Muss man über einen Selbstmordversuch berichten, nur weil er spektakulär ist? Ja, findet “20 Minuten”:
Geradezu absurd ist aber die Bildunterschrift:
Mit Dank an Mathias.
Nachtrag, 16:34 Uhr: Überhaupt ist die Interpretation von “20 Minuten”, bei dem Mann handle es sich um einen “Selbstmordkandidaten” etwas eigenwillig. InanderenMedienist lediglich von einem absichtlichen Sprung die Rede.
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3. “Gegenrede: Presserabatt ≠ Bestechung” (wortvogel.de, Torsten Dewi)
Torsten Dewi antwortet auf den Deutschlandfunk-Beitrag “Kritisch oder käuflich” von Brigitte Baetz zu Journalistenrabatten: “Ich habe Presserabatte genutzt und fühle mich trotzdem unabhängig. Entscheidet man sich morgen, das System ad acta zu legen, werde ich nur mit den Schultern zucken. Dann ist das halt so. Aber der gesamten Journaille mit hanebüchen zusammen gerührten Behauptungen über Presserabatte, Belegexemplare und PR-Geschenken korrupte Tendenzen unterstellen zu wollen, finde ich armselig und populistisch.”
4. “Der griechische Extremismus-Balken” (fernseherkaputt.blogspot.de)
Eine Infografik in der Nachrichtensendung “Zeit im Bild” (Video) zu den Parlamentswahlen in Griechenland zeigt Prozentbalken in falscher Höhe: “Die 17 Prozent der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) bekommen einen gleich großen Balken wie die 7 Prozent des neonazistischen Chrysi Avgi (GMR).”
Am Freitagabend veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters folgende Meldung:
Explosion von Ballons verletzt mehr als 140 Menschen in Armenien
Jerewan, 04. Mai (Reuters) – Bei einer Explosion von Luftballons sind in der armenischen Hauptstadt Eriwan mehr 140 Menschen verletzt worden. Das berichtet die Nachrichtenagentur Interfax am Freitag unter Berufung auf das Katastrophenschutzministerium. Zwei Tage vor der Parlamentswahl explodierten lokalen Medienberichten zufolge mit Helium gefüllte Ballons während einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Platz der Republik. Das Gas sei durch eine Zigarette entzündet worden. […]
Wir haben nicht überprüft, was die lokalen Medien berichtet haben, aber unter der Reuters-Meldung stehen die Namen von drei Mitarbeiten: einem Reporter, einer bearbeitenden Autorin und einem Redakteur — und keinem von ihnen ist aufgefallen, dass Heliumnicht brennbar ist.
Das scheint auch niemand der Agentur dapd verraten zu haben, die zweieinhalb Stunden später vermeldete:
144 Armenier bei Explosion von Ballons verletzt
Eriwan (dapd). Vor der Parlamentswahl in Armenien sind bei einer Explosion von Ballons in der Hauptstadt Eriwan mindestens 144 Menschen verletzt worden. Der Unfall ereignete sich bei einer Wahlkampfveranstaltung der Republikaner, wie das Katastrophenschutzministerium am Freitag mitteilte. 104 Menschen seien mit Brandverletzungen ins Krankenhaus gebracht worden. Die Explosion sei von einem Raucher verursacht worden, der sich nahe der mit Helium gefüllten Ballons eine Zigarette angesteckt habe. […]
Die Deutsche Presseagentur dpa hatte lediglich von einer “schweren Explosion von mehreren Gasballons” geschrieben, bei AFP war es die “Explosion zahlreicher mit Gas gefüllter Ballons”.
Heute Mittag immerhin verschickte Reuters eine Korrektur der eigenen Meldung:
ARMENIEN/EXPLOSION (KORREKTUR) KORRIGIERT-Mehr als 140 Verletzte bei Explosion in Armenien
(stellt klar, dass in den Ballons nicht Helium sondern anderes Gas war)
Eriwan, 04. Mai (Reuters) – Bei einer Explosion von Luftballons sind in der armenischen Hauptstadt Eriwan mehr als 140 Menschen verletzt worden. Das berichtet die Nachrichtenagentur Interfax am Freitag unter Berufung auf das Katastrophenschutzministerium. Zwei Tage vor der Parlamentswahl explodierten lokalen Medienberichten zufolge mit Gas gefüllte Ballons während einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Platz der Republik. Das Gas sei durch eine Zigarette entzündet worden. […]
Dieser Korrekturversuch hat erstaunlich gut funktioniert, das Wort “Helium” jedenfalls wurde nachträglich aus den Reuters-Meldungen auf Portalen wie “Welt Online” und fr-online.de entfernt — das “Hamburger Abendblatt” spricht allerdings im Vorspann immer noch von Helium.
Das Reuters-Video von gestern, in dem die Off-Sprecherin über “zahllose weiße Ballons, gefüllt mit Helium” referiert, findet sich immer noch bei Nachrichtenportalen wie “Spiegel Online”, “Welt Online”, “Focus Online” und stern.de.
Die Agentur dapd, die sich selbst für ihre “hohen journalistischen Standards” feiert, hat ihre fehlerhafte Meldung bisher nicht korrigiert.
Bild.de beglückte Freunde des seichten Boulevards gestern mit dieser weltbewegenden Neuigkeit:
Nach der Penis-Weltkarte folgt jetzt das weibliche Pendant: die Busen-Weltkarte. Das Internetportal “TargetMap” hat eine weltweite Hügel-Übersicht erstellt. Je röter, desto eher nährt [sic!] sich der Durchschnitts-Busen an die Maße von Pam Anderson oder sogar Dolly Buster.
Und so sieht sie aus, die “Weltkarte der Brüste” bzw. der “Atlas der Körbchengrößen”, die Bild.de für diesen Artikel eigens nachgebaut hat:
Richtig ist: Die Original-Karte ist tatsächlich bei “TargetMap” zu finden. Allerdings ist “TargetMap” ein Portal, auf das jeder jede x-beliebige Karte stellen kann. Während bei der “Penis-Weltkarte”, über die Bild.de vor einem Jahr berichtet hatte, jede einzelne Längenangabe durch eine Quelle belegt ist, findet sich in der “World map of Average Breast Size in the World by Country” nicht eine einzige solche Angabe.
Fest steht nur, dass die “Weltkarte der Brüste” vor etwas über einem Jahr von einem Nutzer namens yarkko eingestellt wurde, worüber damals etwa express.de berichtete. Warum Bild.de gerade jetzt damit aufmacht, ist also zumindest rätselhaft.
Auch die Angaben der durchschnittlichen Körbchengrößen sind mehr als fragwürdig. So soll die durchschnittliche Körbchengröße in Deutschland D sein, obwohl sie je nach Quelle eher irgendwo zwischen 75B und 80C angesiedelt sein dürfte. Dass Skandinavierinnen und Russinnen sogar Brüste vor sich her tragen sollen, die im Durchschnitt (!) “größer als D-Körbchen” sind, lässt vermuten, dass die gesamte Karte einfach nur ausgedacht ist.
Andererseits: Wozu journalistische Sorgfalt walten lassen, wenn man eine Tittenweltkarte hat?
Mit Dank an Moritz N.
Korrektur, 23:00 Uhr: In einer ersten Version dieses Textes hieß es unter Berufung auf das Statistische Jahrbuch von 2008, die Durchschnitts-BH-Größe in Deutschland wäre 80C. Eine solche Angabe findet sich dort jedoch nicht.
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1. “Stigma Tattoo: Pseudowissenschaftliche Vorurteilskonstruktion” (novo-argumente.com, Tobias Prüwer)
Tobias Prüwer bezweifelt eine Studie, die “den Zusammenhang zwischen Tätowierungen, Piercings und Alkoholkonsum” untersuchte und zu einen Artikel auf Focus.de geführt hatte. Weiter geht es um eine ältere Studie über die “vorgeblich herausragenden sexuellen Aktivitäten von Tätowierten”. “Vielleicht sind Menschen, die sich Farbe in die Haut stechen lassen, einfach offener gegenüber anderen Aktivitäten, in denen der Körper eingesetzt wird? Eventuell haben Menschen mit mehr Sex eher Lust auf bunte Hautbilder? Gegebenfalls neigen Tätowierte zu Übertreibungen, wenn es um das alte Rein-Raus-Spiel geht?”
2. “In 80 Fehlern um die ‘Welt'” (antimedien.de, Hektor Haarkötter)
Hektor Haarkötter studiert Zahlen und Statistiken in “Welt Aktuell”: “Weder erfährt man, wieviele Leute eigentlich befragt wurden (also die Stichprobe), noch auf welche Bezugsgruppe hier denn nun hochgerechnet werden soll (StatistikerInnen sprechen hier von der ‘Grundgesamtheit’): Alle Bundesbürger, alle Steuerzahler, alle Erwachsenen?”
3. “Kam Ali aus Ost-Berlin?” (welt.de, Michael Behrendt und Dirk Banse)
Michael Behrendt und Dirk Banse setzen sich ausführlich mit der Vergangenheit von Günter Wallraff auseinander. Unter anderem geht es um eine Mitarbeit von Journalist Frank Berger am Bestseller “Ganz unten”, den “Stasi-Akten als mutmaßlichen Agenten des DDR-Geheimdienstes” ausweisen.
4. “Hasskommentare dürfen nicht publiziert werden” (politblog.tagesanzeiger.ch, Johanne Gurfinkiel)
Johanne Gurfinkiel fordert, dass Leserkommentare “vor der Publikation gelesen und nicht mehr sofort veröffentlicht werden”: “Die Meinungsfreiheit darf nicht als Instrument für Hasspropaganda missbraucht werden. In diesem Sinne sind auch die Regeln in Bezug auf ein redigierendes Eingreifen vor der Veröffentlichung der Kommentare zu erstellen.”
5. “Notwehr gegen Paparazzo” (internet-law.de, Thomas Stadler)
Das Oberlandesgericht Hamburg beschließt: “Der Schlag gegen die Kamera ist grundsätzlich geeignet, ein rechtswidriges Fotografieren zu beenden. Die bisherigen Feststellungen ergeben auch nicht, dass dem Angeklagten ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden haben könnte.”
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1. “Roboterjournalist interviewt Roboterpräsident” (scilogs.de, Boris Hänßler)
Boris Hänßler denkt über automatisierten Journalismus nach: “Da wir unsere Vorlieben im Internet gerne preisgeben, können Newshersteller künftig nicht nur die Auswahl der Nachrichten auf unsere Präferenzen hin anpassen, sondern auch die Inhalte der Meldungen. Ein Roboter kann dieselbe Story während eines Wimpernschlags in 300 verschiedenen Varianten herunter rotzen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten.”
2. “Die 1-Million-Euro-Klage gegen Bild” (journalist.de, Ferry Batzoglou)
Der Zeitschrift “journalist” liegt eine Klageschrift des griechischen Politikers Alexis Tsipras vor, die sich “gegen Bild, bild.de sowie Autor Paul Ronzheimer” wendet. “Weder Ronzheimer noch Springer wollten sich zu der Klage äußern. Bild-Sprecher Tobias Fröhlich verwies darauf, dass die Klage den Verlag noch nicht erreicht habe.”
Kürzlich in Athen freigesprochen wurde übrigens Helmut Markwort, Ex-Chefredakteur des “Focus”: “Freispruch und Ende” (sueddeutsche.de, Katharina Riehl).
3. “Sachen, die ich mache, wenn ich nicht hier bin” (monkeypenny.blogspot.de, Zanet Zabarac)
Ein Interview mit Monkeypenny, Community-Redakteurin bei der “Neuen Zürcher Zeitung”: “Man kann keinen Journalisten dazu zwingen, mit Nutzern zu arbeiten, aber ein guter Journalist wird das tun, weil dies seine Arbeit stark bereichern kann.”
4. “Solche Aufnahmen sind daneben” (beobachter.ch, Balz Ruchti)
Die Schüler Lina, Dario, Chris und Ines diskutieren den Umgang mit von Handys aufgenommenen Filmen im Netz.
5. “Acht mal acht” (umblaetterer.de, Paco)
“Letzten Sonntag stieg ich also in den ICE, um von Dresden zurück nach Leipzig zu fahren. Ich hatte einen Schokoladenosterhasen und die FAS dabei.”
6. “Der gefragte Mann” (facebook.com, Ruedi Widmer, Cartoon)
Herr Grass und der Boulevard.
Am Samstag ist bei “Deutschland sucht den Superstar” der Kandidat Joey Heindle ausgeschieden, den “Bild” wegen seiner mangelnden stimmlichen Qualitäten seit Wochen begleitet und “Krächz-Joey” nennt — somit steht er endlich ganz der medialen Zweitverwertung zur Verfügung:
Und so soll das mit der “Karriere” weitergehen:
Musikproduzent Marco Delgardo (u. a. “Roxette”, “Shaggy”) will ihm einen Plattenvertrag geben!
“Joey hat gezeigt, dass er Ausdauer hat”, so Delgardo zu BILD. “Außerdem ist seine Krächzstimme ein Markenzeichen. So einen Wiedererkennungswert braucht man, um Erfolg zu haben.”
Und auch wenn kaum jemand sonst Marco Delgardo kennt — für “Bild” und Bild.de ist er kein Unbekannter:
Als die Jacob Sisters im Januar 2005 mit einem “Gedächtnis-Song” auf Rudolph Moshammer beim deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest antreten wollten (“Toter Mosi zum Grand-Prix”), äußerte sich Delgardo “zuversichtlich” in “Bild”: “So eine Wahnsinns-Show läßt sich die ARD bestimmt nicht entgehen.”
Als die Band Texas Lightning im März 2006 zum Eurovision Song Contest geschickt wurde, erhob “Musikproduzent Marco Delgardo (37, 183 Goldene, 54 Platin-Schallplatten)” in der Zeitung “schwere Vorwürfe” gegen die Musiker: Ihr Song “No No Never” sei “geklaut”. (Wenn überhaupt, dann nicht von ihm, aber was macht das schon?)
Im Februar 2010 war Delgardo zur Stelle, um “Deutschlands frechstem Arbeitslosen” Arno Dübel einen Plattenvertrag anzubieten. “Bild” zitierte ihn mit den Worten: “Mit uns kann Arno, ohne viel zu arbeiten, jede Menge Geld verdienen.”
Drei Monate später traten erneut die Jacob Sisters auf den Plan, die gemeinsam mit Marco Delgardo Arno Dübel beim Singen unterstützen sollten.
Kurz vor Weihnachten 2010 war “Bild” zur Stelle, als Dübel auf Mallorca von einer “deutschen Rentnerin” angegriffen wurde (“Sie brüllt ihn an: “Du Schwein verprasst hier mein Geld!” Dann tritt und schlägt sie zu!”) und Musikproduzent “Marco Delgardo (produzierte für ‘Savage Garden’ und ‘Roxette’)” Dübel trösten musste. Eine sich anbahnende Romanze zwischen Dübel und der “Kellnerin Katja” begleitete “Bild” in den nächsten Tagen bis zum tränenreichen Ende, stets kommentiert von seinem Produzenten und Manager Marco Delgardo.
Kurz darauf konnte “Bild” ein großes Joint Venture der beiden Delgardo-Spezialgebiete Song Contest und Arno Dübel verkünden: “Deutschlands frechster Arbeitsloser, Arno Dübel (54, seit 36 Jahren auf Stütze, ‘Wer arbeitet, ist doch dumm’), soll für Österreich in Düsseldorf beim Eurovision Song Contest antreten”. Es kam letztlich anders.
Als Arno Dübels Single “Ich bin doch lieb” im Januar 2011 Videopremiere feierte, fand die wenig überraschend auf Bild.de statt.
Nur eine Woche später beschäftigten Dübel und sein Manager plötzlich “sogar die Kanzlerin”, weil spanische Behörden sich angeblich über die Verwendung des Arbeitsamt-Logos auf Dübels Plattencover beschwert hatten. “Bild” zitierte Delgardo mit den Worten: “Offenbar eine plumpe Fälschung, mit der Arno Dübel und ich in Misskredit gebracht werden sollen.”
Im Juli 2011 verkündete Delgardo in “Bild”, dass er Arno Dübel “wegen andauernder Vertragsverletzung” verklage.
Einen Monat später versteigerte Delgardo die Rechte an der Marke “Arno Dübel” auf eBay, was “Bild” mit gleichdreiArtikeln öffentlichkeitswirksam begleitete.
Und erst vor drei Wochen berichtete “Bild”, dass Delgardo nun “wie sein Schützling” von Hartz IV leben müsse, weil Dübel ihn in die Armut getrieben habe.
Obwohl Marco Delgardo nach eigenen Angaben “als Songwriter, Produzent und Künstler (No Face)” “rund 120 Millionen Tonträger” verkauft hat und “183 Gold- und 54 Platin-Auszeichnungen” erhielt, gibt es vergleichsweise wenige Informationen über sein Schaffen, die über das Zitieren der immer gleichen behaupteten Fakten und Künstler (Savage Garden, Roxette, Shaggy, Atomic Kitten) hinausgehen.*
Doch nichts davon hat andere Internetbefüllungsportale davon abgehalten, die “Bild”-Story vom Plattenvertrag für Joey Heindle unreflektiert weiter zu verbreiten. Neben diversen Klatschseiten sind darunter auch die österreichischen Plattformen news.at und oe24.at,
die “Augsburger Allgemeine” und “Focus Online”.
Bei “RP Online”, das so gerne Bild.de wäre, sind aus dem Angebot eines Plattenvertrags gleich knallharte Fakten geworden:
Wie die “Bild”-Zeitung berichtet, hat der 18-Jährige bereits einen Plattenvertrag in der Tasche.
* Nachtrag/Korrektur, 4. Februar 2013: Die wenigen Informationen, die sich zum Namen Marco Delgardo finden lassen, hängen offenbar damit zusammen, dass Delgardo viele seiner Arbeiten unter Pseudonym veröffentlicht hat.
Am Samstagabend ist ein elfjähriges Mädchen in einem Parkhaus in der Emder Innenstadt tot aufgefunden worden. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am Montagnachmittag erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft, dass es sich bei der Tat um ein “sexuell motiviertes Delikt” gehandelt habe — eine Information, die in der gestrigen Printausgabe von “Bild” schon zu lesen gewesen war.
Die Journalisten auf der Konferenz wollten möglichst viele Details wissen, die Sprecher gaben sich große Mühe, nichts zu sagen. Aus “ermittlungstaktischen Gründen” wollten sie zu Details wie der genauen Todesursache und der Auffindesituation des Mädchens keine Angaben machen. Bewusst hätten die Behörden in ihrer ersten Pressemitteilung keine Beschreibung vom Aussehen und der Kleidung des Mädchens und des sie begleitenden Jungen abgegeben, um die Hinweise aus der Bevölkerung nicht einzuschränken, sagte Martin Lammers, Leiter des Zentralen Ermittlungsdienstes der Polizei Leer/Emden. Auch zur Familie des Opfers wollte die Polizei keine Angaben machen, wie der Chef der Mordkommission, Werner Brandt, erklärte: “Weil wir natürlich auch die Verantwortung haben, die Eltern ein Stück weit zu schützen.”
Als ein anwesender Journalist fragte, ob die Behörden den Vornamen des Mädchens verraten könnten, sagte Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck nach kurzer Rücksprache zu seinen Kollegen: “Das sollten wir nicht tun!” Keine 30 Sekunden später nannte Brandt den Namen des Mädchens dann doch in einem Nebensatz — offensichtlich aus Versehen, aber ohne weiter darauf einzugehen.
Die meisten Medien hielten sich an die Bitte der Staatsanwaltschaft, wobei einige die einmalige Nennung des Namens auch schlicht nicht mitbekommen haben könnten. Die meisten, aber natürlich nicht alle: Bei “Bild” steht der Name in der Dachzeile und sechs Mal im Artikel. Auch “Berliner Kurier”, “B.Z.”, “Focus Online” und die “Ostfriesen-Zeitung” nennen den Namen jeweils mindestens einmal.
Wie ernst “Bild” die Bedenken der Behörden und deren Sorge um Opferschutz nimmt, stellt die Zeitung dann noch sehr eindrucksvoll unter Beweis, indem sie den Namen des Mädchens, deren ungefähren Geburtstag und das Geschlecht und den Namen eines Geschwisterkindes nennt. Alles “BILD-Informationen zufolge”, natürlich.
Skepsis ist eigentlich immer dann angebracht, wenn “Bild” behauptet, die Wahrheit über irgendwas zu verkünden. Heute beispielsweise steht auf der Titelseite:
Und als wäre das noch nicht genug, verspricht “Bild” über dem eigentlichen Artikel auch noch:
Dabei fangen die Probleme schon in der Überschrift an: Was genau meint “Bild” mit dem “Soli”? Eigentlich steht Soli umgangssprachlich für den Solidaritätszuschlag und nicht für den Solidarpakt II, dessen Abschaffung kürzlich mehrere Bürgermeister aus Nordrhein-Westfalen gefordert hatten.
Zuschlag vs. Pakt Der Solidaritätszuschlag wurde eingeführt, um zu helfen, die Kosten der Wiedervereinigung zu decken. Allerdings ist er eine Steuer (die übrigens sowohl in West- als auch in Ostdeutschland erhoben wird), die allein dem Bund zusteht und nicht zweckgebunden eingesetzt werden muss. Der Solidarpakt II hingegen ist eine Vereinbarung, nach der der Bund sich verpflichtet, den neuen Bundesländern von 2005 bis 2019 im Zuge des Länderfinanzausgleichs insgesamt 156,5 Milliarden Euro zukommen zu lassen.
Obwohl der Solidaritätszuschlag also weder mit der aktuellen Debatte noch mit dem Solidarpakt zu tun hat, bezieht sich “Bild” mehrfach darauf — etwa gleich im ersten der “zehn harten Fakten über den Soli”:
Seit wann gibt’s den Soli?
Eingeführt wurde er 1991 – damit die neuen Bundesländer auf die Beine kommen. 5,5 % der Einkommenssteuer – gezahlt von west- und ostdeutschen finanzieren den Solidarpakt (so der korrekte Name). Über den Länderfinanzausgleich erhalten die Ost-Länder bis 2012 zusätzliche 156 Mrd. Euro.
“Bild” mixt hier zusammen, was nicht zusammen gehört: Der Solidaritätszuschlag ist in der Tat eine direkte Steuer des Bundes, die jeder Deutsche in Ost und West gleichermaßen berappen muss. Die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag finanzieren jedoch nicht – wie von “Bild” behauptet – den Solidarpakt, sondern fließen direkt in den Haushalt des Bundes, wo sie für alles mögliche verwendet werden. Der Solidarpakt wiederum, der eigentlich nicht als “Soli” bezeichnet wird, wurde erstmals im Jahre 1993 beschlossen. Der Solidarpakt I trat 1995 in Kraft und lief Ende 2004 aus. Der Solidarpakt II läuft von 2005 bis 2019.
Die beiden folgenden “harten Fakten” (“Nicht jeder zahlt Soli!”, “Nicht der ganze Soli fließt in den Osten!”) beziehen sich ausschließlich auf den Solidaritätszuschlag, bevor es dann plötzlich heißt:
Die Kommunen im Westen werden von ihren Landesregierungen geschröpft!
Die Länder treiben das Geld, das sie für den Aufbau Ost zahlen müssen, bei ihren eigenen Städten und Gemeinden ein!
Merken Sie was? Nun geht es nicht mehr um den Solidaritätszuschlag, der von den Bürgern gezahlt wird, sondern um den Solidarpakt II, der ja das eigentliche Thema sein sollte.
“Harter Fakt” Nummer 5 lautet folgendermaßen:
Die Ost-Länder hängen noch voll am Tropf!
2011, 21 Jahre nach der Wiedervereinigung, flossen aus dem Solidarpakt 12,2 Mrd. Euro Richtung Osten.
Vier Autoren haben die “zehn harten Fakten” zusammengetragen und dabei zwei völlig verschiedene Konzepte zusammengeworfen. In der “Bild”-eigenen Arithmetik ist es da nur konsequent, dass die zehn Fakten in Wahrheit nur neun sind.
Eine übersichtlichere Zusammenfassung der Debatte, in der der Unterschied zwischen Solidaritätszuschlag und Solidarpakt ausführlich erklärt werden, findet sich auf sueddeutsche.de: