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Schachbrett, Tyrannen, Bekennerschreiben

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie wir mit Bekennerschreiben umgehen”
(blogs.taz.de/hausblog, Magda Schneider, Kai von Appen und Peter Müller)
Wie die “taz Hamburg” mit “sogenannten Bekennungen” umgeht. “In der Redaktion herrschte Einigkeit darüber, dass wir uns nicht zu Hilfspolizisten machen lassen wollten. Denn ein Bekennerschreiben, das meist nicht von den Akteuren selbst stammt, hat rechtlich die gleiche Qualität wie von Informanten zugespieltes Material – es unterliegt dem Redaktionsgeheimnis. Deshalb schafften wir uns einen fiktiven Redaktionskater an, der noch bei laufender Produktion die Briefe verspeiste – was wir auch in der Zeitung mitteilten. Das verschonte uns sicherlich von vielen unangenehmen Hausbesuchen.”

2. “Lieber gut kopiert als …”
(oldenburger-lokalteil.de)
Der “Oldenburger Lokalteil” lädt ein zum Spiel “Welches ist die Pressemitteilung, welches der Zeitungsartikel?”. “Wenn Sie die Lösung haben, schicken Sie sie einfach an die Nordwest-Zeitung bzw. an das Delmenhorster Kreisblatt.”

3. “Die Inszenierung des Tyrannen-Todes”
(visdp.de)
“V.i.S.d.P.” spricht mit Historiker Thomas Großbölting über die Inszenierung der Tode von Benito Mussolini, Saddam Hussein, Osama bin Laden und Muammar al-Gaddafi: “Wenn man es gegenüber den Leserinnen und Lesern plausibel machen kann, dass die Wirklichkeit komplexer ist, als wir es uns in den Medienhypes und Bildikonen vorsetzen lassen, dann entsteht aus meiner Sicht wirklich guter Journalismus.”

4. “Strahlende Äpfel und giftige Birnen”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
“Fukushima war schlimmer als Tschernobyl” ist der Titel eines Artikels auf focus.de. “Anlaß zu dieser Meldung ist ein Bericht, wonach eventuell in Japan bis zu zweieinhalb Mal so viel radioaktive Edelgasisotope von Xenon und Krypton frei wurden als bei der Katastrophe von Tschernobyl.”

5. “Sogenannter Journalismus: Wie erzähle ich Fußballrandale?”
(publikative.org, Nicole Selmer)
Nicole Selmer macht sich Gedanken über die Berichterstattung zum Pokalspiel Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden.

6. “Komik statt Symbolik”
(stern.de, Florian Güßgen)
Wie Rainer Grünberg auf abendblatt.de zuerst bemerkt hat, ist das Schachbrett auf dem Titelbild des Buchs “Zug um Zug” von Helmut Schmidt und Peer Steinbrück falsch aufgestellt. Siehe dazu auch “Die Guttenbergs spielen nur mit weißen Figuren” (welt.de, Benjamin von Stuckrad-Barre, 21. Oktober 2010).

Helmut Markwort, FSK, Spiegel

6 vor 9

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1. “Helmut Markworts Kosmos”
(nollendorfblog.de, jk)
Helmut Markwort schreibt im “Focus” über Homosexuelle. “Was soll man zu jemand sagen, der ‘die Pose des Widerstands und der Ruf nach Toleranz’ lächerlich findet ‘in einer Zeit, in der sich führende Vertreter aller Parteien zu ihren homosexuellen Neigungen bekennen’? Kann es sein, dass Herr Markwort tatsächlich glaubt, das würde irgendeinen Eindruck auf den Schulhöfen machen, auf denen ‘Schwule Sau’ das häufigste Schimpfwort ist?”

2. “Biene Maja bis zur Volljährigkeit”
(gunnargeller.de)
Wie die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” die aktuellen Altersfreigaben von Filmen kritisiert: “Das Ganze mieft nach den frühen Sechzigern, nach kleinbürgerlicher Aufregung über Sittenverfall und Negermusik und gammelnde Langhaarige, wird uns aber in einer Zeit präsentiert, in der via Internet Kinder und Jugendliche, die es wollen, nur ein paar Klicks brauchen um Fickfilmchen aller Art oder wahlweise auch Videos von Hinrichtungen oder Folterungen anzuschauen.”

3. “Gaddafi-Fotos ethisch nicht vertretbar”
(meedia.de, Christine Lübbers)
Elke Grittmann vom Insitut für Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster kommentiert die Veröffentlichung letzter Bilder von Muammar al-Gaddafi: “In den Medien wird Diktatoren die letzte Würde abgesprochen. Bis heute wird die Tötung des Gegners oder Zurschaustellung von dessen Leiche auch benutzt, um diesen zu entwürdigen. Heute läuft diese Zurschaustellung über Fotos und Filme und erreicht damit eine viel größere Öffentlichkeit. Für Medien ist hier die Gefahr sehr groß, nicht nur zu dokumentieren, sondern selbst auch instrumentalisiert zu werden.” Siehe dazu auch “Ein Screenshot hat keine Würde” (sueddeutsche.de, Bernd Graff) und “Gaddafis Leiche: Schweizer Medien kennen keine Grenzen” (ottohostettler.wordpress.com).

4. “Sie, Peer, sind ein guter Kandidat”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz kommentiert die aktuelle “Spiegel”-Titelgeschichte, eine “der merkwürdigsten Veranstaltungen der an Merkwürdigkeiten nicht armen ‘Spiegel’-Geschichte”. “Im Kern geht es darum, dass Helmut Schmidt zusammen mit Peer Steinbrück ein Buch veröffentlicht, dessen interessanteste Aussage vermutlich die ist, dass Schmidt seiner Partei Steinbrück offen als Kanzlerkanidat empfiehlt. Das wiederum veranlasst den ‘Spiegel’ zu einer Titelgeschichte, in der als Quintessenz steht, dass Schmidt Steinbrück als Kanzlerkandidat empfiehlt.”

5. “Wie Jenny aus Essen Thurgauerin wurde”
(20min.ch, A. Mustedanagic)
Obwohl nur Frauen mit Schweizer Wohnsitz in der “Blick”-Wahl zum “Girl des Jahres” zugelassen sind, schafft es ein Model aus Essen ins Finale.

6. “Wer ist Gerald, wer ist Matt?”
(kobuk.at, Susanna Fellner)
Gerald Matt und Matt Gerald.

dapd  

Immerhin sind es keine Schülerlotsen

Wenn es in den letzten Tagen um den drohenden Streik der deutschen Fluglotsen ging, bestimmte ein Bild die Berichterstattung:


(Bild.de)


(fr-online.de)


(“Focus Online”)


(“Tagesschau”)

Das Foto bebildert seit dem Sommer die Tarifauseinandersetzungen zwischen der Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) und der Deutschen Flugsicherung (DFS), ist aber auch anderweitig einsetzbar.

Verbreitet wird es von der Nachrichtenagentur dapd, die es in den letzten Tagen unter anderem mit diesem Text anbot:

ARCHIV: Eine Bodenlotsin ueberwacht auf dem Flughafen Frankfurt am Main startende und landende Flugzeuge von einem neuen Kontrollturm (Foto vom 23.04.10). Die Tarifgespraeche zwischen der Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) und der Deutschen Flugsicherung (DFS) sind nach Angaben der Arbeitgeber geplatzt. Die GdF habe auf umfangreichen Befoerderungen der Lotsen bestanden, teilte die DFS am Freitag (07.10.11) mit. Daher sei das Schlichtungsgespraech ergebnislos geblieben.

Das Bild entstand also in einem der Türme der Vorfeldkontrolle (Apron Control) des Frankfurter Flughafens. Der Frankfurter Flughafen beschreibt den Aufgabenbereich der Vorfeldlotsen so:

Die 80 Vorfeldlotsen der Fraport AG, die jeweils in drei Schichten im Einsatz sind, koordinieren rollende sowie geschleppte Flugzeuge auf ihrem Weg von der Parkpo­sition zum Bahnsystem und umgekehrt. Außerdem ob­liegt dem Team der Vorfeldkontrolle die Koordination der Leitfahrzeuge, auch Follow-mes genannt, und – bei Schneefall – die Steuerung des Winterdienstes zur Räumung des Bahnsystems.

Doch nicht genug, dass die Frau auf dem Symbolbild gar keine “startenden und landenden Flugzeuge” überwacht: Die Vorfeldlotsen sind Angestellte des Flughafenbetreibers Fraport AG und haben mit der DFS und deren Streikplanungen “gar nichts zu tun”, wie uns jemand bestätigte, der dort arbeitet. Wenn die Lotsen der DFS ihre Arbeit niederlegen, müssten die Vorfeldlotsen weiterarbeiten — sie hätten nur ziemlich wenig zu tun.

Mit Dank an Sarah E.

dapd  

Die Reisewarnung, die keine Reisewarnung ist

Wenn das Auswärtige Amt eine Reisewarnung herausgibt, berechtigt das zu einer kostenlosen Stornierung von Reisen in das betroffene Land.

Insofern dürften die Reiseveranstalter gerade gut zu tun haben:

Ausschreitungen. Auswärtiges Amt: Reisewarnung für Ägypten

Gut zu tun beim Versuch, den Kunden zu erklären, dass es gar keine offizielle Reisewarnung für Ägypten gibt, obwohl das etwa bei “Focus Online”, “RP Online”, beim “Hamburger Abendblatt” und der “B.Z.” zu lesen ist.

Das Auswärtige Amt gibt lediglich … na gut: “lediglich” diese Empfehlungen:

Reisenden in Ägypten wird weiterhin dringend empfohlen, Menschenansammlungen und Demonstrationen weiträumig zu meiden und die örtliche Medienberichterstattung aufmerksam zu verfolgen. Dieser Hinweis gilt insbesondere für die urbanen Zentren, und derzeit ganz besonders für das Gebiet um den Tahrir-Platz und das Fernsehgebäude (Maspero) in Kairo.

Reisen nach Ägypten sollten bis auf weiteres auf Kairo, Alexandria, die Urlaubsgebiete am Roten Meer, die Touristenzentren in Oberägypten (insbes. Luxor, Assuan) und auf geführte Touren in der Weißen und Schwarzen Wüste beschränkt werden. Von Einzelreisen an sonstige Orte und Landstriche wird aufgrund der nach wie vor unübersichtlichen und unsteten Sicherheitslage weiterhin abgeraten.

Die Nachrichtenagentur dapd war mit den feinen rechtlichen Unterschieden zwischen den “Aktuellen Hinweisen” des Auswärtigen Amts und einer offiziellen “Reisewarnung” offensichtlich nicht vertraut und hatte gestern in zwei Meldungen lautstark eine “Reisewarnung” verkündet.

Heute dann reichte dapd eine “Berichtigte Neufassung” nach:

Di 11.10.2011, 12:13, dapd – Nachrichtenagentur

Ägypten/DEU/Reisen/BER/NEU
(Berichtigte Neufassung)
Auswärtiges Amt aktualisiert Reisehinweise für Ägypten
– (korrigiert Meldung und Zusammenfassung von Montagabend. Es gab lediglich einen aktualisierten Reisehinweis, keine Warnung) =

Die Medien haben diese neue Version weitgehend ignoriert.

Mit Dank an Robert Sch.

Stoibers Problem-Mär

Edmund Stoiber hat sich außerhalb Bayerns vor allem mit zwei Aktionen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Dem Versuch, die Vorzüge einer Transrapidstrecke zwischen Hauptbahnhof und Flughafen in München zu erläutern, und dem Versuch, im Jahr 2002 Bundeskanzler zu werden. Beobachter sind sich immer noch uneins, was ihm gründlicher misslungen ist.

Anlässlich seines gestrigen 70. Geburtstags waren die bestimmenden Themen in den medialen Huldigungen Stoibers entsprechend seine “gestammelten Werke” und jener verhängnisvolle Abend, als er sich schon als strahlender Wahlsieger feiern ließ und später “ein Glas Champagner öffnen” wollte.

“Focus Online”:

Wohl kein Kanzlerkandidat scheiterte so knapp wie Edmund Stoiber. 0,01 Prozent, rund 6000 Stimmen, fehlten ihm am Wahlabend des 22. September 2002 zur Mehrheit, als er sich nach ersten Hochrechnungen bereits zum Sieger erklärt hatte, dann aber doch Gerhard Schröder Kanzler blieb.

“Rheinische Post”:

Ob als Regierungschef in München, als CSU-Chef (1999–2007), ob als 2002 an 6000 Stimmen gescheiterter Kanzlerkandidat der Union: Stoiber spielte immer mit höchstem Einsatz – ein Rackerer auf dem Platz mit bayerischer Kapitänsbinde.

“Bild München”:

Das herausragende Ergebnis war auch ein Trost für die wohl schwerste Niederlage im politischen Leben Stoibers, die er nur ein Jahr zuvor erlitten hatte: gegen Gerhard Schröder (SPD) im Kampf um das Bundeskanzleramt. Mit nahezu lächerlichen 6000 Wähler-Stimmen Unterschied…

“Bild”:

Er war das Gesicht der CSU, der erfolgreichste Ministerpräsident Deutschlands, und mit gut 6000 Stimmen mehr wäre er 2002 auch Kanzler geworden: Heute feiert Edmund Stoiber seinen 70. Geburtstag!

Das Gerücht, dass Stoiber nur rund 6.000 Stimmen gefehlt hätten, um Kanzler zu werden, hält sich seit Jahren hartnäckig in den Medien.

Und tatsächlich hatte die SPD bei der Bundestagswahl 2002 nur “nahezu lächerliche” 6.027 Zweitstimmen mehr erhalten als CDU und CSU zusammen — und doch ist unwahrscheinlich, dass Stoiber Kanzler geworden wäre, wenn er damals nur 6.028 Stimmen mehr bekommen hätte: Die Grünen, die damals mit der SPD die Regierungskoalition stellten, hatten nämlich gleichzeitig 571.540 Stimmen mehr erhalten als Stoibers Wunschkoalitionspartner FDP.

Stoibers Union ist denkbar knapp der SPD unterlegen; aber die Kanzlerschaft hat er deutlich verpasst.

Mit Dank an Tilman Sch.

Weimerer Klassizismus

“Weimers Woche” ist erstens eine Alliteration und zweitens der Titel einer Kolumne, die der damalige Chefredakteur des Politmagazins “Cicero”, Wolfram Weimer, bis Ende 2009 fürs “Handelsblatt” und für stern.de geschrieben hat. Dann wurde Weimer Chefredakteur der Illustrierten “Focus”, wo er im Juli dieses Jahres nach einem “Machtkampf” mit “Focus”-Gründer Helmut Markwort gehen musste — bzw. um sich nach offizieller Sprachregelung “neuen Projekten zuwenden zu können”.

Zuvor wendet sich Wolfram Weimer aber erst mal alten Projekten zu und hat fürs “Handelsblatt” seine Kolumne wiederbelebt. In der ersten Ausgabe vergangene Woche widmete er sich den “Sündenböcken” des politischen Berlins, also dem Papst, den Banken und der FDP:

Regierung schwach, Börsen panisch, Euro marode, Sonntag zu selten, Auto kaputt, Milch sauer? Berlin weiß: Entweder war es Philipp Rösler, Josef Ackermann oder Benedikt XVI.

Dabei ist die Bundesregierung mindestens so schlimm wie die Banken, sagt Weimer, und hebt zur Verteidigung der letzteren an:

Unsere Generation hat über Jahrzehnte noch nicht ein einziges Jahr mit einem ausgeglichenen Bundeshaushalt erlebt – egal übrigens, welche Partei gerade regiert hat. Selbst wenn wir all unsere Banken – private haben wir sowieso kaum noch welche – verstaatlicht hätten und den Euro wieder abschafften – der Schuldenberg Europas müsste doch bezahlt werden. Dass Berlin also die Banken in Frankfurt als “verantwortungslose Kreditteufel” attackiert, ist ein Witz.

Ja, das ist ein Witz. Sogar einer mit einer Pointe.

Denn was findet man, wenn man bei Google nach “verantwortungslose Kreditteufel” sucht?

Wenig, sehr wenig. Genau genommen nur eine einzelne Kolumne über die amerikanische Bankenkrise aus dem Jahr 2008.

Vor allem die Politiker Europas werfen sich in diesen Tagen eifernd ins Zeug. In besserwisserischen Posen schwadronieren sie über den Atlantik, als gäbe es da drüben nur verantwortungslose Kreditteufel, während hier alle Soliditätsengel zu Hause seien.

Bei der Kolumne handelte es sich um “Weimers Woche” und es sieht ganz so aus, als hätte bisher niemand Wolfram Weimer den Gefallen getan, die “verantwortungslosen Kreditteufel” zu einem geflügelten Wort zu machen — zumindest so lange, bis Wolfram Weimer zurückkam.

P.S. Im Juli, als Weimer noch “Focus”-Chef war, hatte der Branchendienst “Werben & Verkaufen” geschrieben:

Unterdessen ist die positive Aufbruchstimmung vom Juli 2010 mittlerweile verflogen, die Redaktion spart nicht an Kritik. So mancher wundert sich, dass Weimer Texte, die er bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat, im “Focus” reycelt. Wie beispielsweise im Text “Der Überflieger” (50/10) über Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg – ein Recycling seiner Laudatio, als der Ex-Verteidigungsminister “Politiker des Jahres 2009” wurde. Ebenfalls mehrfach genutzt: Ein Beitrag aus Weimers Vorgänger-Blatt “Cicero” vom August 2006 erschien erneut in “Focus” 18/11 als “Die Lücke, die Gott lässt.” Und: Im Extra-Heft zur Katastrophe in Fukushima brachte Wolfram Weimer in “Focus” die gleiche Zitate-Sammlung, wie sie schon in “Cicero” 2/05 zu lesen war. Auch das Memo “Die spielen Schuldenmonopoly” (51/10) erinnert stark an einen Blog-Beitrag Weimers aus dem Jahr 2008.

Mit Dank an Basti.

Zu viel Gas gegeben

Sie heizen mit Gas? Dann haben wir eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie.

Zuerst die schlechte: Gas wird laut den Internetvergleichsportalen Verivox und Check24 um gut zehn bis elf Prozent teurer.

Und jetzt die gute: So hoch, wie Bild.de die Mehrbelastung angibt, ist sie dann doch nicht:

Auf einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt (Jahresverbrauch: 20 000 Kilowattstunden) könnten Mehrbelastungen von gut 100 Euro im Monat zukommen.

Da der “durchschnittliche Vier-Personen-Haushalt” nur in den seltensten Fällen über 1.000 Euro monatlich für Gas bezahlt, darf davon ausgegangen werden, dass die von Bild.de berechnete Mehrbelastung nicht monatlich sondern jährlich anfällt.

Und so sehen das auch die beiden Vergleichsportale, die Bild.de als Quelle angibt.

Verivox:

Ein Musterhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden (kWh) müsse mit einer jährlichen Mehrbelastung von 126 Euro rechnen

Check24:

Im Durchschnitt steigen die Preise für einen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden (kWh) um 144 Euro oder elf Prozent.

Mit Dank an Hendrik G.

Nachtrag, 28. September: Bild.de hat sich inzwischen — ohne jeglichen Hinweis — korrigiert. Aus den “gut 100 Euro im Monat” wurden “Mehrbelastungen von mehr als 100 Euro im Jahr”.

Meteor, Mailbox, Lobo

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Meteoritenhoax auf Spiegel Online”
(scilogs.de, Jan Hattenbach)
“Spiegel Online” berichtet über ein “spektakuläres Naturschauspiel” am Himmel und kommt zum Schluß: “Es handelt sich offenbar um einen abstürzenden Meteoriten.” Jan Hattenbach sieht das anders: “Da hat wohl jemand in Peru einen Kondensstreifen für einen Meteor (nicht Meteorit) gehalten. Man ersetze ‘Peru’ durch ‘China’ und ‘Kondensstreifen’ durch ‘Sack Reis’, und erhalte ungefähr den Nachrichtenwert dieser Meldung.” Auf den Nachrichtenportalen sueddeutsche.de, faz.net, welt.de und focus.de ist nach wie vor ein Video zu sehen, in dem es heisst: “Dieser mutmaßliche Meteorit steuert geradewegs auf Peru zu.”

2. “Der Inzest-Opa und die Journalisten-Richter-Henker-Meute”
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Hans Kirchmeyr erinnert daran, dass gegen einen in Österreich wegen Inzestverdacht festgenommenen Mann kein Gerichtsurteil, noch nicht mal eine offizielle Anklage vorliegt.

3. “‘Gooool!’ aus zweiter Hand”
(sueddeutsche.de, Javier Càceres)
Spanische Radioreporter erhalten im Fußballstadion keine kostenfreie Akkreditierungen mehr.

4. “Making of…”
(cab-log.blogspot.com, Klaus)
Taxifahrer Klaus beobachtet ein Foto-Shooting für die extragroße “Bild”: “Der Kollege schlug dann schließlich ein Honorar von 5 Euro raus. Die Kollegin bekam große Augen: ‘Ich habe nichts gekriegt.'”

5. “How to hack like a News of the World reporter”
(reuters.com, Video, englisch)
Kevin Mitnick erklärt, wie man eine Handy-Mailbox abhört. Und wie man sich dagegen schützt: “You go into your voicemail options and you enable to prompt for a password always.”

6. “Lobo, der Wolf vom Zentralplatz”
(rhein-zeitung.de, Hartmut Wagner)
Lobo trinkt vor allem Bier und Boonekamp, verzichtet auf eine Wohnung, die ihm zusteht, erhält monatlich 370 Euro Grundsicherung, ohne damit ein moralisches Problem zu haben und setzt sich mit einem Becher an die Straße, wenn das nicht ausreicht (Artikel als PDF-Datei, Kommentar des Chefredakteurs).

Apfelkraut und Rüben

Technik und Juristerei sind (wie Abwassersysteme) keine Gebiete, mit denen sich der Durchschnittsbürger gerne befasst: Beides versteht er nicht so richtig, aber es “funktioniert halt irgendwie” und hilft ihm im Leben — und wenn es nicht in seinem Sinne funktioniert, ist das Gemecker groß. Keine guten Voraussetzungen, dass noch irgendjemand den Überblick behält, wenn beide Themengebiete aufeinander treffen.

Der amerikanische Unterhaltungselektronikkonzern Apple hat im vergangenen Jahr das iPad auf den Markt gebracht, einen mobilen Computer ohne Tastatur. Auch der südkoreanische Mischkonzern Samsung hat einen solchen Computer produziert, das sogenannte Galaxy Tab 10.1. Apple wirft Samsung vor, das Galaxy Tab beim iPad abgeguckt zu haben, und hat Anfang August vor dem Düsseldorfer Landgericht eine einstweilige Verfügung erwirkt: Samsung verletze den Geschmacksmusterschutz von Apple, das Galaxy Tab darf in Deutschland (ursprünglich sogar in der EU) bis auf Weiteres nicht verkauft werden.

Samsung legte gegen die Entscheidung Widerspruch ein — unter anderem, weil die Fotos, mit denen Apple die optische Ähnlichkeit zwischen den beiden Geräten beweisen wollte, verzerrt waren, so dass die Proportionen des Galaxy Tab denen des iPad viel stärker ähnelten als in echt.

Heute nun begann die mündliche Verhandlung vor dem Düsseldorfer Landgericht und die Nachrichtenagentur dapd bewies schon mal mit ihrer ersten Zusammenfassung um 11.28 Uhr, nicht exakt verstanden zu haben, worum es eigentlich ging:

Das kalifornische Unternehmen wirft den Koreanern vor, bei Gestaltung und Design des eigenen Tablet-PCs Markenrechte von Apple verletzt zu haben und hatte deshalb vor dem Düsseldorfer Gericht ein Verkaufsverbot für den iPad-Rivalen erwirkt.

Nein, ums Markenrecht, das die Bezeichnung von Produkten oder Dienstleistungen regelt, geht es in diesem Prozess nicht, sondern ausschließlich um das Design.

Um 12.46 Uhr berichtete Reuters:

Apple hat im Patentstreit mit seinem Rivalen Samsung erneut einen Sieg vor Gericht errungen. Das Landgericht Düsseldorf bestätigte am Donnerstag die einstweilige Verfügung, wonach Samsungs Tablet-PC Galaxy in Deutschland nicht verkauft werden darf. Die Kammer folgte der Argumentation der Amerikaner, das koreanische Gerät verletze Patentrechte.

Dass es um Geschmacksmuster ging und nicht um Patentrechte ging, ist hier fast zweitrangig, denn das Gericht hatte zu diesem Zeitpunkt die Einstweilige Verfügung noch gar nicht bestätigt — und würde es bis zum Ende des heutigen Verhandlungstages auch nicht mehr tun. Die Entscheidung soll erst am 9. September verkündet werden, bis dahin bleibt die Einstweilige Verfügung weiterhin bestehen, wurde vom Gericht aber noch nicht bestätigt.

Zu den vielen Medien, die die vorschnelle Reuters-Meldung übernahmen, zählte auch tagesschau.de, deren Mitarbeiter aber irgendwann selbst beim Gericht nachfragten und ihren Artikel alsbald korrigierten:

tagesschau.de hat – auf Basis von Agenturmeldungen – zunächst berichtet, die mündliche Verhandlung vor dem Landgericht Düsseldorf über die einstweilige Verfügung sei bereits zu Ende. Eine Sprecherin des Gerichts stellte aber auf Nachfrage gegenüber tagesschau.de klar, dass die Verhandlung noch laufe und die entsprechenden Meldungen nicht zutreffend seien.

Bei Reuters selbst brauchten sie fast zwei Stunden, um festzustellen, dass sie vorzeitig Fakten berichtet hatten, die noch gar nicht geschaffen waren:

DEUTSCHLAND/APPLE/SAMSUNG (KORREKTUR)
KORRIGIERT-Richterin hält Verbot von Samsung-Tablet für gültig=

(Stellt klar, Richterin hält einstweilige Verfügung für rechtens. Entscheidung der Kammer erst später erwartet.)
Düsseldorf, 25. Aug (Reuters) – Apple hat im Patentstreit mit seinem Rivalen Samsung gute Aussichten in Deutschland. Die Vorsitzende Richterin im Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf erklärte am Donnerstag, sie halte die einstweilige Verfügung, unter der Samsungs Tablet-PC Galaxy in Deutschland nicht verkauft werden darf, weiterhin für rechtens.

Diese Korrektur kam zu spät für Bild.de, das von einer “Niederlage vor Gericht” für Samsung und einem “Sieg” für Apple berichtet.

Die “Deutsche Welle” hat in ihrem Internetauftritt ziemlich genau alles falsch gemacht und beeindruckt im Vorspann mit einem überraschenden Kausalzusammenhang:

Trotz des Rücktritts von Steve Jobs kann Apple einen Erfolg verbuchen. Im Patentstreit mit seinem Rivalen Samsung hat Apple einen Sieg vor Gericht errungen. Samsungs Tablet-PC erhält Verkaufsverbot in Deutschland.

Und während dapd weiter ahnungslos mit dem Begriff “Markenrecht” hantiert, fasst dpa den Sachverhalt in zwei Sätzen korrekt zusammen:

In dem Verfahren geht es ausschließlich um das sogenannte Geschmacksmuster, also Design und Äußeres aussehen. Bei der Bewertung, ob ein Geschmacksmuster verletzt wurde, geht es darum, ob ein Produkt vom Gesamteindruck her mit einem anderen identisch ist.

Mit Dank an Patrick D. und Gabriel W.

Nachtrag, 26. August: Gestern in der “Tagesschau” um 20 Uhr:

Patentstreit

Am Text, den Marc Bator vorlesen musste, war so ziemlich alles falsch:

Im Patentstreit mit seinem Konkurrenten Samsung hat Apple einen Etappensieg errungen. Das Düsseldorfer Landgericht bestätigte heute in mündlicher Verhandlung eine Einstweilige Verfügung gegen die Koreaner. (…) Es gebe deutliche Hinweise, dass Markenrechte von Apple verletzt worden seien.

Mit Dank an Klaus M., Kiki W., Dennis R. und Johannes.

Der Sauerstoff, aus dem Legenden sind

Die österreichische Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner hat als erste Frau alle Achttausender der Welt ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen.

Bild.de schrieb dazu gestern:

Als erste Frau hat Gerlinde Kaltenbrunner (40) alle Achttausender-Gipfel der Welt bezwungen – ohne zusätzliche Sauerstoff-Versorgung. Das hatte vor ihr nur Reinhold Messner geschafft.

Das war teils irreführend, teils falsch — entstand doch der Eindruck, Frau Kaltenbrunner hätte als erste Frau überhaupt aller Achttausender bezwungen. In Wahrheit ist sie (je nach Zählweise) die zweite oder dritte Frau. Vor allem aber hatten nach Reinhold Messner und vor Gerlinde Kaltenbrunner noch neun weitere Männer alle Achttausender ohne Sauerstoffmaske bestiegen.

Diesen Fehler hatte Bild.de mutmaßlich von der Nachrichtenagentur AFP übernommen, die gestern zunächst berichtet hatte:

Bislang war Reinhold Messner der einzige, der alle 14 Achttausender ohne Sauerstoffmaske bezwang.

Und:

Bislang war der Südtiroler Reinhold Messner der einzige Mensch der Welt, der alle 14 Achttausender ohne Sauerstoffmaske bezwungen hat.

Um 17.15 Uhr korrigierte AFP seine Meldung:

+++ Berichtigung: Im dritten Satz sowie im letzten Satz des vierten Absatzes heißt es nun richtig, dass Messner der erste (nicht der bisher einzige) Bergsteiger war, der alle 14 Achttausender ohne Sauerstoffmaske bezwang. Diese Korrektur gilt auch für die diesbezügliche Meldung von 15.09 Uhr. +++

Zu spät für die heutige “Bild”-Zeitung:

Bisher war es nur Reinhold Messner gelungen, alle 14 Achttausender ohne Sauerstoffmaske zu besteigen.

Mit Dank an Mithrandir und Florian B.

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