Archiv für Juni 20th, 2006

Allgemein  

“Bild” erfindet Tathergang

Manchmal weiß es die “Bild”-Zeitung ganz genau. Am 14.1.2006 etwa schrieb sie:

Das ist der Rotkohl-Killer

Er hat das Baby seiner Freundin zu Tode gefüttert

(…) Er preßte dem kleinen Justin (17 Monate) Rotkohl in den Mund. Löffel für Löffel. Immer mehr. So lange, bis das Kind keine Luft mehr bekam. Es starb später im Krankenhaus. Jetzt sehen wir zum ersten Mal das Gesicht des schrecklichen Rotkohl-Killers!

(…) Am ersten Weihnachtsfeiertag stopfte er den Kleinen so lange mit Rotkohl voll, bis der mit Atemnot ins Krankenhaus kam. (…)”
(Link von uns.)

Es ist, als wäre “Bild” dabeigewesen, nicht wahr?

War “Bild” aber nicht. Zum Glück, wie man hinzufügen möchte. Denn sonst müsste sich die Zeitung jetzt vermutlich ebenso vor Gericht verantworten wie der angebliche “Rotkohl-Killer”. Dem nämlich wird von der Staatsanwaltschaft vieles, nicht aber das vorgeworfen, was “Bild” so detailliert zu berichten wusste. Er ist angeklagt wegen “Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen“, weil er nicht eingeschritten sei, als seine Lebensgefährtin das Kind mit dem Rotkohl misshandelt habe (wie z.B. heute.de — und ähnlich sogar Bild.de* — berichtet).

*) So richtig gelingt es aber auch Bild.de nicht, angemessen zu berichten: Während u.a. die Überschrift “Erstickten sie ihr Kind mit Rotkohl?” lautet und Bild.de sogar vor dem Begriff “mutmaßlich” nicht zurückschreckt, wird im dazugehörigen Teaser auf der Startseite aus der vor Gericht zu klärenden Frage wieder eine vorverurteilende Tatsachenbehauptung.

Mit Dank an Rico R. für die Anregung.

Seid patriotisch oder schweigt!

Vielleicht ist “Bild” die berechenbarste Zeitung der Welt.

Der WDR-Fußballreporter Manfred Breuckmann kritisiert, dass jeder, der in diesen Tagen irgendetwas an der Fußball-WM kritisiert, sofort von der “Bild”-Zeitung “in die Pfanne gehauen wird”. Die “Bild”-Zeitung haut ihn daraufhin sofort in die Pfanne. Also, konkret: Entledigt seine Zitate ihres Zusammenhangs, unterstellt ihm ein “böses Foul” und macht ihn zum Verlierer des Tages:

Der WDR-Mann macht unsere schöne WM mies. 1. Die Stimmung in den Stadien sei nicht immer euphorisch. 2. Das Programm mit 32 Mannschaften sei zu aufgebläht. 3. Patriotischer Habitus komme für ihn nicht in Frage. BILD meint: Dann bleib doch zu Hause, Manni!

Nun ja: Breuckmann hatte in dem “taz”-Interview, auf das sich “Bild” bezieht, “diese phantastische Stimmung in den Stadien” gelobt, aber beim Eröffnungsspiel sei es “relativ ruhig auf den Rängen” gewesen — der Reporter führt das auch darauf zurück, dass zu wenige Tickets frei verkauft wurden. Und über das, was “Bild” den “patriotischen Habitus” nennt, hatte Breuckmann gesagt:

Ich glaube auch, dass man eine Fußballmannschaft unterstützen kann, ohne die Hand aufs Herz zu legen. Das ist nicht meine Welt. Solange aber kein aggressiver Nationalismus draus wird, ist die Sache in Ordnung. (…)

Patriotismus wird damit verbandelt, dass man alles kritiklos hinnehmen muss. Wer keine positive Einstellung hat, wird ausgegrenzt.

Was “Bild” also prompt tat. Die Erklärung zum “Verlierer des Tages” nimmt Breuckmann nun als “Adelung”: “Ich fühle mich geehrt.”

Durch die Ausgrenzung aller, die sich nicht in den schwarz-rot-goldenen Taumel einreihen wollen, verliere die patriotische Stimmung etwas von ihrem “unaggressiven Charakter”, hatte Breuckmann gesagt. Das lässt sich ganz gut an der “Bild”-Zeitung ablesen.

Am Tag vor der WM-Eröffnung jubelte “Bild”-Kommentator Norbert Körzdörfer:

“Die Sonne geht auf. Die Schatten sind weg. (…)
Ja zu Deutschland-Fahnen am Auto!
Ja zu deutschem Bier!
Ja zur deutschen Hymne! (…)
Ja zur deutschen Frau, die lächelnd zuschaut!

Danach wurde deutlich, dass das weniger Tatsachen-Beschreibungen als Forderungen waren. “Bild” verlangte fast täglich das Mitsingen der Nationalhymne. Michael Ballack wurde gerüffelt, weil er in seiner Freizeit ein Italien-Shirt trug (“Bild”: “Was soll das?”). Wegen vermeintlicher Patriotismus-Defizite und Miesmacherei rügte “Bild” außerdem u.a.: die Lehrer-Gewerkschaft GEW, die die zwiespältige Geschichte des Deutschlandliedes thematisieren wollte (“Bild”: “selbsternannte Volkserzieher wollen uns die WM-Laune verderben”), die Politiker Hans-Christian Ströbele und Heiner Geißler, die das Fahnengeschwenke nicht so gut fanden, sowie den Kabarettist Dieter Hildebrandt, der dagegen war, vor Fußballspielen Hymnen zu singen (“Bild”: “notorische Miesmacher … immer was zu meckern … griesgrämiges Deutschlandbild”).

Am 13. Juni warnte “Bild”-Kommentator Oliver Santen:

Wir brauchen diesen Optimismus. (…)

Die immer schlecht gelaunten Miesmacher brauchen wir nicht.

Und offenbar brauchen “wir” eine Patriotismus-Polizei, die alle, die sich nicht einreihen, an den schwarz-rot-goldenen Pranger stellt.

“Wer Privates schützen will, kann das in der Regel”

Seit fast 40 Jahren boykottiert der Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass, wie einst von der Gruppe 47 beschlossen, den Springer-Konzern. Daran hält er weiter fest. Ende Mai traf er sich allerdings erstmals mit dem Vorstandschef Mathias Döpfner zu einem Gespräch, das von dem Publizisten Manfred Bissinger moderiert wurde.

Grass: Für mich ist die “Bild”-Zeitung aus kaltem, offenbar intellektuellem Kalkül ein Instrument des Appells an die niedrigsten Instinkte. Da wird Schadenfreude mobilisiert, da wird ein Personenkult auf der einen Seite betrieben, ebenso wie ein Niedermachen von Personen, wenn sie ihr zu groß geworden sind, da geht es bis ins Privateste hinein. Da wird es regelrecht widerlich. (…)

Döpfner: Größer als die Schlagzeilen der “Bild”-Zeitung ist gelegentlich nur die Heuchelei mancher Prominenter, wenn sie sich als Opfer stilisieren. Erst wollen sie von der Plattform profitieren, und hinterher, wenn’s mal unangenehm wird, kritisieren sie, dass “Bild” immer noch da ist. Wer Privates schützen will, kann das in der Regel auch[1]. (…) Für die “Bild”-Zeitung gilt das Prinzip: Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen.

Grass: (…) Sie sollten vielleicht in Ihre Grundsätze noch aufnehmen: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

Döpfner: Das steht doch schon im Grundgesetz.

Grass: Dann sollten Sie das Grundgesetz den “Bild”-Redakteuren näherbringen.

Bissinger: Gehörte nicht in Ihre Grundlinien hinein, dass Opfern journalistischer Berichterstattung Genugtuung verschafft werden muss? Amerikanische Blätter haben die vielgelesene Korrekturspalte.

Döpfner: Ja, wenn falsch berichtet worden ist, muss das korrigiert werden. Und zwar nicht nur durch eine Gegendarstellung, sondern auch durch einen redaktionellen Widerruf[2]. Ich finde die amerikanische Einrichtung der Korrekturspalte am festen Ort ausgesprochen sinnvoll[3]. Das begrüße ich sehr.

[1] Für Ausnahmen von dieser “Regel” vgl. u.a. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier oder hier.

[2] Üblicherweise korrigiert die “Bild”-Zeitung ihre Fehler entweder gar nicht oder nur in Form unkommentierter Gegendarstellungen oder nur auf Druck von außen oder nur durch eine weitere Verdrehung der Wahrheit.

[3] Unter Chefredakteur Udo Röbel hatte “Bild” eine solche Korrekturspalte. Unter seinem Nachfolger Kai Diekmann gibt es sie nicht mehr.

Der “Spiegel” dokumentiert das Gespräch in seinem aktuellen Heft.