die Informationen in deutschen Medien für glaubwürdig halten. Das seien so viele wie noch nie. Auch der Anteil derer, die eine politische Einflussnahme auf die Berichterstattung in den Medien vermuten, sei gesunken. WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn kommentiert: “Es ist aus meiner Sicht insgesamt ein gutes Zeugnis für den Zustand unserer Gesellschaft, dass im Jahr der Pandemie das Vertrauen in die Medien, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aber auch in die politischen Institutionen insgesamt so gestiegen ist. Die Kritiker der Corona-Maßnahmen machen sich zwar laut bemerkbar, sind aber doch nur – wie die Studie erneut zeigt – eine Minderheit.”

6. dpa-Fotograf Anas Alkharboutli für Serie “The War in Syria” ausgezeichnet
(presseportal.de, Jens Petersen)
Der syrische dpa-Fotograf Anas Alkharboutl ist für seine Bilderserie “The War in Syria” mit der “Young Reporter Trophy (Bild)” ausgezeichnet worden. In den Mittelpunkt seiner Fotos stellt Alkharboutl die Zivilbevölkerung in Syrien und deren Leiden in dem vom Bürgerkrieg zerstörten Land.

Blättern:  1 2 3