Wenn heute niemand aus der SPD-Führung Verantwortung für das Ergebnis bei der Europawahl übernimmt, und keiner der Parteioberen zurücktritt, könnte das daran liegen, dass sie im Willy-Brandt-Haus möglicherweise nur den “Tagesspiegel” lesen. Denn auf dessen heutiger Titelseite haben die Sozialdemokraten gestern starke 4,8 Prozentpunkte hinzugewonnen. Die Grünen sind hingegen große Verlierer:
Die linken, dickeren Säulen geben bei jeder Partei das Ergebnis der Hochrechnung des ZDF von gestern Abend um 22:25 Uhr an. Diese Werte stimmen soweit. Die rechten, schmaleren Säulen sollen das Ergebnis der Europawahl 2014 darstellen. Und da ist einiges falsch.
Die 27,3 Prozent von vor fünf Jahren, die der “Tagesspiegel” den Grünen zuschreibt, gehören eigentlich zur SPD. Und genauso andersherum: Die 10,7 Prozent, die laut “Tagesspiegel” die SPD 2014 erreicht hat, gehören zu den Grünen. Bei AfD, FDP und Linken ist das Durcheinander noch etwas größer: Die 7,4 Prozent aus 2014 gehören zur Linken, die 7,1 Prozent zur AfD und die 3,4 Prozent zur FDP. Die AfD hat im Vergleich zu 2014 also etwas stärker dazugewonnen als in der “Tagesspiegel”-Grafik angegeben, die FDP hat nicht Prozentpunkte verloren, sondern gewonnen, die Linken hingegen haben nicht gewonnen, sondern verloren.
Der Ursprung dieses multiplen Fehlers dürfte darin liegen, dass der “Tagesspiegel” in der Grafik nicht auf die sich ändernde Rangliste der Parteien reagiert hat. Zum Beispiel bei der FDP: Die war 2014 noch sechststärkste Kraft mit 3,4 Prozent. Während die Partei mit ihren 5,6 Prozent gestern auf Platz 5 vorrückte, hat die “Tagesspiegel”-Redaktion die 3,4 Prozent der FDP von 2014 auf Platz 6 stehen lassen — und so den Linken zugeordnet, die auf diesen Rang abgerutscht sind. Genauso lassen sich die falschen 2014-er-Werte von Grünen, SPD und AfD erklären.
Immerhin fängt die Überschrift auf der “Tagesspiegel”-Titelseite die fehlerhafte Grafik etwas ab: “Grüne jubeln, Groko stürzt ab”.
- Weitere sich biegende Balken und falsche Torten gibt es in unserem Archiv.
Nachtrag, 17:28 Uhr: Ein BILDblog-Leser schreibt uns, dass auf der Titelseite seiner “Tagesspiegel”-Ausgabe eine korrekte Wahl-Grafik zu sehen sei.
Der Screenshot, den wir weiter oben verwenden, stammt aus der E-Paper-Version. Und auch bei der gedruckten Variante gibt es Exemplare mit der fehlerhaften Grafik.



Denken wir uns ins Konrad-Adenauer-Haus, in dem sich gerade elf CDU-Mitarbeiter befinden (Schema rechts). Zwei von ihnen verdienen 1000 Euro, fünf 2000 Euro, drei 3000 Euro — und einer hat sagenhafte 10.000 Euro im Monat. Ihr durchschnittliches Einkommen beträgt 2818 Euro (die Summe geteilt durch elf); das mittlere Einkommen ist das, das bei einer Aufreihung der elf Mitarbeiter der sechste hat (*): 2000 Euro. Als armutsgefährdet gelten alle, die weniger als 60 Prozent von 2000 Euro zur Verfügung haben, also: die beiden 1000-Euro-CDUler.
Nun stellen wir uns vor, dass zwei zusätzliche CDU-Mitarbeiter mit jeweils 10.000 Euro Einkommen das Konrad-Adenauer-Haus betreten. Das durchschnittliche Einkommen steigt deutlich. Das mittlere aber bleibt konstant: diesmal müssen wir bei 13 anwesenden Mitarbeitern in der Reihe von arm nach reich den siebten (*) fragen: Auch er hat 2000 Euro.





