Archiv für Juli 13th, 2018

Menschen im Koma schützen? Nicht mit “Bild”!

Bei “Bild” und Bild.de interessieren sie sich offenbar nicht für den Schutz von hilflosen Personen.

Vor vier Monaten stürzte ein Mann beim Joggen in einem Park in Berlin-Wilmersdorf. Er wurde bewusstlos und liegt bis heute im Koma. Da er keinen Ausweis bei sich hatte und ihn niemand als vermisst meldete, wusste die Polizei lange nicht, wer der Mann ist. Bis gestern. Da meldete sich ein andere Mann, der auf einem von der Polizei veröffentlichten Foto einen Schlüssel wiedererkannte. Mit Hilfe des Anrufers konnten die Beamten die Wohnung des Joggers ausfindig machen und damit dessen Identität klären.

Bild.de veröffentlichte gestern einen Artikel zu der aktuellen Entwicklung. Darin auch dieses Zitat von Uwe Dziuba, Hauptkommissar in der Vermisstenstelle:

Screenshot Bild.de - Als er anrief, waren mein Kollege und ich gerade unterwegs, fuhren aber sofort zu der Adresse – die Schlüssel des Joggers passten. Im Flur fanden wir seinen Ausweis und seine Krankenkassenkarte, die wir mitnahmen und der Betreuerin übergaben. Sie bat uns darum, seine Identität zu schützen, deshalb geben wir seinen Namen nicht heraus. Die Betreuerin wurde umgehend informiert.

Nur drei Absätze später, unter der Zwischenüberschrift “Das ist der Jogger”, nennt die Bild.de-Autorin den Namen des Mannes:

Screenshot Bild.de - Sein Name
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Sie nennt die zwei Vornamen des Mannes und den abgekürzten Nachnamen, auch in der gedruckten “Bild”. Sie nennt das Alter des Mannes und den Namen der Straße, in der sich seine Wohnung befindet (beide Informationen stehen auch in einer Pressemitteilung der Polizei). Sie nennt den Familienstand des Mannes, schreibt, wie lange er bereits in seiner Wohnung wohnt. Sie und ihre Redaktion zeigen ein Foto der Straße, in der sich die Wohnung des Mannes befindet. Sie zeigen ein Foto des Briefkasten des Mannes. Und sie zeigen ein Foto, auf dem der Mann im Koma zu sehen ist, ohne Verpixelung. Dieses Foto hatte die Polizei rausgegeben, als die Identität des Mannes noch nicht geklärt war. Nun ist sie geklärt. Für die “Bild”-Medien offenbar kein Grund, das Gesicht einer hilflosen Person nicht mehr zu zeigen.

Inzwischen hat die Bild.de-Redaktion eine wichtige Information aus ihrem Artikel gelöscht. Allerdings nicht den Namen des Mannes, oder den der Straße, in der sich seine Wohnung befindet. Sondern einen Teil des Zitats von Uwe Dziuba, dem Polizeibeamten, der sagt, dass man die Identität des Mannes schützen wolle. So wurde aus …

Screenshot Bild.de - Als er anrief, waren mein Kollege und ich gerade unterwegs, fuhren aber sofort zu der Adresse – die Schlüssel des Joggers passten. Im Flur fanden wir seinen Ausweis und seine Krankenkassenkarte, die wir mitnahmen und der Betreuerin übergaben. Sie bat uns darum, seine Identität zu schützen, deshalb geben wir seinen Namen nicht heraus. Die Betreuerin wurde umgehend informiert.

… auf einmal:

Screenshot Bild.de - Als er anrief, waren mein Kollege und ich gerade unterwegs, fuhren aber sofort zu der Adresse – die Schlüssel des Joggers passten. Im Flur fanden wir seinen Ausweis und seine Krankenkassenkarte, die wir mitnahmen und der Betreuerin übergaben.

Mit Dank an Daniel B., Ulrike, wolkenzottel und @kentrail_ticker für die Hinweise!

Unanständige Fragen, Rätselhaftes Verschwinden, Digitaler Nachlass

1. “Zeit” gerät nach Pro-und-Contra zur Seenotrettung in die Kritik
(sueddeutsche.de, David Denk)
Die “Zeit” hat mit einem Pro und Contra zur Frage der Legitimität privater Seenotrettung massive Kritik ausgelöst. Dabei ging es um die in der Überschrift formulierte Frage “Oder soll man es lassen?” und die “Contra”-Position der “Zeit”-Korrespondentin Mariam Lau. In der Digitalausgabe wurde die Überschrift mittlerweile in “Gut? Oder nur gut gemeint?” geändert. Die Redaktion will darin jedoch kein Eingeständnis eines Fehlers sehen, dem lägen nur “technische Gründe” zu Grunde …
In einem “SZ”-Kommentar kritisiert Heribert Prantl die “Zeit”. Man dürfe Menschen nicht als Sache betrachten und behandeln. So ein Pro und Contra sei vielleicht gut gemeint, aber nicht gut. Es relativiere die Menschenwürde. “Wer sich auf eine solche Denkweise einlässt, der landet bei der Folter und bei der Todesstrafe.”
Vor allem auf Twitter wurde der Beitrag intensiv diskutiert. Hier drei Threads, die verschiedene Aspekte beleuchten: Simon Hurtz kritisiert den Text von Mariam Lau, plädiert jedoch für mehr Argumente und weniger Furor: “Bringt es uns wirklich weiter, wenn wir die Zeit jetzt als bürgerliche Bild-Zeitung bezeichnen oder den Untergang des Journalismus heraufbeschwören? Das ist doch genau das angebliche Sprechverbot, das Rechte immer beklagen.” Julian Pahlke von “Jugend Rettet” reagiert mit einer eindringlichen Tweetabfolge über das Sterben im Mittelmeer, wie er es selbst als Augenzeuge erlebt habe: “Der Tod im Mittelmeer ist nicht, wie man immer glaubt, ein lautes Ereignis. Er kommt langsam und wird immer ruhiger. Er ist gerade deshalb so dramatisch weil er so ruhig ist.” Und laut Ingrid Brodnig illustriere die Frage der “Zeit” das Problem der “False Balance” im Journalismus. Journalisten seien darauf gedrillt, “beide Seiten” zu beleuchten. Dies führe im schlimmsten Fall dazu, dass menschenfeindliche Positionen denkbare Optionen werden: “Es ist ein Irrtum, dass ausgewogener Journalismus bedeutet, man gibt allen Meinungen Raum — egal wie menschenfeindlich oder faktenfern sie sind. Dieses Streben nach “alle Seiten müssen vorkommen” kann im Journalismus dazu führen, dass wir plötzlich Menschenrechte infrage stellen.”
Im Blog der “Zeit” haben sich die verantwortlichen Chefredakteure Sabine Rückert und Bernd Ulrich mit einer Art Stellungnahme an die Leser gewandt: “Wir bedauern, dass sich einige Leser in ihrem ethischen Empfinden verletzt gefühlt haben, und dass der Eindruck entstehen konnte, die ZEIT oder auch Mariam Lau würden einer Seenotrettung generell eine Absage erteilen.”
Das Bedauern der “Zeit”-Verantwortlichen scheint sich jedoch hauptsächlich auf sich selbst zu beziehen: Auf Twitter klagt Bernd Ulrich selbstmitleidig und passiv-aggresiv über die “flüchtlingsfreundliche Gemeinde”. Und trägt dazu bei, dass sich das Märchen von “Mordaufrufen” gegen “Zeit”-Redakteure verbreitet, was sich augenscheinlich auf “Titanic”-Chefredakteur Tim Wolff bezieht, der jedoch keineswegs zu irgendeiner Tötung aufgerufen, sondern eine unanständige Frage mit einer unanständigen Gegenfrage satirisch gespiegelt hat.
Nachtrag, 12:24 Uhr: Bernd Ulrich schreibt “nach einmal Drüberschlafen” bei Twitter: “Die Überschrift war ein, war mein Fehler” und kündigt einen eigenen Text zum Thema in der nächsten Ausgabe an.

2. EU-Politiker Axel Voss nutzt auf Facebook urheberrechtlich geschützte Fotos und verrät uns nicht, ob er sie bezahlt hat
(buzzfeed.com, Karsten Schmehl)
Axel Voss sitzt für die CDU im EU-Parlament und hat dort das neue und strengere Urheberrecht vorangetrieben. Das neue Gesetz soll unter anderem Plattformen dazu zwingen, urheberrechtlich geschütztes Material mittels Uploadfilter zu blocken und damit ein Veröffentlichen durch Unberechtigte unmöglich zu machen. “BuzzFeed News” hat sich bereits vor ein paar Tagen auf dem Facebook-Profil des Politikers umgeschaut und dort zahlreiche urheberrechtlich geschützte Bilder entdeckt. Auf Nachfragen, ob und wie eine Lizenzierung dieser Bilder erfolgt sei, reagierte das Büro des Politikers ausweichend. Doch nun passiert gerade ein Wunder: Wie auf magische Weise verschwinden immer mehr Einträge von Voss’ Facebook-Seite, bei denen derartige Bilder verwendet wurden.

3. „Mehr Kontrolle von außen“
(taz.de, Frederic Valin)
Die “taz” hat mit dem ARD-Dopingexperten Hajo Seppelt gesprochen. Es geht um die aktuelle Fußball-WM, die Vergabe an Katar, diverse Substanzen und seine Entscheidung, nicht nach Russland zu fahren. Seppelts Resümee: “Die Doping- und Korruptionsskandale der vergangenen Jahre haben Spuren hinterlassen. Sport ist bei weitem eben nicht der schöne Schein, den uns die Hochglanzbilder vorgaukeln. Auch im Fußball nicht. Nur, weil die Menschen die WM im Fernsehen gucken, heißt das noch lange nicht, das sie goutieren, was die Fifa macht. Einschaltquoten sind kein ethisches Argument.”

4. “Wie würde es im Netz aussehen, wenn es uns nicht gäbe?”
(golem.de, Jennifer Fraczek)
Die rund 40.000 Mitglieder der Facebook-Gruppe #ichbinhier schreiben Erwiderungen auf Hasskommentare. Im Interview mit Golem.de erklärt der Gründer der Online-Initiative Hannes Ley, wie er die Idee aus dem Netz in die echte Welt bringen will: “Unser Ziel ist es, ein Konzept für die Lehrerbildungsinstitute (LBI) zu entwickeln.”

5. Face­book-Chats sind auch nur Briefe
(lto.de, Bastian Biermann)
Der Bundesgerichtshof hat ein wichtiges Urteil zum sogenannten digitalen Nachlass gefällt und Eltern, die nach der Todesursache ihrer 15-jährigen Tochter suchen, Zugriff auf deren Facebook-Account gewährt. Damit habe das Gericht den digitalen Nachlass dem analogen gleichgestellt, so Bastian Biermann in seiner Einordnung des Urteils. Im Sinne der Rechtsklarheit sei es jedoch wünschenswert, dass der Gesetzgeber eine eindeutige Regelung zum digitalen Erbe treffe. Bis es soweit ist, rät Biermann zu Vorsorgemaßnahmen zu Lebzeiten.

6. Speechless Speech: Mark Zuckerberg
(webtapete.de)
Zum Wochenausklang noch etwas Leichtes: Der für seine “Musicless”-Videos (hier ein Beispiel) bekannte Sounddesigner und Vertonungskünstler Mario Wienerroither hat Mark Zuckerberg vertont.