Archiv für Oktober 9th, 2020

Über den Versuch, falsche Behauptungen über “Querdenken” korrigieren zu lassen

Ein Gastbeitrag von Jakob Buhre, freier Autor unter anderem bei “der Freitag” und Betreiber von “Planet Interview”

Haben die Initiatoren von “Querdenken” ein Recht darauf, dass man über sie korrekt berichtet?

“Absolut. Das finde ich extrem wichtig”, sagte mir dazu kürzlich David Schraven von “Correctiv”. Die Frage ist natürlich rhetorisch und man möchte meinen, die Antwort darauf sei selbstverständlich. Doch dem ist nicht ganz so. Das zumindest habe ich gelernt, als ich in den vergangenen vier Wochen “Spiegel”, “Zeit Online” und auch tagesschau.de hinterhergelaufen bin, um die Redaktionen auf ein falsches Narrativ in ihrer Berichterstattung aufmerksam zu machen.

Konkret geht es um folgende Behauptung: Die Initiative “Querdenken 711”, die hinter zahlreichen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung steckt, habe sich vor und während der Berliner Demonstration vom 29. August nicht von gewalttätigen beziehungsweise rechtsextremem Demonstranten distanziert.

Wer ein bisschen recherchiert, findet relativ schnell zahlreiche Distanzierungen, die der “Querdenken”-Initiator Michael Ballweg vor und während betreffender Demo ausgesprochen hat. Sie finden sich in verschiedenen Medienberichten, in einem Interview, das Welt.de, RBB und ZDF am 28. August mit ihm geführt haben, und in Ballwegs Reden, zum Beispiel am 9. Mai, am 31. Mai oder am 1. August. Am 29. August sagte Ballweg öffentlich: “Rechtsradikales, linksradikales, rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz”.

Die “Spiegel”-Redaktion interessiert das offenbar nicht. In einem Video vom 31. August heißt es: “Der Veranstalter distanziert sich im Nachhinein”, und mit Bezug auf den 29. August formuliert eine Redakteurin: “Es gab keine wirkliche Distanzierung von Rechtsextremem oder rechtsextremem Gedankengut”. Ich weise die Autorin mehrmals per Mail auf die zahlreichen Distanzierungen Ballwegs hin, die sie unterschlagen hat. Da eine Reaktion ausbleibt, versuche ich es bei der Pressestelle des “Spiegel”. Und siehe da: Der “Projektleiter Kommunikation” bestätigt mir den Eingang meiner Mail. Das war’s aber auch schon. Als ich ein paar Tage später telefonisch nachhake, teilt mir der Pressesprecher mit: “Sie bekommen dazu von uns keinen Kommentar.”

“Zeit Online” hat das falsche Narrativ mit einer anderen Formulierung bedient: “Vor der Demonstration hatte es seitens des Vereins keine klare Distanzierung von gewaltbereiten Gruppen gegeben.” Dass dies nicht zutrifft, konnte man selbst bei “Zeit Online” nachlesen, wo Ballweg am 28. August so zitiert wurde: “Diejenigen, die zu Gewalt aufrufen, gehören nicht zu uns.” Am 5. September beginne ich, “Zeit Online” auf diesen Widerspruch in der Berichterstattung hinzuweisen. Doch weder Pressestelle noch Redaktion reagieren. Nach zwei Wochen teilt mir eine Redakteurin am Telefon mit, dass im Falle eines Fehlers “Zeit Online” gar nicht die Möglichkeit hätte, ihn zu korrigieren, weil der Artikel Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP enthält. Ich kontaktiere die Agenturen, die mir beide mitteilen, dass sie den falschen Satz nie versendet haben. Ich schreibe zum dritten Mal an den Chefredakteur von “Zeit Online” – und tatsächlich wird daraufhin die falsche Berichterstattung transparent korrigiert. Der Vize-Chefredakteur bedankt sich anschließend für meine Beharrlichkeit. Gern geschehen.

Nichts genutzt hat diese Beharrlichkeit dagegen im Fall von tagesschau.de. Doch zuvor eine Zwischenbemerkung: Dass das Aussprechen einer Distanzierung noch nichts über ihre Glaubwürdigkeit sagt, ist eine Binse. Und dass viele Journalistinnen und Journalisten Michael Ballweg für nicht glaubwürdig halten, muss ich hier vermutlich nicht erwähnen. Doch entweder zu berichten: “es gab eine Distanzierung, die nicht glaubwürdig ist”, oder zu berichten: “es hat keine Distanzierung gegeben”, ist ein Unterschied und kein so geringer.

Im ersten Fall kann die Leserschaft noch selbst entscheiden, ob sie die Distanzierung für glaubwürdig hält. Im zweiten Fall ist das a) unmöglich und b) wird noch etwas Anderes unterschlagen: Die Reaktion der Demonstrierenden. Jedes Mal, wenn Ballweg sich auf der Bühne von Faschismus und Extremisten distanziert hat, kam großer Applaus auf. Mir ist nicht ein Bericht der öffentlich-rechtlichen Medien bekannt, wo das dokumentiert wurde.

Womit wir bei ARD-aktuell beziehungsweise tagesschau.de wären. Dort schreibt eine Redakteurin am 30. August in einem Kommentar, “es gab im Vorfeld und auch während der Demonstration keine öffentliche Distanzierung”, um dann mit diesem Vorwurf fortzufahren:

Dass sich der oberste “Querdenker”, Michael Ballweg, heute von dem rechtsextremen Aufmarsch und der Gewalt vor dem Reichstag öffentlich distanziert, kommt nicht nur zu spät, sondern ist auch reichlich wohlfeil. Warum wurden die Nazis nicht schon während oder vor der Demo zu unerwünschten Personen erklärt?

Diese Darstellung ist falsch und zudem seltsam. Denn es war nicht irgendein anderer Sender, gegenüber dem sich Michael Ballweg am 28. August von der angekündigten Demonstration am Reichstag distanziert hat, sondern die ARD. Auf die Frage einer RBB-Journalistin nach Distanzierung sagte Ballweg:

Unsere Versammlung ist auf der Straße des 17. Juni, wir haben mit diesen Gruppen [am Reichstag] nichts zu tun, und die sind bei uns letztendlich nicht willkommen.

Im selben Interview sagte Ballweg auch das hier: “Natürlich distanzieren wir uns von allen, die antidemokratisch sind, egal ob sie rechtsextrem oder linksextrem sind.” Welt.de hat das am 28. August veröffentlicht. Die Tatsachenbehauptung im Kommentar bei tagesschau.de ist also nicht nur falsch, sie widerspricht auch dem Material des eigenen Hauses.

Weil ich es mir mit diesem Vorwurf an tagesschau.de nicht leicht mache, habe ich zusätzlich zwei Experten um ihre Einschätzung gebeten. Heiko Hilker betreibt das Dresdner Institut für Medien, Bildung und Beratung und ist Mitglied im MDR-Rundfunkrat sowie im Medienbeirat von RTL. Er sagt:

Fakten bilden die Grundlage für die Meinungsäußerung. Sind in einem Kommentar Fakten, und sei es auch nur ein einziger, falsch, bietet man eine unnötige Angriffsfläche sowie einen Grund, sich mit der Position nicht auseinandersetzen zu müssen. Leider ist das hier der Fall.

Imre Grimm ist Redakteur beim “RedaktionsNetzwerk Deutschland”. Sein Blick auf den Fall:

Auch in einem Kommentar müssen die Fakten stimmen. In diesem speziellen Fall sieht es so aus, als habe sich die Initiative “Querdenken” tatsächlich nicht erst nach der Demo von rechtsextremem Gedankengut und radikalen Mitmarschierern distanziert. Möglicherweise hat sie dies nicht beherzt und konsequent genug getan. In dieser Absolutheit aber ist die Darstellung von tagesschau.de nicht korrekt. Gerade bei einem so komplexen Thema ist Präzision wichtig, um keine Angriffsfläche zu bieten.

Ich habe mich ab dem 3. September bei tagesschau.de an verschiedene Stellen gewandt: an die Redaktion, die Pressestelle des NDR, den “Faktenfinder” und schließlich den Rundfunkrat. Erstmal passierte nichts (außer dass sich eine renommierte NDR-Journalistin bei mir darüber beschwerte, dass ich ihr eine E-Mail schickte). Nach vier Wochen schließlich bekam ich eine Antwort (PDF) von der tagesschau.de-Chefredakteurin. Leider scheint sie den betreffenden Text nicht gelesen (oder nicht verstanden) zu haben. Sie schreibt: “In dem Kommentar vom 30. August vertritt die Autorin die Meinung, dass die verbale Distanzierung Ballwegs von Rechtsextremisten unglaubwürdig wirkt.” Ähm, nein. Die Autorin negiert die Distanzierung, und das Wort “unglaubwürdig” kommt in dem Kommentar nicht vor. Am Ende der E-Mail dann aber tatsächlich eine Art Eingeständnis: “Dennoch hätte die Autorin in der Rückschau eine so ausschließliche Formulierung nicht noch einmal verwendet.” Der Kommentar steht heute unverändert bei tagesschau.de online.

Zusammengefasst: Bei tagesschau.de wird nachweislich eine falsche Tatsache behauptet, eine Korrektur findet nicht statt, und wenn ein Leser auf den Fehler hinweist, teilt man diesem nach einem Monat mit, dass man die falsche Formulierung “nicht noch einmal verwendet”.

Als Journalist und Gebührenzahler muss ich sagen: Unter Fehlerkultur verstehe ich etwas Anderes.

Nachtrag, 11. Oktober: Die Redaktion von tagesschau.de hat auf diesen Beitrag reagiert. Am Ende des hier kritisierten Kommentars steht inzwischen:

Anmerkung der Redaktion: Wir sind darauf hingewiesen worden, dass Michael Ballweg sich am 28. August in einem Interview von Rechtsextremen distanziert hatte. Dennoch bleibt die Autorin bei ihrer Meinung, dass die Abgrenzung Ballwegs von rechten Demonstranten taktisch motiviert war. Daher haben wir das Wort “glaubwürdig” in einem Satz ergänzt.

Tatsächlich heißt es an der entsprechenden Stelle nun:

Warum wurden die Nazis nicht schon glaubwürdig während oder vor der Demo zu unerwünschten Personen erklärt?

Die nachweislich falsche Behauptung “es gab im Vorfeld und auch während der Demonstration keine öffentliche Distanzierung” befindet sich hingegen unverändert in dem Kommentar.

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Wendler-Wandlung, Tendenzschutz, Politik der leeren Gesten

1. Wendler-GAU bei Pocher: “Als wäre Merkel zurückgetreten”
(dwdl.de, Alexander Krei)
Anfangs zog man noch einen geschmacklosen Scherz oder einen verabredeten PR-Stunt in Betracht, aber es scheint sich als ernst gemeint herauszustellen: Der Schlagersänger Michael Wendler hat in einem wirren Rundumschlag seinen Job als Juror bei “Deutschland sucht den Superstar” gekündigt, seinen Haussender RTL als “politisch gesteuert” bezeichnet und allerlei Verschwörungsgeschwurbel zur “angeblichen Corona-Pandemie” losgelassen. Wendlers Manager Markus Krampe hatte zeitweilig mit den Tränen zu kämpfen, als er über die unerquickliche Wendler-Wandlung sprach: “Für mich ist er krank. Tatsächlich krank.”

2. ARD/ZDF-Onlinestudie: Instagram löst Facebook ab, Facebook bereitet sich auf die US-Wahl vor
(socialmediawatchblog.de, Simon Hurtz)
Simon Hurtz hat sich die aktuelle ARD/ZDF-Onlinestudie durchgelesen und die wichtigsten Erkenntnisse für das (sonst kostenpflichtige) “Social-Media-Briefing” zusammengefasst. Er hat sich dabei schwerpunktmäßig auf Social Media konzentriert, geht aber auch auf die Ergebnisse ein, die eher klassische Medien betreffen – wie stets in übersichtlicher und gut strukturierter Form.

3. Muss guter Journalismus am Spielfeldrand bleiben?
(medienpolitik.net, Ortlieb Fliedner)
Der “Stern” wurde vielfach für seine Kooperation mit Fridays for Future gescholten. Das Standardargument dabei: Guter Journalismus dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Der Jurist Ortlieb Fliedner bringt ein Gegenargument in die Debatte ein. Zur Pressefreiheit gehöre auch der sogenannte Tendenzschutz, der parteiische Berichterstattung ausdrücklich zulasse: “Das bedeutet, dass der Verleger für seine Zeitung oder Zeitschrift eine publizistische Tendenz festlegen und diese gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, also den Journalistinnen und Journalisten, auch durchsetzen kann.”

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4. Politik der leeren Gesten
(taz.de, Steffen Grimberg)
CSU-Chef Markus Söder hat sich öffentlich impfen lassen. Den Medienjournalisten Steffen Grimberg erinnert dies an andere PR-Aktionen von Politikern: So schwamm der damalige Umweltminister Klaus Töpfer öffentlichkeitswirksam im Rhein, und der britische Landwirtschaftsminister John Gummer verspeiste zu BSE-Zeiten vor laufenden Kameras einen Rindfleisch-Burger (“absolutely delicious”). Grimbergs Kommentar: “Trotz braver Berichterstattung der Medien sind das eben keine Heldengeschichten, sondern durchsichtige Inszenierungen.”

5. Viele Zahlen, wenig Kontext?
(deutschlandfunk.de, Isabelle Klein & Annika Schneider, Audio: 7:23 Minuten)
In ihrer Corona-Berichterstattung würden sich viele Medien oftmals nur auf die Zahl der Neuinfektionen fokussieren. Kritiker könnten einwenden, dass die Zahlen in einen Kontext eingebettet werden müssen, um Einordnung und Interpretation zu ermöglichen. Auf welche Aussagen und Zahlen sollen sich Journalisten und Journalistinnen konzentrieren? Und haben die Redaktionen in den vergangene Monaten genug dazugelernt? Darüber spricht Isabelle Klein mit ihrem Deutschlandfunk-Kollegen, dem Wissenschaftsjournalisten Volkart Wildermuth.

6. Facebook löscht Hunderte Profile dubioser Trump-Förderer
(zeit.de)
Diese Woche hat Facebook schon bei den QAnon-Anhängern aufgeräumt und verkündet, dass man alle Seiten und Gruppen mit Verbindung zu der Bewegung entfernen werde. Nun hat die Social-Media-Plattform dem Treiben einer politischen Marketingfirma ein Ende bereitet und 200 Nutzerkonten mit gefälschten Identitäten sowie 55 Gruppen entfernt, die für US-Präsident Donald Trump Stimmung machten. Die Zahlen mögen klein klingen, aber den Angaben nach seien insgesamt rund 373.000 Facebook-Profile den gefälschten Konten oder Gruppen gefolgt.