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1. “Meinungsschlacht um die Krim: Manipulation in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie?” (wiesaussieht.de, F. Luebberding)
Frank Lübberding befasst sich mit Aufmerksamkeitsökonomie: “Nach der Logik der Onlineökonomie ist der Inhalt eines Artikels völlig egal, solange er sich im Wettbewerb durchetzen kann. Relevant ist die Reichweite des einzelnen Artikels und nicht mehr, wie früher, etwa die Vertriebserlöse des Gesamtprodukts Zeitung. Das Misstrauen gegen die Massenmedien befördert somit heute vor allem deren schon immer vorhandene Skandalisierungsneigung. Abgewogene Artikel, oder solche, die sich auf Berichterstattung und Einordnung beschränken, werden nicht in gleicher Weise gelesen.”
2. “Hoodiejournalisten als Manager von morgen oder: Welche Führungskräfte braucht die Medienbranche?” (kress.de, Marcus Hochhaus)
Sind “Hoodiejournalisten” die erfolgreichen Medienmanager von morgen? “Sie sind (zumeist aus budgetärer Not) sehr ziel- und ergebnisorientiert, verstehen Medien als Ecosystem, das sich schnell verändert und in dem man selber flexibel bleiben und sich strategisch positionieren muss. Sie wissen, sich gegen interne und externe Widerstände durchzusetzen, beachten aber auch, dass die Wettbewerber von heute die Partner von morgen sein können.”
4. “Das Jenke-Experiment auf RTL – Reaktionen” (leidmedien.de)
Leidmedien.de sammelt Reaktionen zur RTL-Sendung “Das Jenke-Experiment: Welche Probleme haben Rollstuhlfahrer im Alltag?”.
5. “FragDenStaat sucht den ‘Beamtworter des Jahres'” (blog.fragdenstaat.de)
Die Website “Frag den Staat” will “vorbildliches Verhalten von informationsfreiheitsfreundlichen BehördenmitarbeiterInnen” mit dem Titel “Beamtworter des Jahres” auszeichnen.
6. “Der deutsche Way of Life” (zeit.de, Harald Martenstein)
Harald Martenstein denkt nach über das Leben in Deutschland und den USA: “Bei allen staatlichen oder offiziellen Sachen ist Deutschland extrem freundlich, friedlich, unaggressiv und verständnisvoll. Sämtliche Aggressions- und Unfreundlichkeitspotentiale kommen im persönlichen Miteinander zum Einsatz.”
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1. “Mein dir deine Bildung!” (pantelouris.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris analysiert den “Bild”-Artikel “So hat uns Zypern betrogen!”: “Offensichtlich hat sich Paul Ronzheimer bei seinem unermüdlichen Versuch BILD-Leser gegen Südeuropäer aufzuhetzen inzwischen davon verabschiedet, auch nur den Anschein erwecken zu wollen, so etwas wie Argumente, Fakten oder Logik zu verwenden. Er tippt einfach irgendetwas und schreibt seine Schlussfolgerung ohne Zusammenhang dazu.”
2. “Traumhafte Renditen für Zeitungsverlage” (dradio.de, Stephan Karkowsky)
Medienökonom Frank Lobigs über die Renditen von Zeitungsverlagen: “Das sind Renditen, da können andere Unternehmen nur von träumen! Wenn Sie normale Großunternehmen nehmen, dann haben die eine Durchschnittsrendite von vier Prozent. Die Verlage liegen beim Dreifachen oder Vierfachen davon.”
3. “‘Zeitungspresse als Machtinstrument'” (tagesspiegel.de, Bernhard Schulz)
Heute wird in Berlin die Sonderausstellung “Zwischen den Zeilen? Zeitungspresse als NS-Machtinstrument” eröffnet. “Mit dem heutigen Blick für die Vielfalt von Meldungen und Meinungen ist der Eindruck der Zeitungslandschaft im NS-Regime niederschmetternd. Die gleichen Parolen, die gleichen im Stakkato gehämmerten Phrasen, die gleiche Typographie, fette Überschriften und rote Balken, dazu idyllische Fotos von der Front, wo sich Landser eine Zigarettenpause gönnen oder ihr Nachtlager bereiten: ‘Kein Himmelbett kann damit konkurrieren’, so die Bildunterschrift.”
4. “Klimawandel: Skeptiker amtlich unerwünscht” (heute.de, Reinhard Schlieker)
Reinhard Schlieker kommentiert die Broschüre “Und sie erwärmt sich doch” des Umweltbundesamts, die mit Journalisten und Wissenschaftlern, “die einen menschengemachten Klimawandel für nicht erwiesen halten”, abrechne: “Die Publikation des Bundesamtes kann beim unbefangenen Leser den Eindruck erwecken, man habe es bei diesen Journalisten und Buchautoren mit vorsätzlichen Fälschern zu tun, die fremdgesteuert sind und von irgendwelchen Lobbyisten bezahlt werden.”
5. “Den Eltern den Job erklären” (vocer.org, Steffi Fetz und Lisa Altmeier)
Die Aktion #erklärsmama bemüht sich, Kommunikationsberufe verständlich zu machen: “Teilweise kapieren die Menschen selbst nicht, was sie arbeiten. Wie sollen es dann die Eltern verstehen?”
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1. “Würstchenjournalismus” (beratersprech.de)
Tom Hillenbrand von Beratersprech.de findet in der “Zeit” eigene Sprüche, aber keine Quellenangabe.
2. “Wulff: Diskussion um ‘Medienhetze'” (ndr.de, Video, 4:54 Minuten)
Michael Fröhlingsdorf vom “Spiegel” und Hans Leyendecker von der “Süddeutschen Zeitung” nehmen Stellung zur Frage, ob die Medien mit Vorwürfen gegen Ex-Bundespräsident Christian Wulff nicht etwas übertrieben haben.
3. “Wenn Journalisten bei Kollegen klauen” (berliner-zeitung.de, Thomas Schuler)
“Auf Bitten der ARD” stehen Journalist Peter Köpf und sein Verlag den ARD-Tagesthemen “über mehrere Stunden mit Rat und Hilfe beiseite”. “Doch als der Beitrag am 2. April im Fernsehen lief, war Köpf tief enttäuscht. Weder Tom Buhrow noch der MDR-Fernsehjournalist Matthias Koch erwähnten Köpf und seine Recherchen als Quelle ihres Beitrags. Die ARD präsentierte das Thema, als sei die Recherche allein ihr Verdienst.”
4. “Warten auf den Dritten Weltkrieg” (zeit.de, Eric T. Hansen)
Eric T. Hansen analysiert die Erklärung von Nordkorea, man befinde sich im Kriegszustand. “In den amerikanischen und britischen Medien dagegen musste man teilweise suchen, bis man die Schreckensnachrichten aus Nordkorea fand. Fast so, als ginge es nicht um den nahenden Dritten Weltkrieg, sondern um diplomatischen Alltag.”
5. “‘Leck mich anne Büchs'” (taz.de, Michael Brake)
Fußball: die letzten Minuten des Champions-League-Viertelfinalrückspiels zwischen Malaga und Dortmund im BVB-Netradio.
Man könnte fast den Eindruck bekommen, als sei Holger Bloehte dem Politiker Martin Korol noch was schuldig. Denn seit Tagen springt der “Bild”-Reporter mit erstaunlicher Hartnäckigkeit für den Bremer SPD-Mann in die Bresche.
Für Unmut hatte Martin Korol zuvor mit diversen Aussagen gesorgt, die er auf seiner Homepage veröffentlicht und in denen er unter anderem massiv gegen die Roma-Zuwanderer in Bremen gewettert hatte. Korol habe der Partei mit diesen diskriminierenden Äußerungen “schweren Schaden” zugefügt, sagt der Landesvorstand, der mittlerweile ein Parteiordnungsverfahren gegen den Genossen beantragt hat. Doch trotz aller Kritik an Korol – Holger Bloehte hält zu ihm.
Wie wir vor ein paar Tagen berichtet haben, versuchte der “Bild”-Mann bereits, in einem Artikel einige von Korols umstrittenen Äußerungen mit einer Kriminalstatistik indirekt zu untermauern. In dem Artikel wurde diese Statistik jedoch dermaßen falsch interpretiert, dass sich selbst der Vorsitzende der “Bürger in Wut”, auf dessen angeblichen Aussagen diese verzerrte Darstellung beruhte, im Nachhinein von dem “Bild”-Artikel distanzierte.
Aber wie gesagt: Holger Bloehte ist hartnäckig. Anfang der verganenen Woche widmete die Bremer “Bild”-Ausgabe dem SPD-Mann Martin Korol erneut einen großen Artikel:
Nun also der Kämpfer. “Dr. Korol wehrt sich”.
Gezeichnet wird das Bild eines “altgedienten Genossen”, dem seine undankbare Partei nach all den Jahren plötzlich den Rücken kehrt. Aus Gründen, die wohl weder Korol noch Verteidiger Bloehte so richtig nachvollziehen können. Oder wollen.
Schon der erste Satz lautet:
“Ich war 45 Jahre in der SPD und will es auch bleiben.”
Peng. Damit sollte klar sein, wohin die Reise geht.
Der Bürgerschaftsabgeordnete Dr. Martin Korol (68) soll über ein Ordnungsverfahren aus der Partei fliegen, weil er auf seiner Internetseite vor dem Ansturm krimineller Roma-Flüchtlinge warnte.
Korol zu BILD: “Ich lasse mich nicht unterkriegen und werde kämpfen.”
Bloehte schaffte es tatsächlich, es so klingen zu lassen, als hätte Korol etwas getan, wofür man ihm eigentlich dankbar sein müsste. Bloehte schreibt weiter:
[SPD-Landesgeschäftsführer Roland Pahl] sagte: “Es gibt Grenzen der freien Meinungsäußerung. Dr. Korol hat mit seinen Äußerungen unserer Partei großen Schaden zugefügt.” Im sozialdemokratisch regierten Duisburg gibt es bereits massive Kriminalitäts-Probleme mit Roma-Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien. Dort warnen SPD-Politiker vor einer Gefahr für den sozialen Frieden.
Doch das will Pahl für Korol nicht gelten lassen:”Es ist doch etwas ganz anderes, wenn so vor sozialen Problemen gewarnt wird.”
Doch hat Korol etwas anderes getan?
Ob Korol etwas anderes getan hat? Nun, da “Bild” selbst diesen Vergleich bemüht: Im Sachstandsbericht der Stadt Duisburg (PDF) hieß es im Januar:
Weit über den Stadtteil Rheinhausen-Bergheim hinausgehend hat die Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa hohe Wellen geschlagen. Besonders im Umfeld des sogenannten “Problemhauses”, aber auch an anderen Stellen ist der soziale Frieden nachhaltig gestört.
(Das “Problemhaus” ist ein Hochhaus, in dem schätzungsweise 300 bulgarisch– und rumänischstämmige Menschen wohnen und in dessen Umfeld es immer wieder zu Konflikten kommt.)
Diese Sätze, diese Warnung vor sozialen Problemen vergleicht Holger Bloehte nun also mit dem, was Martin Korol getan hat. Er schreibt:
Doch hat Korol etwas anderes getan?
In seinem Roma-Bericht heißt es unter anderem: “Gewiss, hier lohnt der Kampf um jedes Kind und um jeden Erwachsenen. Aber dafür sind wir Bremer kaum gerüstet.”
Das ist alles. Mehr erfährt der Leser nicht von den umstrittenen Äußerungen Korols. Das, worum es also eigentlich geht — der Anlass für den ganzen Streit um Korol und letztlich auch dafür, dass dieser “Bild”-Artikel überhaupt geschrieben wurde — wird auf zwei Sätze reduziert.
Wer die Diskussion um den SPD-Politiker bisher nicht mitbekommen hat, muss aufgrund der Art der Berichterstattung davon ausgehen, dass Martin Korol im Grunde gar nichts Schlimmes gesagt hat. Für all jene wollen wir mal kurz ein bisschen von dem zitieren, was Korol so alles in die Welt gesetzt hat — und was “Bild”-Autor Holger Bloehte seither zu verharmlosen versucht.
Korol hatte zum Beispiel geschrieben:
Es muss erstaunen, dass eine so hoch entwickelte Stadt wie Bremen ihre Liebe zu Roma und Sinti entdeckt, die, sozial und intellektuell, noch im Mittelalter leben, in einer uralten patriarchalischen Gesellschaft. (…) Es ist ein Patriarchat, dessen Männer keine Hemmungen haben, die Kinder zum Anschaffen statt zur Schule zu schicken, ihren Frauen die Zähne auszuschlagen und sich selber Stahlzähne zu gönnen. Viele der jungen Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg.
Allein diese Passage (die Bloehte in einem älteren Artikel noch zitiert und die Korol in ähnlicher Form auch schonmal persönlich in “Bild” zum Besten gegeben hatte) sollte ganz gut veranschaulichen, in welche Richtung das ging, was Martin Korol so von sich gegeben hat.
Auf seiner Homepage beklagte er außerdem den “Massenmord der Abtreibungen” und bedauerte den Niedergang des Patriarchats (“Männer 60+ wie ich sind die letzten Vertreter eines untergehenden Herrschergeschlechtes”). Nun übernähmen “zunehmend Frauen und Immigranten die Macht im Lande”. Er kritisierte den “Wahn der sog. ‘Selbstverwirklichung der Frau'” und bezweifelte, dass es in Deutschland “einen ernst zu nehmenden Antimuslimismus und Rassismus” gebe.
Solche Dinge hat Martin Korol verbreitet. Einige davon hat er inzwischen relativiert, seine Seite wird derzeit komplett überarbeitet. Dennoch dürfte klar sein, dass Korol durchaus “etwas anderes getan” hat, als bloß vor sozialen Problemen oder “vor dem Ansturm krimineller Roma-Flüchtlinge” zu warnen. Das sieht auch seine Partei weiterhin so, deren Landesvorstand am Mittwoch mitteilte, “alle Rechte aus der Mitgliedschaft Martin Korols in der SPD für zunächst längstens drei Monate” auf Eis zu legen. Außerdem wurde ein Parteiordnungsverfahren beantragt:
Zahlreiche Äußerungen, die Martin Korol in den auf seiner Homepage veröffentlichten Texten getätigt hat, verstoßen auf Grund ihres diskriminierenden Charakters in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der SPD. Dies gilt insbesondere für die massive Herabsetzung der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma. Ein erheblicher Verstoß gegen die Grundsätze der SPD ist auch in den frauenfeindlichen Äußerungen Martin Korols zu sehen.
Martin Korol setzt sich mit seinen Auffassungen in Widerspruch zu Werten und Positionen, die für die SPD von grundsätzlicher und identitätsstiftender Bedeutung sind und wird dennoch, insbesondere auf Grund seiner Stellung als Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft, in der Öffentlichkeit als Repräsentant der SPD wahrgenommen. Dies machte es für den Landesvorstand erforderlich, die genannten Maßnahmen zu ergreifen.
Korol aber lässt sich, wie wir dank “Bild” wissen, “nicht unterkriegen”. Holger Bloehte auch nicht.
Am Samstag erschien der nächste Korol-Artikel, diesmal groß auf Seite 3 der Bremer “Bild”-Ausgabe:
An der roten Backsteinwand prangt in lila Großbuchstaben “KOROL DU RASSISTENSCHWEIN!” Chaoten haben das Haus des in Ungnade gefallenen SPD-Abgeordneten Dr.Martin Korol (68) in der Nacht beschmiert.
Diese “Hetzparole” an der Hauswand des Politikers sei der vorläufige “Höhepunkt in dem Skandal um seine öffentliche Kritik gegen kriminelle Roma-Einwanderer”, schreibt Bloethe. Und lässt Korols Aussagen dabei erneut viel harmloser wirken, als sie tatsächlich sind. Außerdem nutzt Bloehte den “Graffiti-Anschlag”, um der Diskussion unauffällig eine ganz andere Stoßrichtung zu geben:
Auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Frank Pietrzok (48) war geschockt, als er [von der “Hetzparole” auf der Hauswand] erfuhr: “Das hat niemand in der Partei gewollt.”
Allerdings sind Korols SPD-Genossen während der letzten Bürgerschaftssitzung mit ihrem geächteten Fraktionskollegen nicht gerade zimperlich umgegangen.
Und zack! – steht im Fokus nicht mehr das, was Korol getan hat, sondern das, was seine Parteifreunde ihm antun. Denn die Genossen, so schreibt Bloehte, die hätten den “pensionierten Lehrer” während der Sitzung gemieden “wie eine ansteckende Krankheit”:
Im Plenarsaal wurde ihm von Parteifreunden provokativ der Rücken zugekehrt. Niemand sprach mit ihm. In der Lobby der Bürgerschaft war er an der Kaffeetafel seiner Parteifreunde unerwünscht. Der Bremerhavener Abgeordnete Frank Schildt (51) entzog ihm sogar das “Du”, nannte in einer internen Sitzung die Zusammenarbeit mit Korol “unerträglich”.
Oder anders gesagt:
Dr. Martin Korol wird von seinen Parteifreunden gemobbt
Dies ist also der nächste – irgendwie vorhersehbare, aber in seiner Unverfrorenheit doch erstaunliche – Schritt der Bloehte’schen Berichterstattung über Martin Korol: Der Politiker wechselt endgültig in die Rolle des Opfers. Der altgediente Genosse, gemobbt von den eigenen Parteifreunden. Und obendrein Leidtragender einer fiesen “Hetzbotschaft”.
Auf Bild.de sah das Ganze dann so aus:
Übrigens kommt Holger Bloehte erst ganz am Ende des Artikels und in äußerster Knappheit darauf zu sprechen, warum Korol überhaupt erst “in Ungnade gefallen” ist, er “gemobbt” und “geächtet” wird, man ihm den Rücken zukehrt und das “Du” entzieht. Und warum gegen ihn sogar ein Parteiausschlussverfahren läuft:
Weil er auf seiner Internetseite behauptete, dass Roma-Väter ihre Kinder zum Anschaffen und Stehlen statt zur Schule schicken.
Ach ja. Darum.
Der Artikel endet mit einem Zitat von – tja.
Korol: “Es ist nicht schön, wie mit mir umgegangen wird. Ich fühle mich wie ein Aussätziger.”
Ein Aussätziger, von dem sich alle abwenden. Alle, bis auf einen.
Den Grund für das plötzliche Interesse an der “Roma-Welt” erklärt “Bild” so:
Die Diskussion um Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa beschäftigt die Politik. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Minderheit der Roma. Ab 2014 gilt für rund 1,5 Millionen Roma aus Rumänien und Bulgarien die “Arbeitnehmerfreizügigkeit”. Die Befürchtung der Politik: Viele kommen wegen Sozialleistungen nach Deutschland.
Diese Befürchtungen hatten diverse Politiker zuvor panisch kundgetan — an medialen Plattformen, auf denen sie ihre markigen Sprüche verbreiten konnten, mangelte es freilich nicht. Allen voran “Bild” verkündete jedes Mal ganz hektisch, wenn irgendwerirgendwo wieder ein düsteres Roma-Szenario gezeichnet hatte.
Am 1. März berichtete “Bild” in der Bremer Regionalausgabe über den SPD-Politiker Martin Korol:
(…) Es wird geprüft, ob gegen den Bürgerschafts-Abgeordneten wegen Volksverhetzung ermittelt werden muss. Korol zu BILD: “Das tut schon weh.” Auf seiner inzwischen abgeschalteten Homepage warnte der Abgeordnete mit drastischen Worten vor Roma-Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien: “Sie kommen aus einer archaischen Welt. Väter haben keine Hemmungen, ihre Kinder zum Anschaffen und Stehlen statt zur Schule zu schicken. Sie schlagen ihren Frauen die Zähne aus, gönnen nur sich selbst Stahlzähne. Viele jungen Roma-Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg.”
(…) Einige Sozialdemokraten stempeln Korol als fremdenfeindlich und rassistisch ab.
“Bild” hatte aber offenbar Zweifel an diesem “Stempel” und fragte:
…oder hat er DOCH Recht?
Bremerhaven – Schon vor dem Skandal um Dr. Martin Korol (SPD) waren die Armutseinwanderer ein politisch brisantes Thema.
Die Wählervereinigung “Bürger in Wut” (BiW) stellte dazu vor zwei Wochen eine Anfrage an den Bremerhavener Magistrat. Der Vorsitzende Jan Timke (42): “Wir haben gestern die erschütternden Antworten bekommen.”
Am 31.12. 2012 lebten 481 bulgarische Armutsflüchtlinge in der Seestadt. Auf ihr Konto gingen im vergangenen Jahr 195 Straftaten. Der Abgeordnete und ehemalige Polizeibeamte Timke: “Fast jeder zweite Roma ist kriminell. Dabei geht es nur um die aufgeklärten Fälle. Die Dunkelziffer wird viel höher sein.” Besser sind die Zahlen bei den Flüchtlingen aus Rumänien. Von den 208 Roma, die in der Seestadt leben, wurden 25 bei Straftaten erwischt.
Was “Bild” hier verschweigt: Die Wählervereinigung “Bürger in Wut” bezeichnet sich selbst zwar als “bürgerlich-konservativ”, gilt aber als rechtspopulistisch. Das erklärt auch, warum Timke die Antwort des Magistrats, die BILDblog vorliegt, offenbar absichtlich falsch interpretiert. Seine Darstellung, die sich “Bild”-Mann Holger Bloehte mehr oder weniger zueigen macht, ist in nahezu jeder Hinsicht verzerrt.
Zunächst einmal: Es stimmt zwar, dass “zum Stichtag 31.12.2012” in Bremerhaven 481 Bulgaren und 208 Rumänen gemeldet waren. Der Magistrat spricht aber explizit von rumänischen bzw. bulgarischen “StaatsbürgerInnen”. Wie viele davon tatsächlich Roma sind, geht aus den Zahlen gar nicht hervor.
Ebenso falsch ist es, wenn “Bild” behauptet, die “195 Straftaten” gingen auf das “Konto” der 481 Bulgaren – denn die Zahl 195 ergibt sich aus der “Auswertung der Gesamtzahl der Straftaten (…) bulgarischer StraftäterInnen”. Sie wurden also das gesamte Jahr über gezählt.
Die Aussage, “fast jeder zweite Roma” sei kriminell, ist also doppelt falsch. Nicht nur, weil sich aus den Zahlen, wie gesagt, keinerlei Rückschlüsse auf “die Roma” ziehen lassen, sondern auch, weil die 195 von Bulgaren begangenen Straftaten nicht in Relation zu den 481 Bulgaren zu setzen sind (was im Übrigen 40,5 Prozent wären, also längst nicht “fast jeder zweite”), sondern zu der Gesamtzahl aller Bulgaren, die irgendwann im Jahr 2012 mal in Bremerhaven gewohnt haben. Ebenso verhält es sich mit den 25 Straftaten, die den 208 (rumänischen) “Roma” zugeschrieben werden.
Und schließlich lässt sich den Zahlen des Magistrats auch nicht entnehmen, dass Roma ihren Frauen die Zähne ausschlagen, ihre Kinder zum Anschaffen schicken und sich das Gehirn mit Klebstoff wegschmelzen, wie der SPD-Politiker Korol pauschal behauptet hatte. Über die Art der 195 Straftaten ist nämlich nichts bekannt.
Aber all das lässt der “Bild”-Autor Holger Bloehte unerwähnt. Wenn man ihm nicht unterstellen möchte, dass er die falsche Interpretation der Zahlen bewusst so übernommen hat, muss man davon ausgehen, dass er die Antwort des Magistrats gar nicht gelesen und die offenkundig rechtspopulistischen Äußerungen des Politikers einfach nachgeplappert hat, ohne sie selbst zu überprüfen.
Auch andere “Bild”-Autoren verbreiten vermeintliche Roma-“Wahrheiten”, die sie entweder bewusst verzerrt oder einfach nicht genügend recherchiert haben. Gestern präsentierte “Bild” groß auf Seite 2:
“Wahrheit” Nummer 3 lautet:
Die Kriminalität steigt
Die Kriminalstatistik 2011 weist unter den “nichtdeutschen Tatverdächtigen” 26 438 Rumänen, 10 960 Bulgaren aus. Vergleich: 2007 lagen die Zahlen noch bei 15040 bzw. 3923. Aber: Wie viele davon Roma sind, wird statistisch nicht erfasst!
Was die Autoren nicht erwähnen: Damals gab es auch deutlich weniger Rumänen und Bulgaren in Deutschland. Von 2007 bis 2011 hat sich ihre Anzahl sogar verdoppelt. Dass damit auch die (absolute) Zahl der Tatverdächtigen ansteigt, ist kein Wunder. Relativ gesehen zeigt sich allerdings, dass der Prozentsatz der Tatverdächtigen unter den Bulgaren seit 2007 tendenziell sogar gesunken ist.
(Für diese Einschätzung haben wir uns an den Statistiken des Ausländerzentralregisters orientiert, wozu angemerkt werden muss, dass diese ebenfalls lediglich die an einem Stichtag in Deutschland gemeldeten Bulgaren und Rumänen erfassen.)
Der Vergleich, den “Bild” hier vornimmt, lässt ohnehin keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Entwicklung der Kriminalität zu. In der Kriminalstatistik heißt es ausdrücklich:
Diese Daten [zur “Entwicklung der Tatverdächtigenanteile Nichtdeutscher”] dürfen nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden.
Ein Grund dafür ist, dass in dieser Statistik beispielsweise auch strafunmündige Kinder unter 14 Jahren erfasst werden oder jene Menschen, die “wegen Tod, Krankheit oder Flucht nicht verurteilt werden” können. Zudem hat es im Jahr 2009 eine “systematische Umstellung” bei der Erfassung dieser Daten gegeben, weshalb das Innenministerium mehrmals betont, dass man die Zahlen ab 2009 nicht mehr mit den jenen aus den Vorjahren vergleichen kann. Kurzum: Dass “die Kriminalität steigt”, wie “Bild” behauptet, lässt sich, zumindest anhand der Kriminalstatistik, keinesfalls belegen.
Kommen wir zum Schluss nochmal zurück zu Martin Korol, dem eingangs erwähnten SPD-Politiker aus Bremen. Der tauchte wenige Tage nach seinen umstrittenen Äußerungen noch einmal in “Bild” auf — als “Verlierer” des Tages. Dort heißt es:
Der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Martin Korol (68, SPD) giftete auf seiner Internetseite gegen Roma (…). Dafür droht Korol nun ein Parteiordnungsverfahren – und der Rauswurf aus der SPD.
BILD meint: Erst denken, dann reden.
BILDblog meint: genau.
Mit Dank an den Hinweisgeber.
Nachtrag, 8. März: Die Aussage, “fast jeder zweite Roma” sei kriminell, ist nicht nur doppelt, sondern dreifach falsch. Denn der Magistrat spricht von der Anzahl der Straftaten – nicht der Straftäter. Die Polizei Bremerhaven hat uns auf Anfrage bestätigt, dass es durchaus möglich ist, “dass jeweils ein Täter mehrere dieser Straftaten begangen hat”. Die 195 Straftaten, die “Bild” hier den 481 bulgarischen Personen zuschreibt, könnten also theoretisch auch nur von zehn, zwanzig oder auch nur von einem (kriminell besonders aktiven) Bulgaren begangen worden sein. Danke an die vielen, vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 19. März: Jan Timke hat uns zwischenzeitlich geschrieben. Der Vorsitzende der “Bürger in Wut” erklärt, “Bild Bremen” habe seine Äußerungen “unzutreffend zitiert”:
[In der Anfrage an den Magistrat] beziehen wir uns durchgängig auf rumänische und bulgarische Staatsbürger, nicht auf Roma. Der Begriff Roma taucht in unserer Anfrage an keiner einzigen Stelle auf. Davon ausgehend habe ich auch gegenüber dem Redakteur der BILD ausdrücklich von Rumänen und Bulgaren gesprochen. Warum in dem Artikel dennoch von Roma die Rede ist, erschließt sich mir nicht.
Und in der Tat: Sowohl in der Anfrage an den Magistrat als auch in dessen Antwort ist ausschließlich von “rumänischen und bulgarischen Staatangehörigen” die Rede. Timke schreibt weiter:
Die Aussage, die Hälfte dieser Zuwanderer sei kriminell, habe ich ebenfalls nicht getan. Denn auch das geben die Zahlen nicht her, wie Herr Schönauer zutreffend ausführt. Wie Sie aus der beigefügten Anfrage ersehen können, hatten wir uns unter Ziffer 10. nach der Zahl der Straftäter erkundigt. Der Magistrat hat dagegen in seiner Antwort die Zahl der von Rumänen und Bulgaren im fraglichen Zeitraum begangenen Delikte genannt. Möglicherweise erklärt dieser Umstand den Fehler auf Seiten der BILD-Redaktion, der ich das Dokument im Vorfeld zur Verfügung gestellt hatte.
Wir wissen nicht, was “Bild”-Redakteure an der Stelle, an der bei anderen Menschen ein Herz schlägt, tragen — vielleicht ein Stück Kohle, vielleicht aber auch irgendein spezielles Organ, das ihnen hilft Empörung zu heucheln, wie heute auf Seite 3:
Reporter Nils Mertens (Steuerzahler) ist empört:
Dieses Foto empört jeden Steuerzahler! BILD erzählt die Geschichte dazu:
Kurz bevor ein BILD-Leser das Foto machte, holte sich die obdachlose Frau beim Jobcenter Lebensmittelgutscheine ab.
Laut “Bild” bekommt die Frau dafür jedoch weder Tabak noch Alkohol und wendet daher einen Trick an:
Mit den Bons kauft sie 113 Flaschen Mineralwasser (je 19 Cent plus 25 Cent Pfand). In einem Einkaufswagen schiebt sie die Flaschen nach draußen – und schüttet den Inhalt in den Rinnstein.
Mit den leeren Flaschen kehrt sie in den Supermarkt zurück um sich das Pfand (28,25 Euro) in bar abzuholen. Mit dem Geld will sie Alkohol und Zigaretten kaufen. Doch der Filialleiter schickt sie samt Flaschen weg, erteilt Hausverbot.
Wegen sage und schreibe 50 Euro (!) zieht “Bild” also auf einer dreiviertel Seite über eine Person her, die wohl zu den Ärmsten der Armen gehört, zeigt ein Foto der Dame, auf dem sie klar zu identifizieren ist, und stellt sie dann auch noch in Blockwartmanier zur Rede:
BILD fand die Sozialhilfeempfängerin, stellte sie zur Rede: “Ich lebe seit drei Jahren auf der Straße”, sagt Kerstin S. (43), die mit ihren beiden Hunden Chicco (18) und Berry (10) unterwegs ist. “In meinem Leben ist wohl einiges schiefgegangen. Ich habe mich ans Jobcenter gewendet, weil ich mein Portemonnaie verloren hatte.”
Selbst den Kommentatoren auf Bild.de war das zu viel. Während manch einer auf die Dreistigkeit von Kerstin S. schimpft, finden sich auch überraschend viele Kommentare, die in etwa diesen Tenor haben:
“BILD fand die Sozialhilfeempfängerin, stellte sie zur Rede: ”
Das ist wohl kaum die Aufgabe einer Boulevardzeitung… also manchmal nimmt sich diese Zeitung etwas zu viel raus.
Immer auf die kleinsten, Gratuliere Bild.de.
Keine Angst liebe BILD Leser, diese Gutscheine bekommt man nicht
geschenkt! Sie werden vom nächsten ALG abgezogen!!
Alles nur die übliche primitive Hetze gegen Arbeitslose! Statt Solidarität
wird die Bevölkerung absichtlich gegeneinander ausgespielt!!
BILD ist natürlich ganz vorne dabei!!
Woher weiß Bild das alles so genau? Ist wieder etwas vorgesehen wofür man die Bürger gegen Hartz IV Opfer aufbringen muss?
Im Übrigen sind auch Hartz IV Opfer Steuerzahler. Oder sind diese z. B. von der MwSt. ausgenommen?
Ich frage mich was die BILD mit diesem Artikel bezweckt. Soll hier etwas Hass geschürt werden?
Wie moralisch verkommen muss man eigentlich sein, um sich über solch eine arme Seele und eine vermeindliche ‘Zweckentfremdung’ von knapp 50,- Euro zu empören zu können, derweil man die größten Abzocker, Steuerhinterzieher und windigen Geschäftemacher hoch in den grünen Klee schreibt? Weshalb hat sich BILD nicht einfach den Platz für diesen Beitrag gespart und statt dessen für eine Werbeanzeige genutzt, deren Erlös man hätte der armen Frau spenden können? Darüber hätten sie dann berichten können. Aber so: Pfui! Sich derart am Leid anderer zu weiden ist einfach nur schäbig.
Sich derart am Leid anderer zu weiden, mag schäbig sein, aber es ist sicherlich einträglicher als das Entleeren von Wasserflaschen.
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1. “‘Propaganda-Party'” (fape-blog.de, Andreas Cirikovic)
Wie US-Korrespondent Marc Pitzke für “Spiegel Online” über die Parteitage der Demokraten und der Republikaner schreibt: “Marc Pitzke schreibt, wie ein 16jähriger über die Erlebnisse auf seinem ersten Rockkonzert spricht. Voller Enthusiasmus. Voller Emotionen. Die eine Band mag er. Die andere mag er anscheinend nicht.”
2. “Wächter und Hetzer” (faz.net, Ursula Scheer)
Ursula Scheer hat sich die “katholischen” Websites kath.net, kreuz.net und gloria.tv genauer angesehen: “Für den anonymen Blog kreuz.net, der 2004 online ging und vermeintlich ‘katholische Nachrichten’ liefern will, ist die Diffamierung Programm: Hetze gegen Juden, Muslime, Homosexuelle und alles, was als ‘liberal’ gebrandmarkt wird. Die Autoren hofieren die Piusbrüder, publizieren Denunziationen und stellen Personen an den digitalen Pranger. Längst haben sich die Bischofskonferenzen in Deutschland, Österreich und der Schweiz von kreuz.net distanziert. Das Portal sei menschenverachtend und missbrauche den Begriff ‘katholisch’.”
4. “Die Gewissensfrage” (sz-magazin.sueddeutsche.de, Rainer Erlinger)
Anna Z. fragt: “Ist es in Ordnung, im Fernsehen Doku-Soaps anzusehen, in denen andere Menschen vorgeführt werden? Oder erheben wir uns so über die Protagonisten dieser Sendungen?” Dr. Dr. Rainer Erlinger antwortet: “Darin, Menschen wie Zootiere zu bestaunen, um sich darüber zu erheben, liegt eine Entwürdigung nicht nur der physischen Person, die sich am Bildschirm eine Blöße gibt, sondern, weil es ein Mensch ist, der da vorgeführt wird, eben auch des sittlichen Menschen allgemein, der Idee der Menschheit.”
6. “Eine kleine Geschichte des Kulturpessimismus” (br.de, Christian Schiffer)
Vorgänger von Manfred Spitzer, zum Beispiel Platon: “Wer die Schrift gelernt haben wird, in dessen Seele wird zugleich mit ihr viel Vergesslichkeit kommen, denn er wird das Gedächtnis vernachlässigen. Die Menschen werden jetzt viel zu wissen meinen, während sie nichts wissen.”
Sollte es in absehbarer Zeit zu einem Krieg zwischen Deutschland und Griechenland kommen, kann man den Leuten von “Bild” nicht vorwerfen, nicht alles dafür getan zu haben: Erst hetzen sie seit zwei Jahren gegen die “Pleite-Griechen”, jetzt haben sie sich auch noch auf ein Terrain vorgewagt, bei dem viele Menschen noch weniger Spaß verstehen als bei drohenden Staatspleiten — Fußball.
Und so klingt es, wenn sich so ein “Bild”-Reporter in einem polnischen Hotel frei bewegt:
Ich fühle mich wie 007.
Ich, der BILD-Reporter, spioniere bei den Griechen, unseren Gegnern am Freitag.
Nein, wir wussten auch nicht, dass die Griechen am Freitag gegen die Redaktionsmannschaft von “Bild” spielen. Aber vielleicht ist das Gefühl, “ganz Deutschland” zu sein, bei “Bild”-Mitarbeitern genauso tief verwurzelt wie ihre Boshaftigkeit gegenüber den Griechen:
Am Dienstag ziehe ich ein. Mein Doppelzimmer kostet 93 Euro pro Nacht. Lobenswert sparsam, die Griechen.
Überhaupt wirkt der ganze Text wie eine traurige Mischung aus dem Worst-Of-Programm von Fips Asmussen und dem Aufsatz “Mein schönstes Ferienerlebnis” eines Grundschülers:
Am härtesten arbeitet bei den Griechen die Kaffeemaschine. Sie haben zwei davon in ihrem Bereich. Eine kann Cappuccino und Latte Macchiato, die andere normalen Kaffee. Sie arbeiten Vollzeit.
Ja, Kaffee wäre jetzt wirklich hilfreich, so unspannend wie die Erlebnisse aus dem Mannschaftshotel sind:
Ich sehe Theofanis Gekas (32), den Stürmer aus der Bundesliga (Bochum, Leverkusen, Hertha, Frankfurt). Gekas hat Kopfhörer in den Ohren, hört Musik über sein iPhone. Der singt sich schon heiß aufs Spiel.
Fast wäre beinahe etwas vielleicht passiert:
Mit meinem Handy mache ich Fotos. Plötzlich tippt mich der Barkeeper an. Er will wissen, wer ich bin. Ist meine Zahnarzt-Tarnung (weißes Hemd, weiße Hose, weiße Turnschuhe) aufgeflogen? Ich schwitze. Cool bleiben. Ich tue so, als sei ich aus Russland und murmele “nix kappitschi”. Der Barkeeper zieht Leine. Puh…
Dann aber doch noch etwas, das überraschend zum Skandal taugt:
Plötzlich schreit jemand im Hinterhof. Ich renne hin, schaue um die Ecke und sehe Georgios Karagounis. Der ist 35 und Kapitän der Griechen. Er schreit in Disco-Lautstärke in sein Handy. Jedes zweite Wort ist “Malaka”. Ein griechischer Freund bringt mir bei, dass “Malaka” auf Deutsch so etwas heißt wie “Leck mich am Arsch”.
Den Brüller sehen wir am Freitag nicht auf dem Platz. Malaka-Karagounis ist gesperrt.
Derlei schnarchige Belanglosigkeiten, bemüht aufgeregt erzählt, haben offenbar dennoch ausgereicht, dass einzelne griechische Medien über den “Bild”-Reporter im Mannschaftshotel berichten.
Die Reaktionen scheinen aber vor allem einem Missverständnis geschuldet:
Auf der Homepage des griechischen TV-Senders “Star” steht: “Neue Provokation der BILD. BILD nennt Karagounis einen Malaka.”
In dem Bericht heißt es weiter: “Im Hotel der geliebten Nationalmannschaft ist ein deutscher Reporter der BILD eingedrungen und setzt seine Provokationen gegen das Spiel fort. Höhepunkt ist: Er nennt Karagounis einen Malaka – ein Arschloch.” Ein Missverständnis durch eine unglückliche Formulierung in BILD: Die Formulierung “Malaka-Karagounis” sollte keine Beleidigung des Griechen-Kapitäns sein (“Malaka” bedeutet unter anderem Wi…er)! Sondern ein Spitzname, weil Karagounis bei seinem Telefonat häufig “Malaka” sagte. BILD bedauert das Missverständnis.
Was halt so passiert, wenn skandalwillige Beinahe-Journalisten auf beiden Seiten mit erhöhtem Blutdruck mit Fremdsprachen hantieren.
Dieses internationale Doppelpass-Spiel könnte bis zum Viertelfinalspiel am morgigen Abend so weitergehen, wenn der “trojanische BILD-Spion”, dessen Gesicht die Zeitung verpixelt hat, nicht vorher auffliegt.
Nach unseren Informationen handelt es sich bei dem Mann um Jörg Weiler, der sonst bei Borussia Dortmund für “Bild” im Einsatz ist und dort unter anderem an der unrühmlichen Berichterstattung über einen im Stadion tödlich verunglückten Fan beteiligt war.
In Troja gewannen damals übrigens die Griechen, wie sogar “Bild” richtig erklärt.
Mit Dank auch an Martin E., Michael, Dietfried D. und Ernst R.
Gegen Hartz-IV-Empfänger zu hetzen, gehört bei “Bild” ja schon immerzudenKönigsdisziplinen. Insofern ist diese Schlagzeile auf der gestrigen Titelseite eigentlich fast schon normal:
Im ausführlichen Artikel auf Seite 2 behauptet “Bild”:
Erschreckende Hartz-IV-Bilanz: Im letzten Jahr wurden gegen 912 377 Hartz-IV-Drückeberger Sanktionen verhängt – REKORD! Wie geschummelt und gelogen wird, welche Strafen drohen, in welchen Bundesländern am meisten getrickst wird.
Es wurden allerdings nicht gegen “912.377 Hartz-IV-Drückeberger” Sanktionen verhängt, sondern insgesamt 912.377 einzelne Sanktionen. Laut Bericht der Bundesagentur für Arbeit (Excel-Datei) verteilen sich die auf gerade einmal 151.377 Leistungsberechtigte. Das bedeutet, dass je nach Lesart nur 3,4 bis 4,5 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger überhaupt sanktioniert wurden.
Nun ist es zwar korrekt, dass die Jobcenter 2011 insgesamt mehr Sanktionen verhängt haben als etwa im Jahr davor, doch “Bild” selbst muss einräumen, dass es in den meisten Fällen nicht um “Tricksereien” oder “Schummeleien” ging:
Meistens wurden im vergangenen Jahr Strafen verhängt, weil die Hartz-Empfänger Meldefristen nicht eingehalten haben (582 253), also z. B. trotz Einladung nicht beim Jobcenter erschienen.
“Zeit Online” erklärt genauer, was die sanktionierten Hartz-IV-Empfänger denn so angestellt haben:
In den meisten Fällen hatten die Hartz-IV-Empfänger der Statistik zufolge gegen sogenannte Meldepflichten beim Jobcenter verstoßen, erschienen also beispielsweise nicht zu Terminen. In anderen Fällen weigerten sie sich, eine Arbeit, Ausbildung oder Weiterbildungsmaßnahme anzutreten oder brachen diese ab.
Die Betrugsfälle beim Bezug von Hartz IV sind hingegen zurückgegangen. Die BA leitete 177.500 Straf- und Bußgeldverfahren wegen Missbrauchs beim Arbeitslosengeld II ein. Das waren knapp 22 Prozent weniger als 2010.
“Die reinen Missbrauchsfälle und Betrugsfälle steigen nicht an. Wir haben überwiegend Meldeversäumnisse, das hängt auch mit der guten konjunkturellen Entwicklung zusammen”, sagte der Sprecher [der Bundesagentur für Arbeit]. Ein einfaches Meldeversäumnis löse noch keinen Betrugsfall aus.
Die gestiegene Anzahl der Sanktionen hängt also hauptsächlich damit zusammen, dass es einfach mehr Termine gibt, die verpasst werden können. Die Betrugsfälle hingegen gehen – und das kann man nicht genug betonen – deutlich zurück. Ebenfalls “Zeit Online” berichtete darüber bereits vor einem Monat:
Die Agentur für Arbeit hat weniger Hartz-IV-Empfänger beim Täuschen erwischt. Innerhalb eines Jahres sank die Zahl der eingeleiteten Verfahren um 50.000.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband wirft “Bild” in einer Stellungnahme “unverantwortliche Stimmungsmache” vor:
“Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat”, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen.
Bei Bild.de scheint Ronzheimer nicht ganz so beliebt zu sein wie in Griechenland. Offenbar gibt es dort sogar jemanden, der dem jungen Starreporter seine oft herablassende Hetze gegen die “Pleite-Griechen” übel nimmt:
Zufall dürfte das kaum sein — immerhin passiert das nicht zum ersten Mal:
Mit Dank auch an Dimitrios P.
Nachtrag, 14.40 Uhr: Das ging schnell: Paul Bonzheimer heißt jetzt in beiden Artikeln Ronzheimer.