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Als Moslem sieht Mesut Özil schnell rot

Beim spanischen Supercup zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona am Donnerstag ging es (wieder einmal) hoch her: Unter anderem sahen David Villa und der deutsche Nationalspieler Mesut Özil die rote Karte, nachdem sie nach ihrer Auswechslung in einem großen Tumult aneinander geraten waren.

Özil hat sich zu den Ereignissen noch nicht groß geäußert. Das einzige Zitat, das seit Freitag die Runde macht, stammt von “Bild”:

Mesut Özil gestern zu BILD: “Ich bin unschuldig! Das kann man im Fernsehen sehen. Rangeleien sind nie auszuschließen, das ist dann pure Emotion. Und wenn Kollegen angegriffen werden, dann versuche ich zu helfen.”

Nur bei kicker.de wussten sie schon genau, was los gewesen war:

Supercopa-Rotsünder in der Liga nicht gesperrt - Özil: "Er hat meine Religion beleidigt"

Und weiter:

Warum ging der sonst eher besonnene Mesut Özil im Schlussakt des Supercopa-Endspiels beim FC Barcelona (2:3) so aus sich heraus und sah die Rote Karte? War es ein Schlag des ebenfalls vom Platz gestellten David Villa? Inzwischen hat der Spielmacher von Real Madrid das Rätsel gelöst. “Ich habe mich so verhalten, weil ich meine Religion verteidigen wollte. Er hat den Islam beleidigt”, so der Nationalspieler.

Das Webportal “questionhalal.com” zitiert den Ex-Bremer am Donnerstagabend. (…)

Nur: “gelöst” war damit gar nichts.

Wer auf questionhalal.com ging, konnte auch ohne größere Französischkenntnisse herausfinden, dass sich die Seite auf football.fr beruft — und zu Bedenken gibt:

Es gibt keine andere zuverlässige Quelle für die Richtigkeit dieser Informationen, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigt sind.

Inzwischen gibt es nicht mal mehr diese eine Quelle: In einem Nachtrag stellt questionhalal.com fest, dass der Ursprungsartikel bei football.fr offline genommen wurde. Einer Stellungnahme der Verantwortlichen von football.fr kann man entnehmen, dass es wohl zu “inakzeptablen Kommentaren” gekommen war und auch der Blogger, der das Gerücht über Villas Islam-Beleidigung in die Welt gesetzt hatte, sich nicht ordnungsgemäß verhalten hatte.

Aber weil sie diese Entwicklungen bei kicker.de nicht mehr verfolgt haben, behauptete die populäre Sportseite weiter, Mesut Özil habe so reagiert, weil David Villa dessen Religion beleidigt habe.

Nachdem wir bei kicker.de angefragt haben, ob man diese Art der Recherche und der Verkürzung dort für legitim halte (auch angesichts der Reichweite von kicker.de und des heiklen Themas), schrieb uns die Redaktion:

Wir werden den Quellen nochmal genauer nachgehen und das Thema redaktionsintern diskutieren.

Bis dahin haben wir uns entschlossen, den Beitrag aus dem Angebot zu nehmen.

Da war die Geschichte natürlich schon andernorts abgeschrieben worden.

sport1.de drehte die Irrsinnsspirale der Quellenangabe einfach weiter:

Mesut Özil hat eine Beleidigung von David Villa als Grund seines Ausrasters nach dem Supercup-Spiel gegen den FC Barcelona genannt. “Ich habe mich so verhalten, weil ich meine Religion verteidigen wollte. Er hat den Islam beleidigt”, so der Nationalspieler im “kicker”.

blick.ch bemühte sich noch ein wenig um Relativierung und schrieb von “verschiedensten Gerüchten”:

Aber was bringt den Deutsch-Türken bloss so auf die Palme? Auf verschiedenen Internetseiten wird Özil nun zitiert: “Ich habe dies getan um meine Religion zu verteidigen, weil David Villa den Islam beleidigt hat.” Ob dieses Zitat aus Özils Mund stammt, ist jedoch unklar.

Das freilich ficht die üblichen Islamhasser im Internet nicht an, die sich unabhängig jeder Faktenlage schon wieder in Rage geschrieben haben.

Das Zentralorgan für Moslemhasser, “Politically Incorrect”, schreibt:

Man stelle sich nur einmal vor, ein Christ oder Jude würde sich aufgrund seines Glaubens so aufführen. Die FIFA würde sich vermutlich einschalten und drastische Strafen aussprechen. Doch bei der “Religion des Friedens” sollten wir weiter fleißig Toleranz üben und Verständnis aufbringen…

Und “Nachrichten ohne Zensur” sekundiert:

Beim Abspielen der deutschen Nationalhymne erleben die Fans den Fußballsöldner Mehmet Özil schweigend und meistens mit seinen Gedanken abwesend. Dagegen rastet Özil aus, wenn es um die Religion des Friedens geht. In der Nachspielzeit des Supercups zwischen Real und Barca kam es zu Wild West Szenen, wobei auch Özil mit Handgreiflichkeiten nicht sparte und seinen Herausforderer David Villa attackierte, der angeblich den Islam beleidigte.

Wer hätte auch anderes erwartet, außer der DFB, schließlich sind die Heilsbringer für ihr hitziges Gemüt bekannt.

In den Leserkommentaren wird weiter gegen den Islam gehetzt, während bei Facebook Gruppen wie “Fuck you David Villa because you insulted religion of Mesut Ozil” gegründet werden.

Und so hat das ohnehin schon emotional aufgeladene Spiel zwischen Barcelona und Madrid völlig grundlos noch mehr Emotionen provoziert.

Mit Dank an Erik G.

Die Meute, Vampirismus, BlaBlaMeter

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Meute – Macht und Ohnmacht der Medien”
(youtube.com, Video, 88 Minuten)
Der sehenswerte Film “Die Meute” von Herlinde Koelbl über die Politiker und Journalisten in Berlin wird zehn Jahre alt, siehe dazu auch umblaetterer.de. Unter den vielen bekannten Gesichtern von Journalisten auch Kai Diekmann, Chefredakteur “Bild”: “Ich denke schon manchmal, dass wir aufpassen müssen, dass uns das Maß nicht verloren geht.”

2. “Konfliktsensitiv twittern”
(training.dw-world.de, Steffen Leidel)
Die Krawalle in Großbritannien bei Twitter: Steffen Leidel schreibt über “Falschmeldungen und Gerüchte, die sich via Re-Tweets wie ein Lauffeuer verbreiten und nach unzähligen Re-Tweets als Fakten gehandelt werden. So war unter dem hashtag #riot von brennenden Geschäften und abgefackelten Tankstellen zu lesen. Das Problem: die Infos stimmten schlicht nicht. Das bringt selbst Leute ins Grübeln, von denen man eher Jubelgesänge auf die neuen Technologien gewohnt ist.”

3. “Instant-Angst mit Schauderlust”
(sueddeutsche.de, Heribert Prantl)
Heribert Prantl konstatiert “einen deutschen Katastrophen-Vampirismus. Er nutzt Unglücke, Attentate und Verbrechen, die anderswo in der Welt passieren, um sie sogleich für die politische Debatte in Deutschland zu verwerten. Das ist nicht unbedingt immer verwerflich, aber rasend egozentrisch.”

4. Interview mit Oliver Stör
(basicthinking.de, Christian Wolf)
Oliver Stör hört mit dem Bloggen auf, nachdem er “innerhalb von weniger als einem Jahr dreimal anwaltliche Schreiben” erhalten hatte. “Bisher hat mich das Ganze etwa 1800 Euro gekostet. Die Forderung nach Schadenersatz ist aber noch offen. Da können nochmal über 1000 Euro dazukommen.”

5. “Internettool entlarvt Schwafeleien”
(wissen.dradio.de, Pascal Fischer, Audio, 8 Minuten)
Pascal Fischer redet mit Bernd Wurm, dem Programmierer des BlaBlaMeters. Höre dazu auch dieses Gespräch.

6. “Was ich während der Arbeit im Internet mache”
(graphitti-blog.de, katja)

Lomografie, Journalistenpreise, SPD

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Stoppt die Breivik-Soap!”
(zeit.de, Michael Schlieben)
Deutsche Medien machen den Norwegen-Attentäter zur Ikone, wenn sie jedes Detail seines Lebens ausbreiten, glaubt Michael Schlieben. “Man fühlt sich wie in einer Diashow mit Endlosschleife, die dem Mann eine Präsenz verschafft, wie er sie sich größer nicht wünschen konnte. Hinzu kommen Psychologisierungen, in denen von der Steuererklärung bis hin zum Musikgeschmack nichts undurchforstet bleibt.”

2. “Ein steiniger Weg”
(begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig thematisiert den Umgang mit dem “Manifest” des Täters. “Wie weit und ob das Buch überhaupt rezipiert werden soll, ist jetzt umstritten. Vorsorglich wird es als wirr oder wahnsinnig eingeschätzt – was dann wohl die genaue Lektüre entbehrlich machen soll. Allenfalls die schnelle Suche nach entsprechenden Schlagworten wie ‘Broder’ (12 x) oder ‘Wilders’ (29 x) wird vorgenommen, um ersatzweise Journal­ismus zu simulieren. Wobei die Suche bei ‘Adorno’ (26 x) oder ‘Orwell’ (12 x; mehr­fach verwendet der Autor Orwell-Zitate zu Beginn seiner Kapitel) ähnlich ergiebig gewesen wäre.”

3. “Aus der Nachrichtenagentur: die unanständige Methode eines dpa Journalisten”
(fakeblog.de, Floyd Celluloyd)
Floyd Celluloyd erinnert sich daran, wie er 2001 mit einer Aussage zur Lomografie in der “Kölnischen Rundschau” zitiert wurde.

4. “This is Why Your Newspaper is Dying”
(bradcolbow.com, englisch)
Neun Gründe, warum Zeitungsverlage online keinen Erfolg haben.

5. “Zwölf total randseitige Fakten über Journalistenpreise”
(netzfundbuero.de, Tom Hillenbrand)
“Quellen: Teilnahmebedingungen der jeweiligen Journalistenpreise, Newsroom.de, eigene Recherche.”

6. “Sozialdemokraten. 18 Monate unter Genossen”
(ardmediathek.de, Video, 88:35 Minuten)
Eineinhalb Jahre SPD, zusammengefasst in eineinhalb Stunden. Lutz Hachmeister mit einer Reportage, die Aufschluss über den Zustand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gibt.

Bild  

Nur gucken, nicht anfassen!

“Japan, ihr habt’s verdient”, schreibt “Bild” heute an die Adresse der japanischen Fußballfrauen, die gestern Abend in Frankfurt die Weltmeisterschaft gewonnen haben.

Aber so ganz scheint die Zeitung das Aus der Deutschen im Viertelfinale noch nicht verwunden zu haben, wie die Titelseite zeigt:

Japan Weltmeister! Passt gut auf unsere "Spirale" auf! Japan ist Frauen-Weltmeister! 5:3 nach Elfmeterschießen im Finale gegen die USA. Aber den Pokal (sieht aus wie eine Spirale) haben euch die deutschen Mädchen nur geliehen...

Von aller Überheblichkeit mal ab: Es ist einfach Quatsch, dass “die deutschen Mädchen” den Japanerinnen den Pokal “nur geliehen” hätten.

Der Fußballweltverband FIFA schreibt in seinen “50 Fakten zur FIFA Frauen-Weltmeisterschaft” (PDF):

Für jede Weltmeisterschaft wird eine eigene Trophäe hergestellt, die der Sieger behalten darf, dies im Gegensatz zum FIFA WM-Pokal, der stets im Besitz der FIFA bleibt.

Insofern stimmt auch nicht, was “Bild” weiter schreibt:

Die letzten Deutschen, die den Pokal bis zur WM 2015 in Kanada anfassen durften, sind OK-Chefin Steffi Jones und Renate Lingor, Weltmeisterin von 2003 und 2007. Sie tragen die Pokal-Spirale ins Stadion.

Denn selbst wenn “wir” 2015 wieder Weltmeister würden, würden “unsere Mädels” eine andere Version des Pokals in Empfang nehmen, als die, die die Japanerinnen gestern in die Höhe gereckt haben.

Mit Dank an Stefan K.

Spiegel, DSK, Bagelheads

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Spaß und Spannung mit Adolf und Josef”
(blaetter.de, Uli Gellermann)
Uli Gellermann vermisst in der “Spiegel”-Titelgeschichte “Bruder Todfeind” vom 11. Juni einige Fakten. Es kommt ihm ausserdem vor, als werde “der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion, der vor 70 Jahren begann, zu einem sportiven Duell zwischen Josef und Adolf.” Zum aktuellen “Spiegel”-Titel “Die digitale Unterwelt” siehe “Welcome to Germany. ‘Der Spiegel’ in Full Retard Mode” (davaidavai.com, englisch).

2. Interview mit Christian Stöcker
(basicthinking.de, Jürgen Vielmeier)
Wie geht Christian Stöcker, Ressortleiter “Netzwelt” von “Spiegel Online”, mit Fehlern um? “Fehler machen wir natürlich auch, und es ist klar, dass sich das nie ganz vermeiden lassen wird. Unser Anspruch besteht darin, dem Leser das Beste zu liefern, was unter den aktuellen Umständen drin ist – was auch bedeutet, dass wir schnellstens und transparent korrigieren, wenn tatsächlich mal ein Fehler auf der Seite gelandet sein sollte.”

3. “Achtet mir die Blogger”
(kundenkunde.de, Peter Soltau)
Henrik Böhme von dw-world.de reagiert auf einen kürzlich angebrachten Plagiatsvorwurf.

4. “Neue Medienmode lateinamerikanischer Potentaten”
(faz.net, Josef Oehrlein)
Wie der Präsident von Venezuela, Hugo Chávez, mit Medien umgeht. “Für ihn zählt nur der direkte Kontakt zu seinem Publikum, dem ‘Volk’. Dazu braucht es für ihn weder Regierungssprecher noch Journalisten. Bei Pressekonferenzen, so sie überhaupt noch stattfinden, sind Journalisten bloße Stichwortgeber für schier endlose Monologe.”

5. “DSK darf wieder lächeln”
(katrinschuster.de)
Die Berichterstattung der Medien über die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Dominique Strauss-Kahn: “Offenbar will man einfach nicht wahrhaben, dass Journalisten weder der Exekutive noch der Judikative angehören. Und wenn Medien einen Angeklagten erst als schuldig vorstellen, noch bevor die Ermittlungen begonnen haben, um es dann ‘spektakulär’ zu nennen, wenn während der Ermittlungen Zweifel an dieser Schuld aufkommen, wird auch ihre Befähigung zur Ausübung der so genannten Vierten Gewalt in dieser unserer Gesellschaft des Spektakels ziemlich fraglich.” Siehe dazu auch Stefan Niggemeier, der Artikel in “Stern” und “Spiegel” analysiert.

6. “Und um das Sommerloch: ein Bagel”
(snoeksen.blogspot.com)
Bild.de berichtet über “Bagelheads”: “Nur: zum einen ist es kein wirklicher Trend, neu ist es auch nicht und aus Japan… naja, entstanden ist es zumindest woanders.”

dapd  etc.

Hilfe!

Gestern Mittag vermeldete die Nachrichtenagentur dapd aufgeregt das “Aus für Notrufsäulen an deutschen Straßen bis Jahresende”. Wer bei dieser Überschrift angenommen hatte, die orangefarbenen Notrufsäulen entlang der Autobahnen (die ja durchaus als “deutsche Straßen” durchgehen dürften) würden – etwa bis Jahresende – verschwinden, wurde schon im ersten Satz eines besseren belehrt:

Alle Notrufsäulen an den deutschen Bundes-, Landes- und Kreisstraßen werden bis zum Jahresende abgebaut. Dies teilte die Björn-Steiger-Stiftung in Stuttgart auf Anfrage der Nachrichtenagentur dapd mit. (…)

Nicht betroffen vom beschlossenen Abbau sind die derzeit rund 16.000 Notrufsäulen an den deutschen Autobahnen, für die der Gesamtverband der Deutschen Versicherer (GDV) zuständig ist.

Aber auch das war offensichtlich nicht ganz richtig, denn dapd verschickte rund vier Stunden später eine “Berichtigung”. Dort hieß es nun:

Nur Baden-Württemberg behält Notrufsäulen

Was genau es bedeutet, wenn “nur Baden-Württemberg” die Notrufsäulen behält, erklärte dapd natürlich auch gerne:

Nur Baden-Württemberg behält Notrufsäulen an den Bundes-, Landes- und Kreisstraßen, in den anderen Bundesländern werden sie abgebaut. Das teilte die Björn-Steiger-Stiftung in Stuttgart auf Anfrage der Nachrichtenagentur dapd mit. Bundesweit gibt es den Angaben zufolge derzeit knapp 2.100 Säulen, davon allein rund 1.800 in Baden-Württemberg.

dapd hatte also herausgefunden, dass immerhin 14% der noch bestehenden Notrufsäulen an deutschen Bundes-, Landes- und Kreisstraßen abmontiert werden sollen — nämlich die außerhalb Baden-Württembergs. Die restlichen der ehemals rund 7.000 Notruftelefone sind nämlich seit der Einführung eines Handyortungssystem für die Leitstellen im Jahr 2006 sukzessive abgebaut worden, wie uns die Björn-Steiger-Stiftung auf Anfrage erklärte.

Nun würde man als Laie sagen: “Hmmmmm, das ist dann wohl eher keine Meldung! dapd war sich nur zu fein, den ursprünglichen Schwachsinn komplett zurückzuziehen.” Doch Profis denken da anders.

“Bild” bringt heute auf der Titelseite folgende Kurzmeldung, die sich offensichtlich auf eine der ersten dapd-Varianten beruft:

Notrufsäulen an Bundesstraßen werden abgeschafft

Stuttgart – Alle Notrufsäulen an den deutschen Bundes-, Landes- und Kreisstraßen werden bis zum Jahresende abgebaut. Das teilte die Björn-Steiger-Stiftung in Stuttgart mit. Die Notrufsäulen seien nicht mehr finanzierbar. Außerdem habe die heute selbstverständliche Handynutzung sowie die nun mögliche Ortung von Mobiltelefonen die Säulen zuletzt zunehmend überflüssig gemacht. Bundesweit gibt es noch rund 2000 Säulen. Nicht betroffen sind die rund 16000 Notrufsäulen an den Autobahnen.

Diese Quelle muss auch der “Tagesspiegel” benutzt haben:

Notrufsäulen an deutschen Straßen verschwinden bis Jahresende

Stuttgart – Für die Notrufsäulen an Bundes-, Landes- und Kreisstraßen kommt das Aus. Sie würden bis zum Jahresende abgebaut, teilte die Björn-Steiger-Stiftung mit. Die Säulen seien nicht mehr finanzierbar. Zudem seien sie durch die Handynutzung zunehmend überflüssig. Nicht betroffen sind die 16 000 Notrufsäulen an den Autobahnen. dapd

Die “Süddeutsche Zeitung” brachte einen längeren Artikel, der auf der ersten dapd-Meldung basierte und auch die Online-Medien haben die NichtGeschichte natürlich dankbar aufgenommen — wobei abendblatt.de eine wahre Meisterleistung geglückt ist: In dem Artikel, der mit den Worten “nur Baden-Württemberg behält Notrufsäulen” beginnt, zeigt sich ein ADAC-Experte vom “kompletten Aus für die Notrufsäulen an Bundes-, Landes- und Kreisstraßen” überrascht. Der dapd hatte das ADAC-Zitat aus seiner berichtigten Fassung herausgenommen, weil sich das “komplette Aus” als wenig haltbar erwiesen hatte.

Auch die dpa erweckt seit gestern den Eindruck, der seit fünf Jahren voranschreitende Abbau der Notrufsäulen sei eine Neuigkeit:

Aus für Notrufsäulen – Steiger Stiftung baut ab

Stuttgart (dpa) – Die Björn Steiger Stiftung baut ihre Notrufsäulen bundesweit nach und nach ab. Von den ursprünglich 7000 Säulen stehen noch 2095, davon gut 1800 in Baden-Württemberg, sagte eine Sprecherin der Stiftung am Mittwoch in Stuttgart. Die hohen Kosten für das Notrufsystem über die Säulen an Bundes-, Landes- und Kreisstraßen seien in Zeiten von Handys nicht mehr zu rechtfertigen, begründete sie die Entscheidung. Nicht betroffen sind die Säulen an Autobahnen. Sie werden vom Gesamtverband der Deutschen Versicherer (GDV) betrieben.

Mit großem Dank an Tobias.

Hinweis, 19.10 Uhr: In der ursprünglichen Fassung dieses Eintrags hatten wir geschrieben, die dpa-Meldung sei “immer noch völlig unkorrigiert”. Die dpa erklärte uns dazu, dass es an der Meldung “nichts zu korrigieren” gebe, da alle Fakten korrekt wiedergegeben würden.

Papier, WWF, Frauenfußball

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Ich habe sie so lange bearbeitet, bis sie ‘Ja’ sagten”
(einestages.spiegel.de, Hanno Krusken)
Hanno Krusken erinnert sich an seine Zeit als Fotograf für die Illustrierte “Quick”. “Der Brotjob bestand im Aufspüren menschlicher Schicksale. Und wenn es keine dramatischen Ereignisse gab, musste sich die Redaktion etwas einfallen lassen – etwa mit einer Anzeige in der Lokalzeitung, in der sie ‘Kindermütter’; ‘Eltern, die ihr Kind verloren haben’ oder sonst wie anders Betroffene suchte, deren Erlebnisse sie zu Sammelgeschichten zusammenfasste und dann einen ‘Trend’ deklarierte.”

2. “Betonierung des status quo”
(perlentaucher.de, Thierry Chervel)
Thierry Chervel kommentiert die Klage deutscher Printverlage gegen die “Tagesschau”-App: “Sie versuchen im Moment des Verschwimmens der Gattungsgrenzen zwischen den Medien ihren vormaligen Status zu zementieren. (…) Das eigentlich Absurde an den öffentlich-rechtlichen Anstalten sind jedenfalls nicht die Tagesschau-Apps. Die politischen Aufgaben sind viel tiefgreifender. Das Problem ist das Festhalten an Strukturen, die vor dreißig jahren noch Sinn gehabt haben mögen.”

3. “Das Hoffen auf die ewige Kraft des Papiers”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Zeitungs- und Zeitschriftenmacher neigen dazu, die technische Entwicklung zu ignorieren und Print zu romantisieren. “Irgendwann werden bis auf einige wenige Sammler alle Konsumenten über die Pro-Print-Argumente aus der Zeit des digitalen Wandels schmunzeln.”

4. “Die verflixten 7”
(journalist.de, Ernst-Marcus Thomas)
Sieben Tipps für eine lebendige Radiomoderation, die ohne abgestandene Formulierungen und unpassende Adjektive auskommt.

5. “Der Pakt mit dem Panda: Was uns der WWF verschweigt”
(mediathek.daserste.de, Video, 43 Minuten)
Eine WDR-Reportage beleuchtet die Zusammenarbeit des WWF mit der Bank HSBC und Palmölherstellern: “Warum kooperiert der WWF mit Unternehmen, die die Natur zerstören?” Eine Entgegnung findet sich auf wwf.de, ein Interview mit dem Autor des Films, Wilfried Huismann, auf radiobremen.de (Audio, 7 Minuten).

6. “sportstudio-Classics: Die Anfänge des Frauenfußballs”
(youtube.com, Video, 3:27 Minuten)
Das Thema Frauenfußball im Sportstudio von 1970 mit dem Moderator Wim Thoelke.

Bunte  etc.

Kachelmann-Prozess: Gericht verurteilt Medien

Es ist ein vernichtender Satz, den das Mannheimer Landgericht am Ende des Prozesses gegen Jörg Kachelmann den Medien mit auf den Weg gegeben hat. Michael Seidling, der Vorsitzende der 5. Großen Strafkammer, formulierte in seiner Urteilsbegründung:

Auf der anderen Seite hat die Kammer aber auch gesehen, dass einige Medienvertreter – wenn auch eher eine überschaubare Anzahl – durchaus sachgerecht und ausgewogen über das Verfahren berichtet haben.

(Hervorhebung von uns.)

Er nannte leider keine Namen, aber vermutlich ist eh kein größeres Medium gemeint, das man kennen könnte.

Ausführlich hatte der Richter zuvor die Medien gescholten:

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber auch sie kennt Grenzen. Diese Grenzen existieren offensichtlich im Internet nicht.

Vorwiegend hinter der Fassade der Anonymität wurden im Verlauf des Verfahrens in den Meinungsforen, Blogs und Kommentaren im Internet die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten, der Nebenklägerin, aber auch des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten immer wieder mit Füßen getreten, ohne dass die Möglichkeit bestanden hätte, sich dagegen in irgendeiner Weise effektiv zur Wehr zu setzen.

Auch angeblich Sachkundige konnten nicht der Versuchung wiederstehen, ohne Aktenkenntnis und ohne an der Hauptverhandlung teilgenommen zu haben, häufig aber auf der Grundlage unvollständiger und fehlerhafter Medienberichte per Ferndiagnose ihre persönliche Meinung zum Besten zu geben, die in der Regel nichts mit sachlicher Kritik zu tun hatte, sondern häufig nur Klischees bediente. (…)

Statt der gebotenen Zurückhaltung gegenüber einem laufenden Verfahren prägten vorschnelle Prognosen, das einseitige Präsentieren von Fakten und mit dem Anschein von Sachlichkeit verbreitete Wertungen die Berichterstattung. Diese mögen zwar als Garant für Schlagzeilen und Verkaufszahlen dienen; der Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung sind sie jedoch in hohem Maße abträglich. Sie erzeugen Stimmungen, wo Sachlichkeit gefragt ist; letztlich vertiefen sie den mit der Durchführung eines Strafverfahrens verbundenen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten und der Nebenklägerin in nicht gerechtfertigter Weise. Vor allem aber erschweren sie die Akzeptanz eines Richterspruchs in der Öffentlichkeit und schaden damit dem Ansehen der Justiz.

Mit Befremden hat die Kammer die Aufrufe an die Bevölkerung registriert, im Wege der Abstimmung über Schuld und Unschuld des Angeklagten zu entscheiden. Damit verkommt das Gerichtsverfahren nicht nur zu einem reinen Event; vielmehr werden Entscheidungen von Gerichten, denen nicht selten eine hochkomplizierte Entscheidungsfindung vorausgeht, in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Merkmal der Beliebigkeit behaftet. Dass auch dadurch dem Ansehen der Justiz in der Öffentlichkeit massiver Schaden zugefügt wird, liegt auf der Hand.
Mit öffentlicher Kontrolle der Gerichte durch die Medien hat diese Form der Medienarbeit nichts zu tun. (…)

Ob einer Hauptverhandlung für die breite Öffentlichkeit ein ausreichender Unterhaltungswert zukommt, ist für die Beurteilung der Schuldfrage und damit für die Gestaltung der Hauptverhandlung ohne Belang. Das Gericht ist bei der Durchführung der Hauptverhandlung nicht der Befriedigung des Sensations- und Unterhaltungsinteresses verpflichtet.

Die medienwirksam vorgetragene Kritik des Verteidigers am Ausschluss der Öffentlichkeit ließ vordergründig den Eindruck entstehen, die Kammer habe bis zu seinem Auftreten ohne sachliche Rechtfertigung die Öffentlichkeit in exzessiver Weise ausgeschlossen. Dass sich drei Zeuginnen durch Interviews ihrer Persönlichkeitsrechte – jedenfalls teilweise – begeben hatten, verstärkte diesen Eindruck.

Ohne Zweifel haben diese drei Zeuginnen und die entsprechenden Medien durch ihr Verhalten dem Ablauf der Hauptverhandlung geschadet.

Gemeint ist mit dem letzten Punkt mindestens die Zeitschrift “Bunte”, die drei Zeuginnen für ihre anklagenden Auftritte im Blatt bis zu 50.000 Euro zahlte.

Angesprochen fühlen dürfen sich aber u.a. auch:

  • die “Süddeutsche Zeitung”, die am 22. April 2010 unter der Überschrift “Messer mit Fingerabdrücken” exklusiv berichtete, Ermittler hätten “nach eigener Aussage Teile von Fingerabdrücken und DNS von Kachelmann“ auf einem Messer gefunden. In Wahrheit hat die Spurensicherung keine eindeutig nachweisbaren Spuren gefunden.
  • die “Zeit”, in der Sabine Rückert massiv Partei für Kachelmann ergriffen hat — in der Regel (und auch aktuell) ohne die Leser wenigstens darüber darüber zu informieren, dass Rückert mit dem Anwalt Kachelmanns zusammengearbeitet hat und ihn sogar der Verteidigung empfohlen hat.
  • der “Focus”, der im Dezember eine “neue Zeugin gegen Kachelmann” präsentierte, deren Aussage ihn angeblich “schwer belastet”, und bereits vor Eröffnung der Hauptverhandlung “Indizien auch im Bad” gefunden, “Tausende Ermittlungsseiten” der “Akte Kachelmann” protokolliert und das Tagebuch des mutmaßlichen Opfers abgedruckt hatte.
  • und natürlich die “Bild”-Zeitung mit ihrer Kommentatorin Alice Schwarzer, die munter mangelnde Fachkenntnis durch Parteilichkeit ausgeglichen hat.

“Welt Online” hat aus der Urteilsbegründung sicherheitshalber die Kritik an den Medien einfach mal herausgekürzt.

  

Wer anderen eine Falle stellt

— Ein Gastbeitrag von Anatol Stefanowitsch —

Bei der geballten und systematischen Bösartigkeit der Bildzeitung und ihrer Spin-offs mag es ein wenig kleinlich erscheinen, sich über ein eher randständiges Possenspiel aus Sprachnörgelei und Scheinheiligkeit aufzuregen, das BILD.de letzte Woche aufgeführt hat. Aber das Aufregen über Sprachnörgelei ist nun einmal Beruf und Berufung für mich, und die Scheinheiligkeit der BILD kann man nicht oft genug entblößen.

Worum geht es? Nun, BILD.de hat sich mit dem “Sprach-Trainer” Andreas Busch zusammengetan, um den Leser/innen eine Liste der “10 am häufigsten falsch verwendeten Wörter” zu präsentieren. Und das sind die 10 “fiesen Sprach-Fallen”, in absteigender Reihenfolge ihrer Fiesigkeit:

  • Public Viewing (soll vermieden werden, da es angeblich nur “Leichenschau” bedeuten kann).
  • Sympathie (soll nur in seiner “ursprünglichen” Bedeutung “Mitleid” verwendet werden).
  • Busen (soll nur für seine angebliche Ursprungsbedeutung, “das Tal zwischen den Brüsten”, verwendet werden).
  • Reifenwechsel (da wir das ganze Rad wechseln, sollen wir Radwechsel sagen).
  • Kult (sollen wir nur in seiner ursprünglichen Bedeutung “religiöses Ritual” verwenden).
  • für etwas sorgen (sollen wir nur mit der Bedeutung “sich um jemanden kümmern” verwenden).
  • männliche Berufsbezeichnungen wie Arzt (sollen nur für Männer verwendet werden).
  • verstorben (sollen wir nie verwenden, um über etwas zu reden, das den Verstorbenen zu Lebzeiten betraf).
  • irritiert (sollen wir nur mit der ursprünglichen Bedeutung “gereizt” verwenden).
  • wollen (sollen wir nicht in Sätzen wie “Ich wollte fragen, ob…” verwenden).

Wenn Sie sich über diese Liste wundern, vielleicht sogar zaghaft anzweifeln, dass es sich dabei überhaupt um “Sprach-Fallen” (geschweige denn um “fiese”) handelt, seien Sie beruhigt: Sie sind nicht allein. Tatsächlich will ich nicht verschweigen, dass mindestens neun dieser zehn Tipps kompletter Blödsinn und durch nichts zu rechtfertigen sind und getrost ignoriert werden können.

Aber hier soll es nicht darum gehen, ob diese Sprachtipps nützlich oder richtig sind. Stattdessen interessiert es mich, ob BILD.de in der Lage ist, sich wenigstens drei Tage lang selbst daran zu halten. Die Liste wurde am Mittag des 23. Mai 2011 veröffentlicht, der Suchraum ist also die Zeit bis zum 26. Mai 2011. Gehen wir die Liste also Wort für Wort durch.

Public Viewing. Es gab zwar Ausschreitungen im Umfeld des Spiels VfL Osnabrück–Dynamo Dresden am 24. Mai 2011, aber zu Tode gekommen ist glücklicherweise niemand. Warum also kündigt BILD.de Public Viewings an, nur einen Tag nachdem man die Leserschaft eindringlich davor gewarnt hat, das Wort für etwas anderes zu verwenden als für eine Leichenschau? Konnte man dieser fiesesten unter den “fiesen Sprach-Fallen” nicht ausweichen — schon allein, um ohnehin gewaltbereite Fußballfans nicht noch auf dumme Ideen zu bringen?

Sympathie. Ich will ehrlich sein: Auch ich bemitleide Menschen, die BILD.de lesen oder an Horoskope glauben, und mit Menschen, die an Horoskope glauben, die sie auf BILD.de gelesen haben, habe ich doppelt Mitleid. Aber ich habe das Gefühl, dass es in diesem Horoskop, das BILD.de am 25. Mai 2011, nur zwei Tage nach den tollen Sprach-Tipps von Busch, veröffentlicht hat, nicht um Mitleid geht sondern darum, dass man Zwillingen — nun ja, Sympathie entgegenbringt. War es zuviel verlangt, dieses immerhin doch am zweithäufigsten falsch verwendete Wort zu meiden und zu ersetzen durch — ja, was denn eigentlich?

Busen. Es ist sonst nicht mein Stil, über die sekundären Geschlechtsmerkmale mir nicht persönlich bekannter Damen zu sprechen, aber ich komme um den Hinweis nicht herum, dass in dieser informativen Bildergalerie vom 24. Mai 2011 eins nicht zu sehen ist: das “Tal” zwischen Lindsey Lohans Brüsten. Denn das verdeckt sie geistesgegenwärtig und gesittet. Was dagegen recht gut zu erkennen ist, sind die Brüste selbst — mit der Überschrift tappt BILD.de also direkt in “Sprach-Falle” Nr. 3.

Reifenwechsel. Über Wechsel von Rädern und Reifen schreibt BILD.de nur, wenn es entweder Zeit ist, Winter- oder Sommerreifen aufzuziehen oder in der Formel-1-Berichterstattung. In den drei Tagen nach der Veröffentlichung der “fiesen Sprach-Fallen” gab es keins von beidem, deshalb musste ich hier auf den Vortag, den 22. Mai 2011, zurückgreifen. Aber dafür bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass bei Vettels angeblichen Reifenwechsel in Wahrheit die Räder gewechselt wurden: Wenn Vettels Mechaniker tatsächlich die Reifen neu aufgezogen hätten, hätte der Boxenstopp länger gedauert als das gesamte Rennen, und er hätte es nicht gewinnen können. Ich sage deshalb einfach mal “reingetappt” — wenn in der Berichterstattung über das Rennen von diesem Wochenende plötzlich von Radwechseln die Rede ist, nehme ich natürlich alles zurück.

Kult. Man kann schon den Eindruck bekommen, dass Jimmy Choo zusammen mit Manolo Blahnik und Christian Louboutin eine Art Dreifaltigkeit für Schuhfetischisten darstellen, aber wenn BILD.de Jimmy Choo in Überschrift und Teaser dieser Meldung vom Abend des 23. Mai 2011 gleich zwei Mal als Kult bezeichnet, geht es nicht um eine Verwendung überteuerter High Heels bei rituellen religiösen Handlungen — obwohl man doch nur wenige Stunden zuvor darauf gedrängt hat, das Wort nur zur Bezeichnung solcher Rituale zu verwenden. Im Spiel BILD.de gegen die “fiesen Sprach-Fallen” führen die Sprach-Fallen also mit 0:5.

Sorgen. “Mütter sorgen für Kinder, Lehrer für ihre Schüler, da stimmt das Verb”, erfahren wir aus den Sprachtipps von Sprechtrainer Busch, die BILD.de mahnend an uns weitergibt. Keinesfalls aber stimme es in Sätzen wie “Blitzeis sorgt für Verkehrschaos”, denn Blitzeis könne “für nichts und niemanden sorgen”. Chemikaliencocktails sind demnach in der Vorstellung von BILD.de offenbar eher so etwas wie Mütter, und Großeinsätze der Feuerwehr sind wie deren Kinder — anders lässt sich diese Schlagzeile vom 25. Mai 2011 nicht erklären. Oder ist man bei BILD.de trotz aller guten Vorsätze auch in die sechste “fiese Sprachfalle” getappt? Das ließe dann langsam Fahrlässigkeit vermuten.

Mann statt Frau. Man muss BILD.de zugestehen, dass man sich sehr konsequent an die Regel hält, für Männer die männliche und für Frauen die weibliche Berufsbezeichnung zu verwenden. Das eröffnet übrigens die Möglichkeit zu interessanten Untersuchungen über das dort gepflegte Geschlechterbild: Das Wort Arzt hat über 260 000 Treffer auf bild.de, das Wort Ärztin nur ca. 40 000. Das ist ein Zahlenverhältnis von etwa als 6:1, in der echten Welt kommen auf jede Ärztin aber nur zwei Ärzte. Aber ich schweife ab. BILD.de vergisst diese Regel in dem Moment, in dem man über gemischte Gruppen, z.B. von Ärztinnen und Ärzten, schreibt: Dann wird plötzlich nur noch die männliche Bezeichnung gewählt, wie in diesem Artikel vom 26. Mai 2011 (in dem noch dazu ausschließlich Männer erkrankt scheinen). So tappt man doch noch in die “fiese Sprach-Falle” Nr. 7.

Verstorben. “Frau Müller hat das Lebensmittelgeschäft mit ihrem verstorbenen Mann geführt” — die “fiese Sprach-Falle”, die Sprechtrainer Busch in diesem Satz ausgemacht hat, erklärt er wie folgt:
“Nein, das hat sie nicht. Das wäre ausgesprochen makaber. Natürlich hat sie das Geschäft mit ihrem LEBENDEN Mann geführt.” Man darf seinem Gegenüber anscheinend nicht zumuten, diesen offensichtlichen Schluss selbst zu ziehen. Warum, muss man sich dann fragen, mutet BILD.de seinen Leser/innen genau das in dieser Meldung vom 25. Mai 2011 zu, in der ein Rentner natürlich nicht auf einen Toten, sondern auf einen Lebenden geschossen hat, der erst als Folge dieser Schüsse verstarb?

Irritiert. Es kann sein, dass die Fahne, um die es in der folgenden Meldung, ebenfalls vom 24. Mai 2011, geht, den einen oder anderen gestört hat — der wäre dann irritiert im von Sprechtrainer Busch vorgeschlagenen Sinne gewesen. Aber die Mehrzahl war wohl irritiert in dem angeblich falschen und zu vermeidenden Sinne des Wortes — verwirrt, und ein wenig besorgt. Damit tappt BILD.de ist in die neunte der zehn “fiesen Sprachfallen”. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und sage: Das ist kein Zufall. Man nimmt die Sprachtipps von Sprach-Trainer Busch bei BILD.de gerade ernst genug, um die Leser/innen damit zu piesacken, aber keinesfalls ernst genug, um sich selbst daran zu halten (Parallelen im Umgang von BILD.de mit Fakten ganz allgemein mag jeder selbst ziehen, ich bin hier nur für Sprache zuständig).

Wollte. Das Ergebnis 9/10 reicht mir, meine Schlussfolgerung ist gezogen, mein Auftrag erfüllt. Die letzte “Sprach-Falle” bezieht sich auf ein Sprachmuster, das in journalistischen Texten sehr selten und wegen seiner Variabilität allgemein zu schwer zu suchen ist. Ich schenke BILD.de also diesen einen Punkt im sicheren Bewusstsein, dass sich mit etwas Mühe auch dafür ein Beispiel fände.

Wie alle anderen Sprachfallen existiert auch diese, wie eingangs angedeutet, ohnehin nur in den Köpfen von Sprach-Trainer Busch und BILD.de. Ich werde das im Laufe der Woche im Sprachlog für alle sprachlich Interessierten genauer zeigen. Los geht es mit Folge 1, in der es um sorgen, Kult und Busen geht.

Nachtrag, 5. Juni: Inzwischen hat Anatol Stefanowitsch auch Folge 2 und 3 online gestellt.

Wie dränge ich ein Land aus der Eurozone?

Nachdem BILDblog vor einem Jahr aufgezeigt hatte, wie man erfolgreich gegen ein Land aufhetzt, ist es nun Zeit für die Königsdisziplin: Der ultimative Leitfaden für das Herausdrängen eines Landes aus der Eurozone — veranschaulicht anhand einiger ausgesuchter Artikel von “Bild” und Bild.de aus den vergangenen vier Wochen:

1. Stellen Sie rhetorische Fragen, die entweder nicht zu beantworten sind oder deren Antworten eigentlich schon klar sind. Wichtig: Bereits die Fragestellung muss eine Provokation beinhalten.

Etwa so:

EU zögert mit finanzieller Hilfe: Muss Griechenland die Akropolis verkaufen?

Oder fragen Sie:

EIN JAHR NACH DER STAATSPLEITE Haben die Griechen die Kurve gegriecht?

Sorgen Sie außerdem mit Fragen wie “Was machen die anderen Euro-Versager?” dafür, dass klar ist, dass Sie Griechen für Versager halten, auch wenn Sie es nicht konkret ansprechen.

Oder fragen Sie:

Nach Berichten über Ausstiegs-Pläne: Macht Griechenland den Euro kaputt?

2. Damit sind wir auch schon beim zweiten Punkt: Verwenden Sie möglichst symbolische Bilder. Hier: Ein Foto der alten griechischen Währung neben einer griechischen Euromünze unterstreicht Ihre Forderung nach der Rückkehr der Griechen zur Drachme.

3. Heizen Sie Spekulationen, dass Griechenland aus dem Euro austreten wolle, fleißig selbst mit an:

Angeblich Krisen-Gipfel Steigt Griechenland aus dem Euro aus? Premier Papandreou will möglicherweise eigene Währung einführen

EU-Geheimtreffen nach Gerüchten: Wie ernst meinen es die Griechen mit dem Euro-Austritt?

Verschweigen Sie anschließend unbedingt, dass es sich bei den “Gerüchten” um eine unbestätigte Falschmeldung von “Spiegel Online” gehandelt hatte.

4. Natürlich gilt wieder: Lassen Sie fast ausschließlich “Top-Ökonomen” zu Wort kommen, die sich negativ über Griechenland äußern — oder in anderen Worten: Lassen Sie fast ausschließlich Hans-Werner Sinn zu Wort kommen:

Top-Ökonom Hans-Werner Sinn "Griechenland muss aus dem Euro raus!"

ifo-Chef Hans Werner Sinn: Griechenland muss wieder wettbewerbsfähig werden

Ignorieren Sie dabei völlig, wenn Ihr Experte seine Position anderswo später relativiert:

Er fordere nicht den Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Gerade erst hat Sinn gegenüber der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” einen Austritt Griechenlands als “das kleinere Übel” bezeichnet. Dies sei aber keine Empfehlung gewesen, präzisiert er nun, er habe lediglich die Möglichkeiten aufgezählt; die Journalisten neigten dazu, Dinge zu überspitzen.

Sollte doch einmal ein Verteidiger zu Wort kommen, dann kompensieren Sie diesem Umstand am besten mit einer krawalligen Überschrift:

Ex-Minister Theo Waigel: Euro-Gefahr Griechenland: "Wir können die Griechen nicht einfach rauswerfen" sagt Ex-Minister Waigel

5. Als flankierende Maßnahme empfiehlt es sich, den Austritt Griechenlands aus der Eurozone auch ganz unverblümt und direkt in Kommentaren zu fordern. Etwa so:

Kommentar: Bye, bye, Griechenland

6. Lassen Sie Ihre bereits aufgehetzten Leser zwischendurch auch gerne über eine Frage abstimmen, bei der das Ergebnis dank Ihrer einseitigen Berichterstattung ohnehin schon klar ist: “Soll Griechenland raus aus der Euro-Zone?”

Fühlen Sie sich in Ihrer Kampagne bestätigt, wenn 84 Prozent diese Frage mit “Ja” beantworten!

7. Geben Sie Aussagen von Experten wie dem Ökonom Thomas Straubhaar möglichst verzerrt wieder, sodass es aussieht, als müsste Griechenland austreten, um nicht so unterzugehen wie seinerzeit die DDR:

Top-Ökonom spekuliert Endet Griechenland wie die DDR? Gauweiler fordert Ausscheiden Athens aus dem Euro - Noch mehr Geld aus Brüssel?

Man beachte das harmonische Zusammenspiel von rhetorischer Frage (siehe 1.) und Symbolbild (siehe 2.).

Ignorieren Sie, dass Straubhaar in Wahrheit das exakte Gegenteil dessen gesagt hatte — nämlich dass ein Austritt für Griechenland einen ähnlichen Niedergangseffekt haben könnte, wie er in der Endphase der hochverschuldeten DDR zu beobachten war.

8. Sie können den Niedergang der Wirtschaft des Landes, das Sie loswerden wollen, sogar selbst beschleunigen. Berichten Sie einfach darüber, dass Griechen ihr Geld auf deutschen Konten in Sicherheit bringen, damit noch mehr Griechen ihr Geld auf deutschen Konten in Sicherheit bringen:

Griechen bringen ihr Geld auf deutsche Konten

9. Berichten Sie über die durch die Sparmaßnahmen hervorgerufenen Streiks stets so, als wären die Griechen zu faul zu arbeiten:

Europa stützt Griechenland mit Milliarden Euro, die nächste Hilfsaktion ist in Vorbereitung – doch die Griechen weigern sich weiter, den Gürtel richtig eng zu schnallen. Stattdessen gehen sie wieder auf die Straße.

Unterstützen Sie dies durch weitere Schlagzeilen:

Griechenland-Krise: Griechen-Streiks kosten 11 Milliarden Euro ...aber Athen baut neue Formel-1-Strecke!

10. Nutzen Sie überhaupt jede Gelegenheit, um Missstände unter Verwendung wenig repräsentativer Extrembeispiele anzuprangern. Wichtig: Ignorieren Sie dabei alle bisher gemachten Fortschritte und scheuen Sie sich nicht vor schalen Wortspielen!

Euro: Darum kriechen die Griechen nie aus der Krise +++ 18 Monatsgehälter +++ Doppel-Pensionen +++ Prämie für Händewaschen und Pünktlichkeit +++ Freie Tage haben 28 Stunden +++ 800 Politiker wollen Millionen-Gehaltsnachschlag +++

11. Berichten Sie groß darüber, wenn sich ein Politiker dazu hinreißen lässt, etwas zu sagen, was auch von Ihnen stammen könnte:

Merkel erhöht Druck auf Europas Schuldenstaaten Griechen sollen weniger Urlaub machen

Ignorieren Sie dabei jegliche Kritik innerhalb Deutschlands — etwa von der Opposition oder Wirtschaftsexperten und Wirtschaftsjournalisten, die das Gegenteil belegen können.

Berichten Sie stattdessen über die Reaktion im betroffenen Land. Denken Sie dabei immer daran, dass alle Aussagen, die Ihnen nicht passen, als “Pöbelei” bezeichnet werden müssen:

Nach Standpauke: Griechen pöbeln gegen Merkel. Fleiss-Appell unseren Kanzlerin löst Empörung aus ++ Lage in Griechenland immer desolater

Viel Erfolg! Ihre Leser werden die bemitleidenswerten Opfer Ihrer Kampagne so schnell wie möglich loswerden wollen, die Politik wird sich Ihnen womöglich anschließen.

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