Archiv für Juni 8th, 2012

Eine Schlagzeile wie aus dem Lehrbuch

Die “Bild”-Zeitung gibt ungern Einblicke in ihre Arbeit. “Wir kommentieren grundsätzlich nicht unsere Berichterstattung und äußern uns auch nicht zu Redaktionsinterna”, bekam der NDR erst kürzlich wieder als Nicht-Antwort auf eine Anfrage. Vermutlich hat sie guten Grund, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

Andere Stellen im Verlag sind nicht so vorsichtig. Am Donnerstag vergangener Woche gratulierte die hauseigene Journalistenschule, die Axel-Springer-Akademie, auf ihrer Facebook-Seite einem ihrer Schüler zu einem besonderen Erfolg: seiner ersten “Bild”-Schlagzeile:

Es geht um einen Radio-Moderator, der zwei Tage zuvor unter dem Verdacht, eine Minderjährige sexuell missbraucht zu haben, festgenommen worden war.

Nun könnte man durchaus fragen, ob eine solche Schlagzeile wirklich Anlass für eine Gratulation ist. Das “auch” in der Überschrift kommt im Grunde einer Vorverurteilung gleich — als sei die Schuldfrage bei dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs schon geklärt. Streiten kann man auch, ob die identifizierbare Berichterstattung mit einem Foto des Verdächtigen auf der Titelseite zulässig ist. Aber vermutlich muss eine Schule, in der auch der Nachwuchs für “Bild” ausgebildet wird, ihre Schüler für solche Fragen nicht sensibilisieren, sondern desensibilisieren.

Doch die Aufmacher-Geschichte ist noch aus anderen Gründen problematisch. Die Projektwoche “Exklusivgeschichten”, in der der Springer-Journalistenschüler sie recherchiert haben soll, fand nämlich, wie die Akademie uns bestätigt, schon im März statt. Hat “Bild” das, was sie nun als “neue Vorwürfe” verkauft, über zwei Monate lang liegen lassen?

Auf Nachfrage von BILDblog erklärt Akademie-Leiter Marc Thomas Spahl:

Damals recherchierte der junge Kollege in der Sache, hat viele Hinweise aber keine offizielle Bestätigung bekommen, deshalb den Fall aus journalistischer Sorgfaltspflicht nicht veröffentlicht. Inzwischen gibt es nicht nur die Bestätigung der Staatsanwaltschaft, sondern auch eine Zeugenaussage, die Selbstanzeige eines Komplizen.

Oberstaatsanwalt Andreas Gärtner sagt uns hingegen, dass “Bild” lediglich die Auskunft bekommen habe:

dass der im Raum stehende Vorwurf der Staatsanwaltschaft zwar bekannt sei, die von dem Hinweisgeber herrührende Information allerdings bislang nicht mit nachprüfbaren Tatsachen zu den näheren Modalitäten und den möglichen Beteiligten an dem vermeintlichen Betrug unterlegt worden sei, was der
Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehe. Aus diesem Grund sei hier zunächst ein “Prüfvorgang” angelegt worden.

Das klingt deutlich weniger handfest, als es Spahl suggeriert. Und es widerspricht der Darstellung der “Bild”-Zeitung, die auf der Titelseite behauptet:

Nach der Verhaftung von […] wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Kindern, erhebt die Staatsanwaltschaft neue Vorwürfe.

Nein. Sie bestätigt bloß, dass es (alte) Vorwürfe gibt, die ihr aber noch nicht handfest genug erscheinen, um ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Fraglich ist auch, was die Vorwürfe des Betruges mit den Ermittlungen wegen des sexuellen Missbrauchs überhaupt miteinander zu tun haben. Marc Thomas Spahl antwortet auf diese Frage:

Den Zusammenhang stellen die übergreifenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dar.

Doch solche “übergreifenden” Ermittlungen gibt es nicht. Oberstaatswanwalt Gärtner erklärt uns:

Ein Zusammenhang [mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern] besteht nicht. Vielmehr werden beide Komplexe hier in unterschiedlichen Abteilungen durch unterschiedliche Dezernenten geprüft bzw. bearbeitet.

Das sind also die Geschichten, zu denen die Axel Springer Akademie, die “modernste Journalistenschule Deutschlands”, ihren Schülern gratuliert. “Glückwunsch!”

Mit Dank an Klaus D.!

FAS, Spiegel, Kicker

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wer kuscht hier?”
(gachmuretsnotiz.blog.de)
Buchhändler Gachmuret ärgert sich über die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung”, die am 3. Juni auf ihrer Titelseite unter der Überschrift “Buchhandel kuscht vor WWF” behauptete, es sei ein “kritisches Buch vom Markt verschwunden”. “Seit wann, liebe Frankfurter Allgemeine, seit wann sind ein Filialist, ein Großhändler und ein Allesverkäufer ‘der Buchhandel’? Es gab sicher einige Konzentrationsprozesse in den letzten jahren, aber noch immer besteht ‘der Buchhandel’ aus tausenden Betrieben, noch immer kommen selbst die zehn größten Filialisten zusammen auf gerade einmal 38% Marktanteil”.

2. “SPIEGEL vs. ALDI: Eine billige Polemik (1)”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Torsten Dewi unterzieht die “Spiegel”-Titelgeschichte vom 30. April über den Lebensmittelhändler Aldi einer eingehenden Analyse: “All das, was der SPIEGEL als Beweise für die Skrupellosigkeit und Paranoia von ALDI ausbuddelt, könnte praktisch unverändert unter der Headline ‘Ein vorbildlicher Betrieb’ stehen. Was bei anderen lobenswert ist (klare Regeln, Energie sparen, freundlicher Umgang), ist bei ALDI eeeeevil.”

3. “Der Kicker ‘interviewt’ Sky”
(sportsaal.de)
Der Sportsaal liest ein “Kicker”-Gespräch mit Marcello Maggioni von Sky Deutschland: “Eine Werbebroschüre von Sky, unterbrochen von ziemlich unkritischen Fragen von Rainer Franzke, Mitglied der Chefredaktion und Leiter der Redaktion Südwest.”

4. “Im Begriffsbrei des Gängigen”
(stern.de, Bernd Gäbler)
Eine Zwischenbilanz der fünf ARD-Talkshows von Bernd Gäbler: “Alle Talkshows möchten stets die gleiche populäre Sau durchs Dorf jagen. Es sind einfach zu viele. Sie sind zu belanglos.”

5. “Eine kleine Fernsehkritik-Kritik”
(rueckseite-magazin.de, Lars Reusch)
Lars Reusch fragt sich, wie es Online-Portale mit sich vereinbaren können, Talkshows immer wieder als völlig belanglos einzustufen, einzelne Ausgaben jedoch ausgiebig zu besprechen. “Talkshows wollen kein unentschiedenes Publikum informieren, sondern schon in Lagern steckende Zuschauer mit den nach Lager sortierten Gästen mitfühlen und -zanken lassen. Und die Rezensionen machen exakt das Gleiche.”

6. “Das ‘geheime’ Blog des Wolfram Siebeck”
(fastvoice.net, Wolfgang Messer)