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Wie falsche Bilder von Flüchtlingen entstehen

Es ist nicht unwichtig, welche Bilder man im Kopf hat, wenn man über Flüchtlinge redet.

Wenn “Spiegel Online”-Kolumnist Jan Fleischhauer über Flüchtlinge redet, hat er zwei Bilder im Kopf, aber wenn es nach ihm geht, passt nur eins davon zur Realität.

Da wäre zum einen das hier, das er auf der Facebook-Seite der Grünen-Politikern Katrin Göring-Eckardt gefunden hat:

“Es ist das, was man ein herziges Bild nennt”, schreibt Fleischhauer. “Wer keine Seele aus Stein hat, der möchte das Kind an die Hand nehmen und an einen sicheren Ort bringen.”

Und dann das andere Bild, auf der Titelseite der “FAZ” vom 30. September:

“Man sah darauf Neuangekommene, die auf ihre Registrierung als Asylbewerber warteten”, schreibt Fleischhauer. “Ein Kollege, mit dem ich telefonierte, fragte mich, ob ich bemerkt habe, dass es sich von vielen Flüchtlingsfotos unterscheide. Er hatte recht: Es gab darauf weder Kinder noch Frauen. Man sah ausschließlich Männer, die sich an weißen Sperrgittern gelehnt die Zeit vertrieben.”

Und das, findet Fleischhauer, treffe die “Migrationswirklichkeit” “leider” viel besser als das herzige Kinder-Bild:

Wer wie Katrin Göring-Eckardt vor allem schutzbedürftige Kinder sieht, hält jeden für einen Unmenschen, der laut über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit nachdenkt. Was die Migrationswirklichkeit angeht, sprechen die Fakten leider gegen die Fraktionsvorsitzende der Grünen und für die “FAZ”: Rund 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, sind allein reisende, junge Männer.

Es ist also klar, welches Bild Fleischhauer in die Köpfe seiner Leser bringen will:

Fleischhauer schreibt:

Bislang spielt sich die Krise abseits der Innenstädte ab, wo die Leute, die in der Flüchtlingsdebatte den Ton angeben, gerne wohnen. Wer durch die Einkaufszonen von Hamburg oder München schlendert, würde nie auf die Idee kommen, dass man in vielen Kommunen nicht mehr weiß, wie man der Lage Herr werden soll. Aber dieser Zustand des seligen Nebeneinanders kann sich schnell ändern. Der Soziologe Armin Nassehi, der übrigens ein Befürworter von mehr Zuwanderung ist, spricht von einer “Maskulinisierung” des öffentlichen Raums, auf die man sich beizeiten einstellen sollte.

Man wird sehen, wie das aufgeklärte Deutschland reagiert, wenn das neue Eckensteher-Milieu die inneren Großstädte erreicht. Für die #Aufschrei-Welt, in der schon ein zu offensiver Blick auf Po oder Busen einen sexuellen Übergriff markiert, verheißt das Wort “Maskulinisierung” jedenfalls nichts Gutes.

Für Fleischhauer offenkundig auch nicht. 70 Prozent junges, männliches “Eckensteher-Milieu”, du liebe Zeit!

Woher er diese Zahl hat, verrät er allerdings nicht.

Vielleicht von Boris Palmer. Der Grünen-Politiker hatte nicht nur die gleiche Zahl, sondern vermutlich auch ähnliche Bilder im Kopf wie Fleischhauer, als er Ende September in der “taz” über Flüchtlinge sprach:

“Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz in der Gesellschaft haben als wir Grüne. Machen wir uns nichts vor: Die Aufgabe ist riesig.”

Seit Palmer und Fleischhauer geistern die Behauptungen immer wieder durch die Medien. Vor drei Wochen zum Beispiel in einem Interview der “Welt”:

Die Welt: Über 70 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer. Der Soziologe Armin Nassehi warnt schon vor einer Maskulinisierung des öffentlichen Raums. Was heißt das im Alltag?

Oder in der “Huffington Post”:

Und über noch etwas sollten sich die Politik und die Deutschen keine Illusionen machen: Rund 70 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Junge Männer – egal welcher Herkunft und welches Glaubens – sind besonders anfällig dafür, Gewalttaten zu begehen.

Auch Leser machen sich die Behauptungen zu eigen:

Wie stellen sich unsere Politiker künftig diese Gesellschaft eigentlich vor, wenn mehr als 70 Prozent der Asylanwärter und Flüchtlinge junge Männer sind, die andere Vorstellungen haben von Religion, Meinungsfreiheit, Toleranz, vom Rollenverständnis Mann/Frau, für die in ihrer bisherigen Lebenswirklichkeit christliche Werte und Demokratie bislang Fremdworte waren (…)?

Ganz besondere Aufmerksamkeit erregen die Aussagen aber bei jenen, die von den Medien sonst eigentlich nicht so viel halten und von den Flüchtlingen erst recht nicht:

Auch in rechtspopulistischen Zeitungen, auf ausländerfeindlichen Hetzseiten und in Naziforen werden die Aussagen dankbar aufgegriffen.

Quellen (außer Fleischhauer oder Palmer) oder Belege für diese Behauptung finden sich nirgends.

Wir haben uns daher mal vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die aktuellsten Daten über das Alter und Geschlecht von Asylbewerbern besorgt. So sehen sie (für die von Januar 2015 bis einschließlich September 2015 gestellten Anträge) aus:

Altersgruppe männlich weiblich
bis unter 16 43.482 36.743
16 bis unter 18 9.706 2.948
18 bis unter 25 56.539 14.743
25 bis unter 30 34.517 11.685
30 bis unter 35 23.075 9.858
35 bis unter 40 15.213 7.549
40 bis unter 45 10.058 5.003
45 bis unter 50 6.263 3.336
50 bis unter 55 3.513 2.213
55 bis unter 60 1.870 1.521
60 bis unter 65 965 839
65 und älter 834 967
unbekannt 2 1
Gesamt 206.037 97.406

Der Anteil der jungen Männer — sagen wir mal: 18 bis 35 Jahre — an der Gesamtzahl der Flüchtlinge beträgt demnach nicht 70, sondern 38 Prozent. Selbst wenn man “junge Männer” als 16 bis 40 Jahre definiert, kommt man nur auf 46 Prozent.

Es stimmt, dass überwiegend männliche Flüchtlinge in Deutschland Asyl suchen (rund 70 Prozent). Doch fast die Hälfte davon ist entweder minderjährig oder älter als 35.

Viele “besorgte” Bürger und Medien stellen insbesondere die jungen, allein reisenden Männer unter den Flüchtlingen als Gefahr dar. Behauptungen wie die von Fleischhauer und Palmer erleichtern ihnen die Panikmache, denn wenn sogar die Gutmenschenmedien 70 Prozent Eckensteher-Flüchtlinge ausmachen, ist die endgültige Schändung des Abendlandes ja praktisch nicht mehr aufzuhalten.

Den Hetzern kommt dabei auch zugute, dass durch die Betonung des (falschen) “junge Männer”-Anteils ein anderer Ausschnitt der (tatsächlichen) Migrationswirklichkeit verzerrt wird: der Anteil der Kinder.

70 Prozent der Flüchtlinge sind junge, alleinstehende Männer – es gibt kaum Kinder.

Aber gerade sie tauchen in den Pressebildern auf. Die Medien informieren nicht mehr, es wird mit Gefühlen manipuliert: Die großen Augen eines verlorenen Kindes können selbst ein Herz aus Stein erweichen. Viele im Land wollen helfen, weil sie den Ernst der Lage vollkommen falsch einschätzen und die Krise noch nicht in den Innenstädten angekommen ist.

So schreibt es ein Autor des “Kopp”-Verlags. Die Rechnung ist ja auch nicht allzu schwer: Wenn schon 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind, kommen noch alte Männer dazu, dann junge Frauen, alte Frauen — da muss die Zahl der Kinder ja gering sein.

In Wahrheit aber ist fast jeder dritte Flüchtling minderjährig, jeder vierte ist jünger als 16. Allein in diesem Jahr haben laut BAMF bis Ende September fast 7.500 unbegleitete und 85.000 begleitete Minderjährige Asylanträge gestellt.

Keine Frage: Wer nur schutzbedürftige Kinder sieht, verkennt die Realität. Wer 70 Prozent junge Männer und kaum Kinder sieht, verkennt sie aber auch.

Die Statistiken für 2014 sehen übrigens ähnlich aus (und sind für jeden einsehbar, sogar für Journalisten und Politiker). Anteil der jungen Männer: 37 Prozent. Anteil der Kinder unter 16: 28 Prozent.

Ob die jungen Männer allesamt alleine reisen und oft an Ecken stehen, welches Verständnis sie von der Rolle der Frau, von Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität und Umweltschutz haben, ist den Statistiken übrigens nicht zu entnehmen.

Bei diesem Teufel-an-die-Wand-Malen nach Zahlen fällt auch unter den Tisch, warum vor allem junge Männer nach Europa flüchten. Dafür gibt es viele Gründe, die zum Beispiel die „Süddeutsche Zeitung“ vor Kurzem genauer betrachtet hat:

„In vielen Familien, die in Gefahr geraten, reichen die Ressourcen einfach nicht aus, um mehr als einem Mitglied die Flucht nach Europa zu finanzieren”, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl. Aus verschiedenen Gründen würden dann eher die jungen Männer als Frauen oder Ältere und Kinder auf den Weg geschickt.

So sind Männer etwa in der Regel körperlich stärker und – je nach Herkunft – häufig besser ausgebildet als Frauen. Deshalb gelten ihre Chancen als größer, eine gefährliche Reise zu überleben und am Zielort Arbeit zu finden. Häufig stellen sie aus traditionellen Vorstellungen heraus den Haupternährer – und stehen damit in der Verantwortung, für die Familie zu sorgen.

Auch die Gefahr, als Kämpfer zwangsverpflichtet zu werden, motiviert laut Experten viele Männer zur Flucht:

“Männer wollen so vermutlich einer direkten Beteiligung am Kampfgeschehen entgehen”, sagte Pro-Asyl-Chef Günter Burkhardt SPIEGEL ONLINE. Die Gefahr, getötet oder zwangsrekrutiert zu werden, sei für sie etwa im Bürgerkriegsland Syrien sehr hoch.

Darüber hinaus „kümmern sich in vielen Fällen Frauen um den Nachwuchs und bleiben aus diesem Grund eher in den Herkunftsländern zurück“, erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Für Frauen komme in manchen Gebieten zudem das Risiko hinzu, auf der Flucht verschleppt und vergewaltigt zu werden, so Pro Asyl.

Es ist also, wie die “Süddeutsche” feststellt, …

nicht überraschend, dass sich – unabhängig vom konkreten Anlass der Flucht – eher Männer auf die gefährliche Reise machen, während die Familien in der Hoffnung zurückbleiben, dass sie später über eine Familienzusammenführung ohne Risiko nachreisen können – oder aus der Ferne vom Mann versorgt werden.

All das spielt bei Fleischhauer, Palmer, den Rechtspopulisten und Nazis keine Rolle. Sie stürzen sich auf die eine Zahl, die eine falsche Zahl, und erzeugen damit ein verzerrtes und unvollständiges Bild, das seit Wochen weitergetragen und verfestigt wird.

Und dann war da noch Kai Gniffke, der Chefredakteur von “ARD Aktuell”. Der “Focus” schrieb vor zwei Wochen:

Die „Tagesschau“ und die „Tagesthemen“ zeige nicht immer ein richtiges Bild der nach Deutschland drängenden Flüchtlingen. Das hat „ARD aktuell”-Chefredakteur Kai Gniffke jetzt eingeräumt.

Vor Branchenexperten in Hamburg sagte Gniffke: „Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Tatsache sei aber, dass „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute alleinstehende Männer sind“.

Also:

„Wir müssen sensibel sein, damit die Bildauswahl nicht allzu sehr auf Kinder fokussiert wird“, kündigt der Chefredakteur gegenüber FOCUS an.

Die, die sonst nur Lügen in der Presse sehen, glaubten diese Nachrichten ausnahmsweise sofort und verkündeten triumphierend:



Der “Focus”-Artikel mit den Aussagen Gniffkes dient den Verschwörungstheoretikern und Rechtspopulisten sogar als Beleg dafür, dass “der Begriff ‘Lügenpresse’ absolut richtig!!” sei. Die Argumentation:

Wenn also diese Berichterstattung über die Flüchtlinge ansich „getürkt“ ist, dann sind es andere Themen aus der Flüchtlingskrise ebenso. Der mediale Modder fängt an zu stinken!

Zu offensichtlich wurde in den Medien gelogen, das „saubere Bild“ konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Jeder wusste, dass sie lügen und somit ist der Begriff „Lügenpresse“ absolut richtig!!

(gefunden auf einer Seite, auf der man “Weltnetz” statt “Internet” sagt.)

Bloß ist das zentrale Zitat von Gniffke …

… völliger Unsinn. Wir haben ihn gefragt, wie er auf die Zahl kommt. Seine Antwort: Dieses “angebliche Focus-Zitat ist komplett falsch”.

Es gibt allerdings einen Mitschnitt seiner Aussagen (ab 47:30), und der zeigt: Der “Focus” hat Gniffke weitgehend korrekt zitiert. Er sagte:

Immer, wenn wir Flüchtlinge zeigen und wenn die dann als Beispiel vorkommen, dann sind das Familien. Meistens: Frauen, Kinder… Tatsächlich ist es aber so: 80 Prozent der Flüchtlinge sind kräftig gebaute, junge Männer. Die da überwiegend auch alleine kommen. Wie gesagt: Die Berichterstattung sieht aber irgendwie sehr familiär aus. Nun kennt jeder Journalist das: Och, nee, das ist viel schöner, auch als Kameramotiv, als Bildmotiv – da nimmste kleine Kinder, ist total nett. Aber es verbiegt ein bisschen tatsächlich die Realität.

Seine Aussage ging noch weiter:

Deshalb haben wir dann auch gesagt: Wir machen jetzt mal ein Soziogramm, und zwar in der Hauptausgabe, 20 Uhr: Wer sind das? Wo kommen die her? Hmm, fast die Hälfte kommt aus Ländern, wo wir sagen: Uiuiui, da eine politische Verfolgung nachzuweisen, wird schwer, zumal wenn es sich noch um EU-Beitrittskandidaten handelt. Das müssen wir den Leuten mal sagen. Wir müssen denen sagen: Das sind junge Männer. Wir haben denen gesagt: Was haben die für einen Bildungsgrad? Und und und. Aus welchen Zusammenhängen kommen die.
Nee, ich glaube nicht, dass wir da blinde Flecken haben. Und, wirklich, gegen das Extremistische hilft dann auch tatsächlich nur informieren, Fakten liefern und widerlegen – sonst wüsste ich keinen Weg.

Wir auch nicht.

Mit Dank an Martin.

Nachtrag, 5. November: Einige Leser haben uns darauf hingewiesen, dass ja nicht alle Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Deutschland also höher sei als die vom BAMF registrierten 300.000. Daran besteht auch kein Zweifel.

Das Bundesinnenministerium teilte im August mit, es rechne damit, …

dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Asylbewerber bzw. Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.

Womöglich wird die Zahl aber noch deutlich höher sein. In einem Interview sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor zwei Wochen:

Schweriner Volkszeitung: Die Prognose, dass in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge und Asylbewerber ist nicht mehr zu halten, oder?

De Maizière: Ich werde keine neuen Zahlen nennen. Jedenfalls nicht in den nächsten Wochen. Jede neue, womöglich höhere Prognose würde von den Schleppern missbraucht. Als die Bundesregierung die Prognose auf 800 000 für dieses Jahr erhöht hatte, kam in Afghanistan das Gerücht auf, wir würden 800 000 afghanische Flüchtlinge zu uns einladen.

Gehen wir also mal großzügig von 1,5 Millionen in Deutschland ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 aus. Dann müssten unter den 1,2 Millionen Flüchtlingen, die in den BAMF-Zahlen nicht erfasst sind, 936.000 junge Männer sein, um sagen zu können: 70 Prozent aller erfassten und nicht-erfassten 1,5 Millionen Flüchtlinge sind junge Männer.

Der Anteil der jungen Männer an den 1,2 Millionen nicht-erfassten Flüchtlingen müsste also 78 Prozent betragen – ein mehr als doppelt so großer Anteil wie unter denen, die laut BAMF in diesem Jahr einen Asylantrag gestellt haben. Und ebenfalls doppelt so groß wie unter denen, die im vergangenen Jahr einen Antrag gestellt haben. Und doppelt so groß wie unter denen, die 2014 europaweit Asylanträge gestellt haben. Wir sehen keinen Grund, warum das so sein sollte.

Nachtrag, 11. November: Boris Palmer hat uns kurz nach Erscheinen unseres Eintrags eine Mail geschickt, die wir mit seinem Einverständnis hier veröffentlichen:

Ich schätze die Arbeit von bildblog sehr. Daher freue ich mich, dass Sie der Frage nachgehen, wer die Flüchtlinge sind und meine Aussage, 70% der Flüchtlinge seien junge Männer, kritisch hinterfragen.

Vorneweg: Es ist desaströs , dass wir keine Ahnung haben, was nun eigentlich stimmt. Die Statistik des Bamf sagt nichts mehr aus, weil sie nur noch einen kleinen Teil der Flüchtlinge erfasst – im Oktober weniger als ein Fünftel. Für die öffentliche Debatte ist es extrem wichtig, dass möglichst bald präzise Zahlen zu Zahl, Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung und Qualifikation der Flüchtlinge erhoben werden. Sonst kann man nicht vernünftig diskutieren, wie wir als Gesellschaft auf die Herausforderung reagieren, die Einwanderung in diesem Maßstab darstellt.

Ich habe im September in der taz darauf aufmerksam gemacht, dass ein Großteil der Flüchtlinge junge Männer sind – bis dahin in der öffentlichen Debatte wenig beachtet – und dabei die Zahl 70% genannt. In einem mündlichen Interview. Meine Quelle war keine offizielle Statistik, sondern mündliche Informationen von Verantwortlichen in der Flüchtlingsverwaltung und der Augenschein in Erstaufnahmeeinrichtungen und Unterkünften. Die Zahl habe ich nie als exakten Wert begriffen.

Anders als Sie in bildblog schreiben, ist die Größenordnung aber durchaus plausibel. Die Statistik des Bamf, die Sie heranziehen, enthält noch einen großen Anteil von Asylbewerbern aus dem Balkan. Denn in der ersten Jahreshälfte kamen mit Abstand die meisten Asylbewerber aus den Balkanstaaten. In dieser Gruppe sind in der Tat sehr viele Kinder und der Frauen. Die Reise ist eben nicht so weit und gefährlich wie von Syrien oder Afghanistan. Da diese Menschen so gut wie alle keinen Asylanspruch haben und das Land verlassen müssen, sind sie für die Frage nach Integrationserfordernissen, um die es im Kontext meines Interviews in der taz ging, nicht entscheidend.

Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer. Da man sicher annehmen kann, dass eine Familie sich viel schwerer tun wird, allein und unregistriert in Deutschland Fuß zu fassen, als ein junger Mann, ist es auch plausibel, den Anteil der nicht Registrierten in dieser Personengruppe noch höher anzusetzen. Mit dieser Hypothese lässt sich der Eindruck aus den Erstunterkünften, dass weit überwiegend junge Männer Asyl suchen, gut bestätigen.

Entscheidend ist für mich allerdings, dass es auf die exakte Zahl nicht ankommt. Die Aussage, dass sehr viele junge Männer alleine zu uns kommen und dies entweder ein großes soziales Problem für diese Männer oder Familiennachzug in siebenstelliger Höhe bedeutet, ist richtig. Und darauf kommt es in der Debatte an. Denn zumindest in dieser Hinsicht hat Jan Fleischhauer schon einen Punkt getroffen: Über sehr lange Zeit wurde die Berichterstattung über Flüchtlinge von Kinderbildern dominiert. Das weckt Emotionen und ist an sich nicht zu beanstanden. Für die Debatte müssen aber die Fakten benannt werden.

Ich finde alles gut, was diese Debatte sachlich voranbringt. Daher besten Dank für Ihren Beitrag

Es müssten „die Fakten benannt werden“, schreibt Palmer. Also gut.

Sein Hauptgegenargument sind die Flüchtlinge vom Balkan. Er schreibt:

Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer.

Das wollten wir überprüfen und haben das BAMF gebeten, uns die Zahlen aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Herkunftsländern zuzuschicken. Antwort:

(…) leider haben wir keine Altersgruppen nach Herkunftsländern. Ich kann Ihnen also leider nicht weiterhelfen.

Wo also hat Palmer die BAMF-Zahl her, wenn nicht mal das BAMF sie hat? Wir haben ihn gefragt. Geantwortet hat er nicht. Sie dürfte also ebenfalls erfunden eine Schätzung sein.

Gestern hat Palmer übrigens einen Gastbeitrag für die „FAZ“ geschrieben, in dem er unter anderem – das BAMF kritisiert:

Fortsetzung: hier.

Ein Wendt für alle Fälle

Wenn deutsche Medien ein knackiges Zitat zur Polizeiarbeit, zu Sicherheits- oder Rechtsfragen brauchen, gibt es eine Universalwunderwaffe: Rainer Wendt. Wendt ist Bundesvorsitzender der “Deutschen Polizeigewerkschaft”. Und in dieser Position immer für ein Interview zu haben — Thema im Grunde egal.

Heftiger Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern bei “Stuttgart21”? Wendt: “Polizeiliche Einsatzmittel müssen Waffen sein, die weh tun, nur dann wirken sie.”

Krawalle in Fußballstadien? Wendt: “Die Stehplätze gehören abgeschafft, die Zäune erhöht, und bei jeder Ausschreitung sollten für den Verein 100.000 Euro fällig werden.” Und: “Wem strenge Leibesvisitationen nicht passen, der soll vor dem Stadion bleiben müssen.”

Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz, die Polizei solle Kontrollen nicht nach Hautfarbe durchführen? Wendt: “Man sieht wieder einmal, die Gerichte machen schöngeistige Rechtspflege, aber richten sich nicht an der Praxis aus.”

Law-and-Order-Verfechter Wendt lärmt zu jedem Thema. Friederike Haupt schrieb schon 2013 in der “FAS”:

Wenn Wendt braungebrannt aus dem Marokko-Urlaub zurück in sein Büro kommt, schmeißt er gleich am ersten Tag die Werbemaschine wieder an. Alle sollen wissen: Der Wendt ist zurück. Darum ruft er zum Beispiel einen Journalisten an und sagt: “Soll’n wir mal ‘ne schöne Geschichte machen?” Wendt fordert dann höhere Strafen für die Bösen oder mehr Personal für die Guten, und der Journalist hat eine Exklusiv-Story: “Und hinterher sind alle zufrieden.”

Rainer Wendts aktuelles Themenfeld: Die Flüchtlinge und alles, was dazu gehört. Da hat er schon ganz beachtlich Schlagzeilen gesammelt:


(Bild.de; interessant auch, wie Wendt in einigen Medien zum Synonym für die Polizeit wird.)

(Bild.de)

(“Focus Online”)

(“Bayernkurier”)

Bei seinem neuesten Schmu Coup half ihm Welt.de:

Abgelegt ist das Interview unter:

Und das ist tatsächlich eine der Kernaussagen Wendts: Die Flüchtlingskrise sorge für mehr Gefahren im Straßenverkehr, bis hin zu mehr Verkehrstoten:

Die Welt: Bleiben auch hoheitliche Aufgaben der Polizei wegen der Flüchtlingskrise schlicht liegen?

Wendt: Eine der Aufgaben, die wir derzeit vernachlässigen müssen, ist die Verkehrsüberwachung. Sie ist teilweise völlig zum Erliegen gekommen. Wir mussten wegen der Einsatzbelastung im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise den Blitzmarathon in diesem Jahr ausfallen lassen, die Planungen für den Blitzmarathon im nächsten Jahr liegen auf Eis. Da fehlt uns ein ganz wichtiges Instrument zur Unfallprävention. In allen Bundesländern wird die Verkehrsüberwachung drastisch zurückgefahren — mit fatalen Folgen. Wir stellen bereits jetzt fest, dass wir das deutsche Ziel, bis 2020 die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent zu senken, klar verfehlen. Wir sind jetzt erst bei 16 Prozent. Die Zahl der Unfalltoten steigt sogar wieder.

Logisch: Wenn man weiß, dass ein Großteil der Polizisten mit “der Flüchtlingskrise” beschäftigt ist, knattert man direkt mit 90 km/h durch die Tempo-30-Zone. Und dann fällt auch noch der Blitzmarathon aus — Raser’s Paradise.

Wendts Gleichung fanden andere Medien logisch und zogen nach:


(“RP Online”)

(“Focus Online”)

(Krone.at)

(“Yahoo News”)

Walter Bau von der “Berliner Morgenpost” fand die These hingegen merkwürdig. Er kommentiert:

Was Polizeigewerkschafter Wendt nicht sagt: Im ersten Halbjahr 2015 hielt sich der Zustrom an Flüchtlingen noch in Grenzen, verglichen mit den Zahlen seit Juli. Die brisante Lage an den Grenzen, die die Polizei vor allem beschäftigt, entstand erst im Sommer. Und zu glauben, die Autofahrer würden gezielt schneller und riskanter fahren, weil sie darauf spekulierten, es gebe gerade weniger Radarfallen, ist realitätsfern. Wendt schürt Ängste zur eigenen Profilierung.

Und “t-online” hat beim “Statistischen Bundesamt” nachgefragt, ob Wendts These plausibel sei. Die Erkenntnis:

Nach einer Mitteilung des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Verkehrstoten im August im Vergleich zum selben Monat des Vorjahres tatsächlich angestiegen (um 18,4 Prozent von 293 auf 335). Allerdings haben die Statistiker dafür eine andere Erklärung als Wendt: “Im vergangenen Jahr war das Wetter im August extrem schlecht. Dann sind die ungeschützten Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Zweiradfahrer eher weniger unterwegs”, erläutert Gerhard Kraski vom Statistischen Bundesamt gegenüber t-online.de. Deswegen, so Kraski, sei es wahrscheinlich zu dem Anstieg in diesem Jahr gekommen.

Trotzdem: Die Medien werden Rainer Wendt weiter fleißig zitieren und in Talkshows einladen. Heute Abend sitzt er im “Ersten” bei “Hart aber fair”. Thema: Flüchtlingskrise. Er wird sich ganz bestimmt knackige Sprüche zurechgelegt haben.

Mit Dank an Webwatch und Ben B.

Der DFB-Außenverteidiger

Die Enthüllungen des “Spiegel” rund um die Vergabe der Fußball-WM 2006 sind längst auch ein Medienthema. Es entstehen Grabenkämpfe zwischen Redaktionen, gegenseitige Schuld- und Schlampigkeitszuweisungen.

Dazu schreibt Holger Gertz in einer tollen “Seite Drei” (kostenpflichtig) der “Süddeutschen Zeitung”:

Es geht darum, wer die Deutungshoheit hat über das Phänomen Fußball: diejenigen, die den Fußball lieben und ihn romantisch verklären und rein halten wollen. Oder diejenigen, die den Fußball lieben und ihn ernst nehmen und gerade deshalb den Helden nichts durchgehen lassen wollen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Helden in ihrem späteren Leben Teil jener Bonzenkaste werden, die den Fußball inzwischen beherrscht und aussaugt und lenkt.

Gruppe eins steht Alfred Draxler vor. Der Chefredakteur der “Sport Bild” und Kolumnist der “Bild”-Zeitung legt sich mächtig ins Zeug für “unser Sommermärchen” und seine alten Kumpels Franz Beckenbauer und Wolfgang Niersbach. Der “Spiegel”-Artikel sei “unprofessionel, unsachlich”, “einfach unmöglich”, sagte er in der “Sport1”-Fußballtalkrunde “Doppelpass”. An den Vorwürfen sei nichts dran, schließlich habe ihm Franz Beckenbauer gesagt, dass da nichts dran sei.

In der aktuellen Ausgabe der “Sport Bild” zünden Draxler und seine Redaktion die nächste Nebelkerze zugunsten des DFB:

“Dieser Brief” stammt von Charles Dempsey, der im Juli 2000 als Mitgleid des FIFA-Exekutivkomitees über die Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 abstimmen durfte. Dempsey enthielt sich im letzten Wahlgang, dadurch siegte die deutsche Bewerbung mit 12:11 Stimmen.

Nicht zuletzt durch eine später bekannt gewordene Aktion der “Titanic” hieß es immer wieder, Dempseys (nicht abgegebene) Stimme sei gekauft gewesen. Die “Sport Bild” hat nun einen Brief herausgekramt, aus dem hervorgeht, dass der Neuseeländer dem DFB einst zusicherte, “für Deutschland zu stimmen”. Das lässt Draxler und sein Team titeln:

Bloß: Das hat rein gar nichts mit den aktuellen Anschuldigungen des “Spiegel” zu tun. Das Magazin sprach von Anfang an vom Kauf der Stimmen der vier asiatischen Delegierten, Charles Dempsey saß als Vertreter Ozeaniens im Exekutivkomitee. Auch diese Desinformation gehört zu Alfred Draxlers derzeitiger Taktik.

Holger Gertz schreibt in der “Süddeutschen” über ihn:

Draxler ist imstande, den Ausdruck Indizienkette so angewidert auszusprechen, als wäre eine Indizienkette die Vorstufe einer Gürtelrose. Er ist spürbar ein Herr fürs Gröbste unter lauter Männern fürs Grobe. Bei Jauch hat er mal erzählt, dass man in seiner Redaktion zum Beispiel nicht über einen großen deutschen Nationalspieler mit Alzheimer berichten würde. Das war ein einigermaßen vergiftetes Beispiel für Diskretion, weil er ein Thema in den Raum gestellt hatte, von dem die Masse draußen am Fernseher gar nichts gewusst hätte.

Und “Spiegel”-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer kommentiert im aktuellen Heft:

Jeder, der Mitglied der Clique ist, profitiert davon, und jeder, der das System hinterfragt, gilt als Feind und wird abgestoßen. In anderen Welten, beispielsweise in der Politik, wäre Joseph Blatter unwählbar und Wolfgang Niersbach nicht gut genug, und Herren wie Alfred Draxler, Chefredakteur von “Sport Bild” und zugleich Franz Beckenbauers Förderer und Schützling, oder auch Helmut Markwort, “Focus”-Herausgeber und bis ins hohe Alter Verwaltungsbeirat des FC Bayern, würden dort als Fans und Handlanger der Regierenden entlarvt werden.

Wie weitreichend Draxler als “Handlanger der Regierenden” eingesprungen ist, zeigt eine Passage im “Spiegel Online”-Interview mit Hans-Jörg Metz, dem Anwalt von Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger. (Wobei man natürlich beachten muss, dass Theo Zwanziger in diesem Zusammenhang gewichtige Interessen hat.)

SPIEGEL: Ihrem Mandanten wird jetzt vorgeworfen, er wolle sich an einem Intimfeind rächen, DFB-Präsident Wolfgang Niersbach.

Metz: Um Rache geht es doch überhaupt nicht. Ich kenne Theo Zwanziger seit vielen Jahren und arbeite gut mit ihm zusammen; Rache, das passt nicht in seine Vorstellungswelt. Die Meinungsverschiedenheiten, die er mit Niersbach hatte, hat er immer offen ausgetragen und sich damit der Diskussion gestellt. Er hat allen Beteiligten bis zuletzt immer wieder Gesprächsangebote gemacht. Herrn Niersbach sogar über den Chef der Sport-Bild, Alfred Draxler, der bekanntermaßen mit Herrn Niersbach und Herrn Beckenbauer vertraut ist.

SPIEGEL: Über Herrn Draxler?

Metz: Ja. Herr Draxler fühlte sich am 19. Februar 2015 veranlasst, Herrn Zwanziger per SMS seine “private” Meinung zur Auseinandersetzung mit Herrn Niersbach in drastischen Worten mitzuteilen. Herr Zwanziger hatte dann in seiner Antwort angeboten, die Sache mit beiden in einem gemeinsamen Gespräch zu erörtern. Eine Antwort hierauf hat er nie erhalten.

Draxler reagierte bei Twitter auf Metz’ Aussagen:

Keine Frage: Alfred Draxler kann an wen auch immer so viele SMS schreiben, wie er mag. Die Posse zeigt aber, dass er ganz und gar nicht zum neutralen Aufklärer rund um die WM-Vergabe taugt. Auch wenn er das selbst, einem knapp ein Jahr alten Interview mit “Meedia” zufolge, etwas anders sehen dürfte:

Sie selbst sind jemand, der sich dazu bekennt, engen Kontakt zu einigen Akteuren und Protagonisten zu pflegen. Wann hat Sie zu viel Nähe oder gar Freundschaft mal in Ihrer journalistischen Arbeit behindert?
Eigentlich gar nicht. Und das Wort Freundschaft ist reichlich hoch gegriffen.

Nach seiner “Nachgehakt”-“Enthüllung”, dass das Sommermärchen “nicht gekauft” gewesen sei, hat sich Draxler in den letzten Tagen etwas zurückgehalten. Gestern aber, als er dachte, er könne einen Punkt machen, twitterte es aus ihm heraus:

Das Problem dabei: “Spiegel Online” nutzt Sepp Blatter in dem Artikel gar nicht als Kronzeugen. Vielmehr distanziert sich die Redaktion vom gesperrten FIFA-Präsidenten:

Nun meldete sich Joseph Blatter zu Wort: “Ich habe niemals Geld von Beckenbauer verlangt. Nie im Leben. Auch nicht vom DFB. Das stimmt einfach nicht”, sagte der derzeit suspendierte Chef des Fußball-Weltverbandes der Zeitung “Schweiz am Sonntag”. Blatters Verteidigung verwundert etwas, da weder Niersbach noch Beckenbauer jemals öffentlich behauptet hatten, Blatter selbst habe die Millionenforderung gestellt.

Doch solche Details lässt Alfred Draxler auf seinem Verteidigungsfeldzug einfach unter den Tisch fallen. Die Welt soll glauben, dass die WM nicht gekauft war. Punkt. Er nutzt seine publizistische Macht, um die Leser von dieser Version zu überzeugen, und vermutlich merkt er nicht einmal, was für eine peinliche Figur er dabei macht.

Alien-Zivilisation, Lokaljournalismus, hier privat unterwegs

1. Der geheimnisvolle Stern KIC 8462852 und die angebliche Alien-Superzivilisation
(scienceblogs.de, Florian Freistetter)
Ungewöhnliche Schwankungen in der sogenannten Lichtkurve des Sterns KIC 8462852 verwirren einige Medien. Die Kurve zeigt, wie viel Licht uns von anderen Sternen erreicht, dient in diesem Fall aber überforderten Journalisten dazu, die Ankunft von Außerirdischen herbeizufabulieren. Florian Freistetter bringt etwas mehr Licht ins Dunkel.

2. Was Times Too Soft on Scientist Found Guilty of Sexual Harassment?
(publiceditor.blogs.nytimes.com, Margaret Sullivan, englisch)
In einem offenen Brief haben über 250 Wissenschaftler einen Text der „New York Times“ kritisiert: Der Artikel – ein Stück über einen Professor, der jahrelang Studentinnen sexuell belästigt hat – zeige eher Mitleid mit dem Täter als mit den Opfern und fokussiere seine Entschuldigungen und Ausreden statt seine Vergehen. Public Editor Margaret Sullivan geht den Vorwürfen nach und findet: Die Kritiker haben Recht, “the focus in this initial article was off. If The Times continues reporting on the larger topic (a worthy one), there should be no further emphasis on the ‘troubles’ of harassers.”

3. Das Primat des Weglassens
(operation-harakiri.de, Ralf Heimann)
Auf Joachim Widmanns zehn Gebote des Lokaljournalismus antwortet Ralf Heimann in einem nachdenklichen Text, der Widmann zwar zustimmt, aber auch genau die praktischen Probleme in Lokalredaktionen zeigt, die übrig bleiben, wenn die durchdeklinierten Zehn-Punkte-Formeln mal wieder ausgesprochen und verpufft sind. “Da kann man dem Redakteur dann raten: Sei kritisch! Sei offen! Sei flexibel! Aber ohne die Rückendeckung des Arbeitgebers wird er doch nur der Trottel bleiben, der gegen Ende der Woche anruft, um noch mal nachzuhaken.”

4. Raiders of the Lost Web
(theatlantic.com, Adrienne LaFrance, englisch)
Das Netzt vergisst nichts? Manchmal schon. Adrienne LaFrance schreibt über ein 34-teiliges Onlinefeature, das einst für den Pulitzer-Preis nominiert war und inzwischen nicht mehr im Internet zu finden ist. LaFrance meint: “If a sprawling Pulitzer Prize-nominated feature in one of the nation’s oldest newspapers can disappear from the web, anything can.” Bei digg.com beantwortet sie Leserfragen zu ihrer Recherche.

5. Über die Absurdität von “Ist hier privat unterwegs” in sozialen Netzwerken
(basicthinking.de, Frank Krause)
Ein beliebter Satz in der Twitter-Bio von Journalisten lautet: “Ist privat hier”. Teilweise raten Medien ihren Mitarbeiter sogar zu solchen Phrasen, etwa die “Blick”-Gruppe oder der MDR. Frank Krause meint dazu: “Wenn ich Mist baue, kann ich mich trotzdem nicht dahinter verstecken. Wenn ich etwa in meinem Social-Media-Profil angebe für eine Firma zu arbeiten, werde ich im Zweifel trotzdem daran bemessen.”

6. Hamann: “Eine neue Geschichte werde ich im Internet nicht finden”
(derstandard.at, Sibylle Hamann)
Zur Magisterverleihung am Wiener “Institut für Journalismus und Medienmanagement” hält Sibylle Hamann eine Rede zur Situation des Journalismus. Dort gehe es zu wie in einem Bienenstock: Verlockendes Industriezuckerwasser stehe den Bienen bei der Arbeit im Weg, aufgrund strukturerhaltender Maßnahmen würden sie gar nicht mehr aus ihrem Stock kommen und die Wiesen, auf denen es die schönen Blumen gibt, seien dadurch verwaist. Und das kann, so Hamann, den jungen Journalisten Mut machen: “Denn eine leere Wiese — wie geil ist das denn!”

Sind Medienberichte über Selbstmord gefährlich?

Im vergangenen Jahr fragte “Focus Online”:

… und erklärte:

Der Deutsche Presserat hat vor vielen Jahren eine (…) ethische Empfehlung beschlossen. Sinngemäß wird in dieser Empfehlung vorgeschlagen, weitgehend auf die Berichterstattung [über Suizide] zu verzichten. Zumindest nicht ausgebreitet und im Einzelnen bezogen auf die Person. (…)

Die ethische Selbstbeschränkung erwuchs aus der Angst vor einem Nachahmeffekt. Kurz gesagt: Berichterstattung würde andere zum Selbstmord anstiften.

Der “Focus Online”-“Experte” hat an dieser These so seine Zweifel. Viel näher geht er aber nicht darauf ein und lässt die Frage in der Überschrift unbeantwortet. Er will sich auch gar nicht damit befassen, denn:

Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Diskussion, ob es einen Nachahmeffekt gibt oder nicht. Ich halte eine solche Diskussion grundsätzlich für überflüssig, zumal sich Suizid heutzutage, vor allem im Bereich Social Media, bereits öffentlich abspielt oder dort inszeniert wird.

Ahso.

Man kann lange über ethische Selbstbeschränkung reden oder nicht. Die Fakten sprechen eine eigene Sprache.

In der Tat.

Mitte der 70er-Jahre wies der amerikanische Soziologe David Phillips nach, dass immer, wenn die „New York Times“ prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde deutlich anstieg. Je länger und prominenter über den Suizid berichtet wurde, desto größer war der folgende Anstieg. Phillips erkannte auch örtliche Zusammenhänge: Wenn beispielsweise ein Selbstmord nur in New York groß auf der Titelseite behandelt wurde, nicht aber in Chicago, stieg die Zahl der Selbstmorde in New York stärker als in Chicago. Während eines neunmonatigen Zeitungsstreiks in Detroit sank die Zahl der Selbstmorde dort signifikant.

Anfang der 80er zeigte das ZDF die (fiktive) Serie „Tod eines Schülers“, in dem sich ein Jugendlicher das Leben nimmt. Hinterher nahm die Zahl ähnlicher Suizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Selbst bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.

Auch nach dem Suizid von Fußballer Robert Enke, über den deutsche Medien sehr detailliert berichtet hatten, stieg die Zahl ähnlicher Suizide deutlich an — in den ersten zwei Wochen um 138 Prozent. Die Forscher beobachteten auch längerfristige Folgen: Im Vergleich zu den zwei Jahren vor Enkes Tod stieg die Zahl ähnlicher Selbstmorde in den zwei Jahren danach um 19 Prozent.

Auch in Japan haben Wissenschaftler einen solchen Nachahmeffekt nachgewiesen. Und in Österreich. Und in Großbritannien. Und in Korea. Und in Taiwan. Und in Australien. Und in der Schweiz. Nur wenige Beispiele von unzähligen Studien, die belegen, dass Medien die Zahl der Selbstmorde in die Höhe treiben. Oder wie der australische Psychiater Robert D. Goldney‌ schon vor 25 Jahren feststellte:

Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen. Eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen.

“Focus Online” ist das egal.

“Focus Online” berichtet über Suizide wie über alles andere: durch und durch getrieben von der Gier nach Klicks. Nach dem Suizid von Schauspieler Robin Williams veröffentlichte das Portal allein in den ersten vier Tagen über 70 Artikel und erklärte unter anderem detailliert, wie sich der Schauspieler das Leben genommen hatte. Auch der Selbstmord von Ben Wettervogel zog ein regelrechtes Artikelfeuerwerk nach sich; “Focus Online” beschrieb die genaue Suizidmethode, spekulierte über die Motive, brachte immer wieder “neue Details zu seinem Tod”. Und selbst Nicht-Prominente werden nicht verschont: Erst vor drei Wochen rügte der Presserat das Portal öffentlich, weil es über den Suizid eines 13-jährigen Mädchens berichtet und die “geforderte Zurückhaltung” dabei “grob missachtet” hatte.

Wie Medien über Suizide berichten sollten, um Nachahmungstaten zu vermeiden:

  • Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
  • Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
  • Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
  • Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.

(Quelle: psychosoziale-gesundheit.net)

Diese Zurückhaltung ist das, was der “Focus Online”-“Experte” als “ethische Selbstbeschränkung” bezeichnet. Viele Institutionen — darunter die Weltgesundheitsorganisation, die Deutsche Depressionshilfe, die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention oder eben der Presserat — empfehlen Journalisten, weder prominent noch detailliert über Suizide zu berichten, um Nachahmungstaten zu vermeiden (siehe Kasten rechts).

Wie wirksam diese Zurückhaltung sein kann, zeigt ein Beispiel aus Österreich. Nach der Eröffnung der U-Bahn in Wien im Jahr 1978 kam es dort zu einem dramatischen Anstieg der Suizide und Suizidversuche, über die (vor allem in den Printmedien) intensiv und plakativ berichtet wurde. Gegen Ende der 80er-Jahre entwickelte der Österreichische Verein für Suizidprävention einige Richtlinien für Medien, die zum Beispiel nahelegten, keine Details zu nennen und nicht zu emotionalisieren, keine Fotos zu zeigen und nicht auf der Titelseite zu berichten. Nachdem die Redaktionen die Empfehlungen umgesetzt hatten, sank die Zahl der U-Bahn-Suizide um 75 Prozent.

Was bringt es den Lesern auch, wenn sie erfahren, wie genau sich jemand das Leben genommen hat? Oder an welchem Ort? Für das Verständnis des Geschehens sind diese Details völlig irrelevant.

“Focus Online” ist das egal.













Die Artikel sind die jüngsten Beispiele für den gedankenlosen Veröffentlichungswahn von “Focus Online”. Erneut nennt das Portal die genaue Suizidmethode der Frau, spekuliert über ihre Motive, zitiert aus ihrem angeblichen Abschiedsbrief und gibt sich auch sonst wieder jede Mühe, es Nachahmern möglichst einfach zu machen. Diskussionen? “Überflüssig”.

Und natürlich hat “Focus Online” auch kein Problem damit, die Artikel mit Eigenwerbung vollzuballern.

Oder hier:

Der Link führt übrigens zum “Focus Online”-Ratgeber “Den passenden Grabstein finden”.

Immerhin: Unter manchen Artikeln gibt “Focus Online” inzwischen die Nummer der Telefonseelsorge an. Hier zum Beispiel:

Leider ist “Focus Online” nicht das einzige Medium, das die Empfehlungen zur Nachahmungsprävention regelmäßig und mit großer Sorgfalt ignoriert. Auch seriösere Journalisten reihen sich ein, und natürlich die von “Bild”.

Auch die nutzen solche Artikel ohne große Hemmungen zum Geldverdienen:

Der Text handelt vom Suizid von Jim Carreys Ex-Freundin, der auch bei Bild.de ausführlichst vorkommt. Bild.de schreibt Dinge wie …

… und …

… und …

… und nennt dermaßen viele Details, dass Nachahmer kein Problem hätten, den Selbstmord haargenau zu kopieren.

Und dann schreibt Bild.de unter den Artikeln:

Der erste Satz ist ein bisschen umständlich formuliert. Was die „Bild“-Leute eigentlich sagen wollen:

Wenn die Umstände eines Suizids eine gute Schlagzeile abgeben, schenken wir ihm besondere Aufmerksamkeit. Dann zitieren wir aus Abschiedsbriefen, dann spekulieren wir über die Motive und erklären in aller Ausführlichkeit die Suizidmethode. Und die Sache mit der Nachahmung, tja. Manchmal muss man sich eben zwischen Klicks und Menschenleben entscheiden.

Mit Dank auch an Lukas H. und Nicolas K.

Siehe auch:
Schreiben wir über Suizid!
Über Enke und Werther
Wenn Schlagzeilen Menschenleben kosten
Mick Werup
Wie man den Werther-Effekt ignoriert

Medien sprechen Reisewarnung für Ostdeutschland aus

Große Aufregung in der vergangenen Woche:

Die Regierung in Kanada hat eine Reisewarnung für Ostdeutschland herausgegeben. Darin ist die Rede von extremistischen Jugendbanden, die in Teilen Ostdeutschlands eine Bedrohung darstellten. Mitglieder solcher Gangs seien bekannt dafür, Personen wegen ihrer Rasse oder ihres ausländischen Aussehens zu belästigen oder direkt zu attackieren. Auch habe es schon Brandanschläge auf parkende Fahrzeuge gegeben.

Die „Warnung aus Kanada konkret für Ostdeutschland“ komme „nicht von ungefähr“, schreibt das „Handelsblatt“: “Die ausländerfeindliche Pegida-Bewegung verzeichnet in Dresden in Sachsen weiter Zulauf.”

Darauf habe die kanadische Regierung also reagiert. Und das schmeckt den hiesigen Politikern so gar nicht.

Die Sachsen-CDU reagiert empört auf die Reisewarnung. „Das entspricht nicht der Realität und ist extrem rufschädigend“, sagte der Generalsekretär der sächsischen CDU und Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer, dem Handelsblatt. „Deutschland muss dieser Beurteilung entschieden entgegen treten.“

Bevor Deutschland damit loslegt, würden wir ihm raten, sich ein bisschen besser zu informieren als das “Handelsblatt” oder der Herr Generalsekretär. Die Geschichte stimmt nämlich gar nicht.

Kanada hat keine Reisewarnung für Deutschland herausgegeben. Es gelten nach wie vor die „normalen Sicherheitsvorkehrungen“, also die niedrigste Sicherheitsstufe.

Auf der Internetseite der kanadischen Regierung gibt es lediglich einige Sicherheitshinweise für Deutschland. Da wird zum Beispiel vor Taschendieben „an Bahnhöfen, auf Flughäfen und Weihnachtsmärkten“ gewarnt. Oder davor, dass Demonstrationen ohne Vorwarnung in Gewalt umschlagen könnten. Oder eben vor extremistischen Jugendgruppen, die besonders „in einigen kleineren Städten und in Teilen des früheren Ostdeutschlands“ eine Bedrohung seien.

Das „Handelsblatt“ verdreht diesen Vermerk zu einer „Reisewarnung für Ostdeutschland“. Und erweckt den Eindruck, als reagiere die kanadische Regierung damit auf „Pegida“ & Co. – aber auch das ist falsch. Die Hinweise stehen nicht erst seit Neuestem auf der kanadischen Seite (wie auch ein Blick in die Wayback-Machine verraten hätte), sondern seit zehn Jahren.

Was sich vor dem Hintergrund der Angriffe auf Flüchtlingsheime vor allem im Osten der Republik wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung liest, stammt allerdings schon aus dem Jahr 2005.

schreibt „Zeit Online“, eines der wenigen Medien, die nicht einfach blind vom “Handelsblatt” abgeschrieben haben.

Nur ein Hinweis zu gestiegenen Flüchtlingszahlen in Europa sei am 28. September neu hinzugekommen, sagt die Sprecherin der kanadischen Botschaft in Berlin, Jennifer Broadbridge ZEIT ONLINE. Dadurch könne es zu Verspätungen an Grenzübergängen und Bahnhöfen kommen, steht in dem Absatz.

Anders gesagt: Das einzig Neue an den der Geschichte ist, dass die kanadische Regierung vor Verzögerungen im Zugverkehr warnt. Alles andere ist entweder falsch oder mindestens zehn Jahre alt.

Das muss jetzt nur noch jemand dem “Handelsblatt” erklären. Und der “Thüringer Allgemeinen”:

Und “Spiegel Online”:

Und stern.de:

Und der “tz”:

Und der “Huffington Post”:

Und den vielen, vielen anderen.

Immerhin: Es gibt noch eine Handvoll Journalisten, die erkannt haben, dass das alles Unsinn ist. Bernhard Honnigfort etwa schreibt auf der Onlineseite der „Frankfurter Rundschau“:

Tatsache ist, Kanada hat nicht vor Reisen nach Ostdeutschland gewarnt, sondern bittet seine Landsleute nur darum, aufzupassen und wachsam zu sein.

Und:

Natürlich ist das lange bekannt und der kanadische Warnhinweis ist nicht neu, sondern nur aktualisiert.

Natürlich. Und dass er das Märchen zuvor selbst ganz empört verbreitet hatte, sowohl in der “FR”

… als auch in der „Berliner Zeitung“

… im „Express“

… im „Berliner Kurier“

… und in der „Mopo“

… das erwähnt Honnigfort – natürlich – nicht.

Bei “Focus Online”, wo ebenfalls eindringlich über den Fall berichtet wird …

… haben sie sich nicht bloß auf die falschen Fakten der Kollegen verlassen, sondern selbst welche erfunden. Das Portal schreibt:

Auch vor in Brand gesteckten geparkten Autos wird gewarnt – das betreffe vor allem Berlin.

Berlin wird in den Hinweisen an keiner Stelle erwähnt.

So zieht die Geschichte munter ihre Kreise und wird mit jedem Mal ein bisschen weniger wahr.

Man will sich gar nicht vorstellen, was die kanadische Botschaft inzwischen denkt. Auf Anfrage gibt sie sich aber, klar: diplomatisch. Dem Evangelischen Pressedienst sagte die Sprecherin, man könne die ganze Aufregung zwar nicht nachvollziehen, jedoch würde die Ostdeutschland-Passage „angesichts der aktuellen Debatte” nun “geprüft und möglicherweise in den kommenden Tagen geändert“.

In den Sicherheitshinweisen schreibt die Regierung übrigens, dass man, wenn man in Deutschland unterwegs sei, „die lokalen Medien verfolgen“ solle. Auch ein Ratschlag, über den man mal nachdenken könnte.

Mit Dank an Holger S.

In nur vier Stunden vom Obdachlosen zum Perser

Helge Schneider hat für seine Zivilcourage mal ordentlich Prügel kassiert. Das hat er vergangenen Woche in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” (mit Bezahlschranke) erzählt:

Aber viele Künstler sind sehr verliebt in die Regel: Die Politik ist hilflos, wir müssen jetzt ran.

Wenn einem etwas direkt im Alltag begegnet, muss man schon ran. Das nennt man Zivilcourage, hab’ ich auch schon mal gemacht.

Was war passiert?

Das waren zwei Typen, die wollten einen Perser verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen. Der konnte wegrennen. Dann hab’ ich das abgekriegt.

Wurden Sie verletzt?

Es hielt sich im Rahmen. Ich hatte den Kiefer angebrochen. […]

Schneider, Schlägerei, angebrochener Kiefer — klar, dass das auch andere Medien aufgreifen. Zum Beispiel “Spiegel Online”

… oder stern.de

… oder welt.de:

Und auch “Focus Online”. Doch dort klingt die Geschichte schon in der Überschrift etwas anders:

Und Helge Schneider erzählt auf einmal eine ganz neue Version des Vorfalls:

“Das waren zwei Typen, die wollten einen Penner verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen”, erzählte der Komiker und Musiker der “Süddeutschen Zeitung” vom Samstag.

Bei morgenpost.de ist ebenfalls von einem “Penner” die Rede.

Der Protagonistenwechsel dürfte durch eine fehlerhafte dpa-Meldung entstanden sein. Die Nachrichtenagentur hatte am Samstagmittag den “Penner” ins Spiel gebracht und erst vier Stunden später eine Korrektur verschickt, mit dem Hinweis: “Berichtigung: Wort im zweiten Satz berichtigt”.

Das interessierte offenbar weder “Focus Online” noch morgenpost.de: Ihre falschen Artikel veröffentlichten beide Redaktionen erst, als die dpa-Korrektur schon Stunden raus war.

Dass ein Medium durchaus auf Agentur-Berichtigungen reagieren — und das auch noch der Leserschaft transparent präsentieren — kann, beweist diepresse.com:

Anmerkung der Redaktion: Quelle dieses Artikels ist die Nachrichtenagentur DPA. Diese hat in einer ersten Meldung von einem “Penner” geschrieben, später allerdings auf “Perser” korrigiert. Wir bedauern den Irrtum.

Mit Dank an Hansi!

Ein Stürmer in Gerüchteabwehr

Vergangene Woche wurde der HSV-Fußballer Artjoms Rudnevs bei einem Streit mit seiner Frau verletzt. Es hieß, sie habe ihm in die Zunge gebissen.

Viele Medien stürzten sich mit fröhlicher Empörung auf die Story um die „höchst pikante Verletzung“ (Bild.de), schrieben Sätze wie “Erst verlor er seinen Torriecher und nun fast seine Zunge” (welt.de) und waren sich schnell einig, dass dem Vorfall ein „bizarrer Ehe-Streit“ (“Focus Online”) zugrunde liegen müsse. Doch weil sich der Fußballer zunächst nicht äußerte, oder wie Bild.de es formulierte:

… malten sich die Journalisten die Hintergründe kurzerhand selbst aus.

Die „Hamburger Morgenpost“ brachte nach investigativer Recherche bei “engen Vertrauten” “krankhafte Eifersucht” ins Spiel, „Bild“ vermutete irgendeine peinliche Geschichte (schließlich wollte Rudnevs ja partout nichts dazu sagen und habe sich im Krankenhaus sogar “unter falschem Namen behandeln” lassen) und zitierte einen „Mental-Coach“, der dem Ehepaar zu einem „professionellen Coaching“ riet.

Der “Social-TV-Sender” joiz (der Rudnevs’ Frau Santa konsequent „Santana“ nennt) machte sich einen besonderen Spaß aus der Sache und lieferte am Freitag „fünf Theorien, wie es zu diesem ‘Streit-Zungen-Ungeschick’ gekommen sein könnte“:

Die Privatsphäre des Fußballers wurde zur lustigen medialen Spekulationsspielwiese. Wer hat noch nicht, wer will noch mal?

Artjoms Rudnevs selbst hat gestern auf der HSV-Seite eine Erklärung abgegeben:

Meine Damen und Herren, liebe Fans, 
 
in den letzten Tagen haben Medien viele falsche und leider auch schädliche Informationen über mich und meine Familie verbreitet. Hinter der ganzen Angelegenheit steckt eine sehr persönliche familiäre Tragödie, die bis zu diesem Zeitpunkt von keinem in Zusammenhang mit diesem Vorfall erwähnt worden ist. Daher wollte ich hiermit einiges aufklären, denn die Angelegenheit wurde bislang nur auf Grundlage von Spekulationen dargestellt, die die Familie Rudņevs in einem sehr schädlichen Licht erscheinen lassen. Die mir nahestehenden Familienmitglieder durchleben gerade sehr schwere Zeiten. 
 
Meine Frau Santa und ich hatten die Geburt unseres dritten Kindes erwartet. Am Samstag, den 29. August 2015, wenige Tage vor dem beschriebenen Vorfall auf einer der Straßen Hamburgs, erlitt meine Frau Santa eine Fehlgeburt. Keine Tragödie im Leben einer Frau kann mit dem Tod des eigenen Kindes auch nur annähernd verglichen werden. 
 
Meine Frau Santa kann dies nur schwer verarbeiten, wie übrigens jede andere Mutter nach einem derart dramatischen Erlebnis. Am unglückseligen Abend in Hamburg hat meine Frau daher zwischenzeitlich aufgehört rational zu denken und wurde hysterisch, weil sie zutiefst bestürzt über den Verlust unseres Kindes war.

Ich mache meiner Frau keinerlei Vorwürfe, für das was passiert ist. Wir sind seit elf Jahren zusammen und seit sechs Jahren sind wir ein sehr glückliches Ehepaar, niemals hatten wir Ehekrach und es gab nie Gewalt in unserer Ehe. Das was passiert ist, ist die für viele schwer nachvollziehbare Reaktion einer Mutter nach dem Tod ihres Kindes. Ich habe keinerlei Absicht, meiner Frau Vorwürfe zu machen. Unsere Familie wird zusammenhalten, vor allem in diesen schwierigen Zeiten.

Angesichts der oben genannten Tatsachen bestreite ich vehement Unterstellungen, wonach der Grund für die besagte Meinungsverschiedenheit eine Affäre mit einer anderen Frau gewesen sein soll, wie fälschlicherweise von Medien berichtet. Laut dem Verfasser eines Artikels soll ich zum Zeitpunkt des Vorfalls in Anwesenheit einer angeblichen Liebhaberin gewesen sein. Dies ist absolut erdacht und erlogen. Die besagte Frau, die uns an diesem Abend begleitet hat, war die Tante von Santa, die einige Tage vorher zu Besuch kam, um uns bei der Betreuung unserer zwei Kinder zu helfen, während wir nach dem tragischen Verlust unseres Kindes zu uns kommen wollten.

Es ist zudem unwahr, dass ich nach dem Einliefern ins Krankenhaus, angeblich unter falschem Namen registriert worden sein soll.

Körperlich geht es mir von Tag zu Tag immer besser. Der Schmerz der Zunge schwindet langsam und stört immer weniger beim Verzehr von normaler Nahrung und beim Sprechen. Laut den Ärzten werde ich zudem bereits nächste Woche das Training wieder aufnehmen können. Ich kann jetzt nicht detailliert sagen, an welchem Tag dies passieren wird. Ich will meine Familie in diesen schwierigen Momenten unterstützen und Santa darin helfen, zur Normalität zurückkehren zu können. Ich liebe meine Familie über alles, und ich tue auch alles, damit alles wieder gut wird.

Darüber hinaus möchte ich allen Medienvertretern mitteilen, dass ich mich zu diesem Thema nicht mehr äußern werde. Ich werde keine Stellungnahmen mehr zu diesem Vorfall abgeben. Ich bitte mit Nachdruck darum, die Privatsphäre meiner Nächsten zu respektieren und zu wahren.

Artjoms Rudnevs mit seiner Familie

Man kann nur erahnen, wie schwer es dem 27-Jährigen und seiner Familie gefallen sein muss, diese Zeilen zu veröffentlichen und so viel von dem preiszugeben, was sie eigentlich schützen wollen. Aber offenbar ist selbst dieser Weg erträglicher, als die Spinnereien der Journalisten und Leser auszuhalten, die sich ihre Dramen zur Not einfach munter selbst ausdenken.

Über das Statement wird natürlich auch wieder berichtet, zum Beispiel so:

Die medienkritischen Passagen der Erklärung hat Bild.de aber lieber nicht erwähnt.

Mit Dank an Jonas K., @WobTikal, @max_migu, @maxro39 und @V_83.

Heidenau, Leserinnen, Youtuber

1. Was Medien aus #Heidenau lernen können
(marckrueger.tumblr.com, Marc Krüger)
Am Freitagabend eskalierte die rechtsradikale Gewalt in Heidenau. Bei Twitter war der Hashtag #Heidenau Trending Topic, in den klassischen Medien tauchte das Thema bis Samstag dagegen kaum auf. Ein Grund: Die Nachrichtenagenturen berichteten erst spätabends – und die sind für viele Journalisten auch im Jahr 2015 noch die wichtigste Quelle. Ist das noch zeitgemäß? Nein, glaubt Marc Krüger: “Agenturhörigkeit und das absolute Vertrauen in die Vollkommenheit der Texte sind mittlerweile ebenso fehl am (Nachrichten)Platz wie das Glorifizieren von Twitter als einzig wahre Quelle […] Nachrichten sind auch nicht nur dann wichtig, wenn Agenturen sie als ‘Eil’ kennzeichnen.”

2. Hereinspaziert, klicken und liken!
(medienwoche.ch, Ronnie Grob)
Im zweiten Teil der Serie über die Veränderungen des Journalismus durch das Internet macht sich Ronnie Grob Gedanken über die Finanzierung von Netzinhalten. Wer heutzutage Geld verdienen wolle, sei “dazu gezwungen, viele Leser zu vielen Interaktionen zu bringen, und das passiert nicht mit ausgewogenem, vernünftigem Journalismus. Sondern mit Emotionen, Sex, Kriminalität, Satire, Gerüchten, Überzeichnungen, Halb- und Unwahrheiten. Das Träumen von einer anderen Welt ist zwar nach wie vor erlaubt, doch die Realität des ‘Journalismus’ online sieht so schlimm aus wie Focus.de oder Huffingtonpost.de. Portale, die für einen Klick oder ein Like wohl auch ihre Großmutter verkaufen würden.”

3. Wenn sich Männer nicht mitgemeint fühlen
(blogs.taz.de, Lalon Sander)
Viele Medien verwenden ganz selbstverständlich das generische Maskulinum. Wenn sie von “Lesern” sprechen, sollen sich die Leserinnen natürlich mitgemeint fühlen. Aber was passiert, wenn man das Ganze umdreht? Lalon Sander hat das bei der “taz” ausprobiert und in einem Artikel über E-Mail-Verschlüsselung von Absenderinnen und Empfängerinnen geschrieben. Die Reaktionen der Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern zeigen: Drei Buchstaben können für ganz schön viel Empörung sorgen.

4. Letters: Mario Vargas Llosa Responds
(nytimes.com, Mario Vargas Llosa)
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa beschwert sich in einem Leserbrief, dass in einer Buchrezension der “New York Times” mehrere Falschinformationen über ihn stehen: Weder habe er einen Twitter-Account, noch exklusive Fotos über eine neue Liebesbeziehung an ein Magazin verkauft. “I am flabbergasted to learn that this kind of gossip can work its way into a respectable publication such as the Book Review.”

5. Nehmt Youtuber ernst!
(tagesspiegel.de, Tim Klimeš)
Tim Klimeš ärgert sich über die Häme und die “ablehnenden Anspannung”, mit der viele klassische Medien Youtubern begegnen. “Wenn ich mich nun an meinen Schreibtisch setze, einen Text schreibe, mit dem ich nicht einmal versuche zu verstehen, wie solche Videos erfolgreich werden können, wenn ich stattdessen einen Eimer Häme über dieser neuen Kultur ausküble, dann gewinne ich vielleicht ein paar Fans auf Twitter und werde in einem Branchendienst zitiert. Was ich verliere, ist die Glaubwürdigkeit bei denjenigen, die meine Berichterstattung in den nächsten Jahren noch für voll nehmen sollen.”

6. “vermutlich Rechte”
(twitter.com/morgenpost)
Dass sie achtsam mit Sprache umgehen, wird besonders von denen erwartet, die damit arbeiten. Wie zuvor bereits “Spiegel Online” mit der “Asylgegner”-Bezeichnung hat sich nun die Nachrichtenagentur dpa mit ihrer Überschrift “Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten” scharfe Kritik eingefangen. Dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger erklärt, warum der Text so verschickt wurde.

St. Pauli löscht RB-Leipzig-Logo – vor drei Monaten

Am kommenden Sonntag spielt der FC St. Pauli gegen den RB Leipzig, doch schon jetzt, kurz vor dem Spiel, …

… provozieren die Hamburger auf der Vereins-Homepage

(sueddeutsche.de)

… geht [St. Pauli] auf Attacke-Kurs

(Bild.de)

… haben [die Hamburger] das Duell auf ihrer offiziellen Klub-Homepage gestartet

(welt.de)

… probieren es [die Hamburger] mit Psycho-Tricks

(sportnet.at)

Denn:

St. Pauli löscht RB-Leipzig-Logo von Vereinsliste - Sonntag treffen RB Leipzig und der FC St. Pauli im Spitzenspiel der 2. Liga aufeinander. Die Hamburger haben das Duell schon jetzt gestartet. Auf der Klub-Homepage strich man das Logo des Brauseklubs.
St. Pauli verbannt Logo von RB Leipzig - Vor der Partie gegen RB Leipzig entfernt St. Pauli das Logo des Rivalen von der eigenen Homepage. Es ist den Hamburgern zu werblich.
Duell am Sonntag - Stunk vor Zweitliga-Kracher: St. Pauli zeigt das Logo von RB Leipzig nicht
RB Leipzig gegen St. Pauli: Provokation? Logo!

So und ähnlich heute zu lesen unter anderem bei der dpa, “Spiegel Online”, “RP Online”, “Focus Online”, stern.de, Bild.de, sport1.de, spox.com, sportal.de, auf den Seiten der “Welt”, der “Süddeutschen”, der “Abendzeitung”, der “Berliner Zeitung”, der “Leipziger Volkszeitung”, des “Express”, des “Hamburger Abendblatt”, der “Mopo”, der “FAZ”, also im Grunde überall.

Doof nur: Das Logo wurde nicht erst jetzt entfernt, wie alle glauben, sondern schon vor Monaten. Nach BILDblog-Informationen bereits im Mai.

Mit einem Blick in die “Wayback Machine”, in der frühere Versionen von Internetseiten gespeichert werden, hätten die Journalisten das auch ganz schnell selbst herausfinden können:

Datiert ist diese Version auf den 8. Juni 2015 — schon damals gab’s anstelle des RB-Logos nur einen „Leipzig“-Schriftzug.

In die Welt gesetzt wurde die Geschichte heute übrigens, klar, von der “Bild”-Zeitung:

St. Pauli entfernt Leipzig-Logo

Mit Dank an Ananyma.

Korrektur, 22.05 Uhr: Wir hatten zunächst geschrieben, das Logo sei vor fünf Monaten gelöscht worden. Das war Quatsch; richtig sind mindestens drei. Entschuldigung!

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