Bei “Bild” konnte man in den vergangenen Tagen eine interessante Doppelwendung beobachten. Denn eigentlich war die Redaktion vor zwei Wochen gerade lauthals damit beschäftigt, Angst vor Migranten aus Afghanistan zu schüren: “Viele Täter stammen aus Afghanistan”, warnte sie etwa unter der Überschrift “Neue Zahlen der Schande – FAST JEDE WOCHE EIN ‘EHRENMORD'”.
(Unkenntlichmachungen von uns.)
In düsteren Kommentaren forderten “Bild”-Autoren einen “Aufschrei” der Gesellschaft – und von der Politik, dass sie konsequenter Maßnahmen ergreifen müsse, genauer: “Maßnahmen wie Abschiebung”.
Anlass für diese Kampagne war ein Mordfall aus Berlin (BILDblog berichtete), bei dem zwei Brüder aus Afghanistan unter dem Verdacht stehen, ihre Schwester getötet zu haben, weil sie sich laut Haftbefehl “gekränkt gefühlt haben, weil das Leben ihrer geschiedenen Schwester nicht ihren Moralvorstellungen entsprochen hatte”.
Fazit von “Bild”: Die deutsche Migrationspolitik sei “gescheitert”. Und:
Und viele Bundesbürger fragen sich: Werden wir afghanische Schwerverbrecher, die ausreisepflichtig sind, nun gar nicht mehr los?
Auch Polizeigewerkschafter und Ausländerangstverbreiter Rainer Wendt ließ “Bild” zu Wort kommen und finstere Szenarien zeichnen. Und einige Politiker – die selbstverständlich vor allem eines verlangten: härtere Abschiebungen.
Die Chefin des Bundestags-Innenausschusses, Andrea Lindholz (50, CSU) dringt auf sofortige Abschiebung der Täter.
Innenexperte Michael Kuffer (49, CSU) verlangt: “Wer als Afghane in Deutschland seine Schwester aus islamischer Verblendung ermordet, der gehört lebenslang hinter Gitter und ins Heimatland abgeschoben – und zwar unabhängig davon, welche Lage dort herrscht.”
Wenige Tage später überrannten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul. Bilder der Verzweiflung gingen um die Welt: Afghanen, die versuchen, sich an Flugzeugen festzuhalten; die ihre Babys über Stacheldraht in die Hände der US-Soldaten heben, um sie vor den Taliban zu retten. Auch “Bild” berichtete fortan immer wieder groß aus der “Hölle von Kabul” und darüber, dass die Lage im Land “immer dramatischer” werde.
Und offenbar erschien es dann selbst den Leuten von “Bild” irgendwie unpassend, inmitten solcher Nachrichten weiterhin Stimmung gegen afghanische Migranten zu machen, und so fand die Kampagne zum herbeigesehnten Abschiebe-Aufschrei mit einem Mal ein Ende: Während in der Vorwoche nahezu täglich über kriminelle Afghanen, über “Ehrenmorde” und das angebliche Versagen der Politik berichtet worden war, verschwand das Thema plötzlich komplett aus der “Bild”-Berichterstattung.
Inzwischen geht es aber langsam wieder los, insbesondere bei “Bild TV”. Allein gestern hieß es dort unter anderem:
“Man tischt uns wieder ein Märchen auf darüber, wer jetzt zu uns kommt”, meint BILD-Chef @jreichelt bei #BILDLive. Es müsse geklärt werden, welche Menschen aus #Afghanistan zu uns kommen.
“Liebe Regierung, klärt so schnell wie möglich auf, wer diese Menschen im Flugzeug sind!”, fordert @ClausStrunz bei #BILDLive. Womöglich waren Menschen dabei, die wir in Deutschland nicht haben wollen wie Verbrecher. #Afghanistan
“Die Menschen haben Angst, dass Menschen kommen, die kriminell sind” – Julian Reichelt bei BILDLive.
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Aber das nur als Beobachtung am Rande, denn eigentlich geht es in dieser Rubrik ja um etwas anderes: die Bebilderung. Und die bestand – vor dem plötzlichen Aufschrei-Ende und -Wiederanfang – konsequent aus privaten Fotos der ermordeten Frau:
(Alle Unkenntlichmachungen von uns. Die Verdächtigen haben von “Bild” einen schwarzen Augenbalken bekommen, die ermordete Frau bekommt keinerlei Verpixelung.)
Woher die Fotos der Frau stammen, verrät “Bild” weiterhin nicht. Als Quelle steht dort bloß: “privat”.
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Insgesamt veröffentlichten die “Bild”-Medien in jener Woche (9. bis 15. August) mindestens 31 Mal Fotos von Menschen, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind, davon viermal Kinder.
In zwei Fällen waren die Gesichter verpixelt, in einem Fall die Augen. In 28 Fällen verzichtete “Bild” auf jede Unkenntlichmachung.
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Veröffentlicht wurde zum Beispiel das Gesicht eines Priesters, der in Frankreich ermordet wurde:
Fotoquelle: “Twitter.com”.
Und das Gesicht eines jungen Mannes, der nach einem Autounfall gestorben ist:
Fotoquelle: “Privat”.
Und das Gesicht einer Frau, die in den Pyrenäen verunglückte (und das Gesicht ihres Lebensgefährten):
Fotoquelle: “Privat”.
Und das Gesicht einer Frau, die versehentlich von ihrem Kind erschossen wurde:
Fotoquelle: “privat”.
Und das Gesicht eines Mannes, der bei der Explosion im Chempark Leverkusen ums Leben kam (und das Gesicht seiner Frau; immerhin das Gesicht des Kindes ist verpixelt):
Fotoquelle: “Privat”.
Und – sowohl online als gedruckt – das Gesicht eines ehemaligen Richters, der in seiner Villa ermordet wurde:
Fotoquelle: “privat”.
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Nach einem Verbrechen oder Unglück in Social-Media-Profilen zu wühlen und daraus Fotos der Opfer zu veröffentlichen, ist redaktioneller Alltag bei “Bild”. Häufig erscheinen solche Fotos ohne jede Verpixelung und ohne Zustimmung der Angehörigen oder Hinterbliebenen.
In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar von Reportern bedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.
“Bild” begründet die Veröffentlichung solcher Bilder damit, dass “nur so” die Tragik “deutlich und fassbar” werde.
Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:
Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.
Pressekodex Richtlinie 8.2
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:
Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.
Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.
Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.