Archiv für August, 2013

Ablesen bei Abhörern

Der sogenannte Dagger Complex ist ein geheimnisvoller Stützpunkt der US-Armee in Griesheim bei Darmstadt. Es wird vermutet, dass dort amerikanische Spione ihr Unwesen treiben.

Bekanntheit erlangte der Stützpunkt vor allem im Zuge des Abhörskandals – und weil ein Facebook-Nutzer vor einer Weile Besuch vom Staatsschutz bekam, nachdem er zu einem Spaziergang zu dem Areal aufgerufen hatte. Seither versammeln sich aus Protest immer wieder “Spaziergänger” vor dem Komplex.

Oft sind auch Reporter des “Darmstädter Echos” mit von der Partie. Die Aufregung um den Komplex hat der Zeitung schon so manche große Geschichte beschert. Darin geht es meist ziemlich mysteriös zur Sache, mit Militärpolizisten, die plötzlich anfangen zu filmen, oder schwarzen Vans, die den Reportern bis zum Verlagshaus folgen.

Auch am vergangenen Wochenende war wieder eine Menge los, denn es kam zu einem “aufsehenerregenden Polizeieinsatz”: Die “Spaziergänger” hatten eine Spielzeugdrohne fliegen lassen, was der Polizei und den Geheimdienstlern überhaupt nicht gefiel. Streifenwagen tauchten auf, irgendwann auch ein Hubschrauber und die Militärpolizei, am Ende wurde die Drohne beschlagnahmt. Und der Reporter des “Darmstädter Echos” hatte mal wieder eine spannende Story in der Tasche.

Offenbar immer noch im Sensationsfieber, entdeckte er gestern dann gleich den nächsten Aufreger:

Dagger-Komplex: Spazierengehen am Eberstädter Weg nicht erwünscht
Der Dagger-Komplex in Griesheim soll offensichtlich nicht mehr jeden Samstag durch Spaziergänger inspiziert werden. Deshalb wurden am Zaun entsprechende Verbotsschilder angebracht, die das Laufen am Eberstädter Weg verbieten. Sollte es tatsächlich um die ganze Straße Eberstädter Weg gehen, so gibt es dafür keine Rechtsgrundlage für die Amerikaner. Denn die Straße ist öffentlich und kein Militärgelände.

Selbst die Bürgermeisterin wurde eingeschaltet, sie zeigte sich im Gespräch mit der Zeitung “empört über das Verhalten der Amerikaner”.

Und so sehen die bösen Schilder aus:

[Auf dem Schild steht:] ATTENTION ALL PERSONNEL - Pedestrian traffic along Eberstädter Weg (The road parallel to the Dagger Complex) IS UNAUTHORIZED [Die Bildunterschrift lautet:] Neue Schilder am Dagger-Komplex weisen darauf hin, dass man sich als Fußgänger jetzt auch nicht mehr auf dem Eberstädter Weg bewegen dürfe.

Im Laufe des Tages muss dann aber auch irgendwer beim “Darmstädter Echo” mal im Wörterbuch nachgeschlagen und bemerkt haben, dass sich “ALL PERSONNEL” nicht auf “alle Personen” bezieht, sondern auf das “gesamte Personal” — also die Amerikaner.

Überschrift und Teaser sahen daraufhin plötzlich so aus:

Dagger-Komplex: Spazierengehen am Eberstädter Weg nicht erlaubt?
Am Zaun des Dagger-Komplexes in Griesheim wurden Verbotsschilder angebracht, die das Laufen am Eberstädter Weg verbieten. Sollte es tatsächlich um die ganze Straße Eberstädter Weg gehen, so gibt es dafür keine Rechtsgrundlage für die Amerikaner. Denn die Straße ist öffentlich und kein Militärgelände. Die schilder [sic] könnten allerdings auch das oft resolute Auftreten der Angestellten erklären.

Auch im Text wurde, offenbar in höchster Eile, diese Passage hinzugefügt:

Es könnten allerdings auch nur die amerikanischen Angestellten gemeint sein. Einige von Ihnen waren ind en vvergangenen Wochen gegen Passanten, Parkende und auch Journalisten vorgegangen.

Inzwischen ist der komplette Text verschwunden. Stattdessen findet sich unter der Überschrift jetzt ein neuer Artikel.

Der Teaser klingt nun so:

Hinweisschilder am Dagger-Komplex, die Spaziergänger auf dem Eberstädter Weg verbieten, sorgen für Verwirrung. Griesheims Bürgermeisterin ist empört. Die Schiler seien an das US-Personal gerichtet und dienten lediglich der Verkehrssicherheit, sagen die Amerikaner.

Dass die “Verwirrung” von ihr selbst gestiftet wurde, verschweigt die Zeitung allerdings. Und empört ist plötzlich nur noch die Bürgermeisterin:

Griesheims Bürgermeisterin Winter ist mit der Erklärung nicht zufrieden. Die Formulierung “Achtung Personal, Fußgängerverkehr entlang des Eberstädter Weges ist nicht erlaubt” könne auch als Hinweis angesehen werden, dass niemand dort spazieren gehen dürfe, sagt sie. “Das kann man so nicht machen.”

Doch warum – und diese Frage hat sich offenbar weder die Bürgermeisterin noch das “Darmstädter Echo” gestellt – warum sollten die Amerikaner ein Schild, das an deutsche Spaziergänger gerichtet ist, ausgerechnet in englischer Sprache verfassen?

Aber jetzt ist es sowieso egal:

Um weitere Missverständnisse zu vermeiden, soll das Schild nun abgehängt werden […].

Mit Dank an Lukas G., Manfred H. und Bernd.

Skilift, Selbstentzündung, Schupelius

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Pöse, pöse Piraten? Pöse, pöse Presse!”
(wp.fink.sh, Oliver Fink)
“Kreuzberg verweigert Bürgern die Ehrung, wenn sie in einer Kirche engagiert sind”, schreibt Gunnar Schupelius in der “B.Z.”. Dagegen sagt Jessica Zinn, Fraktionschefin der Piratenpartei: “Menschen, die sich im Rahmen einer Kirche ehrenamtlich engagieren, können weiter geehrt werden. Wir fanden nur, niemand sollte geehrt werden, nur weil er zum Beispiel evangelisch ist.”

2. “47 Stockwerke, 11 Lifte und eine ‘lächerliche Lüge'”
(20min.ch, Karin Leuthold)
Karin Leuthold spricht mit Rafael Ballesta, Verkaufsleiter für Apartments des Intempo-Hochhauses, das angeblich mit fehlenden Aufzügen gebaut wurde (BILDblog berichtete). Er habe der “im Internet Hunderte falsche Berichte über das InTempo-Gebäude gelesen”: “Von all den Schreibern haben sich kaum vier Prozent bei mir gemeldet und nachgefragt, ob die Informationen stimmen.”

3. “Journalisten im Krisenherd Ägypten”
(ndr.de, Video, 4:14 Minuten)
In Ägypten übt die aktuelle Regierung massiven Druck aus auf die Ausrichtung der Berichterstattung. “Zwei Jahre nach der Revolution ist das Experiment mit der Pressefreiheit gescheitert. Auf den Straßen Ägyptens müssen Journalisten heute Angst haben.”

4. “‘Spontane Selbstentzündung’ oder Kindesmissbrauch?”
(blog.gwup.net, Bernd Harder)
“Der dreimonatige Rahul aus Indien leidet unter einer seltenen und gefährlichen Krankheit: der spontanen menschlichen Selbstentzündung”, ist auf Blick.ch zu lesen. Bernd Harder zweifelt daran.

5. “Kims Skiliftparadies — Von der Überwindung der Moral”
(nordkoreainfo.wordpress.com, tobid001)
Tobid001 liest Meldungen über die Auswirkungen von im Juli verschärften Sanktionen gegenüber Nordkorea.

6. “Kein Interview mit Künast”
(mittelhessen.de)
Mittelhessen.de spricht 90 Minuten mit Politikerin Renate Künast: “Allerdings haben wir auf die Veröffentlichung dieses Interviews verzichtet, weil die Grünen bei der üblichen Autorisierung derart massive redaktionelle Eingriffe in den Text vornahmen, dass er das geführte Interview in völlig anderem Licht erscheinen ließ.”

Süddeutsche Zeitung, NSA, Frau Merkel

6 vor 9

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1. “Süddeutsche ‘vertauscht’ Auschwitz-Foto”
(juedische-allgemeine.de, Martin Krauss)
“Mit einem Foto eines Bahngleises des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hat die Süddeutsche Zeitung (SZ) am Montag eine Leserbriefseite zum Bahnchaos am Mainzer Hauptbahnhof illustriert.”

2. “The NSA, Germany, and journalism”
(buzzmachine.com, Jeff Jarvis, englisch)
Die NSA-Debatte: Jeff Jarvis macht Screenshots von deutschen und US-Nachrichtenportalen. Siehe dazu auch “Die Zeitung der Zukunft – ein Ort der Freiheit” (dirkvongehlen.de) und “‘Da bewegen sich Geheimdienste wie Mächte'”, ein Interview mit Hans Leyendecker auf dradio.de.

3. “‘Frau Merkel’ oder doch lieber ‘Merkel’: Pure Höflichkeitsform oder Journalismus aus einer anderen Zeit?”
(newsroom.de, Malte Göbel)
Die Frage, warum der Deutschlandfunk beispielsweise Angela Merkel “Frau Merkel” nennt, Norbert Röttgen dagegen einfach nur “Röttgen”.

4. “Zu Ohren gekommen”
(ad-sinistram.blogspot.de, Roberto De Lapuente)
Roberto De Lapuente nimmt sich des sprachlichen Unterschieds zwischen “schuldig” und “schuldig gesprochen” an.

5. “Der liebe ‘Lüch'”
(tagesanzeiger.ch, Maurice Thiriet)
René Lüchinger übernimmt ab 2014 die Chefredaktion des “Blick”. Maurice Thiriet findet, er passe “perfekt zu Ringier”: “Unternehmensleiter Marc Walder baut das Verlagshaus zum Unterhaltungskonzern mit umfassender Wertschöpfungskette vom Ticketverkauf über die Vermarktung durch die eigenen Pressetitel bis zur Organisation von Events um. Der ‘Blick’ rührt die Werbetrommel für die Ringier-Stars und -Events und vermischt so journalistische und wirtschaftliche Interessen immer öfter. Lüchinger wird auch darin kein Problem sehen.”

6. “Fünf Journalisten/innen über ihre Arbeit im Internet”
(vimeo.com, Video, 23:12 Minuten)
Daniel Bröckerhoff, Martin Giesler, Tilo Jung, Carolin Neumann und Thomas Wiegold äussern sich zu ihrer Arbeit.

Bremen, Bulgarien, Armut

6 vor 9

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1. “Shitstorm gegen die Vernunft”
(taz.de, Simone Schnase)
Annemarie Czichon, Ortsamtsleiterin von Bremen Neustadt, erhält beleidigende und hasserfüllte E-Mails, nachdem sie nach einem Überfall öffentlich vor Vorverurteilungen warnt.

2. “Schlumpfine: BILD und die ‘irre’ Gleichstellung”
(blog.kerstenartus.info)
Politikerin Kersten Artus kritisiert “Bild”: “Bei der Berichterstattung über frauenpolitische Themen und auch über die Gleichstellungssenatorin wird systematisch scharf auf alle Feinde und Feindinnen der androzentristischen Denkweise geschossen – Querschläger einkalkuliert.”

3. “David Miranda, schedule 7 and the danger that all reporters now face”
(theguardian.com, Alan Rusbridger, englisch)
Alan Rusbridger kommentiert die Arretierung von David Miranda in der Transitzone des Flughafen Heathrow: “Miranda was held for nine hours under schedule 7 of the UK’s terror laws, which give enormous discretion to stop, search and question people who have no connection with ‘terror’, as ordinarily understood. Suspects have no right to legal representation and may have their property confiscated for up to seven days.”

4. “Viel Aufwand für wenig Erkenntnis”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Dietrich Leder)
Der Film “Macht Mensch Merkel” (zdf.de, Video, 43:29 Minuten) betreibt “fleißig Eigenreklame für das ZDF”, schreibt Dietrich Leder: “Mit dem Physiker Harald Lesch und dem Kabarettisten Urban Priol kamen zwei ZDF-Gesichter zu Wort. Zudem wurde eine Ausgabe der ‘Heute-Show’ zitiert, in der sich Oliver Welke begeistert über Angela Merkel äußerte (und zugleich ein Honorar einforderte), weil sie ein Bonmot über die FDP aus seiner ZDF-Satire-Sendung übernommen hatte.”

5. “Armut als Lebensstil – Das prekäre Leben”
(neueelite.de, Yeah Sara)
Yeah Sara schreibt über das Prekariat in der Kreativ- und Medienbranche: “Wir haben uns aus den Top-Down Verhältnissen befreit und arbeiten nun in der Netzwerkgesellschaft; hierarchielos und ohne Aufpasser. Dabei hat sich nicht wirklich irgendetwas geändert, denn abhängig sind wir immer noch. Newsflash: die Opfer von heute sind immer noch die Opfer von damals, mit dem Unterschied, dass sie das nicht mehr erkennen können oder wollen. Blogger, die sich mit Schuhen bezahlen lassen. Generation Praktikum a.k.a. ‘Irgendwann wird sich die Sklaverei schon gelohnt haben’. PR-Agenten, die nach fünf Jahren Berufserfahrung immer noch am Existenzminimum kratzen.”

6. “Deutschlands neue Slums”
(daserste.de, Video, 28:47 Minuten)
Isabel Schayani und Esat Mogul besuchen Wohnungen in Dortmund. Und fahren nach Bulgarien: “Nie hätten wir in der Europäischen Union solche Slums erwartet.”

Die Grünen, IOC, Dagger-Komplex

6 vor 9

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1. “Von Politik befreite Interviews mit Politikern. Im Politikteil. Wie seltsam.”
(debattiersalon.de, Marcus Müller)
Ein Interview der “Süddeutschen Zeitung” mit Grünen-Politiker Tarek Al-Wazir: “Es geht im Prinzip in wiederkehrenden Variationen um Macht, deren Abwesenheit (Opposition), Beliebtheit, sowie ob und wie lange man diese Opposition ertragen könne. 20 Fragen lang!”

2. “Medialer Hofknicks für Angela Merkel”
(cicero.de, Petra Sorge)
Angela Merkel erhält eine recht unkritische Berichterstattung, findet Petra Sorge: “Die Journalisten folgten damit unbewusst der PR-Strategie des CDU-Wahlkampfteams. Das will Merkel als ‘Menschen’ zeigen – genau wie die ZDF-Doku übrigens – und präsentiert sie auf der Homepage so apolitisch wie noch nie: Mutti gärtnert, kocht, backt und liebt Kartoffelsuppe.”

3. “‘taz’-Chefredakteurin verhindert kritischen Artikel über Grüne und Pädophilie”
(stefan-niggemeier.de)
Die “taz” vom vergangenen Dienstag lasse den Vorwurf, “eine Art grünes Gegenstück zum ‘Bayernkurier’ der CSU” zu sein, nicht mehr ganz so abwegig erscheinen, schreibt Stefan Niggemeier. “Ganz im Stil eines Ronald Pofalla erklärte sie auf ihrer Titelseite die Diskussion um die pädophilen Verstrickungen der Partei in ihren Anfangsjahren für erledigt. ‘Aufgeklärt!’ jubelte die ‘taz’ in den Farben und mit dem Logo der Grünen”.

4. “Wie die Crowd Journalismus und (manchmal) exklusive Informationen finanzieren kann”
(jensweinreich.de)
Jens Weinreich vermisst Journalisten, die sich für die Wahl des IOC-Präsidenten am 10. September interessieren. “In fast jedes Fußball-Bundesligaspiel, oder eben für so ein Jux-Länderspiel wie gestern zwischen Deutschland und Paraguay, investieren deutsche Medien (insgesamt) viel mehr Geld und Ressourcen als in die Recherche und Berichterstattung zur, noch einmal, wichtigsten Personalie der deutschen Sportgeschichte.”

5. “Aufruhr am Dagger-Komplex”
(echo-online.de, Hans Dieter Erlenbach)
Neben dem Dagger Complex in Griesheim wird eine Drohne beschlagnahmt.

6. “So isses!”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com.es, Thomas)

Google-Ausfall sorgt für Journalismus-Ausfall

In der vergangenen Nacht funktionierte Google für ein paar Minuten nicht. Was das für Folgen hatte, steht heute überall: Der Internet-Verkehr ist halb zusammengebrochen.



“Spiegel Online”, Bild.de, “Welt Online”, sie alle berichten dasselbe: einen Rückgang der “weltweiten Internetaktivitäten” oder des “weltweiten Internetverkehrs” um 40 Prozent.

Es gibt für diese Zahl exakt eine Quelle: den Analyse-Anbieter GoSquared. Der hat den vermeintlichen Traffic-Einbruch in einem Blog-Eintrag behauptet und auch gleich mit einer tollen Grafik belegt:

Die hat diverse Medien in aller Welt so sehr beeindruckt, dass sie damit gleich ihre Meldungen illustriert haben. Dass die eindrucksvolle Kurve keinerlei Legende hat und die Y-Achse nicht beschriftet ist, das hat sie nicht gestört. Hey, eine Kurve! Statistik! Wissenschaft! Fakten!

Aber was genau ist da zurückgegangen? GoSquared spricht von der Zahl der Seitenaufrufe, die von GoSquared erfasst werden (“the number of pageviews coming into GoSquared’s real-time tracking”).

GoSquared hat also nicht den Internetverkehr auf der ganzen Welt gemessen, mit welchen Methoden auch immer, sondern nur die Abrufe auf den Seiten der Kunden von GoSquared. Was für Seiten das sind und wie typisch sie für das Internet insgesamt sind — man weiß es nicht.

Überhaupt lässt sich die Zahl der Seitenabrufe (pageviews) keineswegs mit dem “Internetverkehr” oder den “Internetaktivitäten” gleichsetzen. Die Datenmenge, die bei einem Seitenabruf bewegt wird, kann winzig oder gewaltig sein.

Ist der Internettraffic also in Folge des Google-Ausfalls um 40 Prozent heruntergegangen? Vielleicht, aber wahrscheinlich nicht. In der Traffic-Statistik von DE-CIX, dem großen Internet-Knoten in Frankfurt/Main, hat der Google-Ausfall jedenfalls nur winzige Spuren hinterlassen.

Die GoSquared-Leute aber stehen im Stau und nehmen einfach an, dass zu dem Moment jeder im Stau steht: Autos auf jeder Straße, Fußgänger und Flugzeuge gleichermaßen. Und sie freuen sich, dass die halbe Welt auf ihre Bullshit-Meldung hereingefallen sind.

(Basierend auf einem Post von Torsten Kleinz.)

Nachtrag, 18. August, 12 Uhr. “Welt Online” und derstandard.at haben ihre Artikel klammheimlich verbessert.

Nachtrag, 19. August. Nun hat sich auch “Spiegel Online” etwas halbherzig, aber transparent korrigiert.

Bravo  

Gaga-Selbstmord

Vorsicht! Ihre Augen könnten jetzt etwas überfordert werden:
Ausriss: "Bravo", Nr. 33 vom 7. August 2013
So sieht sie heutzutage aus, die “Bravo”. Sympathisch, nicht wahr?

Aber nicht nur deswegen ist der “Marktführer bei den deutschen Jugendzeitschriften” eine echte Herausforderung für die Sinne. Kleine Kostprobe aus der Titelgeschichte (“Jus, du Opfer!”):

Allein im letzten Jahr hat er [Justin Bieber] fast 45 Millionen Euro verdient! WTF??! ‘Ne Menge Kohle! Tja, und dass er eine Rich-Bitch ist, lässt der Mädchenschwarm auch raushängen. Mindestens sieben Karren stehen bei ihm in der Garage – alle nach seinen persönlichen Wünschen gepimpt. […] Boah, geht’s noch prolliger? Jup, bei Biebs schon!

Den Rest des Artikels (“Billo-Schlampen”, “Asi-Aktionen”, “Ghetto-Freunde”) überspringen wir jetzt mal. Denn ein paar Artikel später wird es noch idiotischer:
Lady GaGa - Selbstmord-GEFAHR! Wie schlecht geht es ihr wirklich?
Für die “Selbstmord-Gefahr” von Lady Gaga hat die “Bravo” genau vier Belege:

Nummer eins: Lady Gaga hat abgenommen!
Nummer zwei: Ohne Make-Up sieht man Lady Gagas Augenringe!
Nummer drei: Bei irgendeiner Party wirkte sie “völlig abwesend”!

Und ganz besonders Nummer vier:
[Foto von Lady Gaga, auf dem sie ein Shirt mit der Aufschrift "Suicidal Tenencies" trägt]

Es wird immer schlimmer! Jetzt zeigte sich die 27-Jährige in ihrer Heimatstadt im T-Shirt mit dem Aufdruck “Suicidal Tendencies” = “Selbstmordgedanken”!

Dieser “Style” wirke “wie ein Hilferuf”, findet die “Bravo”. Na ja — man kann das Ganze allerdings auch weit weniger dramatisch deuten. Denn “Suicidal Tendencies” ist eine Band.

Im Text selbst und in der Vorabmeldung der “Bravo” ist davon nichts zu lesen. Aber immerhin in der Bildunterschrift — die “Bravo”-Leute wussten also ganz genau, dass es sich um ein Bandshirt handelt.

Da kann man nur froh sein, dass Lady Gaga nichts von den “Satanic Surfers” anhatte. Oder den “Dead Kennedys”. Die Schlagzeilen zu “Fury in the Slaughterhouse” oder “Pulled Apart By Horses” hätten uns dann allerdings doch interessiert.

Via PitCam (Facebook).
Mit Dank an caravanshaker.

Wunder, Weltwoche, Werbeformat

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Neue Welt’ ruft Wunder zurück”
(topfvollgold.de, Mats Schoenauer)
Der Tod von Prinz Friso von Oranien-Nassau: “Anderthalb Jahre lang haben deutsche Regenbogenhefte das Schicksal des Prinzen ausgeschlachtet. Sie haben spekuliert, gemutmaßt und prophezeit, sie haben Gerüchte verbreitet, Fakten verdreht und sich Dinge einfach ausgedacht. Allein in den vergangenen vier Monaten ist Prinz Friso mindestens sechs Mal für tot erklärt worden, genauso oft gab es dann plötzlich doch ein ‘Wunder’, und immer wieder irgendwelche Dramen, Enthüllungen und Skandale.”

2. “Weltwoche: Rega wirft ‘gröbste Recherche-Fehler’ vor”
(persoenlich.com, Lea Friberg)
“Wie viele Fehler darf ein einzelner Journalist eigentlich machen?”, fragt die Schweizerische Rettungsflugwacht in einer Medienmitteilung und kommentiert in einem PDF-Dokument einige Passagen aus dem betreffenden Artikel.

3. “Vor geschlossenen Türen”
(tageswoche.ch, Samuel Schlaefli)
Samuel Schlaefli versucht, etwas über die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zu erfahren: “Statt Antworten auf meine Fragen, gibt es einen Wälzer mit dem die Kommunikationsabteilung den Journalisten endgültig erschlägt. Und dies ohne, dass ihr jemand den Vorwurf machen könnte, sie hätte die Presse nicht ausreichend mit Informationen versorgt.”

4. “Wir diskutieren ein potentielles Werbeformat und freuen uns auf Feedback”
(netzpolitik.org, Markus Beckedahl)
Markus Beckedahl lotet bei seinen Lesern die Akzeptanz einer neuen Werbeform aus: “Dagegen spricht, dass es irgendwie Paid-Content ist, wenn auch nicht aus der PR-Abteilung. Wir würden dafür bezahlt, dass wir jeden Tag die neueste Folge hier einstellen, Ihr müsste die neueste Folge irgendwie sehen (nicht ansehen, aber sie kommt im Nachrichten-Stream) und Euch schützt kein Adblocker davor.”

5. “‘Die Autorität des aufzeichnenden Bleistifts'”
(derstandard.at, Klaus Taschwer)
Ein Interview mit Anke te Heesen, die zur Geschichte des Interviews forscht: “Es gab tatsächlich Zeiten, als große Angst vor dem Interview herrschte, was sich leicht erklären lässt: Mit der Beichte und der medizinischen Anamnese stellt vor allem das Verhör eine seiner drei Wurzeln dar.”

6. “Walulis sieht fern: Eine typische Fußballsendung”
(youtube.com, Video, 3:36 Minuten)

Schildbürger unter sich

Fast jeder kennt die Geschichten über die Schildbürger, die in ihrem Übereifer immer wieder ambitionierte Projekte beginnen und dann doch an den simpelsten Grundlagen scheitern. Zum Beispiel die Geschichte, als sie ein Rathaus ohne Fenster bauten und anschließend versuchten, das fehlende Licht mit Eimern und Fässern in das Gebäude zu schaffen.

Das ist wahrscheinlich ein Grund, warum die Geschichte von dem spanischen Hochhaus ohne Fahrstuhl in der Deutschen Presse so viel Aufmerksamkeit erntete. Zum Beispiel in Bild.de:

Hochhaus gebaut – aber Aufzug fehlt Architekt vergaß den Fahrstuhl-Schacht +++ Bauarbeiter müssen schleppen +++ Mieter müssen laufen

Stern.de beschrieb detailreich:

Mit 210 Metern soll es das höchste Wohnhaus Europas werden. Ein Aushängeschild der Superlative, so war der Plan. 3,7 Millionen Euro kostete zu Baubeginn eine Maisonettewohnung im

Und Welt.de wusste auch den Grund dafür:

Der Aufzug wurde nur für die ersten 20 Stockwerke konzipiert, beim Weiterbau vergaß man den Aufzugschacht bis zu Spitze.

Auch Spiegel Online, die Neue Zürcher Zeitung, die Hamburger Morgenpost und viele andere verbreiteten die Mär vom fehlenden Aufzug.

Alleine: Der Artikel in der Zeitung El País (englische Fassung), auf den sich die Artikel direkt oder indirekt berufen, hat zwar allerhand zum Thema Fahrstühle zu berichten: Es gab einen Unfall mit dem Lastenaufzug, der ohnehin zu spät gebaut worden war. Dass allerdings die Fahrstuhlschächte ab dem 20. Stockwerk fehlen — das stand nirgends. Die entscheidene Textstelle lautet (Übersetzung von uns):

Im Januar 2012 gab es eine neue Überraschung: Bei den Planungen war der Aufzugschacht nicht beachtet worden, wie die öffentlichen Pläne klar zeigen. “Der Platz wurde nur für ein 20stöckiges Gebäude berechnet”, sagten die gleichen Quellen.

Das kann natürlich vieles heißen: dass die Fahrstuhlschächte unterdimensioniert sind, dass der Platz für den Antrieb falsch berechnet war, dass zu wenige Fahrstühle für die erhöhte Einwohnerzahl zur Verfügung standen. Für die Extrem-Interpretation, dass die Fahrstuhlschächte gleich ganz fehlten, fehlte jedoch jeder Hinweis. Und wie zu erwarten war, stimmte dies auch nicht. Wie zum Beispiel das Blog Barcepundit auflistet, hat der Wolkenkratzer sogar ganze 10 Aufzüge — und die Schächte reichen bis in den 47. Stock. Treppen steigen muss also niemand.

Doch statt ihre Falschmeldungen einfach zu löschen oder zu korrigieren — wie es zum Beispiel Spiegel Online sehr halbherzig tat — versuchten einige Redaktionen ihre durch Fakten verpfuschte Geschichte noch zu retten. So erklärte die Welt kurzerhand das Fehlen des Schildbürgerstreiches selbst zur Posse:

Screenshot: Welt.de

Doch wie spanische Medien kolportieren, sei beim Bau ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Die Tageszeitung “El País” will anhand der Baupläne herausgefunden haben, dass der Aufzugsschacht für ein Hochhaus von nur zwanzig Stockwerken und damit zu eng konzipiert war. Für ein doppelt so großes Hochhaus wie das Intempo braucht man stärkere Motoren und andere Zugsysteme. Erst im Januar habe man den Fehler bemerkt und die drei Aufzugsschächte erweitert, was die Arbeiten erheblich verzögerte, heißt es beim spanischen Nachrichtensender “La Sexta”. Viele spanische Online-Portale juxen derweil munter weiter über das Hochhaus mit dem fehlenden Aufzug.

Dass die Redaktion das eigene Rechercheversagen überspielt und “spanischen Online-Portalen” in die Schuhe schiebt, ist dreist, aber kaum bemerkenswert. Dass es die Redaktion aber schafft, trotz der Nachfrage beim Architekten die Falschmeldung vom “offenbar vergessenen” Fahrstuhl noch in die Überschrift zu packen hingegen zeigt eine stolze Ignoranz, die eins deutlich macht: Deutsche Journalisten müssen sich offenbar nicht hinter Schildbürgern verstecken.

Mit Dank an Greta H., hvd69, Patrick R. und Mathias S.

Wahlkampf, Zensus, Blick

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Hurra! Hurra! So nicht.”
(juliane-wiedemeier.de)
Lokaljournalistin Juliane Wiedemeier besucht einen Auftritt von Angela Merkel im Wahlkampf zur Bundestagswahl: “Es herrschte eine Stimmung wie beim Justin-Bieber-Konzert. Ich frage mich nur, ob 15-Jährige wirklich auf Angela Merkel stehen oder eher jemand dafür gesorgt hat, dass sie an diesem Tag gar nicht anders konnten als sich begeistern.” Siehe dazu auch “Drei Minuten mit der Kanzlerin” (tagesschau.de, Oliver Mayer-Rüth).

2. “Blackbox Zensus: Die Angst im Amt”
(demografie-blog.de, Björn Schwentker)
“Der Zensus 2011 ist das größte amtliche deutsche Datenprojekt des letzten Vierteljahrhunderts, seine Bevölkerungszahlen haben an jeder Ecke politische Relevanz. Und dennoch ist es der Öffentlichkeit bisher unmöglich, die Erhebung nachzuvollziehen”, schreibt Björn Schwentker, der das “einer Demokratie unwürdig” einstuft und sich wundert, dass der Zensus journalistisch “bisher quasi unangetastet” blieb: “Die offensichtlichen Ergebnisse wurden veröffentlicht, ganz so, wie sie den Medien direkt vom Statistischen Bundesamt in die Hand gegeben wurden.”

3. “Aufstand des ‘Blick’-Redaktionskaders”
(persoenlich.com, eh/as)
Mit einem Brief an Ringier-CEO Marc Walder (PDF-Datei) versucht das Führungskader der Boulevardzeitung “Blick” die drohende Absetzung der aktuellen Chefredaktorin zu verhindern.

4. “Manipulative Bildauswahl”
(achimbodewig.de)
Ein Foto im “Spiegel” mit der Bildunterschrift “Marode Grundschule in Berlin”.

5. “So groß ist der Verlust auf Rhein-Zeitung.de durch den Ausstieg bei Google News”
(blog.rhein-zeitung.de, Marcus Schwarze)
Wie kommen Nutzer auf Rhein-zeitung.de? Per Bookmark (41 Prozent), über die Google-Suche (32 Prozent), über Facebook (13 Prozent), über seiteninterne Verweise (3 Prozent) und über Twitter (1 Prozent).

6. “Die ganze Vielfalt des deutschen Fernsehens in Sendungstiteln – Deutschland-Spezial”
(ulmen.tv, Peer Schader)

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