Archiv für Juni 14th, 2012

Die Tote aus der Tiefkühltruhe

Ende Februar fand die Polizei in Spenge in Ostwestfalen durch Zufall eine Frauenleiche, die in einen Koffer gezwängt in einer Tiefkühltruhe lag. Ein Tatverdächtiger war schnell gefunden: Ein 42-Jähriger, gegen den bereits wegen Menschenhandels ermittelt wurde, und der die Garage angemietet hatte, in der die Tiefkühltruhe stand.

Die Identität des Opfers blieb jedoch zunächst unklar, weswegen sich die Polizei ein paar Tage später an die Presse wandte und Fotos der Leiche und ihrer Kleidungsstrücke veröffentlichte. Die Fotos erschienen in regionalen und überregionalen Medien, Zeugen identifizierten die Tote als Angestellte eines Herforder Bordells.

Noch bevor Polizei und Staatsanwaltschaft ihre gemeinsame Pressemitteilung veröffentlichten, konnten sie in “Bild” folgende Sätzen lesen:

Sie lag erdrosselt in einer Tiefkühltruhe. Weil niemand die Tote vermisste, suchte die Polizei mit Fotos der Leiche nach Zeugen. Jetzt die spektakuläre Wende in dem Fall.

Nach BILD-Informationen heißt die Tote Olga P., stammt aus der Ukraine und arbeitete in Deutschland als Prostituierte. Das erklärte ein Zeuge gestern beim Staatsanwalt.

(Inwiefern es eine “spektakuläre Wende” sein kann, wenn die Polizei eine erste Spur hat, weiß wohl auch nur “Bild” allein.)

Die mutmaßliche Identifizierung der Toten hielt “Bild” und Bild.de nicht davon ab, weiterhin das Foto der Leiche zu verbreiten, mit dem die Polizei nach Zeugen gesucht hatte. Mehr noch: Bild.de konnte das Foto jetzt (mehrfach) gemeinsam mit Bildern zeigen, die noch zu Lebzeiten der Frau entstanden waren:

Die Tote aus der Tiefkühltruhe: Der Bruder des Killers gab den entscheidenden Tipp.

Ein Leser beschwerte sich über diese Berichterstattung beim Deutschen Presserat, weil er darin eine unangemessen sensationelle Darstellung und einen Verstoß gegen die Menschenwürde der Toten sah.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die Rechtsabteilung von Bild.de sah das wie üblich anders. In ihrer Stellungnahme erklärte sie, bei der Aufnahme der Leiche handele es sich um ein offizielles Foto, das Polizei und Staatsanwaltschaft zu Fahndungs- bzw. Ermittlungszwecken veröffentlicht hätten. Die Aufnahme sei in allen regionalen und überregionalen Zeitungen und Newsportalen erschienen. Sie sei presserechtlich und presseethisch zulässig.

Die Berichterstattung habe sich mit den laufenden Ermittlungen beschäftigt und über eine möglicherweise gelungene Identifizierung der Toten und einen ersten Verdacht bezüglich eines Täters berichtet. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sei der Ausnahmetatbestand, der die Veröffentlichung des Fahndungs- und Ermittlungsfotos rechtfertige, noch in vollem Umfang gegeben gewesen, denn die Fotoveröffentlichung habe weiterhin der Suche nach weiteren Hinweisen aus der Bevölkerung gedient.

Der Beschwerdeausschuss des Presserats mochte sich dieser Einschätzung nicht anschließen:

Die Abbildung, insbesondere die Kombination des Fotos einer Lebenden mit dem Foto einer Leiche, berührt das Privatleben der Abgebildeten und ihrer Angehörigen in einem Maße, das nicht mehr vom öffentlichen Interesse gedeckt ist. Für das Verständnis der Tat ist das Wissen um die Identität des Opfers unerheblich. Besondere Begleitumstände, die eine Identifizierung rechtfertigen könnten, liegen hier ebenfalls nicht vor. Die Argumentation von BILD Online, das Foto diene zur abschließenden Aufklärung des Verbrechens, trägt nicht. Die Berichterstattung erweckt den Eindruck einer nahezu abgeschlossenen Ermittlung. Hierfür sprechen die Überschrift, sowie die ausführliche Beschreibung des Täters und der Ermittlungsergebnisse. Damit hat sich der Fahndungszweck, zu dem das Foto der Toten ursprünglich veröffentlicht wurde, erledigt.

Der Beschwerdeausschuss sah in der Berichterstattung einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Toten und damit einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex und sprach eine sogenannte “Missbilligung” aus.

Die Fotos der inzwischen zweifelsfrei identifizierten Leiche, die ja selbst laut Bild.de-Juristen nur “der Suche nach weiteren Hinweisen aus der Bevölkerung” dienen sollten, sind bei Bild.de indes immer noch zu sehen. Dass “Bild” anschließend die Mutter der Toten in der Ukraine besucht und ihr eine ganze Reihe privater Fotos aus den Rippen geleiert hatte, ist eine andere Geschichte.

What the Fakt?

Bild.de versucht sich heute mal wieder als BILDblog und schreibt die Fehler anderer Medien auf:

Da staunten die Mobil-User der Tagesschau-App nicht schlecht, als sie am Mittwoch Abend die Ereignisse des Abends noch einmal Revue passieren lassen wollten. Denn die Kollegen vermeldeten “Deutschland zieht ins EM-Viertelfinale ein”!

Eine Nachricht, die uns allen gefällt – aber so leider nicht ganz korrekt ist. Aber bei der komplizierten Konstellation in Gruppe B müssen auch die größten Experten den Taschenrechner auspacken.

Aber gut: Das ist die “Tagesschau” …

Das Zentralorgan der Schwarz-Rot-Geilheit, wo die deutsche Fußballnationalmannschaft immer mit einem herzlichen “wir” vereinnahmt und verallgemeinert wird, wo “ganz Deutschland” irgendwelchen Fußballspielen entgegenfiebert und wo die Grenzen zwischen Journalismus und Fandom nur deshalb nicht verschwimmen, weil es dort sowieso nie Journalismus gibt.

Also: Der letzte Absatz bezog sich jetzt schon wieder auf Bild.de.

Dort jedenfalls schrieben sie gestern vor dem Spiele gegen die Niederlande:

Fakt ist: Gewinnen wir gegen Holland, sind wir sicher im Viertelfinale.

So stand es zumindest bis heute Mittag auf Bild.de. Inzwischen haben sie sich dort unauffällig korrigiert:

Fakt ist: Gewinnen wir gegen Holland, sind wir so gut wie sicher im Viertelfinale.

Mit Dank an Christian H.

RTL2, Golf Post, Tagesspiegel

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Investigativ… geht anders”
(fernsehkritik.tv, Video, 11:49 Minuten)
Der Stadtteil Hochheide in Duisburg wird in der RTL2-Sendung “investigativ” als “ein Viertel in Angst” und eine “Basis von gefährlichen Gangs” beschrieben (rtl2.de, Videos). Fernsehkritiker Holger Kreymeier macht sich bei einem Besuch vor Ort ein eigenes Bild, prüft einige der erhobenen Vorwürfe und redet ein zweites Mal mit Protagonisten der Sendung. Siehe dazu auch “RTL II soll Jungs aus Hochheide gegen Geld zu ‘Gangstern’ gemacht haben” (derwesten.de).

2. “Golf Post: Hinter den Kulissen eines neuen Golfportals”
(der-linksgolfer.de)
Ein Blick auf das Portal “Golf Post”, das in wenigen Tagen starten soll. Für den Linksgolfer scheint sich das gesamte Konzept in einen Satz zusammenfassen zu lassen: “Wie kann ich möglichst billig möglichst viel klickfähigen Content zusammenbekommen.”

3. “NME entschuldigt sich bei Morrissey”
(blogs.taz.de/popblog, Christian Ihle)
Das britische Musikmagazin NME entschuldigt sich bei Sänger Morrissey für eine Titelgeschichte von 2007: “We wish to make clear that we do not believe that he is a racist.”

4. “Ein Mehrzweck-Tool für Zeitungen: Der Ein-Wochen-Chefredaktor”
(blog.tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt)
Constantin Seibt schlägt vor, Blattkritiken nicht von Internen, sondern konsequent von Externen durchführen zu lassen. Und die Ergebnisse täglich online zu stellen.

5. “Deutschlands meister Autojournalist”
(meedia.de, Stefan Winterbauer)
Stefan Winterbauer schreibt über die Arbeitsweise von Autojournalist Thomas Geiger: “Geigers Texte sind tatsächlich immer unterschiedlich. Es ist keinesfalls so, dass er immergleiche Text-Bausteine hin und her verschiebt. Beim Lesen fällt nicht auf, dass Thomas Geiger, Tom Grünweg, Tom Debus und Benjamin Bessinger ein und derselbe Autor sind.”

6. Rudolf Thome abgemahnt
(moana.de)
Regisseur Rudolf Thome erhält eine Abmahnung einer Hamburger Anwaltskanzlei in der Höhe von rund 950 Euro, weil er auf seiner Website zwei Kritiken des “Tagesspiegel” stehen hatte. “Wie kann dem ‘Tagesspiegel’ ein Schaden durch die Wiedergabe zweier uralter Kritiken entstanden sein, frage ich mich. Und dann kriege ich so was ausgerechnet vom ‘Tagesspiegel’, für den ich selbst 15 Jahre lang Filmkritiken geschrieben habe.” Siehe dazu auch die Perlentaucher-Feuilletonrundschau von gestern.